Die (biologische) Natur des Menschen: Soziobiologie

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Erscheint in: Becker, R.; Fischer, J.; Schloßberger, M. (Hg.): Philosophische Anthropologie im Aufbruch. Max Scheler und
Helmuth Plessner im Vergleich, Internationales Jahrbuch für Philosophische Anthropologie, Bd. 2, Berlin: Akademie Verlag (2009)
Nico Lüdtke
Die (biologische) Natur des Menschen: Soziobiologie – Philosophische Anthropologie – Soziologie
Besprechungsessay zu:
Matthias Groß: Natur, Bielefeld: transcript Verlag 2006
Sebastian Linke: Darwins Erben in den Medien. Eine wissenschafts- und mediensoziologische Fallstudie zur
Renaissance der Soziobiologie, Bielefeld: transcript Verlag 2007
Eckart Voland: Die Natur des Menschen. Grundkurs Soziobiologie, München: Verlag C. H. Beck 2007
Thomas P. Weber: Soziobiologie, Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag 2003
Franz M. Wuketits: Was ist Soziobiologie?, München: Verlag C. H. Beck 2002
Die Herausforderung einer naturalistischen Fundierung der Sozial- und Humanwissenschaften besteht im Grunde
seit Beginn des 20. Jahrhunderts – im Fall der Soziologie seit Anbeginn ihrer Institutionalisierung in Form einer
eigenständigen Disziplin. Seit einiger Zeit – zumindest im deutschen Sprachraum – scheint die Problematik
besondere Aktualität zu besitzen. Davon zeugen eine Reihe von Veröffentlichungen der letzten Jahre, die eine
allgemeine Sensibilisierung in den wissenschaftlichen Diskursen widerspiegeln.
Als zentraler Indikator für diese Entwicklung innerhalb der Soziologie kann der 2006 abgehaltene 33.
Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie mit dem Titel „Die Natur der Gesellschaft“ angesehen
werden. Im Zentrum der Diskussionen stand u.a. der von den Naturwissenschaften (besonders der Biologie)
formulierte Anspruch auf Deutungshoheit gegenüber sozial- und humanwissenschaftlichen Ansätzen –
verbunden mit der (insb. für die Soziologie1) provokativen Prämisse, menschliche Gesellschaft als
Naturphänomen erklären zu wollen (vgl. exemplarisch Mayntz 2006).
Neben den Herausforderungen durch Humangenetik und Hirnforschung, die Gegenstand sehr zahlreich und
intensiv geführter Auseinandersetzungen waren und sind, wird ein biologischer Ansatz unter der Bezeichnung
‚Soziobiologie‘ diskutiert. Bereits in den 1970’er Jahren war hierzu heftig gestritten worden. Grund für die
damalige Kontroverse war das monumentale Werk von Edward O. Wilson, vor allem der darin enthaltende
Versuch einer biologischen Deutung menschlichen Sozialverhaltens. Dessen ambitioniertes Ziel war es,
sämtliche Geistes- und Sozialwissenschaften in die Soziobiologie integrieren zu können. Neben Wilsons’
„Soziobiologie“ von 1975 war Richard Dawkins ein Jahr später mit der Theorie des egoistischen Gens
maßgeblich für das soziobiologische Bild einer ‚Natur‘ des Menschen. Die besondere Rolle von Genen in der
Evolution wurde bereits seit den sechziger Jahren diskutiert. Dawkins machte jedoch den Ansatz einem breiten
Publikum zugänglich.
In aller Kürze lässt sich sagen, dass die Soziobiologie, ausgehend vom Darwinistischen Paradigma,
Verhaltensvarianten im Sinne einer Erblichkeit von Verhaltensmerkmalen erklärt. Grundlage sind, wie in der
Ethologie, Verhaltensbeobachtungen, jedoch steht nicht die Beschreibung von Einzelindividuen im Mittelpunkt,
sondern die Analyse von evolutivem Wandel. Bei der Untersuchung der evolutionären Funktion von
Verhaltensweisen wird von einer gen-egoistischen Anpassung ausgegangen. Die klassische Verhaltensforschung
konnte mit dem Bild egoistischen Fortpflanzungsverhaltens eines Individuums (‚survival of the fittest‘) nicht
erklären, warum etwa dessen Fortpflanzung nicht unbegrenzt stattfindet, drastische Konflikte zwischen
Individuen einer Art bestehen oder warum und unter welchen Umständen es zu Kooperationen kommt – alles
Fragen, die von der Soziobiologie aufgegriffen wurden. Wilson beschrieb altruistisches Verhalten als zentrales
Problem der Soziobiologie. In der soziobiologischen Theorie des egoistischen Gens (Dawkins) werden
Individuen zu Vehikeln genetischer Reproduktionsstrategien. Damit lässt sich Altruismus als Programm
egoistischer Gene erklären. Gene, deren Träger die individuellen Lebewesen sind, werden dadurch gleichsam zu
Subjekten der Evolutionsgeschichte. Egoistische wie altruistische Verhaltensweisen können auf diese Weise als
evolutionär wirksame Strategien mithilfe spieltheoretischer Modelle beschrieben werden.
Angesichts verschiedener, aktuell erschienener Publikationen kann die Frage aufgeworfen werden, ob gut 30
Jahre nach der Erstveröffentlichung von Wilsons „Sociobiology. The New Synthesis“ (1975) sowie Dawkins’
„The Selfish Gene“ (1976)2 von einer Renaissance der Soziobiologie gesprochen werden kann. Zum Thema sind
im Abstand weniger Jahre drei Einführungsbände von Eckart Voland, Thomas P. Weber und Franz M. Wuketits
erschienen. Voland und Wuketits haben sich bereits in der Vergangenheit mit verschiedenen Publikationen zum
Thema hervorgetan. Beide stehen in der Tradition des soziobiologischen Ansatzes von Wilson. Wie schon
Wilson sind Wuketits und Voland von Hause aus Biologen, haben sich aber seit Jahren mit Philosophie und
1 Vergleichbare Debatten lassen sich auch in der Philosophie beobachten. Dass die Bestimmung des Menschen unter der Perspektive
des (vermeintlichen) Gegensatzpaars ‚Natur‘ und ‚Kultur‘ ein kontrovers diskutiertes Thema ist, davon zeugen bspw. unlängst
thematische Schwerpunkte in der Deutschen Zeitschrift für Philosophie.
