Vorlesung 5 5.1 Lebesguesche Integrationstheorie

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5.1. LEBESGUESCHE INTEGRATIONSTHEORIE
Vorlesung 5
5.1
Lebesguesche Integrationstheorie
Bevor wir Lebesgue- und Sobolevreguläre Funktionen kennenlernen, wiederholen wir in vereinfachter Form
die wichtigsten Begriffe der Lebesgueschen Integrationstheorie. Dabei halten wir uns an Elstrodts Maß- und
Integrationstheorie [2] und Roydens Real Analysis [13].
Schritt 1: Lebesgue-Maße
Das Maßproblem ist folgendes: Gesucht ist eine Funktion µ∗ : P(R) → [0, +∞] auf der Potenzmenge P(R)
der reellen Zahlen R mit folgenden Eigenschaften
1. µ∗ (A) ist erklärt für alle Teilmengen E ⊂ R;
2. µ∗ (I) = Länge (I) für ein Intervall I ⊂ R;
P
S
3. sind A1 , A2 , . . . disjunkt, so gilt µ∗ ( n An ) = n µ∗ (An );
4. µ∗ ist translationsinvariant.
Das Maßproblem in dieser allgemeinen Form ist nicht lösbar, d.h. eine solche Maßfunktion µ∗ existiert
nicht. In seiner Dissertation Intégrale, Longueur, Aire 1902 führte Lebesgue einen Maß- und Integrationsbegriff ein, der sich auf Grund seiner Nützlichkeit und Schönheit durchgesetzt hat.1 Heute beschreitet man
Caratheodorys Methode zur Konstruktion des Lebesgue-Maßes:
Definition. (Konstruktion des Lebesgue-Maßes, Hauptidee)
Gegeben seien eine beliebige Menge A ⊂ R und offene Überdeckungen I, bestehend aus offenen Intervallen
I1 , I2 , . . . der Länge |In |, so dass
[
A⊂
In .
n
Für das Infimum der Gesamtlänge aller solcher Überdeckungen setzen wir
X
|In |.
µ(A) := inf
I
n
Ist A ⊂ Rn , so definieren wir entsprechend
)
(
X
[
n
.
µ(A) := inf
Vol (In ) : E ⊂
In , In Würfel im R
n
n
Die Funktion µ ist noch kein richtiges Maß im Sinne nachstehender Definition. Dazu müssen wir noch die
zulässigen Mengen A spezifizieren. Im folgenden sei X ein beliebiger Raum. Wir beginnen mit der
Definition. (Caratheorory 1914)
Ein (äußeres) Maß ist eine Abbildung η : P(X) → R ∪ {∞} mit folgenden Eigenschaften:
1. η(∅) = 0.
2. Monotonie: Für alle A ⊂ B ⊂ X gilt η(A) ≤ η(B).
1 in
Hinblick auf das Maßproblem müssen an dieser Stelle besonders Borel und Vitali genannt werden.
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KAPITEL III. DER LEBESGUESCHE RAUM
3. Subadditativität: Für jede Folge {An }n=1,2,... von Teilmengen von X gilt
η
∞
[
An
n=1
!
≤
∞
X
η(An ).
n=1
Ein äusseres Maß nimmt nur nicht-negative Werte an. Aus der abzählbar unendlichen Subadditativität und
der ersten Eigenschaft folgt die endliche Subadditativität.
Setzt man beispielsweise η1 (∅) = 0 und η1 (A) = 1 füralle ∅ 6= A ⊂ X, so ist η1 ein äusseres Maß.
Nun führen wir eine geeignete Mengenalgebra ein, auf die das spätere Lebesgue-Maß wohldefiniert sein wird.
Folgender geniale Gedankengang Caratheodorys führt uns zum Ziel:
Definition. (Caratheodory 1914)
Es sei η : P(X) → R ∪ {∞} ein äusseres Maß. Dann heisst A ⊂ X η-messbar, falls für alle E ⊂ X gilt
η(E) ≥ η(E ∩ A) + η(E \ A).
