550_604_BIOsp_0510.qxd 594 19.08.2010 7:55 Uhr Seite 594 K A R R I E R E , KÖ P F E & KO N Z E P T E Künstliches Leben Leben aus der Retorte? ALFRED PÜHLER UNIVERSITÄT BIELEFELD, CEBITEC, BIELEFELD die die komplexen Lebensvorgänge einer Zelle ganzheitlich beschreiben und mittels Systembiologie nachbilden. Damit ist der Schritt zu synthetischen Zellen, die in der Natur noch kein Vorbild haben, in den Bereich des Möglichen gerückt. Zugegebenermaßen ist die Erzeugung von synthetischen Zellen in vielen Details noch sehr spekulativ, doch können bereits einzelne Schritte einer solchen Technologie experimentell getestet werden. Die Arbeitsgruppe von J. Craig Venter, J. Craig VenChemisch synthetisierte Oligonukleotide ter Institute, Rockville und San Diego, USA, widmete sich einer solchen Aufgabe. Sie konzentrierte sich auf einfache bakterielle Genome und ging der Frage nach, ob solche Genome nach 1.078 DNA-Abschnitte von je 1.080 bp Länge einer chemischen Synthese in der Lage sind, zelluläres Leben je 10 zusammengehörende Abschnitte zu unterstützen. werden über Rekombination Die jüngsten Ergebnisse der in Hefe kloniert Venter-Forschungsgruppe wurden im Mai dieses Jahres in Science Express publiziert [1]. Die 109 Konstrukte von je 10.080 bp Länge Publikation mit dem Titel „Creation of a bacterial cell controlled by a chemically synthesized genoje 10 zusammengehörende Abschnitte werden über Rekombination me“ berichtet ausführlich über in Hefe kloniert die chemische Synthese eines 1,08 Megabasenpaare großen M. mycoides-Genoms (Abb. 1). Dieses chemisch synthetisierte 11 Konstrukte von je ca. 100.000 bp Länge Genom konnte anschließend in eine Mycoplasma capricolum-Zel11 Abschnitte le transplantiert und dort zur werden über Rekombination in Hefe kloniert Ausbildung einer neuen Mycoplasma mycoides-Zelle veranlasst werden. In der neuen M. mycoides-Zelle liegt nur das syntheti1 Konstrukt von 1.077.947 bp Länge, sierte Genom vor, das Erkendas chemisch synthetisierte nungssequenzen und kleinere Mycoplasma mycoides-Genom gewollte und nicht gewollte Abweichungen von der Original˚ Abb. 1: Experimentelles Vorgehen zur Erzeugung des Genomsequenz enthält. Die neuchemisch synthetisierten Genoms von Mycoplasma en Zellen sind selbstreplizierend mycoides, das als centromerisches Plasmid in Hefe und zeigen die erwarteten phäzusammengebaut wurde. notypischen Eigenschaften. ó Eines der Ziele der Synthetischen Biologie ist die Erschaffung von synthetischen Zellen, deren Genomsequenz am Computer entworfen, mittels chemischer Synthese nachgebaut und in einer zellulären Umgebung zum Leben erweckt werden soll. Ein solches Vorgehen stellt den Übergang zur Technikwissenschaft dar. Möglich wird dies durch die jüngsten Erfolge der omics-Technologien, Diese Kurzfassung der Venter-Publikation wirft eine Anzahl von Fragen auf, die im Folgenden beantwortet werden sollen. Zu hinterfragen ist z. B., warum sich die Gruppe als Versuchsobjekt Mykoplasmen ausgewählt hat. Immerhin handelt es sich um pathogene Mikroorganismen, die im Labor nicht immer einfach zu kultivieren sind. Mykoplasmen zeichnen sich andererseits jedoch dadurch aus, dass sie die kleinsten bekannten bakteriellen Genome besitzen, was einer chemischen Synthese besonders entgegenkommt. Man geht davon aus, dass Genome von Mykoplasmen über Genomreduktion von komplexen Gram-positiven Bakterien entstanden sind. Sie haben offensichtlich nur die Genausstattung behalten, die sie für ihre kommensalische und parasitische Lebensweise