2 Beide Monografien sind inzwischen als Jubiläumsausgaben neu aufgelegt worden.
1
Wissenschaftstheorie der Biowissenschaften beschäftigt. Weber, selbst auch Biologe, markiert dagegen eine
weniger affirmative Position.
Auf den ersten Blick zeigen die Bücher von Wuketits und Weber eine ähnliche Struktur. Weber gibt auf
knapp einhundert Seiten einen Abriss der Geschichte und der Kernaussagen der Soziobiologie, im zweiten Teil
werden verschiedene Themen eingehender behandelt. Auch Wuketits gibt in vergleichbarem Umfang einen
Überblick über die wichtigsten soziobiologischen Themenbereiche (Gruppenleben, zweigeschlechtliche
Fortpflanzung und Partnerfindung, Jungenaufzucht). In der Art und Weise, wie die Übertragung von
Untersuchungsergebnissen aus der Tierwelt auf menschliches Verhalten thematisiert wird, zeigen sich hingegen
deutliche Differenzen in den Positionen der Autoren.
Gleich zu Beginn seines Buches „Was ist Soziobiologie?“ kritisiert Wuketits an den Sozialwissenschaften
und der Philosophie, dass deren Menschenbilder die Einsichten Darwins ignorieren würden; wohingegen das
Grundverständnis der Soziobiologie, dass „menschliche Sozialstrukturen im Wesentlichen nach den gleichen
Mustern wie tierische gestrickt und – selbst in ihren komplexen Ausdrucksformen, etwa im Moralverhalten – auf
evolutive, genetische Grundlagen zurückzuführen seien“, zutreffender sei (12). „Alle Formen des
Sozialverhaltens“ in der Tierwelt und auch „die komplexen sozialen Beziehungen auf dem Niveau des
Menschen“ könnten „nur auf dem Boden der Evolutionstheorie hinreichend“ – im Sinne kausaler Erklärungen –
verstanden werden (15f). Dennoch will Wuketits vermeiden, eine bloße biologistische, gen-deterministische
Sichtweise auf soziale Verhaltensweisen anzuempfehlen (13, 72ff.).
In den einzelnen Kapiteln des Buches wird die soziobiologische Methode vorgeführt: In vergleichender
Perspektive werden aus den Ergebnissen von Einzelanalysen allgemeine Gesetzmäßigkeiten der Evolution
herauszuarbeiten versucht. Dazu werden Verhaltensbeobachtungen verschiedenster, beispielhafter Tierarten, wie
Bienen, Ameisen, Wölfe, Paviane, Pinguine usw. usf., mit spezifisch menschlichen Phänomenen
zusammengeführt. Dass dieses Vorgehen höchst selektiv verfährt und mögliche Inkonsequenzen in diesem
homogenisierten Bild evolutiver Strategien vernachlässigt werden, problematisiert Wuketits nicht. An vielen
Stellen, wo solche Irritationen auftauchen könnten, arbeitet Wuketits mit Alltagsevidenzen und Einzelbelegen,
um Aussagen zu plausibilisieren. Etwa wird argumentiert, dass sich Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern
als Wettbewerb aufgrund unterschiedlicher Fortpflanzungsinteressen darstellen lassen: Beim Menschen sei
entscheidend, dass Männer im Laufe ihres Lebens wesentlich mehr Nachkommen zeugen können als Frauen; bei
Säugetieren und Vögeln kommt dann die besondere Bedeutung des Werbens um Weibchen hinzu. Wuketits
schlussfolgert, dass der Wettbewerb der Geschlechter davon bestimmt sei, die eigenen Gene in die nächste
Generation zu bringen. Innerhalb dieses Konflikts gehe es dann „oft nicht sehr ‚vornehm‘ zu“ (40). Hierbei hätte
die Frage, ob von artspezifischen Verhaltensweisen bei Pfauen, Löwen oder Hirschen auf die Geschlechterfrage
beim Menschen geschlossen werden kann und ob sich überhaupt ein allgemeines durchgehendes Muster im
evolutionstheoretischen Stammbaum auffinden lässt, angesichts der (gerade im Diskurs um die Soziobiologie)
brisanten Thematik eine intensivere Betrachtung verdient. Die Frage der adäquaten Übertragbarkeit stellt sich
darüber hinaus, wenn bspw. die Situation einer Mutter mit Kind am Süßwarenregal mit der Brut- und Nestpflege
bei Vögeln in Beziehung gebracht wird, um eine allgemeine Erklärung von Eltern-Kind-Konflikten zu geben;
oder wenn Kooperation und Arbeitsteilung auf der Grundlage von Beobachtungen kooperativer Tendenzen im
Tierreich etwa (im Anschluss an Wilson) bei Ameisen erklärt werden (52f.); gleiches gilt für Altruismus,
Empathie und soziale Intelligenz (67ff.). Immer gehe es letztlich nur darum, Fortpflanzungstrategien zu
erkennen, bei denen (gen-egoistische) Kosten-Nutzen-Kalkulationen Anwendung finden: Soziale
Verhaltensmuster seien „letztlich nur aus dem Umstand erklärbar, daß jedes Lebewesen im Dienste seines
Überlebens seine eigenen Gene weitergeben ‚will‘“ (72).
