Depression und Selbstzerstörung

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Reminder
MSc in Erziehungswissenschaft HS 2007
ƒ Abweichendes Verhalten (AV) bezieht sich auf soziale Normen
und ist deshalb nur in Abhängigkeit von Kultur, sozialem
Umfeld und Alter zu definieren.
Universität Fribourg-CH
Aufwachsen in der Risikogesellschaft
Internalisierende Problemverarbeitung:
Depression und Selbstzerstörung
15.10.2007
Prof. Dr. Margrit Stamm
Depression: Konturen
Depression/depressive Verstimmungen als gravierende
Beeinträchtigungen einer produktiven Lebensbewältigung.
Abzug der Aufmerksamkeit auf eigene Befindlichkeit
ohne soziale Kontaktaufnahme.
‚Schritte ins Nichts‘ durch Gefühle der Hilf- und
Nutzlosigkeit, der generalisierenden Selbst- und
Weltabwertung.
Besonders nachteilige Auswirkung in der Adoleszenz, wo
Entwicklungsaufgaben mit Bewältigungscharakter anstehen.
ƒ Der Bezug zur Funktionalität (Ich-Andere) eines Verhaltens ist
wichtig.
ƒ Internalisierendes Problemverhalten: Umfasst Probleme,
welche die betroffene Person in ihrer Entwicklung
beeinträchtigen und für das Umfeld nicht immer klar
erkennbar sind.
ƒ Externalisierendes Problemverhalten: Sichtbares,
normbrechendes AV, das für die Person und das Umfeld
problematisch ist.
Komorbidität: Gleichzeitiges Auftreten verschiedener Probleme,
z.B. Aggressives Verhalten und Depression.
Phänomenologie
Depression: Unterschiedliche Definitionen und damit auch
unterschiedlicher Verbreitungsgrad (Klinische Störung +
mildere Formen von Verstimmungen)
Allgemein akzeptierte Definition: Psychische Störung, die
durch die Hauptsymptome gedrückte Stimmung,
gehemmter Antrieb, Interesselosigkeit und Freudlosigkeit
sowie ein gestörtes Selbstwertgefühl gekennzeichnet ist.
Ähnlichkeiten zwischen Jugend- und Erwachsenenalter
(‚emotionale Leere‘, engl. Flatness; Anhedonie)
Motorische Symptome (Gesichtsausdruck, Sprache, Haltung)
Emotionale Symptome (Hilflosigkeit, Niedergeschlagenheit)
Physiolog. Symptome (Unruhe, Schlaf- und Appetitlosigkeit)
Imaginative Symptome (Pessimismus, Selbstkritik,
Insuffizienz)
• Motivationale Symptome (Misserfolgsorientierung,
Interessenverlust, Suizid)
Vierte Symptomkategorie wird auch als kognitive Triade
bezeichnet (Beck): Patient hat ein negatives Selbstbild, beurteilt
sich selbst als fehlerhaft, unzulänglich, wertlos und nicht
begehrenswert. Diese Gedanken gehen so weit, dass die
betroffene Person denkt, ihr fehlen Eigenschaften, um glücklich
zu sein. Ausserdem neigt sie dazu, sich zu unterschätzen und zu
kritisieren. Erfahrungen werden in der Regel negativ
interpretiert, subjektiv werden überwiegend Enttäuschungen und
Niederlagen empfunden und auch die Zukunftserwartung ist
negativ geprägt. Eine Veränderung der gegenwärtig
empfundenen Situation wird ebenso wenig als möglich
angenommen, wie eine eigene Beteiligung an dieser.
(->zeitlich-stabile Selbstattribution)
Frage nach der Grenzziehung zwischen ‚normaler‘ und
depressiver Reaktion
Wo liegt die Grenze zwischen ‚normaler‘ und
depressiver Reaktion?
Epidemiologie
Symptomkategorien
ƒ
•
•
•
Mayor Depression (mind. 5 der 9 Symptome innerhalb v. 2. W)
ƒ Depressive Verstimmung
ƒ Vermindertes Interesse/Freude
ƒ Gewichtsverlust/-zunahme resp. Appetit
Keine international repräsentativen Studien, deshalb Ableitung
der Prävalenzraten aus unterschiedlichen Stichproben.
