Angststörungen bei Jugendlichen Prof. Dr. Tina In-Albon Klinische Psychologie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters Überblick • Symptomatik und Epidemiologie der Angststörungen im Jugendalter • Risikofaktoren • Aktueller Stand Psychotherapieforschung • Komponenten einer wirksamen Psychotherapie – Wie kann die Therapie wirksamer werden? – Neue Therapieformen • Schlussfolgerungen und Ausblick Klinische Psychologie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters Ängste: Teil des Lebens • Aufmerksam zu sein • Gefahren zu erkennen • Angemessen zu handeln Zuviel? • Langandauernd • Unangemessen, übermäßig • Beeinträchtigung, Leidensdruck Klinische Psychologie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters Folie 3 Symptomatik Komponenten-Modell der Angststörungen Gedanken „Ich blamiere mich“, „Bin ich gut genug?“ Gefühle Angst, Scham Verhalten Körper Vermeidung, Rückzug, Unsicherheit, Weinen Kopf- oder Bauchschmerzen, Übelkeit Angststörungen • Störung mit Trennungsangst • Spezifische Phobien • Generalisierte Angststörung Klinische Psychologie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters Folie 5 Symptomatik Soziale Angststörung • Angst in sozialen Situationen; Leistungssituationen, Interaktionen, Beobachtung • Spezifika: – Altersuntypische Interessen oder Hobbys – Innere Vorstellungswelt – Weinen von Jugendlichen in für sie schwierigen Situationen Albano et al., 1995; Rottenberg, 2008; Steil et al., (2013) Symptomatik Angstauslösende Situationen für Jugendliche • • • • • • • • • Vor einer Gruppe laut vorlesen (90%) Partys (90%) Den Lehrer um Hilfe bitten (87%) Musikalische oder athletische Auftritte (87%) Einen Freund einladen (81%) Prüfungen (76%) An der Tafel schreiben (76%) Mit anderen Jugendlichen arbeiten oder spielen (75%) Am Telefon reden oder antworten (75%) Beidel et al., 1999, 2007 Symptomatik Sicherheitsverhaltensweisen • Starkes Make-up • Leises, schnelles Sprechen • Exzessive Hausaufgabenvorbereitung bzw. Hausaufgaben nicht erledigen • Vermeidung von Blickkontakt • Mit dem Handy spielen • Aufsuchen der Toilette • Alkohol trinken • Vortrag auswendig lernen • Ständiges Überprüfen, wie man auf andere wirkt Klinische Psychologie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters Symptomatik Panikstörung • Erleben und Angst vor wiederkehrenden Panikattacken (einhergehend mit Herzrasen, Atemnot, Schwindel) • Besorgnis über das Auftreten weiterer Panikanfälle • Sorgen über deren Bedeutung oder deren Konsequenzen Symptomatik Agoraphobie • Deutliche und anhaltende Furcht oder Angst vor verschiedenen Situationen/Orte • Angst an Orten zu sein, von denen eine Flucht schwierig oder peinlich sein könnte Klinische Psychologie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters Symptomatik, Klassifikation DSM-5 Änderungen • Soziale Angststörung – Leistung, Interaktion, Beobachtung – Subtypus: Leistungsangst • Störung mit Trennungsangst – Alterskriterium vor 18. Lebensjahr aufgehoben – Dauer mind. 6 Monate • Spezifische Phobien – Berücksichtigung soziokultureller Kontexte – „Übertrieben und unangemessen“ ersetzt durch „out of proportion to the actual danger or threat“ • Selektiver Mutismus • Panikstörung und Agoraphobie: eigenständige Störungen APA, 2013 Epidemiologie Lebenszeitprävalenzen AS Jugendalter Essau et al., 1998 (12-17 Jahre) Merikangas et al., 2010 (13-18 Jahre) w m Total (n = 1035) w m Total (n = 10´123) Irgendeine Angststörung 21,8 13,8 18,6 38 26,1 31,9 Generalisierte Angststörung 0,3 0,5 0,4 3 1,5 2,2 Agoraphobie 4,9 2,9 4,1 3,4 1,4 2,4 Soziale Phobie 2,1 1,0 1,6 11,2 7 9,1 Spezifische Phobie 4,2 2,4 3,5 22,1 16,7 19,3 Panikstörung 0,5 0,5 0,5 2,6 2 2,3 Essau et al. (1998). Verhaltenstherapie; Merikangas et al. (2010). J Am Acad Child Adolesc Psychiatry Epidemiologie Prävalenzraten im Verlauf (9-26 Jahre) Copeland et al. (2014) JAACAP Mind. 1 Angststörung Soziale Angststörung Störung mit Trennungsangst Panikstörung Erstauftretensalter psychischer Störungen Trennungsangst, SPP ADHS Angststörungen 7 11 Epidemiologie 