SCHLAGLICHTER 2003 Schweiz Med Forum Nr. 1/2 7. Januar 2004 26 Prädiktive molekulare Pathologie oder das Titanic-Szenario Guido Sauter, Holger Moch, Michael Mihatsch Korrespondenz: PD Dr. med. Guido Sauter Institut für Pathologie Universitätsspital Schönbeinstrasse 40 CH-4056 Basel [email protected] Eine massgeschneiderte Krebstherapie mit Medikamenten, welche optimal gegen den speziellen Tumor eines individuellen Patienten wirken, ist seit jeher der Traum eines jeden Onkologen. Die Einführung genspezifischer Krebsmedikamente («targeted cancer drugs») ist zumindest konzeptionell ein grosser Schritt in diese Richtung. Neue Medikamente wie Herceptin® (Trastuzamab, Roche) oder Glivec® (Imatinib, Novartis) unterscheiden sich grundsätzlich von den traditionellen Chemotherapien (Zytostatika), welche mehr oder weniger unspezifisch alle proliferierenden Zellen angreifen und so zu den bekannten Nebenwirkungen wie Panzytopenie, Diarrhoe und Haarverlust führen. Herceptin® und Glivec® sind «intelligente» Medikamente, welche Zellen mit einem spezifischen genetischen Profil angreifen. Herceptin® ist ein Antikörper, welcher sich gegen das HER2-Protein richtet. Da das HER2-Protein fast nur an der Oberfläche von Krebszellen in hoher Konzentration vorkommt, ist die Behandlung nebenwirkungsarm. Ähnlich verhält es sich mit Glivec®. Dieses Medikament hemmt mit hoher Spezifität eine kleine Gruppe von Kinasen, welche scheinbar beinahe ausschliesslich in Tumorzellen eine Rolle spielen. Die neuen «intelligenten» Krebsmedikamente führen zu einer grundlegenden Veränderung der Rolle des Pathologen bei der Betreuung von Krebspatienten. Behandlungen mit diesen Medikamenten können nämlich erst dann erfolgen, wenn im Tumorgewebe eine bestimmte molekulare Veränderung nachgewiesen worden ist. Das heisst, dass neben der klassischen morphologischen Untersuchung in einer immer grösser werdenden Zahl von Tumoren auch molekulare Zusatzuntersuchungen vorgenommen werden müssen, deren Qualität für die richtige Indikationsstellung und damit für die Wirksamkeit der potenten, aber teuren neuen Krebsmedikamente entscheidet. Eine spezialisierte Ausbildung (2004 werden die ersten Kandidaten für den FMH-PathologieSubtitel «Molekulare Pathologie» geprüft), Akkreditierung von Laboratorien und die Bestimmung von Referenzlaboratorien für besonders schwierige oder aufwendige Untersuchungen sind notwendige Antworten der Pathologen auf die neuen Anforderungen. Viele Probleme der molekularen Diagnostik las- sen sich am Beispiel der HER2-Testung zur Identifikation von Patientinnen mit Mammakarzinom, welche auf eine Herceptinbehandlung ansprechen könnten, illustrieren. Eine HER2-Überexpression wird beim Mammakarzinom immer durch eine Vermehrung der Genzahl (Genamplifikation) in den Tumorzellen hervorgerufen. Eine Amplifikation ist mittels Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung (FISH) zuverlässig nachweisbar. Zudem führt sie zu einer so stark ausgeprägten Proteinüberexpression, dass auch der immunhistochemische Proteinnachweis eigentlich kein Problem darstellen sollte. Die Schwierigkeiten liegen aber in der Praxis. Der zuverlässige FISH-Test wird meistens nicht durchgeführt, da die FISH-Technik nicht überall etabliert ist und zudem etwas teurer als die immunhistochemische Untersuchung ist. Die immunhistochemischen HER2-Befunde stimmen in publizierten Studien aus spezialisierten Labors zwar gut mit FISH-Ergebnissen überein. Die tägliche Praxis zeigt aber, dass die immunhistochemische HER2-Bestimmung in nicht spezialisierten Labors nur schlecht mit der therapierelevanten Genamplifikation korreliert [1]. Solche Studien machen deutlich, dass therapierelevante molekulare Untersuchungen nicht ohne weiteres in jedem Labor durchgeführt werden können und unterstreichen den Bedarf nach spezialisierten (zertifizierten) Laboratorien mit anerkanntem Leistungsausweis. Nicht nur die nötige Qualität molekularer Untersuchungen, sondern insbesondere auch ihre Quantität dürfte in Zukunft zu Problemen führen. Derzeit ist die Zahl eindeutiger Indikationen für molekulare Zusatzuntersuchungen relativ klein. Herceptin® ist lediglich für metastasierende Mammakarzinome, Glivec® neben verschiedenen leukämischen Erkrankungen nur für gastrointestinale Stromatumoren zugelassen. Werden klassische Massstäbe angelegt, dürfte sich die Liste der zugelassenen Indikationen für diese Therapeutika in den nächsten Jahren wenig ändern. Die Ergebnisse grosser internationaler Studien zur adjuvanten Herceptintherapie beim HER2-positiven Mammakarzinom (ohne belegte Metastasen) können erst in einigen Jahren erwartet werden. Bei zahlreichen anderen Tumortypen (z.B. Karzinome von Lunge, Ovar, Magen, Harnblase, Gal- SCHLAGLICHTER 2003 Schweiz Med Forum Nr. 1/2 7. Januar 2004 27 Abbildung 1. Diagnostik mit der TMA-Technik. lenblase, Ösophagus, Bauchspeicheldrüse und Endometrium kommen Amplifikation und Überexpression des HER2-Gens ebenfalls in einem kleinen Teil der Fälle vor. Bei vielen dieser Tumorarten sind klinische Studien allerdings weder im Gang noch geplant. Möglicherweise muss aber der Einsatz solcher genspezifischer Medikamente anders evaluiert werden als bei den klassischen Zytostatika, für die keine prädiktiven molekularen Testverfahren zur Verfügung stehen. Eigentlich wäre es doch nicht allzu erstaunlich, wenn ein Antikörper, der gegen HER2-positive Brustkrebszellen wirkt, auch einen Effekt auf HER2-positive Karzinome anderer Herkunft hätte. Solche Überlegungen werden sich eine immer grössere Zahl betroffener Patienten machen, die via Internet breiten Zugang zu medizinischer Information besitzen. Tatsächlich gibt es Hinweise auf erfolgreiche Herceptinbehandlungen bei «Nicht-Mammakarzinomen». Bemerkenswert ist eine Publikation von Haddad et al. [2], welche über eine klinische Studie mit Herceptinbehandlung maligner Speicheldrüsenkarzinome berichtet. In dieser Studie wurden 126 Speicheldrüsenkarzinome immunhistochemisch auf den HER2-Status untersucht. Da nur 19 (15%) HER2-positiv waren, wurde die Studie wegen zu geringer Häufigkeit der HER2-Positivität vorzeitig abgebrochen. Obwohl bei einem der 14 behandelten Patienten eine klinische Besserung mit radiologisch nachgewiesenem Rückgang von Knochenmetastasen eintrat, wurde gefolgert, dass Herceptin® für diese Tumoren keine relevante Therapieoption darstellt. Angesichts der bekannten Mängel der immunhistochemischen HER2-Te- stung für die Herceptinindikation beim Mammakarzinom, könnte dies der einzige Fall mit eines HER2-amplifizierten Speicheldrüsenkarzinoms gewesen sein. Obwohl keine gesicherten Daten zum therapeutischen Nutzen von Herceptin® bei «NichtMammakarzinomen» bestehen und obwohl keine Klarheit darüber besteht, wer z.B. im Falle eines HER2-positiven Pankreaskarzinoms die Kosten einer allenfalls vom Patienten gewünschten Herceptinbehandlung übernehmen würde, häufen sich die Anfragen aufgeklärter Patienten nach diesbezüglichen molekularen Tumoruntersuchungen. Da hierfür oftmals alte Tumorblöcke in den Archiven identifiziert werden müssen, sind retrospektive molekulare Untersuchungen für Pathologieinstitute bereits heute belastend. Mit Sicherheit sehen wir heute aber erst die Spitze eines Eisbergs. Medikamente wie Herceptin® oder