Wuketits akzentuiert, dass für den Menschen und sein Verhalten die gleichen Prinzipien gelten würden wie
bei anderen (sozialen) Spezies: „Es gibt keinen Grund, für ihn weiterhin eine ‚Sonderstellung‘ in der
Organismenwelt zu reklamieren“ (80). So sei der Grundsatz der Humansoziobiologie durchaus angemessen, bei
der Erklärung gesellschaftlicher Formen wie Politik und Staat, Moral und Recht sowie bei Aggression, Gewalt
und Verbrechen auf die besondere Bedeutung der natürlichen Erbanlagen zu fokussieren; denn sämtliche
Ausprägungen der menschlichen Kultur könnten „auf eine biologische Basis zurückgeführt werden“ (95) –
Kulturwelt als Resultat mannigfacher biologischer Funktionen im menschlichen Fortpflanzungssystem.
Weber beurteilt in seinem Buch, das einfach mit „Soziobiologie“ betitelt ist, die Plausibilität solcher
Schlussfolgerungen anders. Er sieht es als begründet an, dass die Erklärungsversuche, die sich auf das Tierreich
beziehen, nicht einfach auf die spezifischen Problemstellungen von menschlichen Verhaltensformen bezogen
werden können. Diese Unterscheidung rechtfertige sich durch die besondere Bedeutung des Phänomens des
kulturellen Wandels. An dieser Stelle grenzt sich Weber deutlich von Biologen ab, die diese Demarkation
nivellieren. Entsprechend nimmt er die Darstellung des soziobiologischen Blicks auf den Menschen mit der
Motivation vor, die „Grenzen dieser Betrachtungsweise aufzuweisen“ (70).
Ein großes Problem der Humansoziobiologie sei die Inadäquatheit der Modelltiere. Solche
„stammesgeschichtlich zweifelhaften Vergleiche“, wie Wilsons Analogie von menschlichen Gesellschaften und
Ameisenstaaten, würden „seit der Pionierarbeit Jane Goodalls an Schimpansen in Tansania keine sonderlich
2
große Legitimität mehr“ besitzen (71). Unklar sei dennoch, welche Primatenart am geeignetsten ist, um das
soziale Leben der Menschen zu modellieren. Weber stellt damit solche Ergebnisse grundsätzlich infrage, die in
Übertragung aus Experimenten oder Beobachtungen mit Tieren gewonnen werden. Des Weiteren gerate die
soziobiologische, gen-egoistische Forschungslogik aufgrund der Bedeutung spezifisch kultureller Prägung in
Nöte. Wie Weber u.a. anhand des Paarungsverhaltens des Menschen zeigt, können Gene nicht als
deterministische Faktoren angesehen werden, da deren Wirkung durch die soziale Umwelt überformt sei (24):
„Das ‚Vererbungssystem‘ Kultur arbeitet nicht notwendigerweise im Interesse von Genen“ (85).
Diese Kritik wiegt schwer, da die Soziobiologie ihre besondere, provokative Bedeutung gerade dadurch
erlangt, dass sie die Entwicklung verschiedener Formen von Sozialverhalten als Evolution von
Reproduktionsstrategien erklären will (5). Eine genetische Determination sei aber nicht belegbar (auch Wuketits
spricht an solchen Stellen eher vorsichtig von ‚Disposition‘), sodass letztlich unklar ist, ob bzw. inwieweit sich
Erbanlagen auf die kulturelle Evolution auswirken. Insgesamt bewertet Weber deshalb die eigentliche
Kontroverse um die Soziobiologie als erloschen, nur „einige hitzköpfige Verteidiger und Kritiker“ würden noch
die „Deutungsvormacht“ reklamieren (82).3 Fast liest es sich als Entwarnungsmeldung in Richtung
Sozialwissenschaften: „In der Biologie konzentrieren sich die meisten Wissenschaftler auf das Studium von
Tieren und meiden den Menschen als Untersuchungsobjekt“ (83). Weber macht unmissverständlich klar, „dass
die Soziobiologie Wilson’scher Prägung ernsten und legitimen methodischen und konzeptuellen Kritiken
ausgesetzt ist, die sich beim Studium des Menschen besonders deutlich zeigen“ (83). Auch Weiterentwicklungen
unter den Bezeichnungen ‚Evolutionäre Psychologie‘ oder ‚Memetik‘ böten „oft nur plausibel klingende
Geschichten als Erklärungen an, die kaum experimentellen oder vergleichenden Überprüfungen unterzogen
werden können“ (93) – so lautet Webers abschließendes Urteil aus seiner Sicht als Biologe. Die Evolutionäre
Psychologie sei infolgedessen – trotz „großer Beliebtheit auf dem Markt populärer Sachbücher“ (89) – wenig
anerkannt in der akademischen Evolutionsbiologie. Aus geradezu sozialwissenschaftlicher Perspektive
formuliert, gibt Weber abschließend zu bedenken: „Humansoziobiologie und Evolutionäre Psychologie
versuchen zu zeigen, was angeblich die wahre, von einem kulturellen Überbau nicht verunreinigte Natur des
Menschen ist. Dabei übersehen die Vertreter dieser Disziplinen nur allzu oft, dass Kultur und die Fähigkeit zum
kulturellen Wandel ebenfalls ein fundamentales Element des menschlichen ‚Naturzustandes‘ ist“ (93).4
Entgegen Webers fast schon emphatischer Verteidigungsrede der Relevanz von sozial- und
humanwissenschaftlicher Forschung und der Mahnung, die Grenzen der Erkenntnismöglichkeiten der Biologie
zu berücksichtigen, sieht Voland – entsprechend der Losung, die er in einer populären Abhandlung ausgegeben
hat: „Die Soziobiologie räumt kräftig auf mit der vermeintlichen Sonderstellung des Menschen im Reich der
Organismen“ (Voland 2000, VII) – die Adäquatheit der Übertragung von tierischem Sozialverhalten auf den
Menschen nicht nur nicht infragegestellt, sondern legt direkt eine naturalistische Beschreibung der conditio
humana vor. Das Buch von Voland „Die Natur des Menschen“ ist anders aufgebaut als die beiden vorigen
Einführungen. Es basiert auf einer Serie von Aufsätzen, die unter den Titel „Grundkurs Soziobiologie“ von Mitte
2006 bis Anfang 2007 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen ist. Die Struktur dieser Einzelessays
ist im Buch beibehalten worden.
