4.3 Nullmengen und Lebesgue

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4.3. Nullmengen und Lebesgue-Integral
4.3
99
Nullmengen und Lebesgue-Integral
Der Versuch, den Raum der stetigen Funktionen mit der Integralnorm zu vervollständigen, führt zu einer Reihe von Schwierigkeiten. Als Grenzwerte von Cauchyfolgen im quadratischen Mittel treten Funktionen mit Sprungstellen wie zum Beispiel
Treppenfunktionen auf, die in der Vervollständigung enthalten sein müssen. Aus den
Treppenfunktionen wiederum kann man Folgen bilden, die punktweise gegen nicht
Riemann-integrierbare Funktionen konvergieren.
4.3.1 Beispiel Sei q1 , q2 , q3 , . . . eine Aufzählung aller rationalen
Zahlen zwischen 0
n
1 für x ∈ An
und 1. Für n ∈ N sei fn : [0, 1] → R definiert durch fn (x) :=
, wobei
0 sonst
An := ∪nj=1 [qj −
1
1
, qj + 2 ] ∩ [0, 1].
2
2n
2n
Dann gilt an der Stelle x ∈ [0, 1] jeweils limn→∞ f (x) = 1, falls x ∈ Q, und
limn→∞ f (x) = 0, falls x ∈
/ Q ist. Die Folge der Funktionen fn konvergiert also
punktweise gegen die bekannte nicht Riemann-integrierbare Funktion f auf [0, 1]
gegeben durch
n
f (x) = 1 für x ∈ Q ∩ [0, 1] .
0 sonst
Ausserdem gilt
Z 1
n
X
1
1
=
|
fn (x)dx| ≤
2
n
n
0
j=1
R1
und daher limn→∞ 0 fn (x)dx = 0.
Auch diese Grenzfunktion sollte in der Vervollständigung erfasst sein, wir können
die Integralnorm mit dem Riemannschen Integralbegriff nun aber nicht mehr auswerten! Einen Ausweg aus diesem Dilemma bietet die Erweiterung des Integralbegriffs
nach Lebesgue. Sein Integralbegriff ist so gestaltet, dass auch bei nur punktweiser
Konvergenz einer Funktionenfolge bereits Integration und Limesbildung miteinander vertauscht werden dürfen. Für das Beispiel heisst das, die Grenzfunktion f ist
im Sinne von Lebesgue integrierbar und der Wert des Integrals ist gleich Null.
Nun handelt es sich bei f aber um die sogenannte charakteristische Funktion der
Menge der rationalen Zahlen zwischen 0 und 1. Das Integral über f misst die Grösse
dieser Menge. Das bedeutet also, dass der Anteil der rationalen Zahlen an der Menge
aller reellen Zahlen zwischen 0 und 1 in gewissem Sinn zu vernachlässigen ist. Anders
gesagt, die Wahrscheinlichkeit dafür, dass eine zufällig gewählte Zahl rational ist,
ist gleich 0. Man bezeichnet die Teilmenge der rationalen Zahlen deshalb auch als
Lebesgue-Nullmenge. Darunter versteht man genauer folgendes:
4.3.2 Definition Eine Teilmenge A ⊂ R heisst (Lebesgue)-Nullmenge, falls zu
jedem ǫ > 0 eine Folge von Intervallen I1 , I2 , . . . existiert, so dass
A⊂
∪∞
k=1 Ik
und
∞
X
k=1
µ(Ik ) < ǫ .
100
Kapitel 4. Hilberträume und symmetrische Operatoren
Dabei bezeichnet µ(Ik ) die Länge des Intervalls Ik . Die Menge A lässt sich also durch
eine abzählbare Menge von Intervallen überdecken, deren Gesamtlänge beliebig klein
gewählt werden kann.
4.3.3 Beispiele
1. Besteht A nur aus einem Punkt a, so ist A eine Nullmenge.
Denn zu ǫ > 0 wählen wir I := [a − 4ǫ , a + 4ǫ ]. Dann ist a ∈ I und µ(I) = 2ǫ < ǫ.
2. Jede endliche Menge A = {a1 , a2 , . . . , am } ist eine Lebesgue-Nullmenge. Jetzt
ǫ
brauchen wir jeweils m Intervalle. Zu ǫ > 0 wählen wir Ik := [ak − 4m
, ak +
ǫ
] für k = 1, . . . , m. Die Vereinigung der Intervalle Ik enthält ganz A und
4m
P
m
ǫ
k=1 µ(Ik ) = m 2m < ǫ.
