9 Elementare Wahrscheinlichkeitsrechnung

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Elementare Wahrscheinlichkeitsrechnung
und
In diesem Workshop werden wir uns mit zufälligen Experimenten befassen. Dabei
fassen wir auch solche Experimente als zuffällig auf, die eigentlich deterministisch
sind, deren Vorhersage aber mit einem zu hohen Aufwand verbunden wäre. Zum
Beispiel könnte man das Ergebnis eines Münzwurfs unter genauer Kenntnis der
Anfangsdaten (Gewicht und Größe der Münze, Abwurfgeschwindigkeit und -richtung,
etc.) berechnen. Allerdings können bereits geringste Änderungen der Anfangsdaten
zu einem anderen Ergebnis führen.
Um diese Experimente mathematisch beschreiben zu können, betrachten wir zunächst den Grundraum Ω. Das ist die Menge aller möglichen Ergebnisse, wobei das
Experiment darin besteht eines dieser Ergebnisse „zufällig“ auszuwählen.
Beispiel 9.1. 1. Einmaliges Werfen einer Münze: Ω = , , 1
P [∅] = 0,
P [Ω] = 1
1
P [0] =P [1] = .
2
9.1
Gleichverteilungen
Die Potenzmenge P(Ω) im Beispiel des zweimaligen Würfelns hat die Ordnung
2|Ω| = 236 = 68 719 476 736.
Wir können die Funktion P daher nicht mehr Punktweise definieren.
In unserem Modell ist es plausibel, dass jedes Elementarereignis {(i, j)} (1 ≤ i, j ≤ 6)
dieselbe Wahrscheinlichkeit p hat. Für die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses
2. Zweimaliges Würfeln: Ω = {1, 2, 3, 4, 5, 6} × {1, 2, 3, 4, 5, 6}
3. Länge eines Bolzens: Ω = R+
Workshops zur Aufarbeitung des Schulstoffs
Sommersemester 2016
ELEMENTARE WAHRSCHEINLICHKEITSRECHNUNG
A = {ω1 , . . . , ωn } =
n
[
{ωi } ∈ P(Ω)
i=1
folgt dann aus Regel (2), dass P [A] = np gilt. Gleichzeitig muss P [Ω] = 1 erfüllt
1
sein. Es folgt also p = 36
.
Wir haben soeben das Wahrscheinlichkeitsmaß für Gleichverteilungen oder LaplaceModelle hergeleitet:
|A|
Günstige
P [A] =
=
.
(3)
|Ω|
Mögliche
Wir werden uns heute ausschließlich mit Experimenten befassen, deren Grundraum
endlich ist (Bsp. 1–2). Unter dieser Annahme heißt eine Teilmenge A ⊆ Ω Ereignis.
Die Aufgabe der Wahrscheinlichkeitstheorie ist es, sinnvoll eine Funktion P : P(Ω) →
[0, 1] zu definieren, die jedem Ereignis A seine Wahrscheinlichkeit zuordnet.
Wir interpretieren die Wahrscheinlichkeit des Ereignisses A folgendermaßen: Sei
N eine große natürliche Zahl. Wenn wir das Experiment N -mal wiederholen und Beispiel 9.3. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit zweimal eine Sechs zu würfeln?
mit #N A die Anzahl der Versuche, in denen ein Ergebnis ω ∈ A realisiert wird,
Lösung. Wir suchen die Wahrscheinlichkeit des Ereignisses A = {(6, 6)}. Regel (3)
bezeichnen, dann soll
impliziert
#N A
|A|
1
≈ P [A]
P [A] =
=
.
N
|Ω|
36
gelten. Die Funktion P muss die folgenden Eigenschaften erfüllen:
Beispiel 9.4. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Summe der Augenzahlen
bei zweimaligen Würfeln ungerade ist?
P [∅] = 0, P [Ω] = 1
(1)
P [A ∪ B] = P [A] + P [B], wenn A ∩ B = ∅.
(2) Lösung. Die Summe zweier natürlicher Zahlen ist genau dann ungerade, wenn ein
Summand gerade und der zweite ungerade ist. Unser Ereignis lässt sich demnach
Beispiel 9.2. Beim einmaligen Werfen einer fairen Münze kann entweder „Kopf“ formal wie folgt beschreiben:
(kodiert mit 0) oder „Zahl“ (kodiert mit 1) realisiert werden, wobei beide Ausgänge
A = {(2k, 2l − 1) | 1 ≤ k, l ≤ 3} ∪ {(2k − 1, 2l) | 1 ≤ k, l ≤ 3}.
gleich wahrscheinlich sind:
Die Ordnung dieser Menge ist |A| = 9 + 9 = 18 und aus Regel (3) erhalten wir
1
A = {∅, {0}, {1}, Ω = {0, 1}}
P [A] = 18
36 = 2 .