Voland geht von der These aus, dass sich alle sozialen Formen der menschlichen Kultur als biologisches
Evolutionsgeschehen in „Darwins große Welterklärung einfügen“ lassen können müssen (13); denn der
„Naturgesetzlichkeit der natürlichen Selektion ist nicht zu entkommen“ (12). Die gen-egoistische Sichtweise der
Soziobiologie lasse alle sozialen und kulturellen Sachverhalte als „Spiel der Evolution“ erscheinen, in dem es
„einzig um den Ausbreitungserfolg biologischer Programme“ geht (14).
Voland zufolge können Gesellschaftsentwicklungen als Teil der Evolutionsgeschichte erklärt werden.
Grundsätzlich verfährt er dabei so, dass er komplexe Sachverhalte simplifiziert, um sie mit dem einfachen
soziobiologischen Vokabular zusammenzubringen. So wird etwa das Problem der sozialen Ordnung und der
gesellschaftlichen Integration sowie die Bedeutung von Moral5 als spieltheoretische Kooperationsstrategie
modelliert (Kap. 2, 3, 15, 16). Das Phänomen des sozialen Status in der Moderne wird mit Fortpflanzungserfolg
in Verbindung gebracht und als frühgeschichtlich evolutionäre Funktion beschrieben (Kap. 5). Die Konflikte der
Geschlechterdifferenz werden auf eine „Asymmetrie der Kosten für Fortpflanzung“ zurückgeführt (50), weshalb
Frauen und Männer ungleiche „Marktpositionen“ im „Fortpflanzungwettbewerb“ besitzen und unterschiedliche
(evolutionär geformte) Strategien für reproduktiven Erfolg verfolgen würden (Kap. 6). Die Folge seien
3 Am Beispiel des Terrorismus will Wuketits etwa verdeutlichen, dass soziobiologischen Analysen ein Primat gegenüber
sozialwissenschaftlicher Forschung zukommt, weil „tiefer“ angesetzt und die Entstehung von Verhaltensweisen begründet werden
könne: Sozialwissenschaften würden lediglich „proximate“ Erklärungen aus der politischen Situation und den sozialen wie
ökonomischen Bedingungen einer terroristischen Gruppe ableiten, aber nicht erklären können, „warum Menschen grundsätzlich und
überhaupt […] Terroranschläge zu verüben bereit sind. Die Soziobiologie liefert die ultimative Erklärung: Indem sie in der Tiefe
unserer Natur verwurzelte Verhaltensantriebe offen legt, zeigt sie sozusagen die Letztursachen für ein Verhalten auf“ (91). Das
Phänomen lasse sich anhand des biologische Nutzens erklären, als Steigerung des Fortpflanzungserfolgs der Gruppe genetisch
verwandter Individuen.
4 Diese Einsicht entspricht der in der Soziologie weitverbreiteten Vorstellung von ‚Kultur‘ als vom (weltoffenen) Menschen selbst
geschaffene ‚zweite Natur‘.
5 Dass Voland in diesem Zusammenhang auf Moral und deren sozialer Funktion zu sprechen kommt, ist nicht zufällig: Émile
Durkheim und später Talcott Parsons sahen in der moralischen Grundordnung die Bedingung für die Möglichkeit sozialer Ordnung.
3
verschieden ausgeprägte Geschlechterrollen und Formen von Partnerwahl, Familienkonstellationen und
Kindeserziehung, denen aber letztlich immer gen-egoistische Mechanismen zugrunde liegen würden (Kap. 713). Dem ökonomischen Prinzip der Evolution mit der „darwinistischen Nutzenfunktion“ könne nichts
entkommen (126). Auch Religiosität nicht (Kap. 14). Deren Funktion sei die Stabilisierung von Kooperationen:
Gottesgläubigkeit diene der „moralischen Disziplinierung der Gruppenmitglieder“ (119). Außerdem wirke sich
Religion „nützlich“ auf Gesundheitszustand und Reproduktionserfolg aus. Menschliche Rationalität wird als
Epiphänomen der Verhaltenssteuerung beschrieben, die durch die „Maschinerie“ der evolutionären „Weisheit“
bewirkt wird (144), und auch Emotionen wird eine evolutionäre Funktion attestiert (Kap. 17). Abschließend will
Voland die in den Sozial- und Humanwissenschaften vorherrschende Grundvorstellung einer ‚Weltoffenheit‘ des
Menschen als Fiktion entlarven (Kap. 18). Lernfähigkeit und Kognition seien – was an dieser Stelle nun nicht
mehr überrascht – evolutionäre Strategien für adaptive Probleme: „Man lernt nur, wozu man in langen
Evolutionsprozessen eingerichtet wurde, dass man es lernt“ (154). ‚Kultur‘ als Charakteristik des Menschen,
„außergewöhnlich lernfähig zu sein“, gehe in dem „biologischen Imperativ“ auf, da „Lernprozesse […] von der
natürlichen Selektion hervorgebracht“ worden seien (156).
