Angst aus heiterem Himmel

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W I S S E N S C H A F T
Angststörung/Panikattacken
Angst aus heiterem Himmel
Panikstörungen haben erhebliche psychosoziale, somatische
und ökonomische Folgen. Die meisten Betroffenen bleiben
jedoch unbehandelt.
A
ngststörungen sind weit verbreitet. Nach neueren epidemiologischen Untersuchungen in der Allgemeinbevölkerung und in Arztpraxen
zählen sie zu den häufigsten psychischen Störungen bei Frauen. Bei Männern rangieren sie nach den Suchterkrankungen bereits auf Platz zwei.
Immer mehr Menschen sind zudem von
besonders schwerwiegenden Formen
der Angststörung, den Panikattacken
und Panikstörungen, betroffen. „Es ist
denkbar, dass panikartige Ängste in
der schnelllebigen, hektischen Gegenwart besonders zeitgemäße Stressreaktionen sind“, meint die Psychologische
Psychotherapeutin Dr. Sigrun SchmidtTraub aus Essen. Trotz starker und zunehmender Verbreitung erhält nur ein
kleiner Teil der Betroffenen überhaupt
eine Behandlung. Das mag einerseits an
mangelnder Aufklärung liegen, andererseits auch an Vorbehalten gegenüber
Psychotherapie und Pharmakotherapie. Beide sind jedoch unerlässlich, um
den Betroffenen wirksam zu helfen.
Alltägliches wird als
bedrohlich interpretiert
Die psychotherapeutische Behandlung
von Panikstörungen ist vorwiegend kognitiv-behavioral ausgerichtet. Sie basiert auf einem komplexen psychophysiologischen Modell, in dem die
Kognitionen der Betroffenen eine besondere Rolle spielen. Patienten mit
Panikstörung neigen dazu, alltägliche
Ereignisse, Umweltveränderung und
harmlose körperliche Vorgänge als gefährlich und bedrohlich zu interpretieren. Durch solche Fehlinterpretation
entsteht Angst und physiologische Aktivierung, und es werden weitere körperliche Sensationen erzeugt, die ein
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⏐ Heft 12⏐
⏐ Dezember 2005
Deutsches Ärzteblatt⏐
Katastrophen-Denken fördern und die
Angst verstärken. Dieser Prozess schaukelt sich innerhalb weniger Minuten auf
und gipfelt schließlich in einer Panikattacke. In diesem Zustand empfinden
die Betroffenen intensives Unbehagen
und Todesängste. Sie werden begleitet
von Herzrasen oder starkem Herzklopfen, Schwitzen, Zittern, Atemnot,
Übelkeit, Schwindel sowie Gefühlen
der Entfremdung und Unwirklichkeit.
Weitere Symptome sind Taubheit,
Kribbeln, Kälteschauer, Hitzewallungen sowie Schmerz und Missempfinden
in Brust und Magen. Auf dem Höhepunkt einer Panikattacke glauben die
Betroffenen, die Kontrolle zu verlieren, verrückt zu werden oder zu sterben. Die Panikattacke wird häufig
durch Habituation, Ermüdung oder
Bewältigungsversuche, wie Hilfesuchen,
Vermeidungsverhalten und kognitive
Reattribuierung, beendet. Das geschieht nach durchschnittlich 20 bis
30 Minuten. Panikattacken können aber
auch kürzer oder erheblich länger dauern. Nach einer Attacke sorgen sich die
Betroffenen vor neuen Attacken und
deren Folgen. Treten solche Attacken
und Befürchtungen häufiger auf, spricht
man von einer Panikstörung. Besonders belastend für Patienten ist der
subjektive Eindruck, dass Panikattacken „aus heiterem Himmel“ und
„ohne besondere Ursachen“ auftreten.
Aufgrund dessen fühlen sie sich hilflos
und der Störung ausgeliefert. Neben
kognitiven Verzerrungen werden Panikattacken auch von Lernprozessen
und aufrechterhaltenden situativen
Bedingungen mitverursacht. Möglicherweise haben auch frühe Traumatisierungen und psychodynamische Vorgänge einen Einfluss. Für die Behandlung spielen solche Überlegungen
zurzeit aber noch keine Rolle.