-1-
9
ELEMENTARE WAHRSCHEINLICHKEITSRECHNUNG
Jede Teilmenge A ist disjunkt zu ihrem Komplement Ac = Ω \ A und es gilt und
Ω = A ∪ Ac . Aus (2) folgt daher
c
P [A ] = 1 − P [A].
P [{W1 = k} ∩ {W2 = l}] =
(4)
Beispiel 9.5. Wie oft muss man würfeln, damit die Wahrscheinlichkeit eine Sechs
zu würfeln größer als 50% ist?
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Sommersemester 2016
|{(k, l)}|
1
=
= P [W1 = k]P [W2 = l].
36
36
Warum unsere Definition der Unabhängigkeit mit unserem intuitiven Verständnis
übereinstimmt, wird in der Vorlesung zu Wahrscheinlichkeitstheorie geklärt.
Lösung. Wir fixieren eine positive ganze Zahl n und stellen uns die Frage, wie groß
bei n-maligem Würfeln die Wahrscheinlichkeit ist, mindestens eine Sechs zu erhalten.
Das Gegenteil des Ereignisses An :=„Mindestens eine Sechs in n Würfen“ ist das 9.3 Urnenexperimente
Ereignis Acn :=„Keine Sechs in n Würfen“. Formal lässt sich diese Menge, wie folgt
Betrachten wir nun eine unfaire Münze, d.h. P [0] 6= P [1]. Wie hoch ist die Wahrbeschreiben:
scheinlichkeit, dass wir bei n-maligen Werfen k-mal „Zahl“ (kodiert mit 1) erhalten?
c
n
An = {1, 2, 3, 4, 5} .
Sei Sn die Häufigkeit des Ergebnisses „Zahl“ in n Würfen und bezeichne p die WahrDer Grundraum für unser Experiment ist {1, 2, 3, 4, 5, 6}n , sodass wir aus Regel (3) scheinlichkeit „Zahl“ zu erhalten, d.h. p := P [1]. Offensichtlich gilt, P [Sn = k] = 0,
n
falls k negativ oder größer als n ist. Ab jetzt fordern wir daher 0 ≤ k ≤ n.
P [Acn ] = 56n folgern können. Aus (4) folgt
Sei nun ω := (ω1 , . . . , ωn ) ein fixer Ausgang unseres Experiments, in dem k-mal
n
5
„Zahl“ gefallen ist, dann ist die Wahrscheinlichkeit P [ω] = pk (1 − p)n−k , da
die
P [An ] = 1 −
.
Ergebnisse der einzelnen Würfe unabhängig und ident verteilt sind. Es gibt nk -viele
6
solcher Ausgänge, da wir aus den n Würfen genau k Würfe auswählen müssen, in
Die untenstehende Tabelle beinhaltet numerische Näherungen für P [An ]. Ab n = 4
denen
„Zahl“ auftritt. Nach Regel (2) dürfen wir die Wahrscheinlichkeiten dieser
ist die Wahrscheinlichkeit eine Sechs zu würfeln größer 50%.
n
-vielen
Ereignisse summieren und erhalten so
k
n
P [An ]
9.2
1
16.67%
2
30.56%
3
42.13%
4
51.77%
5
59.81%
P [Sn = k] =
n k
p (1 − p)n−k .
k
(6)
Unabhängigkeit
Wir nennen ein Experiment binomial-verteilt mit den Parametern n und p, wenn
Definition 9.6. Eine endliche Menge von Ereignissen A1 , . . . , An heißt unabhängig, für die Wahrscheinlichkeiten seiner Ergebnisse obige Gleichung gilt.
wenn
" n
#
n
\
Y
P
Ai =
P [Ai ]
(5) Beispiel 9.8. Bei einem Single-Choice-Test ist bei jeder Frage eine von vier Antwortmöglichkeiten richtig. Wir betrachten einen Test mit 10 Fragen. Wie groß ist die
i=1
i=1
Wahrscheinlichkeit durch Raten mehr als 50% der Fragen richtig zu beantworten?
gilt.