benötigen. Da sie ohne Zellwand auskommen, wurden auch die Gene zur Zellwandbildung aus dem Genom entfernt. Die Venter-Gruppe hatte sich zunächst das humanpathogene Bakterium Mycoplasma genitalium als Versuchsobjekt ausgesucht. Sein Genom ist nur 583 Kilobasen groß und stellt das kleinste aller bisher bekannten Mykoplasmen-Genome dar. Die M. genitalium-Genomsequenz ist seit 1995 bekannt [2]. Die Venter-Gruppe nutzte diese Genomsequenz zur Entwicklung eines Verfahrens zur kompletten chemischen Synthese, zur Assemblierung und zur Klonierung des Genoms in Saccharomyces cerevisiae [3]. Die Methode fußt auf der chemischen Synthese von kleineren DNA-Regionen, die zunächst in Escherichia coli kloniert und anschließend zum Zusammenbau des Gesamtgenoms in Hefe genutzt wurden. In Hefe liegt das M. genitalium-Genom in Form eines centromerischen Plasmids vor. Die korrekte Genomsequenz wurde nach Isolierung des Plasmids durch Sequenzierung überprüft. Es verblüfft nun, dass die Venter-Gruppe in ihrer neuesten Publikation das Versuchsobjekt wechselt und auf M.mycoides, den Erreger der Lungenseuche bei Rindern, setzt. Sie erklärt diesen Wechsel damit, dass M. mycoides-Zellen einfacher zu kultivieren sind und verhältnismäßig schnell Kolonien auf einem BIOspektrum | 05.10 | 16. Jahrgang 550_604_BIOsp_0510.qxd 19.08.2010 7:55 Uhr Seite 595 595 definierten Kulturmedium ausbilden können. Dieser Vorteil muss andererseits aber mit einem wesentlich größeren Genom von ca. 1,08 Megabasen bezahlt werden. In der neuesten Venter-Publikation wird deshalb zunächst sehr umfangreich die chemische Synthese eines bakteriellen Genoms beschrieben, das die Sequenz des M. mycoides-Genoms nutzt (Abb. 1). Nach Vorliegen des chemisch synthetisierten M. mycoides-Genoms ist von Interesse, ob dieses Genom zelluläres Leben unterstützen kann. Die Venter-Gruppe suchte für ihre Transformationsversuche das nahe verwandte Bakterium M. capricolum, den Erreger der Lungenseuche bei Ziegen, aus. Die Transformation eines gesamten bakteriellen Chromosoms ist eine Herausforderung, die eine Menge an Technologieentwicklung benötigt. Es existiert hierzu eine separate Veröffentlichung, die diese Technologieentwicklung im Einzelnen beschreibt [4]. In dieser Veröffentlichung wird dargestellt, wie das native M. mycoides-Genom zunächst in Hefe kloniert und anschließend aus Hefe wieder isoliert und nach M. capricolum transformiert werden kann. Diese Transformationstechnologie wurde jetzt auch für das chemisch synthetisierte M. mycoides-Genom genutzt. Das chemisch synthetisierte M. mycoides-Genom enthält zusätzlich einen Hefevektor, der außer dem Hefereplikationsgen noch ein Gen für eine bakterielle Tetrazyklin-Resistenz (tetM) sowie ein Gen für eine bakterielle Farbmarkierung (lacZ) trägt. Nach Transformation von M. capricolum-Zellen liegen kurzfristig zwei Genome, nämlich das chemisch synthetisierte und das M. capricolum-eigene Genom in den transformierten Zellen vor. Bei der nächsten Zellteilung erfolgt jedoch eine Entmischung. Die beiden Genome werden auf die Tochterzellen verteilt. Zellen, die das chemisch synthetisierte Genom enthalten, können anschließend aufgrund des tetM-Gens über eine Tetrazyklin-Behandlung selektioniert werden. Die so selektionierten Bakterienzellen werden „chemisch synthetisierte M. mycoides-Zellen“ genannt (Abb. 2). Natürlich schließen sich eine Reihe von Tests an, die die genetische Basis dieser Zellen bestätigen. So kann z. B. das lacZ-Gen in dem chemisch synthetisierten Genom