Intelligenzdiagnostik Birgit Schulte-Mooney Dipl. Psychologin Familientherapeutin Kinderhypnotherapeutin Intelligenzdiagnostik Übersicht: { Was bedeutet „Intelligenz“? { Funktion/ Nutzen von Intelligenztest { Übersicht über Intelligenztestverfahren in der Kinder- und Jugendpsychiatrie { Einführung in häufig eingesetzte Intelligenztestverfahren: HAWIK –IV und K-ABC (Theorie, praktische Übung) { Beispiele für individuelle Leistungsprofile, Interpretation und deren praktische Bedeutung { Teilleistungsstörungen (Bsp. Lese-Rechtschreibstörung) Definitionen des Intelligenzbegriffs: Stern, William (1912): „Intelligenz ist -die Fähigkeit, sein Denken bewusst auf neue Forderungen einzustellen -die Fähigkeit, sich den Anforderungen neuer Situationen flexibel anpassen zu können.“ „Letztendlich hat das Konstrukt Intelligenz mit der Fähigkeit zu tun, neuartige und unbekannte Probleme zu lösen.“ Zimbardo (2004) „Intelligenz ist die globale Fähigkeit, von Erfahrungen zu profitieren und über die in der Umwelt vorliegenden Information herauszugehen.“ Definitionen des Intelligenzbegriffs: Hofstätter (1985): „Die in sehr großer Anzahl vorliegenden Definitionen der Intelligenz betonen im Wesentlichen 4 Sachverhalte: -dass es sich um eine Begabung (oder mehrere Begabungen) handelt, die ein Lebewesen im höheren oder geringeren Maße besitzen kann. -dass diese Fähigkeit und Lösung konkreter und abstrakter Probleme und damit die Bewältigung neuer Situationen ermöglicht -dass sie das bloße Herumprobieren und das Lernen aus dessen sich zufällig einstellenden Erfahrungen weitgehend erübrigt. -dass diese Begabung sich in der Erfassung, Deutung und Herstellen von Beziehungen und Sinnzusammenhängen äußert.“ FAZIT: Auch nach über 100 Jahren Erforschung des Konstrukts „Intelligenz“ gibt es keine allgemein anerkannte Definition bzw. Intelligenztheorie Allgemeine Intelligenz Intelligenzmodell nach Cattell-Horn-Carroll Was bedeutet dies für heute angewendete Intelligenztestverfahren? { Es existiert kein Intelligenztest, der alle Teilbereiche der Intelligenz umfasst. (d.h. Intelligentest umfassen immer nur einen bestimmten Ausschnitt der Intelligenz) { Manche Intelligenztest erfassen nur Teilfaktoren der Intelligenz (z.B. das abstrakt logische Denkvermögen) oder sie erfassen eine Vielzahl verschiedener Fähigkeiten. { Vorsicht: Dennoch wird das Ergebnis bei fast allen Tests als IQ ausgedrückt. { ABER: IQ ist nicht gleich IQ und es gibt auch nicht den IQ Test!!! Was bedeutet dies für heute angewendete Intelligenztestverfahren? { Es gilt: Je mehr Faktoren/Dimensionen ein IQ-Test misst, desto aussagekräftiger bzw. differenzierter ist das Ergebnis. { Je nach Zielsetzung/Fragestellung, sucht man sich ein Testverfahren heraus (BSP. Screening, Sprachentwicklungsverzögerung, Abklärung von Hochbegabung, Teilleistungsstörung) { Andere wichtige Persönlichkeitsmerkmale wie z.B. emotionaler IQ , kreativer/musischer IQ oder sportlicher IQ werden nicht erfasst. Funktion/Nutzen von Intelligenztestverfahren: { Achtung: Nicht nur Augenmerk auf den Gesamtwert (=GesamtIQ ) richten! Grund: Bei einem sehr heterogenen Begabungsprofil ist der Gesamt-IQ immer nur eingeschränkt interpretierbar!! { Vielmehr: Wo liegen die Stärken und die Schwächen des Kindes? { Intelligenztest ist ein Instrument, um die Kinder in Leistungssituationen zu beobachten. { (emotionaler Umgang, Frustration, Verhaltensstrategien, Konzentration). Extrem wichtige Information für die Hypothesenbildung bzw. Diagnosestellung!!! { Abklärung der kognitiven Fähigkeiten als Ressource/Schutzfaktor bei psychischen Erkrankungen und zur Klassifikation psychischer Störungen (BSP. Schulphobie und Schulangst). Funktion/Nutzen von Intelligenztestverfahren: { Erfassen des kognitiven Entwicklungsstandes z Erfassen von globalen kognitiven Entwicklungsrückständen z Erfassen von Teilleistungsstörungen (z.B. visuelle Wahrnehmung, auditive Verarbeitung, Sprache, Gedächtnis) Anwendung spezifischer Leistungstest, da diese die IQDiagnostik sinnvoll ergänzen bzw. Hypothesen absichern können (z.B. HSET, FEW, GFT) { Auswahl von Förder- bzw. Behandlungsmaßnahmen { Hilfe bei der Schulauswahl (auch im Rahmen der Beurteilung des sonderpädagogischen Förderbedarfs Bsw. Sprachheilschule) { Abklärung einer Hochbegabung, Abklärung einer Lernbehinderung { Abklärung von Teilleistungsstörung schulischer Fertigkeiten (LRS, Dyskalkulie) Zusammenhang zwischen Intelligenz und Schulerfolg { Ein wichtiges Ziel des IQ-Tests ist häufig die Vorhersage zukünftigen Verhaltens (z.B. Schulerfolg). Hier geht es um die Frage der „Vorhersagegültigkeit“ { Empirische Studien haben gezeigt, dass der Zusammenhang zwischen Intelligenzwert und gezeigter Schulleistung hoch ist. { Aber: Schulleistung/Erfolg hängt von vielen zusätzlichen Faktoren ab: z Motivation, Interesse z Konzentrationsfähigkeit z Emotionaler Zustand (!!) z Familiäres Klima z Beziehung zum Lehrer z Klassenklima z Soziale Integration usw. { d.h. Der IQ-Wert ist somit ein Indikator (neben vielen anderen!) Häufig eingesetzte Leistungstests III IV 2002 2007 2006 Haufig eingesetzte Leistungstests Inhaltliche Beschreibung des Gesamt-IQ Da die Intelligenz als normalverteiltes Merkmal beschrieben wird, können die einzelnen Intelligenzbereiche inhaltlich interpretiert werden (im Vergleich zur Altersnorm). Inhaltliche Beschreibung des Gesamt-IQ Aufbau des HAWIK- IV: Aufbau des HAWIK- IV: Vorteile: { Gute Differenzierung verschiedener kognitiver Intelligenzfunktionen { Herausarbeiten von Teilleistungsstörung möglich (z.B. Sprache, Konzentration, visuelle/auditive Verarbeitung) Nachteile: { { Index „Sprachverständnis“ ist bildungsabhängig und fließt in den Gesamt-IQ mit hinein. zeitaufwendig Kaufman Assessment Battery for Children (K-ABC) Skala intellektueller Fähigkeiten (= Gesamt-IQ) Fertigkeitenskala (= angeeignetes Wissen) z.B. Klassifikation und schlussfolgerndes Denken, Gedächtnis, Wahrnehmungsverarbeitung..... Skala ganzheitliches Denken z.B. erworbenes Faktenwissen, Rechnen, sinnerfassendes Lesen Skala einzelheitliches Denken Vorteile: • Differenzierung zw. Fertigkeitenskala vs. Intellektuelle Fähigkeiten (= fluide Intelligenz vs. Erworbene Fertigkeiten/Wissen) • Herausarbeiten von Teilleistungensstörungen möglich (zB. Gedächtnis, Sprache, visuelle/auditive Verarbeitung) •Ermittlung eines Sprachfreien IQ ist möglich Nachteil: • Zeitaufwendig • Nur einzeln durchführbar Kurzer Einblick in die Untertests aus der K-ABC und dem HAWIK -IV („Kleine“ Praktische Übung..., 5-10 Minuten) { Gruppe I: K-ABC Untertest „Fotoserie“ { Gruppe II HAWIK IV Untertest „Matrizen“ { Gruppe III K-ABC Untertest „Rätsel“ und „Zahlennachsprechen“ { Gruppe IV HAWIK IV Untertest „Bilder ergänzen“ { Gruppe V: HAWIK IV: Untertest „Gemeinsamkeiten“ finden und „Zahlennachsprechen“ Fallbeispiele und Interpretation anhand der Intelligenzprofile { Lernbehinderung (David, 8,8 Jahre) am Bsp. des HAWIK-IV- Begabungsprofils { ADHS (Paul, 7,11 Jahre) am Bsp. des HAWIK-IV Begabungsprofils { Sprachentwicklungsverzögerung/Störung (Tatjana, 9,2 Jahre) am Bsp. des K-ABC Begabungsprofils Fallbeispiel I: David, (8 Jahre alt) Vorstellungsgrund: { David besucht die 2.Klasse einer Regelgrundschule. { Vorstellung erfolgte auf Anraten der Lehrerin. Die Klassenlehrerin ordnet seine schulischen Leistungen in Deutsch und Mathematik im mangelhaften Bereich ein, sie äußert ihren Eindruck, dass David zunehmend überfordert sei und nun auch emotional