Psychotherapie der Angststörungen im Kindes- und Jugendalter Prof. Dr. Silvia Schneider Klinische Kinder- und Jugendpsychologie Fakultät für Psychologie Ruhr-Universität Bochum FORSCHUNGS UND BEHANDLUNGSZENTRUM FÜR PSYCHISCHE GESUNDHEIT © Prof. S. Schneider, Folie 1 Furcht als Gefängnis „The only real prison is fear, and the only real freedom is freedom from fear.“ Das Ziel der Behandlung ist es, Kinder und Jugendliche mit Angststörungen dauerhaft aus dem Gefängnis ihrer Angst zu befreien. © Prof. S. Schneider, Folie 2 Aung San Suu Kyi, Friedens-Nobelpreis 1991 Kurz- oder langfristig? Was zählt wirklich (und wo haben wir Daten)? ! !! Prä Post ✓ © Prof. S. Schneider, Folie 3 Katamnese kurzfristig z.B. 1 Jahr !!! Katamnese langfristig z.B. 5-25 Jahre ✗ Überblick • Zur Bedeutung von Angststörungen bei Kindern • Evidenzbasierung von Psychotherapien bei Angststörungen im Kindes- und Jugendalter • Optimiertes Extinktionslernen • Wie bringen wir unser Wissen in die Anwendung? © Prof. S. Schneider, Folie 4 Überblick • Zur Bedeutung von Angststörungen bei Kindern • Evidenzbasierung von Psychotherapien bei Angststörungen im Kindes- und Jugendalter? • Optimiertes Extinktionslernen • Wie bringen wir unser Wissen in die Anwendung? © Prof. S. Schneider, Folie 5 Angststörungen Lebenszeitprävalenzen in Prozent 50 40 30 20 29 25 10 0 Kinder/Jugendliche © Prof. S. Schneider, Folie 6 Erwachsene http://www.nimh.nih.gov/health/statistics/prevalence/any-anxiety-disorder-among-adults.shtml Risikoperiode Angststörungen Beginn Angststörungen: 50% ≤ 11 Jahre 75% ≤ 21 Jahre Vorschule 0 © Prof. S. Schneider, Folie 7 10 20 Schule Frühe Jugend 40 Alter in Jahren Späte Jugend 60 80 Kessler et al., Arch. Gen. Psychiatry, 2005, 62, 593-­‐602 Schrittmacher Kinder-Störungen Affektive Störungen AbhängigkeitsAngst- störungen Störungen Aggressive Verhaltensstörungen ADHS 0 © Prof. S. Schneider, Folie 8 10 20 Kontinuität statt Diskontinuität! Frühe Jugend 40 Alter in Jahren 60 80 Hemmi, M., Wolke, D., Schneider, S. (2011). Archives for Disease in Childhood, 96, 622-629. Kossowsky, J., Pfaltz, M., Schneider, S., Taeymans, J., Locher, C., Gaab, J. (2013). The American Journal of Psychiatry. Kinderängste≠Kinderkram • Angststörungen des Kindesalters sind zu erheblichem Anteil stabil bzw. Risikofaktor für psychische Störungen des Erwachsenenalters • Früherkennung und Behandlung von Angststörungen muss hohen Stellenwert haben • Behandlung der Angststörungen des Kindesalters bedeutet auch Prävention psychischer Störungen des Erwachsenenalters © Prof. S. Schneider, Folie 9 Überblick • Zur Bedeutung von Angststörungen bei Kindern • Evidenzbasierung von Psychotherapien bei Angststörungen im Kindes- und Jugendalter • Aktuelle Entwicklungen • Wie bringen wir unser Wissen in die Anwendung? © Prof. S. Schneider, Folie 10 Allgemeine Metaanalysen Psychotherapie (N=3, Ein-/Ausschlusskriterien) Einschluss: • Alter 4-19 Jahre • Mehr als 50 RCTs, (N>2500, passive/aktive Kontrollgruppe) – Aktive KG: Psychoedukation, Entspannung, aber keine Exposition • DSM, ICD Diagnose, Komorbidität explizit erlaubt • N>10 Ausschluss: • Psychotische Symptome • Intelligenzminderung • Parallelbehandlung mit anderer psychosozialer Intervention oder Medikamenten – Manche Studien erlauben konstante Medikation während PT • Rekrutierung: Medien, Ambulanzen, Universitätskliniken © Prof. S. Schneider, Folie 11 In-Albon & Schneider, 2007, James et al. 2013, Reynolds et al. 2012 Metaanalysen Effektstärken Psychotherapie Between ES bei Ende der Therapie 0,72 MED-Placebo © Prof. S. Schneider, Folie 12 MED: SSRI (Fluoxetin, Fluvoxamin, Paroxetin, Sertralin) und SNRI (Duloxetin, Venlafaxin) Inhalte der KVT Studien • Konfrontationsverfahren (91%) – große Bandbreite von Dosierung und Intensität • Kognitive Interventionen (67%) • Entspannungstechniken (52%) In-Albon & Schneider (2007). Psychotherapy & Psychosomatics. © Prof. S. Schneider, Folie 13 Langzeiteffekte von KVT (3-10 Jahre) (Teilnahmerate: 47-91 %) Langfristige Wirksamkeit! Cave: kleines N, z.T. geringe Teilnahmerate © Prof. S. Schneider, Folie 14 Funktioniert KVT in der Routinepraxis? N Alter bei Therapiebeginn in Jahren (MW, SD) Mädchen N Sitzungen (MW) Dropouts © Prof. S. Schneider, Folie 15 Kinder Kinder (Effectiveness) (Meta-Analyse) 84 1275 11.29 (1.77) (7-15) 10.9 (6-18) 41 (54%) 715 (56%) 16.3 (11-19) 12.3 (3-18) 11 % 15 % Kinder mit Angstdiagnose (%) vor und nach manulasierter KVT: ITT und Completers Analyse Intent-to-treat Analyse (%) Subklinische Diagnosen (%) Completers Analyse (%) 35 30 25 20 15 10 5 0 Child Parent ITT © Prof. S. Schneider, Folie 16 Completers Schneider et al. In Vorbereitung „Brauchen wir die Eltern?“ © Prof. S. Schneider, Folie 17 Direkter Vergleich KVT mit vs. ohne Eltern Meta-Analyse: Angststörungen Keine Überlegenheit von Programmen mit explizitem Elterneinbezug! Stattdessen leichte Überlegenheit für Kind alleine Behandlung (Thulin et al., 2014) © Prof. S. Schneider, Folie 18 Thulin U. (2014). Cognitive Behaviour Therapy, 43, 185-200 Zusammenfassung Psychotherapie • Konsistente Studienergebnisse verschiedener Autorengruppen für KVT mit mittleren bis großen ES, mehr als 50 RCTs (2500 Patienten) mit hoher methodischer Qualität • Konsistente Studienergebnisse für langfristige Wirksamkeit von KVT (FU 3 bis zu 16 Jahren, > 10 Studien) • Überlegenheit gegenüber anderen aktiven Kontrollbedingungen • Effectiveness und Efficacy Studien: Konsistente Studienergebnisse, die die Übertragbarkeit der „Laborstudien“ auf die Routinepraxis nachweisen • Systematische Prüfung von Moderatoren des Therapieerfolgs (z. B. Alter, Komorbidität, Schweregrad der Angststörung) © Prof. S. Schneider, Folie 19 Störungsspezifische Wirksamkeit • Angststörungsspezifische RCTs für KVT, Wirksamkeitsnachweis für – Spezifische Phobie – Störung mit Trennungsangst – Elektiver Mutismus – Soziale Phobie / Angststörung – Generalisierte Angststörung – Panikstörung mit / ohne Agoraphobie • Keine störungsspezifische Studien für Medikamente oder anderes PT-Verfahren © Prof. S. Schneider, Folie 20 Psychodynamische Psychotherapie Diagnosen vor und nach PaCT Behandlung (Completers, non-RCT) N=30, 4-10 Jahre 12 Mädchen Figure: Any Anx any anxiety disorder; GAD generalized anxiety disorder; SOP social phobia; SP specific phobia; Dep depression (major depression, depression not other specified, dysthymia). © Prof. S. Schneider, Folie 21 Göttken et al. (2014) , Psychotherapy, 51, 148-158 Systemische Therapie KVT und Bindungsbasierte Familientherapie • Vergleich von KVT vs. KVT + Bindungsbasierter Familientherapie • Randomisierte kontrollierte Studie (RCT) • 11 Kinder mit primärer Diagnose von Generalisierter Angststörung (und komorbiden Störungen) • Alter 12-17 Jahre, 8 Jungen, 3 Mädchen © Prof. S. Schneider, Folie 22 Siqueland, L., Rynn, M., & Diamond, G. (2005). Cognitive behavioral and attachment based family therapy for anxious adolescents: Phase I and II studies. Journal of Anxiety Disorders, 19, 361–381. Systemische Therapie Ergebnisse: prä - follow up Effektstärke 3 Effektstärke 2,5 2 1,5 KVT KVT + BFT 1 0,5 0 Angst (Selbst) © Prof. S. Schneider, Folie 23 Angst (Fremd) Elterliche Kontrolle (Kind) Elterliche Kontrolle (Eltern) Siqueland, L., Rynn, M., & Diamond, G. (2005). Cognitive behavioral and attachment based family therapy for anxious adolescents: Phase I and II studies. Journal of Anxiety Disorders, 19, 361–381. CAMS Study: Child Anxiety Multimodal Study (N=488, 7-17 Jahre, MW=10,7, 49,6 % weiblich) Klinische Werte Pediatric Anxiety Rating Scale (PARS) Erwarteter Mittelwert (0-30) • kombinierte Behandlung bei Therapieende anderen Behandlungsarmen 22 überlegen • ab 20 6 Monate FU und allen weiteren FUs keine Gruppenunterschiede 18 • selektierte Stichprobe (z.B. keine Schulvermeidung) 16 • niedrige Effektstärke der KVT: d=0,31 vs. d=0,86 (MW, Metaanalyse) 14 12 10 Prädiktoren von höherem Behandlungserfolg Plazebo 8 • geringe externalisierende Symptome/geringe Beeinträchtigung KVT allein 6männliches Geschlecht Sertraline allein • 