Essay: Prof. Dr. Patrick Cramer „Der Systemwechsel in den Lebenswissenschaften“ Als Experte auf dem Gebiet der Biochemie hat Prof. Dr. Patrick Cramer die Arbeitsweise molekularer Kopier­ maschinen – in der Fachsprache RNA-Polymerasen genannt – präzise bis in atomare Details untersucht. Doch der Direktor des Genzentrums der LMU München hat nicht nur den Blick fürs Molekulare, sondern auch für neue systemweite Analyse-Methoden. Diese durchdringen mittlerweile die gesamte Biotechnologie und Biomedizin. In seinem Essay erläutert er, wie das die Zukunft der Lebenswissenschaften revolutionieren wird. Essay 38 Forscher sind an unerwartete Ergebnisse gewöhnt – und dennoch war das Staunen groß: Ist das wirklich alles? Seit der Entschlüsselung des menschlichen Genoms zu Beginn des Jahrtausends stehen Experten in den Lebenswissenschaften vor einem Rätsel: Unsere gesamte Erb-Information besteht aus nur etwa 25.000 Genen. Der Mensch hat damit nicht mehr Gene als eine Maus. Und sogar einfache Pflanzen können mit 100.000 Genen deutlich mehr Erb-Material vorweisen. Aber wenn sich die Komplexität eines Organismus nicht in der Anzahl seiner Gene widerspiegelt, worin dann? Mehr als zehn Jahre später sind wir schon etwas schlauer: Nicht die Anzahl der Gene scheint für die Komplexität entscheidend zu sein, sondern vielmehr die Möglichkeiten, wie vielseitig unsere Erb-Information genutzt werden kann. Denn obwohl jede Zelle unseres Körpers das gleiche Genom enthält, wird es doch sehr unterschiedlich eingesetzt. Nur so können sich einzigartige Zelltypen wie Nerven- oder Knochenzellen ausbilden. Um zu verstehen, wie sich die verschiedenen Zelltypen entwickeln und wie sie funktionieren, genügt es nicht allein ihr Genom zu kennen. Vielmehr müssen wir die einzelnen Zellen und die verschiedenen Zellverbände in unserem Organismus als ein komplexes System begreifen, dessen Komponenten im steten Austausch stehen. Molekulare Systembiologie: konsequente Weiter­entwicklung in den Lebenswissenschaften Diesem Ziel widmet sich die molekulare Systembiologie: Die konsequente Weiterentwicklung in den Lebenswissenschaften betrachtet nicht mehr einen isolierten Teilbereich der Molekularbiologie, sondern das Zusammenspiel der Komponenten im System Zelle. Eines der wichtigsten Instrumente der molekularen Systembiologie stellen moderne Hochdurchsatz-Methoden dar: Mithilfe der DNA-Sequenziertechnologie können wir zum Beispiel innerhalb von Tagen Millionen kurzer DNA-Sequenzen bestimmen – und damit sowohl gesamte Genome als auch Gen-Produkte erfassen. Neue Techniken wie diese ermöglichen es heute also, die Komponenten des Systems Zelle schnell zu erfassen – und die Interaktionen dieser Komponenten zu kartieren. Beispielsweise steht im Mittelpunkt unserer Forschung am Genzentrum der LMU München die Funktion des Genoms im Zellkern. Heute wissen wir: Nur wenn eine Zelle ihre DNA gezielt nutzt, kann sie auf innere und äußere Reize reagieren und die benötigten Eiweißmoleküle – die Proteine – herstellen. Damit die richtigen Gene zur richtigen Zeit am richtigen Ort zum Einsatz kommen, werden Kopien von den benötigten Bereichen der DNA hergestellt. Diese sogenannten RNAKopien dienen als eine Art „Bauanleitung“ für die Proteine. Dafür werden sie aus dem Zellkern transportiert und schließlich für die Herstellung der Eiweißmoleküle genutzt. GenTranskription heißt dieser Prozess von der DNA zur RNA – und stellt den zentralen Regulationsschritt bei der Nutzung der Erbinformation dar. Verantwortlich für diesen Schlüsselschritt im Zellkern ist ein großes Enzym, die RNA-Polymerase II. Im Lauf des letzten Jahrzehnts konnten wir die atomare Struktur der RNA-Polymerase II in vielen funktionalen Zuständen bestimmen. Alle Erkenntnisse zusammen ergeben einen molekularen Film der Gen-Transkription. In diesem Film ist die RNA-Polymerase II dabei zu beobachten, wie sie den Beginn eines Gens erkennt, wie sie an der DNA entlanggleitet und parallel eine RNA-Kopie erstellt. Allerdings erklären