Unterschiedliche Instrumente, Grenzwerte, Definitionen ->
starke Schwankungen.
ƒ Psychomotorische Unruhe oder Verlangsamung
Depressive Verstimmung: Elternsicht: 10% bis 20% der
Jungen; 15% bis 20% der Mädchen; Selbsteinschätzungen
mind. 10% höher. Major Depression: 0.4% bis 5.7%.
ƒ Müdigkeit/Energieverlust
-> Relativ hohe Häufigkeit
ƒ Gefühle der Wertlosigkeits-/Schuldgefühle
-> Eltern unterschätzen depressive Verstimmungen
ƒ Denk-/Konzentrations-/Entscheidungsprobleme
-> Vergleichbarkeit der Prävalenzraten mit Erwachsenen
ƒ Schlaflosigkeit/vermehrter Schlaf
ƒ Wiederkehrende Todesgedanken/Suizidvorstellungen
Komorbidität
Geschlechts- und Altersunterschiede
42% bis 58% (deutlich höhere Rate als bei Erwachsenen)
Zunahme von der Kindheit zur Jugendzeit. Erklärungsmuster:
(1) Abnahme protektiver und Zunahme von Risikofaktoren
(2) Schutz durch fehlende Selbstreflexion und
Selbstüberschätzung im Kindesalter
Am höchsten für:
ƒ Angststörungen
ƒ Störungen des Sozialverhaltens und der
Nahrungsaufnahme
ƒ Substanzgebrauch
ƒ Borderline-Persönlichkeit (Grenz-Störung: Emotional
instabile Persönlichkeit; chaotisches und rücksichtsloses
Leben mit instabilen, aber intensiven Beziehungen,
Impulsivität, Wut und Ärger, Identitätsstörungen und
suizidalem Verhalten.)
Biologische und genetische Faktoren,
Temperament
ƒ Bis 5x höhere Konkordanz von Major Depressionen bei
eineiigen Zwillingen
ƒ Gehäuftes Auftreten affektiver Störungen in bestimmten
Familien
ƒ Fehlende Beweise biologischer Fehlregulation der Hormone
-> Weder Beginn noch Aufrechterhaltung depressiver
Symptome allein durch Vererbungshypothese erklärbar;
solche Faktoren scheinen aber eine gewisse Rolle zu
spielen.
Temperamenteigenschaften als Prädiktor: Individuen mit
schwierigen T-Eigenschaften haben doppelt so hohe
Wahrscheinlichkeit zur Entwicklung depressiver Symptome.
Mädchen ab 12. Lj. depressiver als Jungen.
Erklärungsmuster:
(1) Geringerer Selbstwert, negatives Körperbild; am
ausgeprägtesten bei Frühentwicklerinnen;
(2) frühere Pubertät bedeutet gleichzeitige Bewältigung
mehrerer Entwicklungsaufgaben;
(3) unterschiedliche Verarbeitungsmuster (Mädchen: durch
Grübeln, Jungen durch Ablenkung).
Familie und Peers
ƒ Deutlich höheres Risiko für Kinder mit depressiven Eltern
(generationenübergreifende Weitergabe). Erklärungsmuster:
Biologische Vulnerabilität
ƒ Emotionale Unzugänglichkeit des depressiven Elternteils
ƒ Geringe Erziehungskompetenzen, dysfunktionale Eltern-KindInteraktionen
ƒ Beziehungskonflikte zwischen den Eltern
ƒ Ablehnung und Drangsalierung durch Peers korrelieren mit
Depression; aber depressive Jugendliche haben auch
dyadische Beziehungen zu Gleichaltrigen, allerdings mit dem
Unterschied, dass sie deutlich weniger sozial aktiv sind.
Kognitive Faktoren und frühe negative
Erfahrungen
Bedeutsame Rolle solcher Faktoren (Prädiktorfunktion),
insbesondere i.B. auf internale, stabile Attributionen, negative
Selbstbewertungen, Mangel an Problemlösefähigkeiten.
ƒ Widersprüchliche Befunde i.B. frühem Verlust von
Bindungspersonen und späterer Depression (sensu
Bindungstheorie von Bowlby); ev. ist mangelnde Zuwendung,
nicht Trennung die Hauptvariable.