Glivec® zeigten zwar in vielen Fällen eine gute Wirkung, als spektakulär sind die Resultate aber noch nicht einzustufen. Dokumentierte Heilungen durch diese Therapien sind selten. Nicht auszudenken wäre aber die Situation, wenn ein neues genspezifisches Medikament auf den Markt käme, dessen Zielgen zwar in nur <1% aller Tumoren exprimiert, aber – wenn vorhanden – eine echte Heilungschance bieten würde. Die Situation wäre mit derjenigen auf der sinkenden Titanic vergleichbar, wo nicht genügend Rettungsboote zur Verfügung standen. Tausende von Patienten (in der Schweiz leben ca. 150 000 Menschen mit der Diagnose eines potentiell lebensbedrohlichen Tumors) würden eine sofortige molekulare Untersuchung ihrer Tumoren fordern. Die gegenwärtige Infrastruktur der Pathologieinstitute wäre SCHLAGLICHTER 2003 Schweiz Med Forum Nr. 1/2 7. Januar 2004 aber niemals in der Lage, diese Untersuchungen innerhalb von nützlicher Frist durchzuführen. Tausende Patienten würden sterben, bevor ihr Tumor auf das neue Therapiezielgen untersucht werden könnte. Falls wir daran glauben, dass in Zukunft Krebsmedikamente zur Verfügung stehen werden, welche nach präziser Untersuchung von Tumorgewebe bei den «positiv» getesteten Patienten einen erheblichen Behandlungserfolg erzielen oder sogar die Heilung vom Krebsleiden bringen, dann müssen jetzt die Strukturen zur Abwendung des Titanic-Szenarios geschaffen werden. Eine relativ einfache Möglichkeit wäre das systematische Anfertigen und Bereitstellen ungefärbter Schnitte sämtlicher neu entdeckter, potentiell lebensbedrohlicher Tumoren für spätere molekulare Untersuchungen in jedem einzelnen Pathologieinstitut. Eine andere, elegante Möglichkeit wäre die zentrale Sammlung und Verwaltung von kleinen Tumorgewebeteilen geeigneter Patienten in der Form von «tissue microarrays» (TMA). Die TMATechnik erlaubt die gleichzeitige Untersuchung von bis zu 1000 verschiedenen Tumorgeweben auf einem einzigen Objektträger [3]. Es wäre somit möglich, alle Tumoren lebender Schwei- 28 zer Krebspatienten auf wenige hundert Objektträger aufzubringen und gegebenenfalls innerhalb von wenigen Wochen zu untersuchen. Bei dieser Variante würden nicht nur die für eine neue Therapie zugelassenen Tumortypen auf ein neues Therapieziel untersucht, sondern auch alle anderen Tumorarten. Mit Sicherheit würden so viele Krebspatienten, die an einem für die neue Behandlung nicht zugelassenen Tumor leiden, unerwarteterweise zu Therapiekandidaten. Offen sind somit eine Reihe von Fragen: – Wie soll eine Massenuntersuchung von Tausenden von Tumoren auf ein neues Therapiezielgen ermöglicht werden? – Wer finanziert die dafür notwendige Logistik für die Pathologie im Zeitalter der genspezifischen Krebstherapien? – Wer trägt die Kosten einer allfälligen Behandlung von Patienten mit einem «positiven» Karzinom ohne offiziell akzeptierte Behandlungsindikation (z.B. HER2-amplifiziertes Ösophaguskarzinom)? Zusammenfassend: «Wir brauchen Rettungsboote, aber wer soll sie bezahlen?» Literatur 1 Paik S, Bryant J, Tan-Chiu E, Romond E, Hiller W, et al. Real-world performance of HER2 testing. National Surgical Adjuvant Breast and Bowel Project experience. J Natl Cancer Inst 2002;94:852–4. 2 Haddad R, Colevas AD, Krane, JF, Cooper D, Glisson B, et al. Herceptin in patients with advanced or metastatic salivary gland carcinomas. A phase II study. Oral Oncol 2003;39: 724–7. 3 Kononen J, Bubendorf L, Kallioniemi A, Barlund M, Schraml P, Leighton S, Torhorst J, Mihatsch MJ, Sauter G, Kallioniemi OP. Tissue microarrays for high-throughput molecular profiling of tumor specimens. Nat Med 1998;4:844–7.