mit Rückzugsverhalten reagiere und sich immer mehr verschließe. Die Mutter berichtet, dass David nicht mehr gerne in die Schule gehe. Es sei auch schon vorgekommen, dass David Kopf- und Bauchschmerzen als Grund angegeben habe, nicht in die Schule zu müssen. Fallbeispiel I: David, (8 Jahre alt) Anamnestische Information (Kurzform): { Schwangerschaft, Geburt und frühkindliche Entwicklung verliefen unproblematisch. { Die Ehe ist nach Aussagen der Eltern intakt. Keine familiären Belastungen oder Veränderungen werden angegeben. David hat eine jüngere Schwester. { Im Kindergarten fiel auf, dass David bei altersgerechten Aufgaben schnell überfordert wirkte und sich oft verweigerte. David zeigte gute soziale Fähigkeiten, spielte aber vorwiegend mit jüngeren Kindern. David wurde vom Schulbesuch ein Jahr zurückgestellt. Fallbeispiel I: Lernbehinderung Fallbeispiel I: Lernbehinderung Erweiterte Diagnostik: { { { { { { CFT 20: IQ =79, unterdurchschnittlich DRT 2: PR = 9, unterdurchschnittlich DEMAT 2 : PR = 6, unterdurchschnittlich Emotionale Diagnostik (AFS), Leistungsängste PR = 91 Verhaltensbeobachtung Anamnestische Information der Eltern und der Schule Fallbeispiel II: Paul, (7,11 Jahre alt) Vorstellungsgrund: { Paul besucht die 2.Klasse einer Regelgrundschule. { Die Vorstellung erfolgte auf Anraten der Lehrerin und der Sorge der Mutter. Seit der Einschulung hätten sich die Probleme kontinuierlich zugespitzt. Paul zeige eine erhöhte Ablenkbarkeit im Unterricht, könne begonnene schriftliche Aufgaben nicht selbstständig zu Ende führen. Auch die Mutter berichtet von einer sehr schwierigen Hausaufgabensituation. Paul könne die Aufgaben nur unter Beisein der Mutter erledigen, was jedoch zunehmend in Machtkämpfe ausarte. Er zeige vermehrt auch motorisch unruhiges und impulsives Verhalten. Dabei gerate er immer öfter in Streitigkeiten mit anderen Kindern, neige zu Wutanfällen und könne seine Kraft nicht dosieren. Auch das Störverhalten im Unterricht habe seit Beginn der 2. Klasse zugenommen. Fallbeispiel II: Paul, (7,11 Jahre alt) Anamnestische Information (Kurzform): { Schwangerschaft und Geburt seien unauffällig verlaufen. Als Baby habe Paul Schlafschwierigkeiten gezeigt, er habe viel geschrieen und sich dann nur schlecht beruhigen lassen. Seine motorische und sprachliche Entwicklung seien altersgerecht verlaufen. Der Mutter sei aufgefallen, dass sich Paul auch schon als Kleinkind immer nur sehr kurzfristig mit Spielmaterialien beschäftigen konnte, was im Kindergarten auch beobachtet werden konnte. Dort zeigte er in der Gruppe einen auffälligen Bewegungsdrang, der jedoch im häuslichen Rahmen nicht bestand. Im Kindergarten habe er gerne gemalt, sei aber nur kurz am Tisch geblieben. { Im Rahmen der schulärztlichen Untersuchung sei Paul ablenkbar gewesen und habe sich Phantasiewörter nicht merken können. Es wurde der Verdacht einer auditiven Wahrnehmungsstörung geäußert, was jedoch durch eine pädaudiologische Untersuchung nicht bestätigt werden konnte. Fallbeispiel II: AufmerksamkeitsdefizitHyperaktivitätsstörung (ADHS) Fallbeispiel II: AufmerksamkeitsdefizitHyperaktivitätsstörung (ADHS) Erweiterte Diagnostik: { -Computergestützte Konzentrations- und Aufmerksamkeitsdiagnostik (TAP) { -Klinische Verhaltensbeobachtung { -Anamnestische Information der Eltern und der Schule (standardisierte Fragebögen, DYSIPS- II) { -Emotionale Diagnostik { Achtung: ADHS Kinder zeigen nicht unbedingt ein auffälliges Intelligenzprofil, d.h. es gibt nicht das „typische ADHS-Profil“! Fallbeispiel III: Tatjana, (9 Jahre alt) Vorstellungsgrund: { Tatjana besucht die 3.Klasse einer Regelgrundschule. { Die Vorstellung erfolgte zur Abklärung ihres kognitiven Entwicklungsstandes, da Tatjanas