Ob diese Beschreibungen überzeugen können, mag bezweifelt werden. Eher tun sich Fragen auf, als dass
man durch das Buch von Voland Antworten bekommt. Denn das Niveau der Problemstellungen in der
Philosophie und Soziologie findet in den Darstellungen keinen rechten Widerhall. Dies mag dem
feuilletonistischen Schreibstil geschuldet sein; angesichts der Unterkomplexität der Erklärungen leidet jedoch
deren Plausibilität beträchtlich. Dies lässt sich an einem symptomatischen Beispiel verdeutlichen.
Die Darstellung der besonderen Bedeutung der genetischen Verwandtschaft bildet den Ausgangspunkt und
zieht sich wie ein roter Faden durch das gesamte Buch. Verwandtschaft (als biologische Kategorie) sei
verhaltensbestimmend und stehe im engen Zusammenhang mit sozialem Zusammenhalt und Führsorge bei
Menschen (und bei Tieren). Sie sei entscheidend „für die Entstehung komplexer Sozialsysteme“ und auch in der
Moderne wirksam (15f.). An dieser Stelle wird die Schwierigkeit in der Schilderung deutlich: Hier wird der
Anspruch vertreten, gesellschaftliche Entwicklung erklären zu können; die Beschreibung bricht aber weit
unterhalb der Komplexität dieses Problems ab. Der Zusammenhang von Verwandtschaft und familiärer
Solidarität erklärt nicht die Evolution komplexer sozialer Strukturen. Wie erklärt werden kann, wie die
gesellschaftliche Entwicklung verlaufen ist von segmentären (sog. primitiven) Gesellschaften, die in
Familienclans organisiert waren, zur modernen Gesellschaft, die sich durch funktionale Differenzierung
(Parsons, Luhmann) oder als Zivilisationsprozess (Elias) charakterisieren lässt, wo im Zuge von
Individualisierungstendenzen der Familienzusammenhang zunehmend an Bedeutung verliert, diese Frage, die
ein Kernproblem der Soziologie darstellt, kann mit den einfachen Konzepten der Humansoziobiologie nicht
bearbeitet werden. Voland lässt den Leser im Unklaren darüber, ob er letztlich einer „Steinzeitpsychologie“ (43)
nachgehen will, die für die komplexen Strukturen der Moderne keine Anwendung finden kann, oder ob die
evolutive Universalgeschichte des Menschen bis in die Gegenwart gezeichnet werden soll. Dem formulierten
Anspruch nach vertritt er Letzteres, den Möglichkeiten nach gehen die Erklärungen zumeist nicht über den
ersten Punkt hinaus, sodass fraglich ist, welche Erklärungskraft der Ansatz für die moderne Gesellschaft (insb.
Makrostrukturen) überhaupt besitzen kann. Insofern ist vielleicht die Einschätzung von Weber zutreffend, dass
die Soziobiologie für die Human- und Sozialwissenschaften nicht (mehr) als ernst zu nehmende Herausforderung
anzusehen ist.
Wie werden die Ergebnisse der Soziobiologie in der Soziologie selbst bewertet? Erste Antworten darauf kann
das Buch von Matthias Groß mit dem Titel „Natur“ geben.6 Groß zeichnet eine Reihe von Aspekten nach, die
auch beim oben genannten Soziologiekongress erörtert wurden. In sieben einführenden Kapiteln versucht der
Autor darzustellen, dass insb. die Auseinandersetzung mit Naturkonzepten maßgeblich für das Verständnis des
Sozialen und in diesem Zusammenhang die Gegenüberstellung von Natur und Gesellschaft prägend für die
Bildung der Soziologie als Disziplin war. Zur Identitätsbildung der Soziologie beigetragen habe vor allem die
Grenzbildung gegenüber einem unsoziologischen Bereich, in Form von Auseinandersetzungen mit der äußeren
Natur als auch mit der innere Natur des Menschen.
Neben bestimmten Formen des Darwinismus (Sozialdarwinismus) zu Beginn des 20. Jahrhunderts seien
Diskussionen über die natürlichen Grundlagen menschlichen Sozialverhaltens vor allem durch den
soziobiologischen Ansatz ausgelöst worden. Abgelehnt worden sei in den Sozialwissenschaften vor allem die
Sichtverweise, soziale Sachverhalte kausal durch physikalische und chemische Prozesse erklären zu können. Die
genetische Ausstattung des Menschen sei lediglich als biologische Vorbedingung angesehen worden, aber nicht
von entscheidender Bedeutung für die Erklärung des Variantenreichtums kultureller bzw. gesellschaftlicher
Formen. Einen „Einzug der Soziobiologie in die Soziologie“ habe es im Grunde nicht gegeben, was vor allem
einem vorherrschenden Anthropozentrismus und der Vorstellung einer Sonderstellung des Menschen als
Kulturwesen geschuldet sei, konstatiert Groß (18). An dieser ablehnenden Haltung habe sich trotz
Weiterentwicklungen des soziobiologischen Ansatzes nichts Grundsätzliches geändert.
6 Anders als im angloamerikanischen Raum, gab es vonseiten der deutschen Soziologie lange Zeit kaum explizite
Auseinandersetzungen mit der Soziobiologie. Einen Überblick hierzu gibt Richter (2005).
4
Ob natürliche Anlagen oder gesellschaftliche Prägung entscheidend sind, diese Frage habe im
Zusammenhang der Diskussion der Unterschiede der Geschlechter eine große Rolle gespielt – insb. durch solche
biologischen Ansätze, die die Ungleichheit der Geschlechter als eine Folge natürlicher Unterschiede (und damit
als unabänderlich) zu erklären versuchten. Groß kommt allerdings zu dem Schluss, dass – entsprechend der
allgemeinen Tendenz – auch in diesem Bereich weitestgehend Distanzierung der Soziologie gegenüber
biologischen Erklärungsansätzen vorherrschte oder eine Soziologisierung solcher Fragestellungen angestrebt
wurde.