3. Sogar jede abzählbare Teilmenge von R ist eine Nullmenge. Wir wählen wiederum eine Aufzählung der Elemente A = {a1 , a2 , . . .}. Zu ǫ > 0 wählen wir
diesmal
ǫ
ǫ
, ak +
]
(k ∈ N) .
Ik = [ak −
k
4·2
4 · 2k
Jetzt ist
∞
∞
∞
X
X
ǫ
ǫX 1 k
ǫ
( ) = .
=
µ(Ik ) =
k
2·2
2 k=1 2
2
k=1
k=1
Es gibt aber sogar überabzählbare Nullmengen, zum Beispiel die berühmte Cantormenge. Man kann diese Menge rekursiv konstruieren, in dem man aus dem Intervall [0, 1] sukzessive Teilintervalle herausschneidet. Genauer ist C = limn→∞ An ,
wobei
1 2
7 8
1 2
A0 = [0; 1] , A1 = A0 \ [ , ] , A2 = A1 \ [ , ] \ [ , ] . . . .
3 3
9 9
9 9
OderPanders gesagt: An ist die Vereinigung der Intervalle der Form [q, q + 31n [, wobei
q = nk=1 a3kk für gewisse ak ∈ {0, 2}.
P
ak
4.3.4 Bemerkung Die Cantormenge stimmt überein mit C = { ∞
k=1 3k | ak ∈
{0, 2}}. Sie ist überabzählbar, aber dennoch eine Lebesgue–Nullmenge, denn C ⊂ An
für jedes n, und die Teilmenge An besteht aus 2n Teilintervallen der Breite 31n ,
d.h. µ(An ) = ( 23 )n und daher limn→∞ µ(An ) = 0.
Für die Definition der Integrierbarkeit im Sinne von Lebesgue brauchen wir noch
einige Vorbereitungen. Wir gehen dabei von der Idee aus, eine Funktion durch Treppenfunktionen zu approximieren und dabei die Werte auf Nullmengen zu ignorieren.
4.3.5 Definition Eine Funktion ϕ: [a, b] → R ist eine Treppenfunktion, falls eine
Teilung a = a0 < a1 < . . . < an = b des Intervalls [a, b] und Konstanten ck existieren,
so dass ϕ(x) = ck für alle ak < x < ak+1 (k = 0, . . . , n − 1). Abgesehen von den
Werten von ϕ an den Teilungspunkten ak besteht der Graph von ϕ also aus Stufen.
Bekanntlich ist ϕ (Riemann)integrierbar, und es gilt:
Z
a
b
ϕ(x)dx =
n−1
X
k=0
ck (ak+1 − ak ) .
4.3. Nullmengen und Lebesgue-Integral
101
Hier zunächst die Beschreibung der Approximation des Integrals durch ”verallgemeinerte Untersummen”:
4.3.6 Definition Eine Funktion f : [a, b] → R heisse L+ -integrierbar, wenn eine
Folge von Treppenfunktionen ϕj : [a, b] → R existiert, so dass folgendes gilt:
1. ϕj (x) ≤ ϕj+1 (x) für fast alle x;
2. limj→∞ ϕj (x) = f (x) für fast alle x;
Rb
3. Es gibt eine Konstante M ∈ R mit a ϕj (x)dx ≤ M für alle j.
Dabei soll ”für fast alle x” bedeuten, dass die Teilmenge derjenigen Punkte x, für
die die Aussage nicht gilt, eine Nullmenge bilden.
Eine Funktion ist also genau dann L+ -integrierbar, wenn sie sich fast überall
als Grenzwert einer fast überall monoton wachsenden Folge von Treppenfunktionen
mit beschränktem Integral darstellen lässt. In diesem Fall bilden die Integrale der
Treppenfunktionen ϕj eine monoton wachsende, nach oben beschränkte und daher
konvergente Folge. Wir definieren das Lebesgue-Integral der Funktion f nun als
Grenzwert dieser Folge:
Z b
Z b
f (x)dx := lim
ϕj (x)dx .
a
j→∞
a
Wie schon die Notation suggeriert, hängt der Wert des Integrals nicht von der Wahl
der Folge (ϕj ) ab. Es ist aber aufwendig, dies zu zeigen, und wir werden hier darauf
verzichten.
4.3.7 Beispiele
• Die charakteristische Funktion der rationalen Zahlen zwischen 0 und 1 stimmt bereits für fast alle x mit der Nullfunktion überein.
(Denn die Ausnahmemenge, die rationalen Zahlen, bilden ja eine Nullmenge).