Hier ist folgendes zu beachten: Aus der (endlichen) Subadditativität folgt
η(E) = η((E ∩ A) ∪ (E \ A)) ≤ η(E ∩ A) + η(E \ A).
Daher ist A ⊂ X genau dann η-messbar, wenn
η(E) = η(E ∩ A) + η(E \ A)
erfüllt ist. Beide Bedingungen sind nützlich.
Satz. (Caratheory 1914)
Ist η : P(X) → R ∪ {∞} ein äusseres Maß, so ist
A := {A ⊂ X : A messbar nach Caratheodory}
eine σ-Algebra, und µ = η|A ist ein Maß, d.h. es gelten
1. µ(∅) = 0;
2. µ(A) ≥ 0 für alle A ⊂ X;
3. es gilt
µ
∞
[
An
n=1
!
=
∞
X
µ(An )
n=1
für jede Folge {An }n=1,2,... disjunkter Mengen.
Dabei bezeichnet ein Mengensystem A ⊂ P(X) eine σ-Algebra, wenn
− X ⊂ A;
− A ∈ A, dann auch Ac ∈ A für das Komplement von A;
− A1 , A2 , . . . ∈ A, dann
[
AN ∈ A .
Kommen wir nun zur oben dargestellten Idee zur Konstruktion des Lebesgues-Maßes zurück
Definition. Es bezeichne L das System aller (im Sinne Caratheodorys) µ-messbaren Teilmengen des Rn .
Dann ist L eine σ-Algebra, und µ|L ist hierauf ein Maß, das (äussere) Lebesgue-Maß. Eine Menge A ⊂ L
heisst Lebesgue-messbar.
5.1. LEBESGUESCHE INTEGRATIONSTHEORIE
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Die in der Maßtheorie vielleicht wichtigste σ-Algebra ist die σ-Algebra der Borelschen Mengen des Rn . Sei
dazu O das System der offenen Teilmengen von Rn . Dann heisst die von O erzeugte σ-Algebra σ(O) die
Borel-σ-Algebra in Rn .
Die Borelsche σ-Algebra des Rn enthält alle offenen Teilmengen, und wegen der Abgeschlossenheit der σAlgebra bez. Komplementbildung enthält sie auch alle abgeschlossenen Teilmengen.
Es gibt dann aber auch Mengen E ⊂ R, die nicht messbar im Lebesgueschen Sinne sind. Eine solche nicht
messbare Menge wurde von Vitali unter Zuhilfenahme des Auswahlaxioms2 wie folgt konstruiert:
Wir nennen x, y ∈ Rn äquivalent genau dann, wenn x − y ∈ Qn . Damit ist auf Rn eine Äquivalenzrelation
erklärt mit zugehörigen Äquivalenzklassen. Nach dem Auswahlaxiom können wir aus jeder Äquivalenzklasse
ein Element (einen Vertreter) auswählen und die Menge M dieser Vertreter betrachten.
Satz. (Vitali 1905)
Für jedes Vertretersystem M von Rn /Qn ist M 6∈ L. Überhaupt ist das Maßproblem nicht lösbar.
Die Existenz Lebesgue-nichtmessbarer Mengen ist sogar äquivalent zum Auswahlaxioms. Für ein detailliertes
Studium dieser Sätze siehe Elstrodt [2], Kapitel III.
Definition. Eine Menge E ⊂ Rn mit µ(E) = 0 heisst Lebesguesche Nullmenge.
Jede einelementige Menge ist Nullmenge in diesem Sinn. Aber auch jede aus einelementigen Mengen bestehende abzählbare Menge ist wieder Nullmenge, da µ ja ein Maß ist. Z.B. gilt
µ({r ∈ Q ∩ [0, 1]}) = 0.
Selbst das Cantorsche Diskontinuum ist eine Lebesguesche Nullmenge. Studieren Sie dazu Elstrodt [2],
Kapitel II, Abschnitt 8!