In weiteren Kapiteln zeichnet Groß nach, dass die Vorstellung der Gesellschaft als Organismus prägend für
die frühe Soziologie war; dass Soziologie nicht nur in Auseinandersetzung mit der Biologie, sondern auch mit
der Geografie und Ökologie stattgefunden hat; wie sich im Rahmen der Wissenschafts- und Technikforschung
ein Ansatz unter der Bezeichnung Actor-Network-Theory (ANT) entwickelt hat, der das Verhältnis von
Menschen, Technik und Natur radikal neu formuliert hat, um soziale Prozesse (insb. wissenschaftliche
Wissensgenerierung) zu beschreiben; und schließlich, wie sich die Subdisziplin Umweltsoziologie
herausgebildet hat, die die Wechselwirkungen zwischen Gesellschaft und ihrer natürlichen Umwelt untersucht.
Insgesamt gibt das Buch einen guten Einblick in soziologische Auseinandersetzungen mit dem Thema
‚Natur‘ mit dem Ziel dies als einen klassisch und genuin soziologischen Gegenstand deutlich werden zu lassen.
Entsprechend der Grundthese des Buches: „Soziologie kann Gesellschaft nur über den Bezug zu Natur
verstehen“ (5), wird, statt einer frontalen Gegenüberstellung von ‚Gesellschaft‘ bzw. ‚Kultur‘ zu ‚Natur‘, die
enge Verwobenheit beider Bereiche akzentuiert. Die Bedeutung der Beschäftigung mit der physischen
Dimension des Sozialen hervorgehoben zu haben, ist nicht zuletzt deswegen verdienstvoll, da dies allzu oft in
soziologischen Forschungen ausgeblendet wird, wenngleich eine stärkere Fokussierung auf anthropologische
Fragen wünschenswert gewesen wäre.
In dem Buch „Darwins Erben in den Medien“ von Sebastian Linke scheinen sich die Einschätzungen von
Weber und Groß bezüglich der gescheiterten Inkorporation der Sozialwissenschaften durch die (Sozio-)Biologie
zu bestätigen. Linke zufolge könne die Soziobiologie alles andere als eine Erfolgsgeschichte vorweisen (11f.). Es
scheint also tatsächlich angemessen zu sein, von einer erloschenen wissenschaftlichen Kontroverse zu sprechen.
Dennoch lasse sich – so Linke – aktuell eine „Konjunktur naturalistischer Deutungsmuster“ beobachten (9), die
sich in einer spezifischen „Dynamik in der medialen Darstellung der Soziobiologie“ (15) äußert. Ausgehend von
diesem überraschenden Befund fragt Linke, wie „die Vermittlung eines so problematischen Konzepts wie das
der Soziobiologie zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit erfolgte“ (16). Um die Beziehung der
wissenschaftsinternen Thematisierung der Soziobiologie und deren Rezeption in der massenmedialen
Kommunikation zu beleuchten, vergleicht die Studie eine Auswahl wissenschaftlicher Publikationen und
deutscher Printmedien aus den Jahren 1975 bis 2003.
Linke gibt zu Beginn einen instruktiven Überblick darüber, wie der Ansatz in die Krise geraten ist (Kap. 2):
einmal durch heftige, z.T. ideologisch geprägte Attacken aus anderen Wissenschaftskreisen; zum anderen durch
– nicht minder scharf geführte – Anfechtungen der wissenschaftlichen Güte des adaptionistischen Programms
der Soziobiologie vonseiten biologischer Fachkollegen (30f., 35f.). Dabei kann der Darstellung zugutegehalten
werden, dass sie nicht politisch motiviert ist, sich nicht auf eine Seite schlägt. Linke steht seinem
Untersuchungsgegenstand und den darin enthaltenden Positionen stets wertfrei gegenüber. Auf diese Weise
gelingt es ihm, die Motivationen der Kontrahenten in der Debatte um die Soziobiologie ausfindig zu machen, zu
kontextualisieren und in übergeordnete Diskursverläufe einzuordnen, so z. B., dass die angloamerikanische
Rezeption des Ansatzes deutliche Differenzen zu der Situation etwa in Deutschland aufweist, wo die klassische
Ethologie von Konrad Lorenz die Aufnahme stark abgebremst habe (39f.).
An eine Darstellung des Forschungsstandes zur Wissenschaftskommunikation im öffentlichen Raum (Kap.
3.), schließen sich ausgiebige Materialanalysen an. An die Luhmann’sche Systemtheorie angelehnt, werden
Wissenschaft und Massenmedien als gesellschaftliche Teilsysteme und intersystemische Wirkungen als
Kopplungen verstanden. Der wissenschaftliche Diskurs und die Mediendarstellung werden als jeweils
eigenständige Kommunikationsverläufe aufgefasst und analysiert, erst in einem zweiten Schritt wird den
Bezügen beider Bereiche nachgegangen.