Also können wir hier für ϕj einfach die Nullfunktion wählen (für alle j), und
das Lebesgue-Integral über f ist tatsächlich gleich Null.
• Ist f : [a, b] → R eine stetige Funktion, so ist f Riemann-integrierbar, und
wir können das Integral von f als Grenzwert einer Folge von Untersummen
beschreiben. Wählen wir diese Folge nun so, dass das Intervall [a, b] dabei
fortlaufend verfeinert wird, so ist die Folge von Untersummen monoton wachsend. Jede einzelne Untersumme wiederum lässt sich als Integral einer geeigneten Treppenfunktion auffassen, und die Folge dieser Treppenfunktionen
konvergiert punktweise gegen f . Der Zusatz ”fast überall” wird in dieser Situation nicht gebraucht. Bei stetigen Funktionen stimmen also Riemann- und
Lebesgue-Integral miteinander überein.
• Auch gewisse uneigentliche Integrale sind hier miterfasst. Betrachten wir zum
Beispiel die Funktion f : [0, 1] → R, definiert durch f (0) = 0 und f (x) = √1x
für x 6= 0. Hier existiert das uneigentliche Riemannintegral, und die Approximation des Integrals durch Untersummen entspricht einer Approximation von
102
Kapitel 4. Hilberträume und symmetrische Operatoren
f durch Treppenfunktionen für alle x 6= 0. Also ist f hier L+ -integrierbar, und
das Lebesgue-Integral stimmt mit dem uneigentlichen Integral überein:
Z 1
Z 1
√
√
1
√ dx = lim 2( 1 − a) = 2 .
f (x)dx = lim
a→0 a
a→0
x
0
Nun die allgemeine Definition des Lebesgue-Integrals:
4.3.8 Definition Eine Funktion f : [a, b] → R ist Lebesgue-integrierbar, wenn f
sich als Differenz f = g−h von zwei L+ -integrierbaren Funktionen auf [a, b] schreiben
lässt, und wir setzen dann
Z b
Z b
Z b
f (x)dx :=
g(x)dx −
h(x)dx .
a
a
a
Hier eine Zusammenstellung wichtiger Eigenschaften (ohne Beweis):
4.3.9 Satz
• Die Menge L der Lebesgue-integrierbaren Funktionen auf [a, b]
bildet einen Vektorraum.
• Ist f Lebesgue-integrierbar, so auch |f |, f + := 21 (f + |f |), f − := f − f + .
• Sind f, g ∈ L, so auch f · g.
• Sind f, g ∈ L, und ist f (x) = g(x) für fast alle x, so ist
Z b
Z b
f (x)dx =
g(x)dx .
a
a
• Ist f ∈ L, f (x) ≥ 0 für alle x und
alle x.
Rb
a
f (x)dx = 0, so folgt f (x) = 0 für fast
• Für stetige Funktionen auf [a, b] stimmen Lebesgue- und Riemannintegral überein.
Ausserdem gilt folgender Satz von der dominierten Konvergenz:
4.3.10 Satz Sei (fn )n∈N eine Folge Lebesgue-integrierbarer Funktionen auf [a, b],
die fast überall punktweise gegen eine Funktion f : [a, b] → R konvergiere, das heisst
limn→∞ fn (x) = f (x) für fast alle x. Sei weiter g ∈ L([a, b]) mit |fn (x)| ≤ g(x) für
fast alle x. Dann ist f ebenfalls Lebesgue-integrierbar und es gilt:
Z b
Z b
f (x)dx = lim
fn (x)dx .
a
n→∞
a
Kommen wir nun zurück zu dem ursprünglichen Ziel, eine Vervollständigung des
Vektorraums C 0 ([a, b]) der stetigen Funktionen bezüglich des Integralskalarprodukts
zu konstruieren. Wir betrachten dazu folgenden Kandidaten:
Z b
2
L := {f : [a, b] → R | f lokal Lebesgue-integrierbar und
f 2 (x)dx < ∞} .
a
4.3. Nullmengen und Lebesgue-Integral
103
Dabei nennen wir eine Funktion f lokal integrierbar, wenn für fast alle x ein Teilintervall x ∈ I ⊂ [a, b] existiert, auf dem f Lebesgue-integrierbar ist. Zum Beispiel ist
die Funktion h: [0, 1] → R, definiert durch h(0) = 0 und h(x) = x1 für x 6= 0, lokal
integrierbar, aber wir können das Integral nicht auf ganz [0, 1] auswerten, weil die
entsprechende Fläche unter der Hyperbel nicht beschränkt ist.
