Depressionen und Angststörungen bei Kindern und Jugendlichen Basiswissen KJP Prof. Dr. Michael Kölch Affektive Störungen Was versteht man unter affektiven Störungen? Affekt: Fühlen und Gefühle/ Emotionen Was sind Gefühle? Gefühle bei sich und anderen erkennen 1 Aggression 4 Lust 2 Glück 5 Angst 3 Trauer 6 Ekel Affekt Was sind Gefühle? Reiz - Reaktion Unter affektiven Störungen werden Störungen verstanden, bei denen vornehmlich Gefühlsebene betroffen ist: • depressive Störungen • Bipolare Störungen • Angststörungen Andere Definition in der KJP: Angst und Depression sind internalisierende Störungen Entstehung von Depressionen bei Kindern und Jugendlichen 1. Depression kann eigenständige Erkrankung sein und 2. Depressive Störungen können die „Endstrecke“ von vielen kinder- und jugendpsychiatrischen Störungen sein: – z.B. Störung des Sozialverhaltens – Angststörungen – Psychosen – ADHS Komorbidität • Depression und Angststörungen: bis zu 40% komorbides Auftreten • Depression und Störungen des Sozialverhaltens • Depression und ADHS (v.a. bei Jugendlichen, dann auch oft Vorstellungsgrund!) Entwicklungspsychopathologisches Modell der ADHS über die Lebensspanne (Schmidt & Petermann, 2008) Symptome ADHS nach (Wender-Utah): Unaufmerksamkeit Motor. Unruhe Impulsivität Desorganisation Affektlabilität Affektkontrolle Emotionale Überreagibilität Symptome ADHS nach ICD 10: Unaufmerksamkeit Hyperaktivität Impulsivität Komorbide Störungen Hyperkinet. St. d. SSV Soziale Defizite Ablehnung durch Peers/ Bezugspersonen neg. Interaktionen Geburt Kiga/ Vorschule Schwangerschaft: Rauchen, Alk, Stress, soziales Genetik Affektive Störungen Prüfungsängste Schulprobleme Hausaufgabenpr. Vermeidung Schulunlust Schuleintritt Substanzmissbr. Delinquenz Peer Probleme Lernresignation Verkehrsdelikte Borderline PLKst. Antisoziale Plk.st. Probleme im Job, Finanzen, Haushalt, Beziehungen Affektlabilität Übergang Erwachsenenalter Dysfunktionale fronto-stratiale Netzwerke; Neurotransmitter Lebensspanne Angststörungen und physiologische Ängste im Kindesalter • Ängste sind häufige Störungen: ca. 10% (Ihle und Esser 2002) • Aber: Ängste sind nicht immer Störungen: – Entwicklungspsychologisch bekannte „normale“ Ängste: – Fremdeln – Dunkelangst Wie oft kommen depressive Störungen vor? Prävalenz von MDD: • 0.3% Vorschulkinder, • 2% Grundschulkinder, • 5-10% Jugendliche (Emslie et al, 2002) • 10 – 20% aller Jugendlichen hatten mindestens eine depressive Episode im Verlauf der Entwicklung (z.B. Saluja et al., 2004) Geschlechterunterschiede: • Kinder (m :w 1:1); Jugendliche (m : w 1 : 2) (Boyd et al, 2000, Angold & Costello, 2001) ► ab der Pubertät: Mädchen häufiger als Jungen betroffen ► Trend: häufigere und früher beginnende depressive Episoden (Colloshaw et a., 2004) Dauer und Verlauf • mittlere Dauer depressive Episode Jugendliche: 8 Monate Januar Februar März April Mai Juni Juli August September Oktober November Dezember • fast die Hälfte der Depressionen bei Minderjährigen remittiert innerhalb eines Jahres (NICE 2005). • Nach Remission: Wiederauftretensrate 20-60% nach 1 Jahr, 70% nach 5 Jahren (Birmaher et al., 2002, Costello et al., 2002) • 60% der in der Kindheit/Jugend Erkrankten hatten im späteren Lebensalter ebenfalls eine Depression einen bis in das Erwachsenenalter andauernden Verlauf (Fombonne et al. 2001, Weissman et al. 1999). Bipolare Störungen: Entwicklungsmodell nach Duffy et al. 2010 • Manie meist erst manifest nach dem 14. LJ • Manie im Durchschnitt drei Jahre nach erster depressiver Episode • V.a. Auftreten früher Angststörungen mit erhöhtem Risiko für BP verbunden • Substanzabusus aufgrund