Schulleistungen sich immer weiter verschlechtern. Die Mutter beklagt, dass Tatjana Schwierigkeiten habe, Erklärungen zu folgen bzw. diese zu begreifen, so dass die Hausaufgaben- und Lernsituation sich zunehmend verschärfe und es immer wieder zu großen Streitigkeiten zwischen Mutter und Tochter komme. { Ebenfalls mache sich die Mutter Sorgen, um Tatjanas sozialemotionale Entwicklung. Tatjana habe kaum Freunde, sehe aus „wie ein Junge“ und spiele leidenschaftlich Fußball. { Tatjana hat eine Zwillingsschwester, „die völlig anders sei“. Fallbeispiel III: Tatjana, (9 Jahre alt) Anamnestische Information (Kurzform): { Schwangerschaft, Geburt und Kleinkindzeit seien unauffällig verlaufen. Tatjana habe schon immer Stärken in der motorischen Entwicklung gezeigt, die sprachliche Entwicklung sei hingegen verzögert gewesen. Der Mutter sei schon immer die großen Unterschiede zwischen ihren Töchtern aufgefallen, mit denen sie selber nur schwer zurechtkomme. Tatjana „sei ihr im Wesen fremd“ Es werden von Seiten der Eltern keine aktuellen familiären Belastungen beschrieben. Fallbeispiel III: Sprachentwicklungsstörung Fallbeispiel III: Sprachentwicklungsstörung Erweiterte Diagnostik: { Logopädische Untersuchung (HSET) { Sprachfreie Intelligenztestung (SON-R) Gesamt-IQ = 105, homogenes Profil Kriterien einer Teilleistungsstörung nach der WHO Eine Rechtschreibstörung liegt bei folgenden Kriterien vor: { RS < Prozentrang = 10 { Diagnose nicht zulässig bei einem IQ < 70 (normale Begabung gefordert) { RS liegt mind. 1,5 Standardabweichungen unterhalb des IQ { Probleme bestehen seit Beginn der Schulzeit { andere Leistungen (z.B. Rechnen) sind nicht betroffen { neurologische Erkrankung oder Sinnesbehinderung ausgeschlossen { unzureichender Unterricht ausgeschlossen Schlussfolgerungen für die Abklärung einer Teilleistungsstörung { Medizinisch-neurologische Untersuchung (Ausschluss neurologischer Erkrankungen und Sinnesbehinderungen) { Psychologischer Leistungstest (IQ als „Ankerwert“) { Spezifische schulische Leistungstest (z.B. Rechtschreibtest) Schulische Leistungen werden im Vergleich zur allgemeinen Begabung interpretiert { Anamnese und Exploration der störungsspezifischen Entwicklungsgeschichte ( z.B. Fördermaßnahmen, Schulwechsel, Zeugnisnoten usw.) { Abklärung der sozial- emotionalen Befindlichkeit (liegt eine „seelische Behinderung“ vor?) Wichtige Unterscheidung: „Rechtschreibschwäche“ vs. „Rechtschreibstörung“ ►Entscheidend für eine Teilleistungsstörung als psychologischmedizinische Diagnose: RS mindestens 1,5 SD < des IQ Wertes! Rechtschreibstörung: IQ Rechtschreibschwäche: IQ RS RS Lese-Rechtschreibstörung { schwer therapierbare Störung (Prognose: eher ungünstig) { Störung bei der Aufnahme, Verarbeitung und Wiedergabe von Sprache und Schriftsprache { entwicklungsbiologisch und zentral nervös bedingt (d.h. Defizite in der sensorischen Informationsweiterleitung und Verarbeitung) { besteht trotz normaler/überdurchschnittlicher Intelligenz { trotz normaler familiärer und schulischer Lernanregung { individuelle Ausprägung und Schweregrade durch unterschiedliche Kombinationen von Teilleistungsschwächen der Wahrnehmung, der Motorik, der Sprache und der sensorischen Integration. { (Wichtig: Aber nicht jede Wahrnehmungsverarbeitungsstörung führt grundsätzlich zu einer (Lese-) Rechtschreibstörung!) ICD 10: Umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten (F.81) { Lese-Rechtschreibstörung (ICD 10, F.81.0) { Isolierte Rechtschreibstörung (ICD- 10 F.81.1) { Rechenstörung (ICD-10 F. 81.2) { Kombinierte Störung schulischer Fertigkeiten (ICD-10 F. 81.3) { (nicht in der ICD-10 klassifiziert: Isolierte Lesestörung) Ausschnitt aus dem DRT 3 Qualitative Fehleranalyse des DRT 3, (PR <1)