PP
Die Behandlung beginnt zunächst mit
einer Beratung und stützenden Gesprächen, einer Anleitung zur Selbsthilfe
und Psychoedukation. Diese Maßnahmen können mit einer Anleitung selbst
von nicht-spezialisierten Allgemeinärzten durchgeführt werden. Wenn die genannten Maßnahmen jedoch versagen
oder nicht ausreichen, wird eine gezielte
Therapie notwendig. Behandelt wird vor
allem mit Expositionstherapie, kognitivbehavioraler Therapie und Entspannungsverfahren. Dabei erfahren die Betroffenen, wie sich Angst aufschaukelt,
und sie lernen, körperliche Symptome
angemessen zu interpretieren. Die Patienten werden anschließend angeleitet,
neue, Angst reduzierende Bewertungen
der körperlichen Symptome zu entwickeln und sich durch gezielte Konfrontation an körperliche Symptome zu
gewöhnen. Sie sollen lernen, dass die befürchtete Katastrophe nicht eintritt. Dabei helfen unter anderem Entspannungsverfahren. Wichtig ist es, dass Therapeuten die Sorgen der Patienten um
ihren Gesundheitszustand nicht als „eingebildet“ abtun, sondern ernst nehmen.
Erst dann sollten sie rationale Alternativerklärungen behutsam und gemeinsam mit den Patienten erarbeiten. Außerdem sollte ein Hyperventilationstest
durchgeführt und die Bauchatmung vermittelt werden, weil viele Patienten während eines Angstanfalls hyperventilieren.
Pharmakotherapie kann den Therapieprozess sinnvoll unterstützen. Nach
wissenschaftlicher und klinischer Erfahrung eignen sich zur Behandlung der Panikstörung folgende drei Substanzgruppen: trizyklische Antidepressiva (zum
Beispiel Imipramin), Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (zum Beispiel Paroxetin, Fluvoxamin) und Benzodiazepine
(Alprazolam). Für jede dieser Substanzgruppen bestehen aus einer Reihe von
Studien gut dokumentierte Wirksamkeitsbelege hinsichtlich Akutbehandlung
und dauerhafter Symptombesserung.
Übersichtsarbeiten zeigen, dass Kombinationen von Pharmakotherapie mit kognitiver Verhaltenstherapie positive, additive Effekte aufweisen, und zwar nicht
nur in der Zielsymptomatik, sondern
auch in der Begleitsymptomatik. Nach
Einschätzung von Dr. Dr. med. Dipl.Psych.Reinhard Joachim Boerner,Leiter
der Angstambulanz in der Psychiatri-
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schen Klinik und Poliklinik der LudwigsMaximilians-Universität München, und
Kollegen, ist der Einsatz einer Kombinationstherapie von Pharmakotherapie
und umfassender Psychotherapie unter
den Gesichtspunkten von Kosten und
Aufwand jedoch nicht die erste Wahl,
wenn es um die Behandlung einer unkomplizierten Panikstörung geht. Sie
schlagen für die Routineversorgung
beispielsweise einen kurzen Einsatz
einer Medikation vor oder zu Beginn einer Verhaltenstherapie vor oder den
Einsatz verhaltensorientierter Elemente
während einer Pharmakotherapie.
Pathogenese
weitgehend ungeklärt
Aus dem Blick verloren werden dürfen
auch nicht die erheblichen psychosozialen, somatischen und ökonomischen
Folgen der Panikstörung. Dazu zählen
Arbeitsunfähigkeit, ein erhöhtes Risiko für sekundäre komorbide Erkrankungen, wie zum Beispiel Agoraphobie, Depressionen, somatoforme
Störungen, Hypochondrie und Suchterkrankungen, eine erhöhte Suizidrate
sowie eine übermäßige Inanspruchnahme medizinischer Leistungen. „Nach
US-amerikanischen Studien machten
Patienten mit Panikstörungen 20 bis
29 Prozent der Notaufnahmen in Krankenhäusern aus und nahmen diese damit 13-mal so häufig in Anspruch wie
die Allgemeinbevölkerung“, berichten
Prof. Manfred Beutel und Kollegen von
der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universität
Mainz. Die Behandlung einer Panikstörung darf sich daher nicht allein
auf die Symptom- und Ursachenbeseitigung konzentrieren, sondern muss
den Betroffenen auch Hilfe und Unterstützung bieten, sich wieder ins normale soziale und berufliche Alltagsleben
einzugliedern.