Depression oder Manie erhöht gesund nicht-affektive keine Symptome Symptome unterschwellig depressive Symptome Depression Manie Substanzabusus Kindheit Jugend Duffy, Alda, Hajek, Sherry, Grof (2010). Early stages in the development of bipolar disorder, Journal of Affective Disorders 121: 127-35 Fazit: Epidemiologie • Internalisierende Störungen häufig • Oft sind sie von weiteren Störungen begleitet • Sie bergen ein hohes Risiko zu chronifizieren Depressive Episoden - Kernsymptome – Stimmungsprobleme (gedrückte Stimmung, Traurigkeit) – Interessenverlust/Freudeverlust – Veränderungen im Aktivitätsniveau (erhöhte Ermüdbarkeit), Hemmung der Handlungsfunktionen – Zeitkriterium: 2 Wochen, meiste Zeit vorhanden Depressive Episoden - Häufige weitere Symptome – Gereizte Stimmung mit Stimmungswechsel – Verminderte Konzentration und Aufmerksamkeit – Vermindertes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen – Schuldgefühle und Gefühle von Wertlosigkeit – Negative und pessimistische Zukunftsperspektiven – Suizidgedanken, erfolgte Selbstverletzung oder Suizidhandlungen – Schlafstörungen – Verminderter oder erhöhter Appetit – Körperlich-vegetative Beschwerden, z.B. Kopf- oder Bauchschmerzen Von einer depressive Episode sprechen wir, wenn… • Überdauernd, mehr als zwei Wochen • altersuntypisch • unerwartet • Leiden • Funktionseinschränkungen • Kardinalsymptome stehen im Vordergrund Klassifikation (ICD-10) und Behandlungsstrategie Leicht F32.0/F33.0 Depr. Episode F32 Mittelgradig F32.1/F33.1 Rezidivierende depr. Störung F33 Schwer Ohne somatische Symptome F3x.x0 Mit somatischen Sympt. F3x.x1 Ohne psychotische Symptome F32.2/F33.2 Mit psychotischen Symptomen F32.3/F33.3 Gegenwärtig remittiert F33.4 Angststörungen bei Kindern und Jugendlichen: Einteilung und Symptome Angststörungen bei Kindern und Jugendlichen: Einteilung und Symptome Generelle Fragen: 3. Jugendliche: Pubertät? 1. Normale Schritte? 2. Depression? Oder etwas anderes? Ursachen für Ängste und depressive Störungen Genetische/biologische Faktoren Psychosoziale Faktoren Neurobiologie • Die meisten Befunde stammen aus Untersuchungen mit Erwachsenen • Serotoninhypothese: verminderte Serotoninkonzentration Katecholaminhypothese: Defizit von Norepinephrin • Verminderte Noradrenalin- und Dopamin-Konzentration (Nemeroff, 2002) • Hippocampus: Zellaufbau- und –funktionsstörungen (Duman et al., 1999) • Reduktion des frontalen Kortexvolumens & Erweiterung der lateralen Ventrikel bei depressiven Kindern (Steingard et al., 1996) • Hypometabolismus frontal & temporal (Kimbrell et al., 2002) Psychosozial Trennung von Eltern Mobbing Über- oder Unterforderung in der Schule Familiäre Kommunikations- und Bewältigungsmuster Deprivation Psychologische Theorien • Erlernte Hilflosigkeit (Seligman) • Verstärkerverlust (Lewinsohn) • dysfunktionale Kognitionen (Beck, Ellis) Beck • Depressive Personen verarbeiten, trotz häufig vorhandener objektiver Gegenbeweise, eher solche Einzelreize, die mit ihren dysfunktionalen Annahmen übereinstimmen • (»Bei mir geht alles schief«) • Es entsteht als Folge eine ins negative verzerrte Sicht der Realität. • Bei Verarbeitungsprozessen depressiver Patienten überwiegen zusätzlich dysfunktionale negative Annahmen in Bezug auf sich selbst (Eigenwahrnehmung als wertlos, unwürdig und unzulänglich) • der Welt (»Alles ist sinnlos und schlecht.