Lösung. Sei Sn die Anzahl der richtigen Antworten, dann ist Sn binomial-verteilt
Beispiel 9.7. Beim zweimaligen Würfeln sind die Ergebnisse der beiden Würfe
mit den Parametern p = 14 und n = 10. Aus (6) erhalten wir daher
unabhängig. Um dies zu zeigen, seien 1 ≤ k, l ≤ 6 beliebig und Wi bezeichne das
Ergebnis des i-ten Wurfs. Es gilt dann
X
10−k
10 Sn
10 1 3
P
> 0.5 =
≈ 0.0197 = 1.97%.
|{(k, 1), (k, 2), . . . , (k, 6)}|
1
|{(1, l), . . . , (6, l)}|
n
k 4k 4
P [W1 = k] =
= =
= P [W2 = l]
k=6
36
6
36
-2-
9
1
2
3
4
5
6
7
8
4
5
(a) Urne im Ausgangszustand
8
1
3
2
6
j2
j3
j4
j5
7
(c) Ziehen von fünf Kugeln
5
1
7
6
2
3
4
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Sommersemester 2016
1. Wir mischen die Kugeln mit einer zufälligen Permutation σ.
8
2. Wir ziehen die Kugel mit der Nummer j, wenn σ(j) = 1 (vgl. Abb. 1.(b)).
(b) Ziehen einer Kugel
Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, eine schwarze Kugel zu ziehen?
Wir bezeichnen die Menge aller Permutationen von N Elementen mit SN und
bemerken, dass es N ! solcher Abbildungen gibt. Ist j die Nummer einer schwarzen
3
4
7
8
Kugel, dann wird j genau dann gezogen, wenn wir eine Permutation σ ∈ SN wählen,
1
2
3
6
8
sodass σ(j) = 1. Die übrigen N − 1 Kugeln können beliebig vertauscht werden. Für
(d) Um drei schwarzen Kugeln beim Ziehen von eine fixe Kugel j erhalten wir also (N − 1)!-viele Möglichkeiten gezogen zu werden.
fünf Kugeln zu ziehen, ziehen wir drei Kugeln Da es in unserem Experiment K schwarze Kugeln gibt, erhalten wir aus Regel (2)
1
j1
ELEMENTARE WAHRSCHEINLICHKEITSRECHNUNG
2
5
6
aus der Urne mit den schwarzen und 2 Kugeln
aus der Urne mit den weißen Kugeln.
Abbildung 1: Urnenexperimente
P [Schwarze Kugel gezogen] =
K
K(N − 1)!
= .
N!
N
Wir können daher das Ziehen einer schwarzen Kugel mit dem Werfen einer unfairen
N
Münze modellieren, wobei p = K
. Wenn wir das Experiment n-mal wiederholen ist
die Anzahl der gezogenen schwarzen Kugeln aus diesem Grund binomial-verteilt. Im
Beispiel 9.9. Eine Fluggesellschaft hat festgestellt, dass 6% der Käufer von Tickets Kontext von binomial-verteilten Modellen spricht man daher häufig von Ziehen mit
diese verfallen lassen. Wie viele Tickets darf die Fluggesellschaft maximal für ein Zurücklegen.
Flugzeug mit 100 Sitzen verkaufen, sodass am Abflugtag mit 95%-iger WahrscheinWas können wir nun über die Anzahl Zn der gezogenen schwarzen Kugeln aussagen,
lichkeit nicht zu viele Passagiere an Bord wollen?
wenn wir aus einer Urne ohne Zurücklegen n Kugeln ziehen?
Lösung. Unter der Annahme, dass das Fernbleiben unterschiedlicher Passagiere Analog zu vorher modellieren wir das Ziehen der Kugeln wie folgt:
unabhängig ist, ist die Anzahl der Passagiere am Abflugtag binomial-verteilt mit
1. Wir mischen die Kugeln mit einer zufälligen Permutation σ.
p = 0.94 und einem unbekannten Parameter n. Für eine Wahl von n ≤ 100 kommen
niemals zu viele Passagiere. Sei nun n > 100. Dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass
2. Wir ziehen die Kugel mit der Nummer j, wenn σ(j) ≤ n (vgl. Abb. 1.(c)).
mehr als 100 Personen an Bord kommen wollen
Offensichtlich können wir nicht mehr als n und nicht mehr als K schwarze Kugeln
n X
n
k
n−k
ziehen, d.h. P [Zn = k] = 0, falls k < 0 oder k > min(n, K) gilt.
