der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie St. Annastiftskrankenhaus · Karolina-Burger-Straße 51 · 67065 Ludwigshafen am Rhein · www.st-annastiftskrankenhaus.de Elterninformation zu Angststörungen Ängste sind v. a. im Kindesalter ein relativ häufiges Phänomen. Viele Kinder zeigen Angst vor bestimmten Situationen oder Objekten (sog. „phobische Ängste“), z.B. vor Gewittern, vor Hunden oder vor der Dunkelheit. Bei 2 - 9% aller Kinder sind die phobischen Ängste so stark ausgeprägt, dass die Diagnose einer Phobie gestellt werden kann. Neben den phobischen Ängsten ist die Trennungsangst die wichtigste Angststörung des Kindes- und Jugendalters, unter der 3 - 5% aller Kinder leiden. Die betroffenen Kinder weigern sich, ihre Bezugspersonen zu verlassen bzw. leiden unter großen Ängsten, wenn sie dies doch tun. Das führt in der Regel zum Verweigern des Schulbesuches. Kinder mit Trennungsangst sind häufig schon im Kleinkindalter sehr anhänglich und gehen z. B. nicht gerne in den Kindergarten. Schwere Trennungsängste werden häufig ausgelöst durch das Erleben eines Verlassenseins (z.B. Verlorengehen im Kaufhaus) oder durch schwierige familiäre Situationen (z.B. drohende Trennung der Eltern). Während bei der Trennungsangst die Angst vor der Trennung von den Eltern im Vordergrund steht, haben bei der davon abzugrenzenden Schulangst die Kinder vor der Schule Angst. Sie trennen sich zwar möglicherweise leicht, gehen dann jedoch eher nicht in die Schule. Diese zwei Angststörungen können leicht verwechselt werden, da u. U. bei beiden zunächst die Verweigerung des Schulbesuchs auffällt. Definition Angststörungen sind psychische Störungen, bei denen die Furcht vor einem Objekt oder einer Situation oder unspezifische Ängste im Vordergrund stehen. Wenn es ein solches gefürchtetes Objekt oder eine Situation gibt, spricht man von einer Phobie. Den Phobien ist gemeinsam, dass die Betroffenen Ängste haben vor Dingen, vor denen Gesunde normalerweise keine Angst haben, die also normalerweise nicht als gefährlich gelten. Dabei erkennen die Patienten zeitweise, dass ihre Angst übermäßig oder unbegründet ist. Herausgeber: Dr. Jochen Gehrmann Chefarzt Klinik für Kinder- u. Jugendpsychiatrie u. Psychotherapie September 2010 I bs Seite 1 / 6 Angst ist primär eine durchaus gesunde Reaktion auf Gefahren, d.h. wir vermeiden gefährliche Situationen – oder mit anderen Worten: evolutionär sind Ängste begünstigt worden, d.h. vorrangig hat derjenige überlebt, der Gefahren gemieden hat. Von pathologischer Angst spricht man, wenn folgende Kriterien gegeben sind: • Die Angstreaktionen sind einer Situation nicht mehr angemessen. • Die Angstreaktionen sind überdauernd (chronisch). • Die Person besitzt keine Möglichkeit zur Erklärung, Reduktion oder Bewältigung der Angst. • Die Angstreaktionen führen zu einer massiven Beeinträchtigung des Lebens der Person. Einteilung nach ICD-10 Phobische Störungen (F40) • Agoraphobie (ICD-10 F40.0): Furcht vor oder Vermeidung von Menschenmengen, öffentlichen Plätzen, Reisen allein oder Reisen weg von Zuhause. • Soziale Phobie (ICD-10 F40.1): Furcht vor oder Vermeidung von sozialen Situationen, bei denen die Gefahr besteht, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen, Furcht, sich peinlich oder beschämend zu verhalten. Bei Kindern und Jugendlichen mit Zurückhaltung zu diagnostizieren – oft haben andere Störungen z.B. Trennungsängstlichkeit Vorrang • Spezifische Phobien (ICD-10 F40.2): diese können nach bestimmten Objekten oder Situationen unterschieden werden • Tierphobien: zum Beispiel Angst vor Spinnen, Insekten, Hunden, Mäusen. • Situative Phobien: Flugangst, Höhenangst, Tunnels, Aufzüge, Dunkelheit • Natur-Phobien: zum Beispiel Donner, Wasser, Wald, Naturgewalten. • Sonstige phobisch besetzten Objekte: Anblick von Blut, Spritzen, Verletzungen. • Sonstige phobische Störungen (F40.8) • Phobische Störung, nicht näher bezeichnet (ICD-10 F40.9) Sonstige Angststörungen (F41) • Panikstörungen (ICD-10 F41.0): Spontan auftretende Angstattacken, die nicht auf ein spezifisches Objekt oder eine spezifische Situation bezogen sind. Sie beginnen abrupt, erreichen innerhalb weniger Minuten einen Höhepunkt und dauern mindestens einige Minuten an. • Generalisierte Angststörung (ICD-10 F41.1): Eine diffuse Angst mit Anspannung, Besorgnis und Befürchtungen über alltägliche Ereignisse und Probleme über einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten, begleitet von weiteren psychischen und körperlichen Symptomen. • Angst und depressive Störung, gemischt (ICD-10 F41.2): Angst und Depression sind gleichzeitig vorhanden, eher leicht ausgeprägt ohne Überwiegen des einen oder anderen. Trennungsängstlichkeit des Kindesalters (F93.0) Kernsymptom bzw. -ursache der Angst des Kindes bzw. der Eltern ist die übertriebene Angst, dass der Bezugsperson (aus Sicht des Kindes) bzw. dem Kind (aus Sicht der Eltern) eine subjektive `Katastrophe` zustößt, wenn sich beide trennen. Diese Angst droht leicht zu chronifizieren und überschreitet bei weitem das gesunde Maß von Trennungslabilität kleiner Kinder bei Schwellensituationen (z.B. Kindergartenbesuch). Herausgeber: Dr. Jochen Gehrmann Chefarzt Klinik für Kinder- u. Jugendpsychiatrie u. Psychotherapie September 2010 I bs Seite 2 / 6 Meist waren bzw. sind ein oder beide Elternteile auch als Kind bzw. weiterhin als Erwachsene trennungsängstlich. Kern der Behandlung ist, dass beide, d.h. Kind und Eltern, lernen, dass eine Trennung nicht nur ungefährlich ist, sondern auch beiden Entwicklungschancen bietet. Der Leidensdruck zu einer Behandlung entsteht oft dann, wenn das Kind bestimmt sozial kontrollierte Schwellensituationen, z.B. Kindergarten, Einschulung, Schulwechsel, nicht bewältigt, sondern sich sogar ängstlich an seine Eltern klammernd verweigert. Die Behandlung fokussiert darauf, die Eltern darin zu unterstützen, ihrem Kind eine vorübergehende Trennung zu erlauben. Sollte dies ambulant nicht zu erreichen sein, sind teil- bzw. vollstationäre Behandlungen notwendig. Beschwerdebild (Symptome) Allgemeine Angstsymptome Herzklopfen, Pulsbeschleunigung, Schweiß-ausbruch, Zittern, Beben, Mundtrockenheit, Hitzewallungen, Sprachschwierigkeiten. Dazu Atembeschwerden, Beklemmungsgefühl, Brust¬schmerzen, Übelkeit, Erbrechen, Durch-fall. Auch Bewusstseinsstörungen, zum Beispiel das Gefühl, verrückt zu werden, das Gefühl, dass Dinge unwirklich sind oder man selbst "nicht richtig da" ist, dass man nicht mehr die Kontrolle über die eigenen Gedanken hat, Benommenheit, Schwindel, Angst zu sterben, allg. Vernichtungsgefühl. Spezifische Phobien und Agoraphobie Es besteht eine deutliche emotionale Belastung durch die Angstsymptome. Die Angst auslösenden Objekte beziehungsweise Situationen werden vermieden. Gleichzeitig besteht die Einsicht, dass die Ängste übertrieben oder unvernünftig sind. Beim Anblick des Angst auslösenden Objekts bzw. der Situationen kommt es zu den oben beschriebenen Symptomen. Soziale Phobie Die Angstsymptome sind die gleichen wie bereits beschrieben. Dazu eventuell Erröten, Angst zu erbrechen, Stuhl- und Harndrang oder die Angst davor. Panikstörungen Panikattacken gehen besonders häufig mit Herzklopfen, Herzrasen oder unregelmäßigem Herzschlag einher. Die Betroffenen haben Todesangst vor einem Herzstillstand oder Herzinfarkt. Atemnot, Erstickungsgefühl, Engegefühl in Hals und Brust, Zittern und Schwitzen sind