Offenbar bildet L2 einen Vektorraum, der den Raum C 0 ([a, b]) umfasst. Wir
können das Integralskalarprodukt auf diesen Raum fortsetzen, indem wir für f, g ∈
L2 definieren:
Z b
hf, gi :=
f (x)g(x)dx .
a
Dies Integral existiert, weil |f g| ≤
|
Z
a
b
f (x)g(x)dx| ≤
Z
b
a
1
(f 2
2
+ g 2 ) und daher
1
|f (x)g(x)|dx ≤
2
Z
b
1
f (x)dx +
2
2
a
Z
a
b
g 2 (x)dx < ∞ .
Aber hier stossen wir auf ein neues Problem. Das durch diese Vorschrift erklärte
Produkt erfüllt die Linearitäts- und die Symmetrieeigenschaft des Skalarprodukts,
aber nicht die Normeigenschaft! Denn in L gilt zwar:
Z b
hf, f i =
f 2 (x)dx = 0 ⇔ f (x) = 0 für fast alle x.
a
Aber wenn die Funktion f zum Beispiel nur an einer einzigen Stelle einen Wert ungleich Null annimmt, merkt das Integral über f 2 davon nichts und ist trotzdem gleich
Null. Wir können also aus hf, f i = 0 nicht schliessen f = 0. Um die Normeigenschaft
zu retten, geht man jetzt zu Äquivalenzklassen über. Das heisst, wir identifizieren
einfach sämtliche Funktionen, die sich nur auf einer Nullmenge unterscheiden.
4.3.11 Definition Wir betrachten zwei Funktionen f, g ∈ L([a, b]) genau dann
als äquivalent und schreiben f ∼ g, wenn f (x) = g(x) für fast alle x. Die Relation
∼ ist eine Äquivalenzrelation. Die zu einer Funktion f gehörige Äquivalenzklasse
schreiben wir als [f ] und bezeichnen die Menge der Äquivalenzklassen als
L2 ([a, b]) := {[f ] | f ∈ L2 } .
Weil die Rechenoperationen mit der Relation verträglich sind, können wir den Raum
L2 ([a, b]) wiederum als Vektorraum auffassen, indem wir festsetzen
[f ] + [g] := [f + g] und α[f ] := [αf ] für alle α ∈ R, f, g ∈ L2 ([a, b]).
Das Integralprodukt vererbt sich auf die Äquivalenzklassen, denn der Wert des
Integrals über ein Produkt von Funktionen f · g ändert sich nicht, auch wenn wir sowohl f als auch g auf einer Nullmenge von Punkten abändern. Aber auf L2 ([a, b]) ist
jetzt die Normeigenschaft erfüllt. Denn aus hf, f i = 0 folgt f (x) = 0 für fast alle x,
und das heisst, f ist äquivalent zur Nullfunktion, repräsentiert also die ”Nullklasse”.
Jede Äquivalenzklasse in L2 kann höchstens eine stetige Funktion enthalten.
Denn angenommen f, g sind stetige Funktionen auf [a, b] und f ∼ g. Das heisst
104
Kapitel 4. Hilberträume und symmetrische Operatoren
f (x) = g(x) für fast alle x, und daher f (x) − g(x) = 0 für fast alle x. Also ist
Rb
hf − g, f − gi = a (f − g)(x)2 dx = 0. Da (f − g)2 stetig und (f − g)2 (x) ≥ 0 für alle
x, folgt daraus sogar (f − g)2 = 0. Also stimmen f und g miteinander überein. Das
bedeutet, dass wir den Raum der stetigen Funktionen als Teilmenge von L2 ([a, b])
auffassen können. Der Raum L2 ist nun schliesslich die gesuchte Vervollständigung,
denn es gilt folgendes:
4.3.12 Satz Der Vektorraum L2 ([a, b]) mit dem Integralskalarprodukt ist ein Hilbertraum, und der Teilraum C 0 ([a, b]) liegt darin dicht, das heisst, zu jeder Funktion
f ∈ L2 ([a, b]) gibt es eine Folge stetiger Funktionen fn auf [a, b], die im quadratischen Mittel gegen f konvergieren.
Auf den Beweis der Vollständigkeit von L2 ([a, b]) müssen wir hier verzichten.
Dazu müsste man sich wesentlich genauer mit der Lebesguetheorie befassen. Zur
Dichtheit sei nur soviel gesagt: Man kann beweisen, dass es zu jeder Treppenfunktion ϕ eine Folge stetiger Funktionen gibt, die im quadratischen Mittel gegen ϕ konvergiert. Mithilfe der Treppenfunktionen wiederum können wir sämtliche Lebesgueintegrierbaren Funktionen (fast überall) approximieren. Deshalb liegt C 0 dicht in L2 .