Das Lebesguesche Maß ist ein sogenanntes vollständiges Maß: Das bedeutet, dass jede Teilmenge A einer
Lebesgueschen Nullmenge N wieder Lebesgue-messbar ist.
Schritt 2: Lebesguemessbare Funktionen
Im folgenden betrachten wir Messbarkeit nur noch im Sinne Lebesgues und sagen einfach nur messbar“
”
bzw. µ-messbar statt Lebesgue-messbar.“
”
Definition. Eine reellwertige Funktion f heisst messbar, falls ihr Ursprungsgebiet messbar ist, und falls
eine der folgenden untereinander äquivalenten Bedingungen erfüllt ist:
(i) für jedes reelle α ist {x : f (x) > α} messbar;
(ii) für jedes reelle α ist {x : f (x) ≥ α} messbar;
(iii) für jedes reelle α ist {x : f (x) < α} messbar;
(iv) für jedes reelle α ist {x : f (x) ≤ α} messbar.
Natürlich ist jede stetige Funktion messbar, aber auch jede einfache Funktion, aus denen messbare Funktionen überhaupt konstruiert werden. Diese werden wir in den folgenden Unterparagraphen kennen lernen.
Intermezzo: Littlewoods drei Prinzipien
In seinen Lectures on the Theory of Functions aus dem Jahre 1944 schreibt Littlewood:
The extent of the knowledge required is nothing like so great as is sometimes supposed. There
are three principles, roughly expressed in the following terms ...
P1. Jede messbare Menge ist fast eine endliche Vereinigung von Intervallen.
2 Auswahlaxiom:
S
Ist M eine nichtleere Menge von nichtleeren Mengen, so existiert eine Funktion f : M → A∈M A, so dass
f (A) ∈ A für alle A ∈ M. Intuitiv gesprochen bewirkt ein solches f die simultane Auswahl eines Elementes aus jeder der
Mengen von M.
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KAPITEL III. DER LEBESGUESCHE RAUM
P2. Jede messbare Funktion ist fast stetig.
P3. Jede konvergente Folge messbarer Funktionen ist fast gleichmässig konvergent.
Diese drei Prinzipien werden durch folgende wichtige Resultate gestützt:
Proposition. (Prinzip P1, Proposition 15, Kapitel 3 aus [13])
Gegeben eine Menge E, dann sind folgende Bedingungen äquivalent:
(i) E ist messbar;
(ii) zu gegebenem ε > 0 gibt es eine offene Menge O ⊃ E mit µ(O \ E) < ε;
(iii) zu gegebenem ε > 0 gibt es eine abgeschlossene Menge A ⊂ E mit µ(E \ A) < ε.
Ist zudem µ(E) < ∞, so sind (i) bis (iii) äquivalent zu
(iv) zu gegebenem ε > 0 gibt es eine endliche Vereinigung U offener Intervalle mit µ((U \ E)∪(E \ U )) < ε.
Proposition. (Prinzip P2: Satz von Lusin)
Sei f eine messbare reellwertige Funktion auf einem Intervall [a, b]. Zu gegebenem δ > 0 existiert dann eine
stetige Funktion ϕ auf [a, b], so dass
µ x : f (x) 6= ϕ(x) < δ.
Dieser Satz stammt aus Lusin, N.: Sur les proprits des fonctions mesurables. Comptes Rendus de l’Acadmie
des sciences Paris 154, 1688–1690, 1912.
Proposition. (Prinzip P3: Satz von Egoroff )
Es sei {fn } eine Folge reellwertiger messbarer Funktionen, welche fast überall auf einer messbaren Menge
E endlichen µ-Maßes gegen eine Funktion f konvergieren. Dann gibt es zu gegebenem ε > 0 eine Teilmenge
A ⊂ E mit µ(A) < ε, so dass die Konvergenz auf E \ A gleichmässig ist.