Den Diskursverläufen zur Soziobiologie in Wissenschaft und öffentlichen Medien geht Linke zunächst
anhand von Häufigkeitsauszählungen in anerkannten wissenschaftlichen Zeitschriften und Pressedarstellungen
nach (Kap. 4): Während die akademische Rezeption (insb. in Science) 1975 mit Wilsons Buch einsetzt und dann
abebbt, sei der „deutsche Mediendiskurs zur Soziobiologie nicht parallel [verlaufen], sondern eher entgegen dem
internationalen wissenschaftlichen Diskursverlauf“ (72). Ein ähnliches Bild zeigen die qualitativen
Inhaltsanalysen der Diskussionen in wissenschaftlichen Zeitschriften (Kap. 5) und der Berichterstattung in
deutschen „Leitmedien“ (Kap. 6). Auf dieser Grundlage kommt Linke zu dem Ergebnis, dass der internationale
Wissenschaftsdiskurs zur Soziobiologie und deren Thematisierung in den deutschen Printmedien mit einer
„Zeitverschiebung“ von 20 Jahren weitestgehend voneinander abgekoppelt verlaufen seien (Kap. 7, 8). Entgegen
einer Zurückhaltung in den 1970er und 1980er Jahren, kam es ab 1990 zu einem Anstieg in der medialen
Berichterstattung, die zur Jahrtausendwende einen Höhepunkt erreichte, während die Soziobiologie in Science
5
und Nature kaum noch thematisiert wurde und in der deutschen Zeitschrift Naturwissenschaften im Grunde nie
präsent war.7 Dabei ging es in der FAZ und im Spiegel zunehmend weniger um die Vermittlung
wissenschaftlicher Ergebnisse und Diskussionen. Stattdessen sei die Tendenz eines „laissez-faire im Umgang mit
der Soziobiologie“ bei der Erklärung alltags- und kulturspezifischer Phänomene zu verzeichnen, auf eine
„wissenschaftliche Kontextualisierung“ sei verstärkt verzichtet worden (193). Als Auslöser dieses
eigendynamischen, lockeren Umgangs deutscher Medien mit naturalistischen Erklärungsmustern könne eine
allgemein intensivierte und zumeist affirmative Berichterstattung von Bio- und Gentechnologien angesehen
werden. Linke resümiert, dass es „gegen Ende der 1990er Jahre ‚auf dem Rücken‘ der Biotechnologie“ zur
medialen Konjunktur der Soziobiologie gekommen sei (203).
Der besondere Nutzen dieser Studie besteht darin, dass der Ansatz auf der Objektseite der Beobachtung sitzt.
Die Untersuchung kann damit Aufschluss über wissenschaftliche Praktiken der Wissensgenerierung und die
eigentümliche Präsenz der Soziobiologie in den Medien geben. Vor diesem Hintergrund lässt sich auch das Buch
von Voland einordnen, dem eine öffentlichkeitswirksam platzierte Aufsatzserie in der FAZ zugrunde liegt.
Wissenschaftsintern gibt es offenbar weder eine neuerliche Kontroverse um die Soziobiologie noch
durchschlagend neue Erkenntnisse,8 was einer Hochphase in der öffentlichen Medienlandschaft aber keinen
Abbruch tun muss.
Auch wenn die Versuche einer Naturalisierung oder Biologisierung der Sozialwissenschaften bisher als
gescheitert gelten können, bleibt die Frage bestehen, ob die verwendeten Menschenbilder getrennt von den
Prinzipien der Evolutionstheorie, die in der Biologie (derzeit) konkurrenzlos ist,9 bestehen können. Die Frage ist,
werden sich die Sozialwissenschaft auf kurz oder lang evolutionstheoretischen Erklärungen öffnen müssen, um
nicht in eine weltanschauliche Sackgasse zu geraten (vgl. Richter 2005, 538)?
Aufschlussreiche Einsichten hierzu kann ein Blick auf die Ansätze von Arnold Gehlen und Helmuth Plessner
bieten – wenn auch mit unterschiedlichem Resultat. Denn beide Anthropologien stellen methodisch völlig
unterschiedliche Zugänge dar. Gehlen versuchte mit seiner „empirischen Philosophie“ die Bedingungen des
Menschseins aufzuweisen, indem er empirische Forschungsergebnisse systematisch durcharbeitete und zu einem
in sich konsistenten Gesamtbild, in das seine Institutionentheorie eingefügt war, zusammensetzte. Neuere
Erkenntnisse der Biologie, insb. der Ethologie, ließen – um es vorsichtig auszudrücken – einige Schwächen der
Konzeption deutlich werden. Gehlen, der selbst eingeräumt hatte, dass sich der Ansatz an den empirischen
Einzelwissenschaften messen lassen müsse, sah sich in seinem späteren Werk „Moral und Hypermoral“ denn
auch genötigt, Ergebnisse der Verhaltensforschung mit aufzunehmen. Ob diese Zugeständnisse nicht letztlich zur
Revision des durch die Methode der „Ganzheit“ entwickelten Menschenbildes zwingen, diese Frage hat Gehlen
nie beantwortet. Entscheidend ist an dieser Stelle, dass ein spezifisches Problem der Methode in den
Vordergrund rückt. Indem Gehlens Konzept auf Ergebnissen empirischer Wissenschaften basierte, war es nicht
mehr möglich, auf Weiterentwicklungen in diesen Bereichen angemessen Bezug zu nehmen und reflexiv
einzuarbeiten, sodass etwa aus Sicht der Biologie die Theorie durch ihren kontrafaktischen Zug bald als überholt
angesehen werden musste (vgl. Karneth 1991).
Plessner hat mit seinem Programm einer Philosophischen Anthropologie das Verhältnis von Naturerkenntnis
und Selbstbild des Menschen auf andere Weise thematisiert – was erst in der neueren Plessner-Forschung
gewürdigt worden ist. Die methodische Anlage seines Ansatzes sieht vor, den Zugang zur Verfassung leiblicher
Individuen und zur äußeren Natur im Zusammenhang zu begreifen (vgl. Mitscherlich 2007). Bei der Frage der
Erfahrung von Dingen geht Plessner vom Wahrnehmungsobjekt aus. Gegenstände erscheinen einem Beobachter
jedoch nicht unmittelbar, sondern sind stets gesellschaftlich-historisch vermittelt. Natur als Gegenstand der
Wissenschaften muss prinzipiell als mitweltlich-sozial konstituiert begriffen werden (vgl. Beaufort 2000). Was
für die Erfahrung der äußeren Natur gilt, gilt grundsätzlich auch bei der Selbstbeobachtung; d. h., jeder Begriff
des Menschen ist in seiner historischen Bindung zu sehen. Natürlichkeit ist in jeder Hinsicht eine vermittelte. Da
Vorstellungen von Natur als Konstruktionen begriffen werden, die geschichtlich und sozial gebunden sind,
erscheinen somit auch Auffassungen über die Natur des Menschen kontingent (Lindemann 2008, 129f.). Der
Ansatz beschreibt die Unmöglichkeit, ein transhistorisch stabiles Bild des Menschen zu zeichnen. Zusätzlich
stellt er die geschichtliche Gebundenheit der eigenen theoretischen Annahmen (Positionalitätstheorie) reflexiv in
Rechnung.