deutlich ausgeprägt, immer wieder treten auch Gefühle von Derealisation auf und die Angst, verrückt zu werden. Dazu kommen die übrigen beschriebenen Symptome. Spezifisch für die Panikstörung ist es, dass die Betroffenen oft den Zusammenhang zwischen den körperlichen Symptomen und ihrer Angst nicht erkennen und die Symptome fehlinterpretieren. (siehe Panikattacke, Panikstörung). Generalisierte Angststörung Zu den körperlichen Symptomen kommen Symptome von Anspannung wie Muskelverspannungen, Ruhelosigkeit und Unfähigkeit sich zu entspannen, Nervosität, Schluckbeschwerden, Konzentrationsstörungen, Reizbarkeit und Einschlafstörungen auf Grund der ständigen Besorgnis und Angst. Die Herausgeber: Dr. Jochen Gehrmann Chefarzt Klinik für Kinder- u. Jugendpsychiatrie u. Psychotherapie September 2010 I bs Seite 3 / 6 Betroffenen können oft nicht angeben, wovor sie Angst haben, sie werden von der Furcht gequält, dass sie oder ihre Angehörigen erkranken oder Unfälle erleiden könnten. Angst und depressive Störung, gemischt Zu den Symptomen der Angst kommen die der Depression. Trennungsängstlichkeit Das Kind klammert sich ängstlich an seine Eltern bzw. verweigert – oft unter Angabe diverser psychosomatischer Beschwerden (Bauch-, Kopfschmerzen usw.) z.B. den Schulbesuch. Die Eltern reagieren spiegelbildlich überfürsorglich. Häufigkeit Angsterkrankungen sind in der Praxis häufig anzutreffen. Nach einer Studie der WHO 1996 litten etwa 8,5% der Patienten in deutschen Allgemeinarztpraxen an einer generalisierten Angststörung und 2,5 % an einer Panikstörung. Frauen erkranken circa zweimal häufiger als Männer. Menschen mit Panikstörungen leiden in der Hälfte der Fälle zusätzlich an einer Agoraphobie. Welche Ursachen werden vermutet? Die genaue Ursache ist nicht bekannt. Wahrscheinlich besteht eine erhöhte Vulnerabilität aufgrund von genetischer Veranlagung und Hirnstoffwechselstörungen (insbesondere im Bereich des Serotonins). Zum Ausbruch der Erkrankung kann es dann aufgrund von äußeren Einflüssen wie traumatischen Kindheitserfahrungen oder belastenden Ereignissen kommen. Häufig werden Ängste aber auch in der Kindheit erlernt, d.h. überfürsorgliche, selber ängstliche Eltern projizieren eigene Ängste auf ihre Kinder, die diese ggf. übernehmen. Ängste von Kindern und Eltern gehen oft Hand in Hand. Diagnostik Im Mittelpunkt der Diagnostik steht das ärztliche oder psychotherapeutische Gespräch. Anhand der geschilderten Symptome kann der Arzt oder psychologische Psychotherapeut eine erste Verdachtsdiagnose stellen. Um körperliche Beschwerden der Angst, wie zum Beispiel Atemnot und Herzrasen, von einer organischen Erkrankung unterscheiden zu können, muss zunächst eine ausführliche medizinische Untersuchung zum Ausschluss einer körperlichen Ursache erfolgen. Dazu sind meist auch laborchemische und technische Untersuchungen erforderlich (Blutuntersuchung, EKG und ähnliche). Erst nach Ausschluss einer körperlichen Erkrankung soll eine seelische Störung diagnostiziert und die Behandlung geplant werden. Bei Kinder und Jugendlichen ist die Fremdbeurteilung durch erwachsene Bezugspersonen entscheidend, d. h. auch die Verhaltensbeobachtungen in verschiedenen Situationen. Fragebögen sind hilfreich. Um die oft phobischen Ängste zu skalieren, bietet sich ein sog. Angstthermometer an. Außerdem empfiehlt es sich – getrennt vom Kind – beide Elternteile nach eigenen Ängsten zu befragen und diese ggf. auch zu skalieren. Herausgeber: Dr. Jochen Gehrmann Chefarzt Klinik für Kinder- u. Jugendpsychiatrie u. Psychotherapie September 2010 I bs Seite 4 / 6 Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es? Die Wahl der Therapie hängt von der Art der Angststörung und dem