Ätiologie und Pathogenese der Panikstörung sind von einer vollständigen
Aufklärung noch weit entfernt. Mit der
Gen- und Hirnforschung könnten in
den folgenden Jahren jedoch entscheidende Fortschritte erzielt werden. So
zeigen beispielsweise Zwillingsstudien,
dass Patienten mit einer Panikstörung
vulnerabel sind und eine Disposition zu
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selektiver Wahrnehmung, Furchtsamkeit und Angstsensitivität haben. Neurobiologische Forschungen weisen darauf hin, dass bei diesen Patienten das
limbische System, insbesondere die
Amygdala, überaktiv ist. Bei Konfrontation mit Angstreizen sind Hippocampus und präfrontale Areale stark aktiviert. Zudem wurden strukturelle Veränderungen in Temporallappen, Hippocampus und Amygdala bei Panikpatienten gefunden, insbesondere ein vermindertes Volumen und eine verminderte
Dichte grauer Substanz. Darüber hinaus lässt die hohe Wirksamkeit von
selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern auf eine Funktionsstörung im
serotonergen System und auf eine
postsynaptische Hypersensibilität schließen. Im noradrenergen System wird
von einer größeren Variabilität ausgegangen, die eine überschießende Aktivierung und Inhibition ermöglicht. Das
Ansprechen auf Benzodiazepine gilt als
Beleg dafür, dass das GABA-Benzodiazepin-System bei der Panikstörung eine
Referiert
Rolle spielt. Ferner könnte es auch
Zusammenhänge mit dem Immunsystem geben. Nach einer interdisziplinären Angst-Allergie-Studie haben
Allergiker ein fünffach erhöhtes Risiko
im Vergleich zu Nicht-Allergikern, eine
behandlungsbedürftige Panikstörung
zu entwickeln. Umgekehrt wurden bei
70 Prozent der untersuchten Panikpatienten leichte bis mittelschwere
allergische Reaktionen ermittelt. Die
Wirkungszusammenhänge sind jedoch
unklar und werden im Rahmen eines
psychoimmunologischen Netzwerks disDr. phil. Marion Sonnenmoser
kutiert.
Literatur
1. Beutel M, Dietrich S, Wiltink J: Entstehung und Verlauf
der Panikstörung. Psychotherapeut 2005; 4: 249–257.
2. Boerner RJ et al.: Die Panikstörung. Stuttgart: Schattauer 1997.
3. Schmidt-Traub S: Panikstörung und Agoraphobie. Göttingen: Hogrefe 1997.
Prof. Manfred E. Beutel, Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Universität Mainz, Untere
Zahlbacher Straße 8, 55131 Mainz, E-Mail: beutel@
psychosomatik.klinik.uni-mainz.de
Trauerarbeit
Professionelle Begleitung hilft nicht
T
rauernde brauchen keine professionelle Trauerbegleitung, zumindest
solange der Trauerprozess normal verläuft. Zu diesem Ergebnis kommt ein
Wissenschaftlerteam der Universitäten
Tübingen und Utrecht, das zahlreiche
Studien zum Thema „Trauerarbeit“ gesichtet hat. Normal Trauernde durchleiden durch den Verlust eines nahen Angehörigen Gefühle des Verlassenseins,
der Einsamkeit und Isolation. Trost und
Mitleid durch Familienangehörige und
Freunde helfen ihnen jedoch ebenso
wenig dabei, den Trauerprozess zu mildern oder schneller abzuschließen, wie
eine Beratung durch professionelle
Trauerbegleiter. Auch von anderen psychotherapeutischen Interventionen, wie
etwa Gesprächen, Trauerbekundungen,
Sinngebung und Umdeutung des Verlustes, profitieren normal Trauernde wenig. Die Forscher vermuten, dass der
Tod eines Angehörigen, der sich schon
länger abzeichnete, von den Trauernden
erwartet wurde und sie sich darauf einstellen konnten. Das hilft ihnen offenbar dabei, selbst mit dem Verlust fertig
zu werden. Im Gegensatz dazu benötigen Trauernde, die einen Angehörigen
durch einen überraschenden oder gewaltsamen Tod verloren haben, häufiger Unterstützung. „Auch Trauernde,
deren Trauerprozess pathologische Formen annimmt, brauchen eher professionelle Trauerbegleitung“, so die Wissenschaftler. Sie empfehlen allen, die mit
Trauernden zu tun haben, sich vor allem
auf diejenigen zu konzentrieren, die mit
ihrer Trauer nicht umgehen können und
ms
daran zu zerbrechen drohen.
Stroebe W, Schut H, Stroebe M: Grief work, disclosure
and counseling: Do they help the bereaved? Clinical Psychology Review 2005; 25: 395–414.
Prof. Dr. Wolfgang Stroebe, Department of Social and
Organizational Psychology, Utrecht University, P.O. Box
80.140, 3508 TC Utrecht (NL), E-Mail: W.Stroebe@
fss.uu.nl
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