50% 13 Soziale Phobie Störungen durch Substanzkonsum 14 20 30 Alter in Jahren Affektive Störungen -> Hälfte aller Lebenszeitdiagnosen beginnen vor 14. Lebensjahr Kessler et al. (2005). Arch Gen Psychiatry; Kim-Cohen et al. (2003). Arch Gen Psychiatry Epidemiologie Epidemiologische Facts • Geschlechterunterschiede – Anstieg der Angstsymptomatik bei weiblichen Jugendlichen, Stabilisierung und Rückgang bei männlichen Jugendlichen (Legerstee et al., 2013. J Can Acad Child Adol Psy; Beesdo et al., 2009. Psy Clin N Am) • Komorbidität – BJS: 51% (Essau, 2003. Depr Anx) – AS und Depressionen • Verlauf – Kontinuierlich: Kindheit, Jugend- bis ins Erwachsenenalter (Beesdo-Baum et al., 2012. Depr Anx) Klinische Psychologie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters Angststörungen Epidemiologie Angststörungen im Jugendalter als Risikofaktor Angststörungen Angststörungen im Jugendalter Affektive Störungen Substanzabhängigkeit Schmerzstörungen Suizidgedanken und -versuche • • • Geringere Schulleistungen Soziale Schwierigkeiten Körperliche Gesundheitsprobleme Boden et al. (2007). Psychol Med; Brückl et al. (2007). Psychother Psychosom; Lewinsohn et al. (2008). J Am Acad Child Psychiatry; Woodward & Fergusson (2001). J Am Acad Child Psychiatry. Beesdo et al. (2009). Psychiatric Clin N America; Asendorpf, 2008 und nun? Epidemiologie Versorgung von psychischen Störungen im Jugendalter? • Nur ca. 20 % der Kinder und Jugendlichen mit internalisierenden Störungen erhalten professionelle Hilfe (Essau, 2005; Sauer et al., 2014. BMC Public Health) • Problem der Erkennung (In-Albon et al., 2010. SMW) – Pädiater in der Schweiz: • Kinder/Jugendliche mit Angststörungen häufig, aber geringe Sicherheit bei der Diagnose (Angststörung und Depression) • Inanspruchnahmeverhalten bei Jugendlichen am geringsten (Runge et al. 2008. Verhaltenstherapie) • Einstellung Jugendlicher zu Diagnose und Behandlung: ablehnend, ambivalent (Moses, 2009. Soc Sc Med) Angststörungen Epidemiologie Zwischenfazit • Angststörungen im Jugendalter sind die häufigsten psychischen Störungen • Risikofaktor für die weitere psychische, soziale und gesundheitliche Entwicklung • Unterversorgung bzw. zu häufige Nichterkennung von Angststörungen à wirksame Behandlungen notwendig! Klinische Psychologie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters Risikofaktoren Risikofaktoren- eine Auswahl • • • • • • • • Elterliche Psychopathologie (Micco et al., 2009; Gregory & Eley, 2007) Behavioral Inhibition (Degnan et al., 2010) Erziehungsstil (McLeod et al., 2007) Erhöhtes Cortisol-Level (Sallee & March, 2001) Chronische Krankheiten in der Kindheit (Pinquart & Shen, 2010) Lernerfahrungen (Field et al., 2008) Belastende Lebensereignisse (Faravelli & Pallanti, 1989) Kognitive Verzerrungen (Schneider et al., 2002; In-Albon et al., 2010; Woud et al., 2014) • Panikattacken (Goodwin & Gotlib, 2004; Reed & Wittchen, 1998) • Angstsensitivität (Schmidt et al., 2006) Psychotherapieforschung „Efficacy“ Psychotherapie bei Angststörungen- Übersichtsarbeiten ES (Cohen‘s d) 1.4$ Großer Effekt 1.2$ 1$ 0.8$ Moderater Effekt Geringer Effekt 1.16$ 0.86$ 0.74$ 0.91$ 0.66$ 0.54$ 0.6$ 0.4$ 0.2$ 0$ Casey$&$Berman$ Weisz$et$al.$ (1985)$ (1987)$ Weisz$et$al.$ (1995)$ In>Albon$&$ Schneider$ (2007)$ Silverman$et$al.$ Reynolds$et$al.$ (2008)$ (2012)$ Casey & Berman (1985). Psychol Bull; In-Albon & Schneider (2007). Psychother Psychosom; Silverman et al., (2008). J Clin Child Adol Psychol; Weisz et al., (1987) (1995). J Consult Clin Psychol. Wirksamkeit Psychotherapie bei Jugendlichen mit AS ES 1.6 1.4 1.2 1 0.8 0.6 0.4 0.2 0 Baer und Garland (2005) n= 12 Ginsburg und Drake (2002) Hayward et al. Masia-­‐Warner et Melfsen et al. Masia-­‐Warner et (2000) al. (2005) (2011) al. (2007) Psychotherapieforschung Therapiesetting • Individuell vs. Gruppenangebot – Keine unterschiedliche Wirksamkeit • Ambulant vs. Stationär – Suizidalität – Bisheriger Verlauf – Familiäre, soziale Ressourcen • Jugendliche-fokussiert vs. Einbezug der Eltern – Gewährleistung der Autonomie