Schweregrad ab. Die Betroffenen brauchen stützende Gespräche und Zuwendung. Sie müssen wissen, dass sie nicht an einer körperlichen Erkrankung leiden. Das Zustandekommen der körperlichen Symptome muss Ihnen erklärt werden. Bei allen Formen der Angsterkrankungen sind psychotherapeutische Verfahren wirksam, vor allem eine Verhaltenstherapie ist Erfolg versprechend. Bei schweren Störungen werden zusätzlich bestimmte Medikamente, so genannte Antidepressiva – heute vorrangig Serotonin-WiederaufnahmeHemmer, eingesetzt. In akuten Fällen mit stärksten Ängste können vorübergehend stark wirksame, angstlösende Medikamente, sogenannte Tranquilizer (Benzodiazepine, zum Beispiel Tavor), gegeben werden, wegen der Gefahr der Entwicklung einer körperlichen Abhängigkeit jedoch nur im Notfall bzw. über kurze Zeit. Bei spezifischen Phobien sind verhaltenstherapeutische Reizkonfrontationsverfahren sehr wirksam, d. h. Exposition mit Reaktionsverhinderung. Therapiesitzungen können durchaus zeitaufwendig sein. Bei Panikstörungen und der Agoraphobie werden ebenfalls verhaltenstherapeutische Verfahren (Exposition, kognitive Therapie) angewendet. Hier ist die Kombination mit Antidepressiva am wirksamsten. Soziale Phobie In leichten Fällen reicht eine Verhaltenstherapie aus, in schweren Fällen ist die zusätzliche Gabe von Antidepressiva über mehrere Monate notwendig. Viele Unsicherheiten lassen sich durch Rollenspiele (im Sinne eines sozialen Kompetenztrainings) oder durch ein Expositionstraining überwinden. Bei einem Expositionstraining übt man mit dem Therapeuten beängstigende Situationen im Alltag. Es kann aber auch sein, dass die soziale Ängstlichkeit tiefere Ursachen hat. Hier ist es dann wichtig, diese Probleme zum Beispiel in einer Gesprächstherapie aufzuarbeiten. Generalisierte Angststörung Auch hier ist eine verhaltenstherapeutische Psychotherapie notwendig, Medikamente sollten zusätzlich eingesetzt werden, wenn der Erfolg der Psychotherapie allein zu gering ist. In jedem Fall ist bei Kindern und Jugendlichen eine intensive Elternberatung notwendig und die Eltern müssen darin unterstützt werden, eigene Ängste schrittweise abzubauen und das Kind angstfreier und konsequenter erzieherisch zu steuern. Manche Eltern benötigen im Alltag eine zusätzliche Unterstützung z.B. durch eine Familienhilfe, die ggf. beim Jugendamt als Hilfe zur Erziehung zu beantragen ist. Herausgeber: Dr. Jochen Gehrmann Chefarzt Klinik für Kinder- u. Jugendpsychiatrie u. Psychotherapie September 2010 I bs Seite 5 / 6 Wie ist der Verlauf der Erkrankung? Angststörungen neigen unbehandelt leider zu einer Chronifizierung, das heißt, zu einer dauernden Anwesenheit, wenn sie nicht behandelt werden. Bei der Panikstörung beispielsweise kommt es nur bei 10 bis 30 % der Betroffenen spontan zu einer vollständigen Gesundung. Verhaltenstherapie und Medikamenteneinnahme verbessern die Prognose wesentlich. Die isolierten Phobien sind sehr gut zu behandeln. Grundsätzlich gilt: Je früher eine Behandlung begonnen wird, desto günstiger ist der Verlauf. Eine Angst kommt selten alleine: Komorbidität Angststörungen weisen eine hohe Komorbidität sowohl untereinander, als auch zu Depressionen, Zwangsstörungen und Substanzmissbrauch auf. Die Wahrscheinlichkeit, eine komorbide Störung zu entwickeln ist bei Panikstörungen und Agoraphobie am höchsten. Sekundäre Depressionen sind am häufigsten bei Panikstörungen, gefolgt von der Generalisierten Angststörung und der Agoraphobie. Substanzstörungen als Folge einer Angststörung werden als Versuch der Selbstmedikation betrachtet. Herausgeber: Dr. Jochen Gehrmann Chefarzt Klinik für Kinder- u. Jugendpsychiatrie u. Psychotherapie September 2010 I bs Seite 6 / 6