durch Blaufärbung von chemisch synthetisierten M. mycoides-Kolonien auf Indikatorplatten nachgewiesen werden. Der Venter-Gruppe ist mit den chemisch synthetisierten M. mycoides-Zellen ohne Zweifel ein aufregendes Experiment gelungen. BIOspektrum | 05.10 | 16. Jahrgang Dass die Erschaffung dieser Zellen nicht ohne Probleme vonstattenging, lässt sich in ihrer Publikation nachlesen. Eine enorme Herausforderung war es z. B., das Genom so zu synthetisieren, dass in keinem der essenziellen Gene blockierende Mutationen auftraten. Die Venter-Gruppe hatte mit einer solchen blockierenden Mutation im dnaA-Gen zu kämpfen. Ein weiteres Problem ergab sich aus einem in Mykoplasmen aktiven Restriktions-/ Modifikations-System. Das chemisch synthetisierte M. mycoides-Genom enthält nach Isolierung aus Hefezellen natürlich keine Modifikationen, was nach Transformation in eine M. capricolum-Zelle den Abbau des eingeführten Genoms zur Folge hätte. Dieses Problem konnte durch eine in vitro-Modifizierung des chemisch synthetisierten Genoms gelöst werden. Ist mit dieser Arbeit nun die Synthetische Biologie aus der Taufe gehoben – wurde Leben aus der Retorte erzeugt? Mit der Erschaffung chemisch synthetisierter M. mycoides-Zellen ist sicherlich nur ein Teilziel erreicht, denn die geschilderten Experimente kommen ohne gewachsene, natürliche Biologie nicht aus. Eine Anleihe aus der vorhandenen Biologie erfolgte bereits bei der Auswahl der dieser Arbeit zugrunde liegenden Genomsequenz. Die Genomsequenz von M. mycoides ist ein Ergebnis der biologischen Evolution der vergangenen vier Milliarden Jahre. Die VenterGruppe benutzt diese evolvierte Genomsequenz als Vorlage für den chemischen DNASyntheseschritt. Im Weiteren werden dann natürlich vorkommende Bakterienzellen bzw. deren biologische Maschinerie benötigt, um das chemisch synthetisierte Genom zum Leben zu erwecken. Von einer lupenreinen Synthetischen Biologie kann also nicht die Rede sein. Mit der Venter-Publikation ist aber sicherlich ein neues Zeitalter eingeläutet, denn es lässt sich eine Vielzahl von Versuchen ausdenken, die beispielsweise darauf abzielen, eine Genomevolution mittels Computer voranzutreiben, oder der Frage nachgehen, wie eng eine enzymatische Ausstattung in der zu transformierenden Zelle mit dem zu transformierenden Genom übereinstimmen muss. Die angedeuteten Fragestellungen werden in Zukunft viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen, zu einer Vielzahl von Experimenten führen und das Teilgebiet Synthetische Biologie fest als neue biologische Wissenschaft etablieren. ó ˚ Abb. 2: Elektronenmikroskopische Aufnahme von chemisch synthetisierten Mycoplasma mycoides -Zellen (Bild: J. Craig Venter Institute). Literatur [1] Gibson DG, Glass JI, Lartigue C et al. (2010) Creation of a bacterial cell controlled by a chemically synthesized genome. Science 329:52–56 [2] Fraser CM, Gocayne JD, White O et al. (1995) The minimal gene complement of Mycoplasma genitalium. Science 270:397–404 [3] Gibson DG, Benders GA, Andrews-Pfannkoch C et al. (2008) Complete chemical synthesis, assembly, and cloning of a Mycoplasma genitalium genome. Science 319:1215–1220 [4] Lartigue C, Vashee S, Algire MA et al. (2009) Creating bacterial strains form genomes that have been cloned and engineered in yeast. Science 325:1693–1696 Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Alfred Pühler Universität Bielefeld CeBiTec Universitätsstraße 27 D-33615 Bielefeld Tel.: 0521-106-8750 Fax: 0521-106-89046 [email protected]