4.4
Spektralsatz
Die folgenden Aussagen lassen sich wörtlich vom endlichdimensionalen auf den unendlichdimensionalen Fall übertragen:
4.4.1 Lemma Ist H ein Hilbertraum, D ⊂ H offen und dicht und L: D → H ein
symmetrischer Operator, so sind sämtliche Eigenwerte von L reell. Sind v, w zwei
Eigenvektoren von L zu verschiedenen Eigenwerten λ 6= µ von L, so ist hv, wi = 0.
4.4.2 Definition Sei nun H ein unendlichdimensionaler Hilbertraum, D ⊂ H offen und dicht und L: D → H ein symmetrischer Operator. Man sagt, L habe ein
diskretes Spektrum, falls ein vollständiges Orthonormalsystem (v1 , v2 , v3 , . . .) aus Eigenvektoren von L für H existiert und die zugehörigen Eigenwerte λj = hvj , L(vj )i
eine monoton wachsende Folge bilden, wobei limj→∞ λj = ∞.
4.4.3 Beispiele
1. Der Operator −∆ auf L2 ([0, π], R) hat, wie eben gezeigt, ein
diskretes Spektrum und die Eigenwerte sind die Quadratzahlen k 2 (k ∈ N).
2. Sei jetzt H = L2 ([0, 2π], C) mit dem Skalarprodukt
Z 2π
1
hf, gi :=
f (x) g(x) dxi .
2π 0
Sei weiter D = {f ∈ C 2 ([0, 2π], C) | f (0) = 0 = f (2π)}. Der Operator −∆ mit
Definitionsbereich D ist auch auf diesem Hilbertraum symmetrisch und hat ein
diskretes Spektrum. Denn die Eigenfunktionen f0 (x) = 1 (zum Eigenwert 0),
f2k−1 (x) := eikx , f2k (x) := e−ikx (zum Eigenwert k 2 ) für k ∈ N, bilden ein
vollständiges Orthonormalsystem von H.
4.4. Spektralsatz
105
3. Die Legendresche Differentialgleichung lautet
(x2 − 1)f ′′ (x) + 2xf ′ (x) = λf (x) (x ∈ [−1, 1]) .
Die Lösungen dieser Differentialgleichung sind genau die Eigenfunktionen des
Differentialoperators L auf C 2 ([−1, 1]) ⊂ L2 ([−1, 1]), definiert durch
L(f )(x) = (x2 − 1)f ′′(x) + 2xf ′ (x) (x ∈ [−1, 1]) .
Man kann nachrechnen, dass der Operator L symmetrisch ist. Deshalb sind
die Lösungen der Differentialgleichung zu verschiedenen Eigenwerten λ automatisch orthogonal. Tatsächlich hat die Legendresche Differentialgleichung
Lösungen für λ = n(n + 1) (n ∈ N), und zwar gibt es zu jeder natürlichen
Zahl n (bis auf Vielfache) genau eine polynomiale Lösung von Grad n für
λn = n(n + 1). Bei entsprechender Normierung bilden diese Polynome also
ein Orthonormalsystem, und dies System ist sogar vollständig. Denn innerhalb des Raums der Polynome lässt sich das System nicht vergrössern, und die
Polynome wiederum liegen dicht im Raum der L2 -Funktionen, weil man jede
glatte Funktion auf [−1, 1] durch eine Folge von Polynomen im quadratischen
Mittel approximieren kann. Der Differentialoperator L hat also ein diskretes
Spektrum mit Eigenwerten n(n + 1) (n ∈ N).
Die bereits zitierte Entwicklung einer Funktion in eine Sinusreihe können wir
auch auf folgende Art schreiben:
∞ Z π
X
2
f (x) =
f (x) sin(kx) dx sin(kx) =
π 0
k=1
Z
∞
X
k=1
0
π
f (x)
r
!r
∞
X
2
2
hfk , f ifk (x) .
sin(kx) dx
sin(kx) =
π
π
k=1
Ist f nicht stetig differenzierbar, so konvergiert diese Reihenentwicklung
im allgeP∞
meinen nur noch für fast alle x. Das bedeutet, die Reihe k=1 hf, fk ifk konvergiert
zumindest im quadratischen Mittel gegen f .