ƒ Beträchtliche individuelle Differenzen i.B. auf die Reaktion
auf weitere Negativerfahrungen (Scheidung,
Naturkatastrophen, sexueller Missbrauch etc.)
ƒ Tägliche Stressoren spielen ebenfalls eine wichtige Rolle.
Verlauf und Stabilität
Schwierige Voraussage des Verlaufs a.g. häufiger
Komorbidität.
Diagnostizierte Depressionen haben Wiederholungscharakter.
Aufrechterhaltung von Depressionen: Teufelskreis:
Depressive
… werden als wenig belohnend erlebt, deshalb ziehen sich
Mitmenschen zurück.
… erklären erlebte Zurückweisung durch intenal-stabile
Attribution
… sind überzeugt, dass soziale Beziehungen nicht lohnen und
ziehen sich weiter zurück.
Erklärungsansätze: Warum entwickeln sich
Depressionen?
Unklar, warum Einzelne Depressionen entwickeln und andere
nicht, selbst bei schwersten Risikofaktoren
Kognitiv-behaviorale Modelle
Seligmans/Becks Attributionstheorie
Subjektive Überzeugung, dass Ursachen von schlechten Ereignissen internalstabil sind, führt zu Hilf- und Hoffnungslosigkeit und Selbstabwertung)
Lewinsohns Verstärker-Verlust-Modell
Jugendliche mit schlechten Sozialerfahrungen aktivieren solche Schemata
besonders, weil sie häufiger negative Rückmeldungen bekommen und so alle
Versuche gelöscht werden, die eigenen Erfahrungen aktiv und erfreulich zu
gestalten (‚extinction schedule’).
Familiensystemtheorie
Depression als Ergebnis der Aufrechterhaltung eines dysfunktionalen
Familiengleichgewichts.
Depression im Konstanzer Längsschnitt (FendStudie)
Im Bericht zum Longitudinalprojekt "Entwicklung im
Jugendalter“ (fünfmalige Erhebungen bei ca. 2000 Jugendlichen
ab dem 12. bis zum 17. Lebensjahr) werden Ergebnisse über die
Verbreitung von Depressionen bei 16-jährigen Jugendlichen
(erfasst anhand des Beck-Depressionsinventars, BDI) und ihre
Prädiktion durch Merkmale der Ereignis- und
Beziehungsgeschichte vorgestellt.
Hauptfragestellungen
1. Gibt es in dieser Altersphase Hinweise auf depressive
Verstimmungen, wie verbreitet sind sie?
2. Ist die Gefahr für depressive Verstimmungen in der mittleren
Adoleszenz (16 bis 18 Jahre) bereits durch Erfahrungen in der
Kindheit (hier mit 12 bis 13 Jahren) vorgezeichnet und
bestimmen die Persönlichkeitsmuster, die sich am Ende der
Kindheit etabliert haben, die Gefährdungspotentiale für
depressiv Verstimmungen?
Modell der Analyse der Depressionsgenese (Fend, 1995, S. 100)
Ergebnisse
Prävalenzgrad
Geschlechtsspezfik und Ereignisgeschichten
Im Gegensatz zu anderen Untersuchungen sind die Mädchen in der
Gruppe der stark depressiven 16 bis 17jährigen nicht
überrepräsentiert. Hingegen gibt es bei der Prädiktion der
depressiven Verstimmung geschlechtsspezifische Muster.
ƒ Insgesamt ergibt sich eine signifikante Beziehung der negativen
selbstbezogenen Kognitionen am Ende der Kindheit (Ich-Stärke
mit 12 Jahren) mit der Depressionsneigung im 16. bis 17.
Lebensjahr.
ƒ Die Ereignisgeschichten (Schulleistung, soziale Erfolge,
Elterndissens, kritische Lebensereignisse) sind weniger
prädikativ als die sozialen Beziehungsgeschichten.
ƒ Bei Mädchen besteht eine grössere Gefahr der Kumulation
negativer Beziehungsgeschichten in der Familie und in der
Altersgruppe.
ƒ Insgesamt können depressive Verstimmungen bei Mädchen
besser vorhergesagt werden als bei Jungen.
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