P [Sn > 100] =
0.94 0.06
.
k
Sei nun (j1 , . . . , jn ) ein fixer Ausgang unseres Experiments, d.h. die Kugeln mit den
k=101
Nummern j1 , . . . , jn wurden in dieser Reihenfolge gezogen. Es gibt (N − n)!-viele
Die untenstehende Tabelle beinhaltet numerische Näherungen für die Wahrscheinlich- Permutationen, die genau zu diesem Ergebnis führen, da wir die restlichen N − n
keit, dass nicht zu viele Passagiere kommen, dies ist P [Sn ≤ 100] = 1 − P [Sn > 100]. Kugeln beliebig vertauschen können. Gleichzeitig beeinflusst die Reihenfolge in
der die n Kugeln gezogen wurden nicht die Nummern der schwarzen und weißen
n
100
101
102
103
104
105
P [Sn ≤ 100] 100.00%
99.80%
98.63%
95.05%
87.67%
76.16%
Kugeln, die in diesem fixen Ausgang gezogen wurden. Es gibt also n!(N − n)! viele
Möglichkeiten genau diese schwarzen und weißen Kugeln zu ziehen. Wir folgern,
Wir erkennen, dass die Fluggesellschaft 103 Tickets verkaufen darf.
dass die Wahrscheinlichkeit n fixe Kugeln zu ziehen gleich
Betrachten wir nun eine Urne mit N nummerierten Kugeln, von denen K schwarz
n!(N − n)!
1
und N − K weiß sind (vgl. Abb.1.(a)). Das Ziehen einer Kugel modellieren wir wie
P [j1 , . . . , jn werden gezogen] =
= N
folgt:
N!
n
-3-
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ELEMENTARE WAHRSCHEINLICHKEITSRECHNUNG
ist. Wenn wir nur an der Anzahl der gezogenen schwarzen Kugeln interessiert sind,
sind die Nummern der gezogenen Kugeln unerheblich. Alle Ergebnisse bei denen
k schwarze Kugeln gezogen wurden, sind daher gleichberechtigt. Wie viele solcher
Ausgänge gibt es?
Wir müssen k Kugeln aus den K schwarzen Kugeln und n − k Kugeln aus den N − K
weißen Kugeln auswählen, um ein solches Ereignis zu erhalten (vgl. Abb 1.(d)). Aus
Regel (2) erhalten wir
P [Zn = k] =
K
k
N −K
n−k
N
n
.
(7)
Wir nennen ein Experiment hypergeometrisch-verteilt mit den Parametern N, n, K
und k, wenn für die Wahrscheinlichkeiten seiner Ergebnisse obige Gleichung gilt.
Beispiel 9.10. Bei dem beliebten Glücksspiel Lotto 6 aus 45 wählen die Spieler
6 unterschiedliche Zahlen zwischen 1 und 45 aus. Im Zuge einer Fernsehsendung
werden 6 Zahlen plus eine Zusatzzahl aus einer Urne mit den 45 durchnummerierten
Kugeln ohne Zurücklegen gezogen. Die Anzahl der Richtigen eines Spielers ist die
Anzahl der gezogenen Zahlen, die mit den von ihm gewählten Zahlen übereinstimmen.
Der Spieler hat ein Ergebnis mit Zusatzzahl, wenn er die Zusatzzahl erraten hat.
Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit für 5 Richtige; wie groß ist sie für 5 Richtige
mit Zusatzzahl?
Lösung. Wir Modellieren das Spiel durch Ziehen ohne Zurücklegen, wobei die vom
Spieler gewählten Kugeln die Rolle der schwarzen Kugeln in unserer Herleitung
einnehmen. Die Wahrscheinlichkeit für 5 Richtige ist daher
6 45−6
39
5
6−5
P [Z6 = 5] =
=
≈ 0.003%.
45
1 357 510
6
Um 5 Richtige mit Zusatzzahl zu erhalten müssen wir erst 5 Richtige in 6 Versuchen
aus den 45 Kugeln ziehen. Danach sind 39 Kugeln in der Urne übrig. Wir erhalten 5
Richtige mit Zusatzzahl, wenn aus den 39 Kugeln die letzte getippte Kugel gezogen
1
wird. Dafür ist die Wahrscheinlichkeit 39
. Da die Wahrscheinlichkeit für das erraten
der Zusatzzahl nicht von den 5 gezogenen Kugeln abhängt, sind die Ereignisse
unabhängig und wir erhalten aus (5)
6 39
1
5
1
P [„5 Richtige mit Zz“] =
≈ 0.000 07%.
45
39
6
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