Die Fourierentwicklung einer Funktion f : [0, 2π] → C lautet:
f (x) = c0 +
∞
X
k=1
(ck eikx + c−k e−ikx ) ,
R 2π
1
wobei ck := 2π
f (x) e−ikx dx. Mit den oben gewählten Bezeichungen f0 (x) = 1,
0
ikx
f2k−1 (x) := e , f2k (x) := e−ikx für k ∈ N wird daraus: ck = hf2k−1 , f i und c−k =
hf2k , f i (für k ∈ N0 ). Also können wir die komplexe Fourierreihe auch so schreiben:
f (x) =
∞
X
hfn , f ifn .
n=0
Auch andere vollständige Orthonormalsysteme liefern entsprechende Reihenentwicklungen für Funktionen.
106
Kapitel 4. Hilberträume und symmetrische Operatoren
4.4.4 Satz Hat der Operator L ein diskretes Spektrum aus Eigenwerten λ1 ≤ λ2 ≤
. . ., und ist (v1 , v2 , . . .) ein vollständiges Orthonormalsystem aus dazu gehörigen
Eigenvektoren, so gilt folgendes:
1. Jedes Element u ∈ H besitzt eine Reihenentwicklung der Form
u = lim
n→∞
n
X
k=1
hvk , uivk .
Dabei ist der Grenzwert im Sinn der durch das Skalarprodukt definierten Norm
zu verstehen. Man spricht hier auch von der verallgemeinerten Fourierentwicklung.
2. Für die Koeffizienten der Reihe aus 1. (die verallgemeinerten Fourierkoeffizienten von u) gilt die Besselsche Gleichung
∞
X
k=1
|hvk , ui|2 = ||u||2 .
3. Der Definitionsbereich von L kann maximal auf folgende Teilmenge ausgedehnt
werden:
∞
X
M := {u ∈ H |
λ2k |hvk , ui|2 < ∞} .
k=1
Man kann L auf M fortsetzen, indem man für u ∈ M setzt:
L(u) =
∞
X
k=1
hvk , uiλk vk .
Damit ist der Operator L sozusagen auf “Diagonalform” gebracht.
4. Die Menge {λk | k ∈ N} enthält sämtliche Eigenwerte von L, und alle Eigenräume von L sind endlichdimensional.
Für den Beweis brauchen wir folgendes Lemma:
4.4.5 Lemma Wir verwenden dieselben Bezeichnungen wie im Satz. Dann gilt für
jedes n ∈ N:
n
n
X
X
||u −
hvk , uivk ||2 = ||u||2 −
|hvk , ui|2 .
k=1
k=1
Daraus folgt insbesondere die Ungleichung:
n
X
k=1
|hvk , ui|2 ≤ ||u||2
für alle n ∈ N. .
4.4. Spektralsatz
107
Kommen wir nun zum Beweis des Satzes.
Beweis. Zu 1.: Aus der im Lemma
Ungleichung lesen wir ab, dass
P∞ formulierten
2
die Teilsummenfolge der Reihe
k=1 |hvk , ui| nach oben beschränkt ist. Da die
Summanden alle
Pnichtnegativ2 sind, folgt daraus bereits, dass die Reihe konvergiert,
der Grenzwert ∞
k=1 |hvk , ui| existiert also.
Daraus wiederum können wir schliessen, dass die Teilsummenfolge sn der ReiP
he ∞
k=1 hvk , uivk eine Cauchyfolge in H ist und deshalb im Hilbertraum H einen
Grenzwert w hat. Denn
||sn − sm || = ||
n
X
hvk , uivk || =
k=m+1
n
X
k=m+1
|hvk , ui|2 .
Nehmen wir nun an, der Grenzwert w stimme nicht mit u überein. Für die Differenz
u − w gilt wegen der Stetigkeit des Skalarproduktes für alle j ∈ N:
hvj , u − wi = hvj , ui − hvj , lim
n→∞
n
X
k=1
hvk , uivk i = hvj , ui − lim
n→∞
n
X
k=1
hvk , uihvj , vk i = 0 .
Also steht u − w senkrecht auf allen Vektoren vk . Da wir vorausgesetzt haben, dass
das System der vk vollständig ist, muss daher u = w sein.
Zu 2.: Die Aussagen 1 und 2 sind äquivalent, wie sich sofort aus dem Lemma
ergibt.
Zu 3.: Nehmen wir an, der Operator L sei auf u auswertbar. Dann muss L(u)
die Besselsche Gleichung erfüllen. Wegen der Symmetrie des Operators L und weil
alle Eigenwerte λk reell sind, gilt aber:
hvk , L(u)i = hLvk , ui = λk hvk , ui .
Damit folgt aus 2.:
2
||L(u)|| =
∞
X
k=1
2
|hvk , L(u)i| =
∞
X
k=1
λ2k |hvk , ui|2 < ∞ .