des Jugendlichen – Erhöhung Selbstwert, Selbstwirksamkeit In-Albon & Schneider (2007). Psychother & Psychosom; Silverman et al. (2009). J Consult Clin Psychol; Pössel & Hautzinger (2006). Z Kinder Jugendpsychiatr Psychother. Psychotherapieforschung Kind vs. Familienzentriert ES (Cohen‘s d) n= 12 n= 9 In-Albon & Schneider (2007). Psychother & Psychosom. Psychotherapieforschung Beispiel 2: Kindzentriert vs. starker Einbezug der Mutter Effektstärke d, prä-post Moderater Effekt Geringer Effekt N=48 N=40 Silverman et al. (2009). J Consult Clin Psychol. Psychotherapieforschung Psychotherapieforschung Zwischenfazit: Stand Psychotherapieforschung • KVT bei Angststörungen im Jugendalter ist wirksam – Kindes- vs. Jugendalter? • Forschung zum Therapiesetting notwendig Klinische Psychologie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters Psychotherapie Psychotherapie im Jugendalter und deren praktische Umsetzung • Körperliche und soziale Veränderungen • Einwilligung der Eltern, selbstständige Beantragung • Entwicklungsaufgaben: Unabhängigkeit Eltern, Übernahme sozialer Verantwortung – „Emerging adulthood“ (Arnett, 2000) -> Therapiemotivation Klinische Psychologie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters Psychotherapie Therapieplanung und –gestaltung bei Angststörungen • Diagnostik • • • • Psychoedukation Herleitung eines Störungsmodells Bearbeitung dysfunktionaler Gedanken Vorbereitung und Durchführung von Konfrontationsübungen und Verhaltensübungen • Rückfallprophylaxe Klinische Psychologie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters Behandlungsinhalte • Vermittlung des kognitiven Störungsmodells – Sicherheitsverhalten – Selbstaufmerksamkeit – Clark & Wells Modell • Veränderung ungünstiger kognitiver Prozesse (2-5) – Experiment Selbstaufmerksamkeit, Sicherheitsverhalten, innere Vorstellungsbilder – Aufmerksamkeitstraining • Überprüfung von Überzeugungen (6-16) – Verhaltensexperimente – Rollenspiele • Veränderung von Überzeugung mit verbalen Methoden (17-21) – Umstrukturierung • Modifikation von Vorstellungsbildern (22-23) – Imagination Steil, Matulis, Schreiber, Stangier (2011). Beltz Psychotherapie Konfrontation in vivo- wie kann die Wirksamkeit der Methode der Wahl gesteigert werden? • Therapeut – Vorbereitung – Konfrontationen in vivo massiert, so oft wie möglich, in unterschiedlichen Kontexten durchführen – Verschiedene Modalitäten – Begleitete Konfrontation – Compliance erhöhen (Motivationales Interview, Apps) – Verfügbarkeit von Hinweisreizen – Emotionen verbal benennen • Patient – Regelmäßige Anwesenheit – Hausaufgaben Glenn et al. (2013). JCCP; Kircanski et al. (2012). Psychological Science; Arch & Craske (2009). Psychiatr Clin N. Gloster et al. (2009). Europ Arch Psych Clin Neuroscience Psychotherapie Neue Therapieformen • Transdiagnostische Therapie (Ehrenreich & Chu, 2013; Barlow) – Jugendliche (12-17 Jahre) – Emotionsregulation – Dysfunktionale Gedanken • Internet basierte Therapien – Cool Teens (Wuthrich et al., 2012) – BRAVE (13-17 Jahre) (Spence et al. 2006, 2011. JCCP) • D-Cycloserine (Hofmann, 2014) BRAVE Beeinflusst Psychotherapie der Eltern die Psychopathologie ihres Kindes? Alter der Kinder: T1=10.8 Jahren T2=18.2 Jahre Eltern mit Panikstörung: N=48 ES bei Kindern (Cohen´s d) Erfolgreiche Therapie vs. keine Therapie Erfolglose Therapie vs. keine Therapie 2 Grosser Effekt 1 Moderater Effekt Geringer Effekt 0 Angstsensitivität Agoraphobie Depression Selbstwirksamkeit Schneider, In-Albon, Nündel & Margraf (2013). Psychotherapy & Psychosomatics. Schlussfolgerungen und Ausblick • Angststörungen im Jugendalter und ihre gesundheitspolitische Wichtigkeit • Verhaltenstherapie wirksam • Versorgung – Bessere Erkennung – Verbreitung wirksamer Therapien (evidence based > usual care, Weisz et al., 2013, JAMA) – Verbesserung der Wirksamkeit • Für welche Jugendliche/Familie, welches Setting? • Psychische Gesundheit beginnt mit Prävention – Emotionsregulation Klinische Psychologie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! [email protected]