«) und • der Zukunft (Erwartung eines ewigen Leidens). • Diese verstärken die verfremdete Sichtweise der Realität und können zudem in der Folge zu systematischen Fehlern im Denken führen Denkfehler depressiver Patienten Diagnostik Depression: wie? Anamnese: Auslöser? Symptomerhebung – z.B. strukturiert mit Fragebögen, -interviews und -tests zur Eingangsdiagnostik und Verlaufskontrolle Depression Angststörungen – BDI-II, - AFS – CDRS, - SPAIK – DIKJ - PHOKI – DAS Besonders bei jüngeren Kindern Beobachtung von – Spielverhalten, Essverhalten, Schlafverhalten Bei älteren Kindern zusätzlich – Beobachtung von Leistungsverhalten – Stimmungstagebücher Diagnostik II Notwendig: Einbeziehung und ausführliche Befragung von – Eltern – Lehrern – Kindergärtnern – Sonst. Betreuungspersonal Jede Diagnostik muss auch eine Erhebung selbst- und fremdschädigender Tendenzen beinhalten! – Risikofaktoren, z.B. Stressoren, Komorbiditäten, Hoffnungslosigkeit – Protektive Faktoren, z.B. familiärer Rückhalt, religiöse Glaubensüberzeugungen Weitere Diagnostik Labordiagnostik zum Ausschluss einer organischen (Mit-) Ursache Insbesondere Leistungsdiagnostik bei Hinweisen auf Schulschwächen/-stärken Behandlung • ambulant – stationär • Psychosoziale Beratung • Psychotherapie • Pharmakotherapie Wichtig • Frühes Erkennen • Gestuftes Vorgehen in der Therapie notwendig • Adaptation der Interventionen an: • Schweregrad (incl. Suizidalität) • Chronizität • Phasenverlauf • Komorbidität bzw. weiterer Psychopathologie Behandlung depressiver Störungen • Datenlage (vgl. auch S-3 Leitlinie) • Pharmakotherapie: gute Evidenz • Studienlage derzeit: benefit von Psychotherapie zusätzlich zu Medikation geringer bis kein Effekt • Psychotherapie: von allen Psychotherapierichtungen: CBT & IPT beste Evidenz • Dennoch: Psychotherapie und Pharmakotherapie Bausteine der Therapie Psychotherapie/Psychosoziale Beratung • Empfehlungen beruhen auf englischen Wirksamkeitsstudien • In Deutschland wurden bisher keine Programme zur Behandlung von Depressionen im RCT evaluiert • Wirksame Faktoren in PT sind zu identifizieren was wirkt? LL Depressive Störungen 2013 Therapiemanuale I (kognitiv – verhaltenstherapeutisch CBT) Was beinhalten die Therapieprogramme meist (CBT)? Psychoedukation Zusammenhang Fühlen – Denken- Handeln Aktivierung Stimmungsverbesserung/ Umgang mit Krisen Problemlösen Veränderung dysfunktionaler Kognitionen Training sozialer Kompetenzen Rückfallprophylaxe Angststörungen • Domäne psychotherapeutischer Interventionen • Wichtig Einbezug der Eltern (Vermeidung von störungsaufrechterhaltendem Verhalten) • Psychoedukation • Angstmodell und Angstkurve • Zusammenhang körperliche Symptome mit Angst • Training • Exposition • In schweren Fällen kann eine medikamentöse Therapie notwendig sein Psychoedukation: Bilderbücher Psychoedukation: Bilderbücher MICHI (Spröber, Kölch, Fegert) 4 Gesund bleiben… 3 Ich kann Probleme lösen 2 Ich kann meine Gefühle beeinflussen 1 Mehr Wissen über (meine) Depression Pharmakotherapeutische Behandlung – Antidepressiva bei Minderjährigen Tricyclika SSRIs MPH Phytopharmaka Fettsäuren Neuroleptika Die Daten zu SSRI-Studien wurden inzwischen reanalysiert und Metaanalysen durchgeführt, ►bisher außer für Fluoxetin kein überzeugender Wirknachweis für die SSRI (Whittington et al. 2004, Hammad et al. 2006). SSRI: Fluoxetin Zugelassen ab 8 Jahren für MDD seit Sommer 2006 Beginn einschleichend mit 5mg Dosissteigerung bis 40-60mg; oftmals 20mg ausreichend Wirklatenz Besonders zu beachtende Nebenwirkung: Aktivierung Selten serotonerges Syndrom bei Absetzen Zusammenfassung • Depression und Angst häufige Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter • Störungen neigen zur Chronifizierung: Behandlung wichtig • Gestufte und an Schweregrad angepasste Therapie Kliniken für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik Vielen Dank für die Aufmerksamkeit [email protected] -41-