Ist diese Ungleichung für
P∞die Koeffizienten hvk , ui erfüllt, also u ∈ M, dann ist
die Vorschrift L(u) =
k=1 hvk , uiλk vk wohldefiniert. (Die Konvergenz der Reihe
ergibt sich wieder aus dem Lemma.) Ausserdem stimmt diese Vorschrift auf dem
Definitionsbereich D mit der Wirkung von L überein. Denn nach 1. hat L(u) (für
u ∈ D) folgende Reihenentwicklung:
L(u) =
∞
X
k=1
hvk , L(u)ivk .
Verwenden wir jetzt wieder, dass hvk , L(u)i = λk hvk , ui, erhalten wir wie behauptet:
L(u) =
∞
X
k=1
λk hvk , uivk .
108
Kapitel 4. Hilberträume und symmetrische Operatoren
Zu 4.: Nehmen wir an, 0 6= v sei ein Eigenvektor des Operators L zum Eigenwert
µ 6= λk für alle k. Dann folgt v ⊥ vk für alle k, und wegen der Vollständigkeit
des Orthonormalsystems ergibt sich daraus v = 0, ein Wiederspruch. Also enthält
die Liste der λk bereits alle Eigenwerte. Wählen wir jetzt einen Eigenwert λ aus.
Weil die Folge der λk gegen unendlich geht, gibt es einen Index n0 mit λk > λ
für alle k > n0 . Also kann der Eigenwert λ höchstens mit den Zahlen λ1 , . . . , λn0
übereinstimmen. Die Vielfachheit von λ ist also höchstens n0 und damit endlich.
Damit ist alles gezeigt.
q.e.d.
4.4.6 Folgerung Hat der symmetrische Operator L auf dem Hilbertraum H ein
diskretes Spektrum aus Eigenwerten λ1 ≤ λ2 ≤ λ3 ≤ . . . und ist (v1 , v2 , v3 , . . .)
ein vollständiges Orthonormalsystem aus dazugehörigen Eigenvektoren, so ist die
Zuordnung
H → ℓ2 (R) , f 7→ (hv1 , f i, hv2, f i, hv3 , f i, . . .)
ein Isomorphismus von Hilberträumen. Der Operator L auf H geht dabei über in
den Operator T auf ℓ2 (R), definiert durch
T ((x1 , x2 , x3 , . . .)) := (λ1 x1 , λ2 x2 , λ3 x3 , . . .)
P
2 2
mit dem Definitionsbereich M = {((x1 , x2 , x3 , . . .) ∈ ℓ2 (R) | ∞
j=1 λj xj < ∞}. Der
Operator L ist durch die Wahl des vollständigen Orthonormalsystems also sozusagen
auf Diagonalform gebracht worden.
4.5
Hermitefunktionen
Die Hermitefunktionen bilden ein vollständiges Orthonormalsystem des Hilbertraums
H = L2 (R) mit dem Integralskalarprodukt
Z ∞
hf, gi =
f (x)g(x) dx .
−∞
Sie treten auf im Zusammenhang mit der Schrödingergleichung. Die Schrödingergleichung für ein Teilchen mit einem Freiheitsgrad und Potentialfunktion V (x) = x2
lautet
i
i
∂t u(x, t) = ∂x2 u(x, t) − x2 u(x, t) .
2
2
Der Produktansatz u(x, t) = v(x)w(t) führt auf die gekoppelten Differentialgleichungen
i
w ′(t) = λw(t) und − (x2 v(x) − v ′′ (x)) = λv(x) ,
2
wobei λ ∈ R ein Eigenwert des Hermite-Operators
H(v)(x) = x2 v(x) − v ′′ (x)
ist. Der Hermite-Operator hat folgende Eigenschaften:
4.5. Hermitefunktionen
109
4.5.1 Satz
1. H ist ein symmetrischer Operator auf H = L2 (R) mit Definitionsbereich D = {u ∈ C 2 (R) ∩ L2 (R) | u′ ∈ L2 (R)}.
2. Die Hermitefunktionen hn , definiert für n ∈ N0 durch
hn (x) = (−1)n exp(x2 /2)
dn −x2
(e ) ,
dxn
sind Eigenfunktionen zum Hermiteoperator zum Eigenwert (2n + 1).
3. Die Hermitefunktionen hn (n ∈ N0 ) bilden nach passender Skalierung ein
vollständiges Orthonormalsystem für H = L2 (R), das heisst, der Hermiteoperator hat ein diskretes Spektrum auf H.