Von der Warte Plessners aus besteht die Möglichkeit, Kultur und Natur miteinander vermittelt zu betrachten.
Gerät die Historizität von jedwedem Naturverständnis in den Blick, wird der Absolutheitsanspruch bestimmter
naturwissenschaftlicher Forschungsansätze aufgrund der Einsicht in die Notwendigkeit historischer
Relationierung obsolet. (Natur-)Erkenntnis ist in einem Entwicklungsprozess begriffen und grundsätzlich
unabgeschlossen. Es kann (und muss) gar nicht entschieden werden, welche Position die Deutungsvormacht
7 Den Grund hierfür sieht Linke in der Dominanz der spezifisch deutschen Tradition der Verhaltensforschung.
8 Hierbei ist zu beachten, dass sich der Ansatz in verschiedene Weiterentwicklungen mit unscharfen Grenzverläufen, wie
Evolutionäre Psychologie, Memetik oder Verhaltensökologie, aufgespalten hat, zumal sich das evolutionstheoretische Paradigma
insgesamt seit den 1970er Jahren verbreitert hat.
9 Ob tatsächlich von evolutionären Universalien gesprochen werden kann, erscheint aufgrund der Historizität und grundsätzlichen
Unabgeschlossenheit biologischer Forschung problematisch.
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besitzt. Theorie und Forschung leisten Erkenntnis in ganz bestimmten Phänomenbereichen, auf die sie
zugeschnitten sind. Probleme entstehen immer dann, wenn Erklärungsansätze die eigenen Grenzen verlassen und
sich auf andere (wenn nicht sogar alle) Gebiete ausweiten wollen. Sind solche imperialistischen Züge jedoch
nicht ganz und gar unwissenschaftlich? Denn wissenschaftliche Forschung ist per Definition (Popper)
ausschnitthaft und nicht allumfassend. Ist nicht die alte Anlage-Umwelt-Debatte gerade deshalb unfruchtbar,
weil jeweils mit Universalanspruch entweder einem naturalistischen oder kulturalistischen Erklärungsansatz ein
Primat zugesprochen wird? Sachverhalte, die unter ‚Kultur‘ gefasst werden (insb. gesellschaftliche
Makrostrukturen), können nicht auf Biologie reduziert werden, genauso wie biologische von physikalischchemischen Erscheinungen als irreduzibel unterschieden werden. Als Schlussfolgerung ließe sich ziehen: Einem
ontologischen Monismus, wie dem von der Soziobiologie vertretenden Universalprinzip der Evolution, ist ein
methodologischer Pluralismus vorzuziehen, weil auf diese Weise die jeweiligen Erkenntnisgrenzen biologischer
wie sozialwissenschaftlicher Forschung nicht ignoriert, sondern explizit in Rechnung gestellt werden können
(vgl. Seifert 2003). Biologie und Soziologie würden so nicht länger als Konkurrenzunternehmungen angesehen
werden, sondern als anders ausgerichtete Forschungsmethoden auf unterschiedlichen Analyseebenen, die sich,
wo sie sich berühren, gegenseitig befruchten könnten (vgl. Vowinckel 1991).
Literatur
Beaufort, Jan (2000): Die gesellschaftliche Konstitution der Natur. Helmuth Plessners kritischphänomenologische Grundlegung einer hermeneutischen Naturphilosophie in „Die Stufen des Organischen
und der Mensch“, Würzburg.
Karneth, Rainer (1991): Anthropo-Biologie und Biologie. Biologische Kategorien bei Arnold Gehlen - im Licht
der Biologie, insbesondere der vergleichenden Verhaltensforschung der Lorenz-Schule, Würzburg.
Lindemann, Gesa (2008): Verstehen und Erklären bei Helmuth Plessner, in: Greshoff, Rainer/Kneer, Georg/
Schneider, Wolfgang Ludwig (Hg.): Verstehen und Erklären. Sozial- und Kulturwissenschaftliche
Perspektiven, München, 117-142.
Mayntz, Renate (2006): Einladung zum Schattenboxen: Die Soziologie und die moderne Biologie, in: MPIfG
Discussion Papers, 06/7.
Mitscherlich, Olivia (2007): Natur und Geschichte. Helmuth Plessners in sich gebrochene Lebensphilosophie,
Berlin.
Richter, Dirk (2005): Das Scheitern der Biologisierung der Soziologie. Zum Stand der Diskussion um die
Soziobiologie und anderer evolutionstheoretischer Ansätze, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und
Sozialpsychologie, 57/3, 523-542.
Seifert, Franz (2003): Wie man die ‚menschliche Natur‘ besser nicht in die Sozialwissenschaften einführen
sollte. Kritische Anmerkungen zu Kurt Kotrschal, in: Österreichische Zeitschrift für Soziologie, 29/1, 93100.
Voland, Eckart (22000): Grundriss der Soziobiologie, Berlin.
Vowinckel, Gerhard (1991): Homo sapiens sociologicus oder: Der Egoismus der Gene und die List der Kultur,
in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 43/3, 520-541.
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