solche molekularbiologischen Studien nicht, wann welches Gen in welchen Zellen wie stark genutzt – also abgelesen – wird. Daher haben wir begonnen, den molekularbiologischen Ansatz durch eine systembiologische Analyse der Genaktivität zu erweitern. So können wir nun die RNA-Polymerase II und ihre vielen Helferproteine in lebenden Zellen entlang des Genoms kartieren und die Gesamtheit der RNA-Produkte einer Zelle erfassen. Diese Methoden wurden an einem einfachen Modell­ Technologie Prof. Dr. Patrick Cramer, Direktor des Genzentrums der Ludwig-Maximilians-Universität München, engagiert sich derzeit auch im Aufbau eines interdisziplinären Zentrums für Molekulare Biosysteme. Systembiologie: Mathematische Daten-Analyse führt zu neuen Modellen und Hypothesen Molekulare Systembiologie organismus – der Bäckerhefe – entwickelt. Doch sie lassen sich oft auf andere Zellen übertragen und können deshalb auch zur Untersuchung der Genomaktivität in menschlichen Zellen genutzt werden. Molekularbiologie: Experimente im Labor generieren neue Daten Analysen in Modellorganismen lassen sich oft auf menschliche Z­ ellen übertragen Wir erhalten einen Überblick über den kompletten RNAStoffwechsel. Erst dank dieser neuen umfassenden AnalyseMethoden lässt sich erkennen, wie und in welcher Dynamik die Erbinformation in einer Zelle umgesetzt wird. Wenn wir unsere Zellen in Versuchen im Labor nun äußeren Einflüssen wie Stress-Situationen aussetzen, erhalten wir zusätzliche Einblicke, wie eine Zelle auf veränderte Umwelteinflüsse reagiert. So faszinierend all diese Experimente sind, so klar ist auch: Die neuen Methoden generieren eine enorme Menge an neuen Daten. Eine sinnvolle und effiziente Auswertung der DNA- und RNA-Sequenzierung ist daher ohne eine mathematische Analyse unmöglich. Daher ist für unsere Arbeit eine enge Zusammenarbeit mit Bioinformatikern und Statistikern essenziell. Experten dieser Disziplinen unterstützen uns dabei, die gemessenen Daten zu analysieren – und darauf basierend Hypothesen und Modelle zu erstellen. Solche Hypothesen müssen dann experimentell überprüft werden. Besonders auffällige Gene oder Gen-Produkte müssen in der Folge einer detaillierten biochemischen Analyse unterzogen werden. Unsere Um die genauen Ursachen und Auswirkungen in solch krankhaft veränderten Zellen zu verstehen, ist somit ein detailliertes Verständnis der Zusammenhänge zwischen Genom und zellulärem Stoffwechsel notwendig. Unser immer besseres Verständnis über das Netzwerk Zelle wird sowohl die Diagnose als auch das Finden personalisierter Therapieansätze erleichtern. In Zukunft wird daher auch zunehmend die Genom-Information bei der Diagnose einer Erkrankung eine Rolle spielen. Denn sie kann die Patienten in verschiedene Gruppen einteilen, für die eine speziell auf ihr Genom zugeschnittene Therapie verfügbar ist. Mitautorin Dr. Friederike Itzen www.research.bayer.de/essay-cramer Weitere Infos zum Thema 39 Bayer research _ 24 Forschung benötigt daher mehr denn je die Zusammenarbeit von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern unterschiedlicher Fachgebiete wie der Molekular- und Strukturbiologie, der Informatik und der Statistik. Im regen Austausch müssen die Forscher eine gemeinsame Sprache entwickeln, damit etwa Informatiker die biologischen Fragen verstehen und Biologen die Signifikanz der Daten und Messfehler sehen. Das Potenzial solcher systembiologischer Untersuchungen für die medizinische Forschung wird offensichtlich, wenn man fehlregulierte Zellen im Menschen betrachtet. Wir wissen heute, dass viele Krankheiten nicht durch eine einzelne Veränderung im Genom – eine sogenannte Mutation – ausgelöst werden, wie dies beispielsweise bei angeborenen Stoffwechsel-Erkrankungen der Fall sein kann. Die meisten komplexen Krankheiten wie etwa Krebs beruhen hingegen auf mehreren Mutationen, die bei entsprechenden Umweltbedingungen zu Dysregulationen in der Erbinformation im Zellkern und letztendlich zum Ausbruch der Krankheit führen können.