4.5.2 Folgerung Jede Lösung der Schrödingergleichung lässt sich folgendermassen in eine Reihe entwickeln:
u(x, t) =
∞
X
1
an e−i(n+ 2 )t hn (x) .
n=0
Dabei sind die an reelle Koeffizienten.
Zum Beweis des Satzes: 1. Die Symmetrie lässt sich leicht nachrechnen, wenn
man berücksichtigt, dass die Funktionen im Definitionsbereich D im Unendlichen
schnell abfallen müssen, damit das Quadrat über ganz R integrierbar ist.
3. Nehmen wir an, die zweite Aussage ist gezeigt. Dann folgt auch sofort, dass
die hn ein Orthonormalsystem bilden, weil die entsprechenden Eigenwerte paarweise
verschieden sind. Wie wir gleich sehen werden, ist ausserdem jeweils hn das Produkt
eines Polynoms von Grad n mit der Gaussschen Funktion g(x) = exp(−x2 /2). Der
von den hn erzeugte lineare Unterraum in H enthält also alle Funktionen der Form
p(x) exp(−x2 /2), wobei p ein beliebiges Polynom ist. Dieser Vorrat an Funktionen
liegt dicht in H, was wir hier ohne Beweis angeben. Nun folgt die Behauptung wie
in Beispiel 4.24.
Es bleibt also nur noch die zweite Aussage zu zeigen. Dazu treffen wir zunächst
einige Vorbereitungen.
4.5.3 Bemerkung Die Hermitefunktionen sind von der Form
hn (x) = (−1)n exp(x2 /2)
dn −x2
(e ) = pn (x) exp(−x2 /2) ,
dxn
wobei pn ein Polynom von Grad n mit genau n verschiedenen reellen Nullstellen ist.
Ist n ungerade, so ist pn ungerade, und ist n gerade, so ist pn eine gerade Funktion.
Die ersten drei Hermitefunktionen lauten:
h0 (x) = exp(−x2 /2) ,
h1 (x) = 2x exp(−x2 /2) ,
h2 (x) = (−2 + 4x2 ) exp(−x2 /2) .
110
Kapitel 4. Hilberträume und symmetrische Operatoren
4.5.4 Lemma Für die Hermitefunktionen gelten die folgenden Rekursionsformeln:
hn+1 (x) = xhn (x) − h′n (x)
hn+1 (x) = 2xhn (x) − 2nhn−1 (x)
2nhn−1 (x) = xhn (x) + h′n (x)
Beweis. Die erste Rekursionsformel ergibt sich direkt aus der Definition mit der
Produktregel:
h′n (x) = (−1)n exp(x2 /2)(x
dn+1 −x2
dn −x2
(e
)
+
(e )) = xhn (x) − hn+1 (x) .
dxn
dxn+1
Die zweite Rekursionsformel folgt aus der Leibnizregel für höhere Ableitungen,
nämlich
n X
n (k) (n−k)
(n)
f g
.
(f g) =
k
k=0
Denn damit können wir schliessen
dn
dn −x2
dn−1 −x2
dn+1 −x2
−x2
(e
))
=
((−2x)e
)
=
−2x
(e
)
−
2n
(e )) .
dxn+1
dxn
dxn
dxn−1
Und daraus folgt
−hn+1 (x) = −2xhn (x) + 2nhn−1 (x) .
Die dritte Aussage folgt sofort aus den ersten beiden.
q.e.d.
4.5.5 Folgerung Für alle n ∈ N0 und alle x ∈ R gilt:
H(hn ) = x2 hn (x) − h′′n (x) = (2n + 1)hn (x) .
Beweis. Wir zeigen die Behauptung durch vollständige Induktion. Für n = 0 und
n = 1 kann man die Aussage nachrechnen. Sei jetzt die Aussage richtig für n und
n − 1 (n ≥ 1). Dann erhalten wir für n + 1 mithilfe der Rekursionsformeln und der
Induktionsvoraussetzung:
H(hn+1 ) =
=
=
=
=
x2 hn+1 (x) − h′′n+1 (x) =
2x3 hn (x) − 2nx2 hn−1 (x) − (2hn (x) + 2xh′n (x) − 2nh′n−1 (x))′
−2n(x2 hn−1 (x) − h′′n−1 (x)) − 4h′n (x) − 2x(h′′n (x) − x2 hn (x))
(2n − 1)[−2nhn−1 (x) + 2xhn (x)] + 4[xhn (x) − h′n (x)]
(2n + 3)hn+1 .
Damit ist alles gezeigt.
q.e.d.
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