4funktionierendes Familienklima Kombination • 2höherer sozioökonomischer Status • 0keine weitere Behandlung nach Studientherapie 0 4 8 12 Wochen © Prof. S. Schneider, Folie 24 Walkup et al. (2008). New England Journal of Medicine, 359 Ginsburg et al. (2014) JAMA Zwischenfazit • Hohe Evidenz für Wirksamkeit von KVT bis zu 1 Jahres-FU, Evidenzhinweise für langfristige Wirksamkeit • Schwache Hinweise für Psychodynamische PT und systemische PT • Hohe Evidenz für kurzfristige Wirksamkeit von Medikamenten – Ausschluss komorbider Diagnosen: Generalisierbarkeit? – Mehrheitlich Industriefinanziert – Keine Langzeitkatamnesen © Prof. S. Schneider, Folie 25 Überblick • Zur Bedeutung von Angststörungen bei Kindern • Evidenzbasierung von Psychotherapien bei Angststörungen im Kindes- und Jugendalter? • Optimiertes Extinktionslernen • Wie bringen wir unser Wissen in die Anwendung? © Prof. S. Schneider, Folie 26 Alles gut? Nicht alle Patienten profitieren, 30-40 % zeigen keinen oder keinen stabilen Erfolg! © Prof. S. Schneider, Folie 27 Das „Exposure Prinzip“ “Exposure therapy is one of the biggest success stories in mental health” Isaac M. Marks © Prof. S. Schneider, Folie 28 Marks et al. 1987 Isaac Marks: Das Exposure Prinzip • Konzentration auf Exposition, Eliminierung redundanter Komponenten wie bspw. Entspannung • Exposition: “pure, potent crystal” wie Insulin für Diabetes Ø Nächster Schritt: “find out precisely which mechanism underlies response decrement during exposure” © Prof. S. Schneider, Folie 29 Marks et al. 1987 Nächster Schritt: Mechanismen verstehen und Exposureintervention optimieren Habituation oder Extinktionslernen oder beides? CS Angst ➊ US Gedächtnis nach KondiOonierung ➋ ➌ CS US ➍ ➊ Erste Übung ➋➌ Nachfolgende Extinktion ➍ Letzte Übung © Prof. S. Schneider, Folie 30 Zeit CX Gedächtnis nach ExOnkOon Bouton, 1993 Strategien zur Optimierung von Exposition in der klinischen Praxis (übersetzt und modifiziert nach Craske et al., 2014) © Prof. S. Schneider, Folie 31 Mohr & Schneider (2015). Verhaltenstherapie, 25, 32-39 BMBF Studie Kinder bewältigen Angst „KibA“ • Erstmalige Umsetzung optimierter Expositionstherapie bei Kindern aufbauend auf Grundlagenforschung zu Extinktionslernen • Finale Klärung der Rolle des Einbezugs der Eltern in der Behandlung von Angststörungen im Kindesalter • Transgenerationale Effekte von Expositionstherapie © Prof. S. Schneider, Folie 32 Therapieinhalte • • • • • „Abgespeckte“ kindgerechte Psychoedukation Einführung des Expositionsrationals Hochfrequente Exposition in vielen Kontexten Konsolidierungsphase Erneute Exposition in verschiedenen Kontexten © Prof. S. Schneider, Folie 33 Do´s und Don´ts bei Expositionen Auswahl und Ausgestaltung der Übungssituation • Die Übungen müssen individuell an die Symptomatik des Kindes angepasst sein. • Begonnen wird mit leicht bis mittel stark angstauslösenden Situationen. • Die Übungen werden in zufälliger Reihenfolge durchgeführt. • Übungen werden variiert und in verschiedenen Situationen wiederholt. • Vertiefte Extinktion: Verschiedene Angstreize sollen miteinander kombiniert werden. • Erfolge werden festgehalten: (Handyfoto/Eintrittsticket... für das Expositionstagebuch) © Prof. S. Schneider, Folie 34 Zentrales Prinzip: Erwartungsverletzung © Prof. S. Schneider, Folie 35 Fazit • Angststörungen im Kindes- und Jugendalter beginnen früh und sind Schrittmacher für psychische Störungen des Erwachsenenalters • Stärkste und umfassendste Evidenzbasierung liegt für KVT vor • Exposition als zentrale Intervention von KVT • Translationale Forschung zur Optimierung von Extinktionslernen wirkt vielversprechend • Wichtig: Erfahrungswissen nicht stärker gewichten als datenbasierte Indikationsentscheidungen © Prof. S. Schneider, Folie 36 Psychotherapie der Angststörungen des Kindes- und Jugendalters Prof. Dr. Silvia Schneider Klinische Kinder- und Jugendpsychologie Fakultät für Psychologie Ruhr-Universität Bochum FORSCHUNGS UND BEHANDLUNGSZENTRUM FÜR PSYCHISCHE GESUNDHEIT © Prof. S. Schneider, Folie 37