Dieser Satz stammt aus Egoroff, D: Sur les suites des fonctions measurables. Comptes Rendus de l’Acadmie
des sciences Paris 152, 135-157, 1911.
Schritt 3: Lebesgue-Integral
Wir kommen schliesslich zu Lebesgues Integralkonstruktion auf Lebesgue- oder µ-messbaren Mengen auf R.
Es bezeichne
(
1, x ∈ E
χE (x) :=
0, x 6∈ E
die charakteristische Funktion E einer µ-messbaren Menge E. Mit reellen Zahlen ei heisst dann
ϕ(x) =
N
X
ei χEi (x)
i=1
einfache Funktion über den µ-messbaren Mengen Ei .
Definition. Eine Funktion heisst einfach genau dann, wenn sie messbar ist und nur endlich viele Werte
annimmt.
Verschwindet die einfache Funktion ϕ ausserhalb einer Menge endlichen µ-Maßes, so setzt Lebesgue als ihr
Integral
Z
N
X
ei µ(Ei ).
ϕ(x) dx =
i=1
Die Übertragung dieses Integrals auf messbare Funktionen geschieht nun wie folgt:
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5.1. LEBESGUESCHE INTEGRATIONSTHEORIE
Proposition. (Royden [13], Proposition 3 und Definition aus Kapitel 4)
Sei f beschränkt über einer µ-messbaren Menge E mit µ(E) < ∞. Damit
Z
Z
inf
ψ(x) dx = sup ϕ(x) dx
f ≤ψ
f ≥ϕ
E
E
für alle einfachen Funktionen ϕ und ψ richtig ist, ist notwendig und hinreichend, dass f µ-messbar ist. In
diesem Fall definieren wir das Lebesgue-Integral von f über E gemäss
Z
Z
f (x) dx = inf
ψ(x) dx.
f ≤ψ
E
E
Anschaulich arbeitet dieses Verfahren wie folgt:
1. Es sei α < f (x) < β für alle x ∈ E. Dann bilden wir eine Unterteilung α = e0 < e1 < . . . < er = β
und berechnen die Lebesguesche Untersumme
r−1
X
ei µ(Ei )
mit Ei = {x ∈ E : ei ≤ f (x) ≤ ei+1 }.
i=0
Dabei sind die Ei Lebesgue-messbar. In diesem Fall berechnet sich das Lebesgue-Integral von f als
die obere Schranke aller solcher möglichen Lebesgue-Untersummen. Machen Sie eine Skizze!
2. Die Ausdehnung auf nicht nach oben beschränkte Funktionen f geschieht dadurch, dass man zunächst
f als Limes einer monotonen Folge von abgeschnittenen Funktionen
fn (x) = min {f (x), n}
darstellt. Das Lebesgue-Integral erklärt sich dann nach
Z
Z
f (x) dx = lim
fn (x) dx.
n→∞
E
E
3. Nach unten und oben nicht beschränkte Funktionen f zerlegt man in ihren positiven Anteil f+ und
negativen Anteil f− gemäß
f+ (x) = max {f (x), 0} bzw. f− (x) = max {−f (x), 0}.
Ihr Lebesgue-Integral ist definiert als
Z
Z
Z
f (x) dx = f+ (x) dx − f− (x) dx,
E
E
E
falls mindestens eines der beiden letzten Integrale endlich ist.
4. Ist µ(E) = ∞, so erklärt man das Lebesgue-Integral als Limes der Integrale über Mengen En endlichen
Maßes einer geeigneten Folge
E1 ⊂ E2 ⊂ E3 ⊂ . . .
mit
∞
[
En = E.
n=1
Lebesgue selbst gab ein Kriterium an, wie dieser neue Integrationsbegriff mit dem Riemannschen Integralbegriff zusammen hängt:
Proposition. (Satz von Lebesgue, Royden [13], Proposition 7 aus Kapitel 4)
Eine beschränkte Funktion f auf [a, b] ist Riemann-integrierbar genau dann, wenn die Menge ihrer Unstetigkeitspunkte im Lebesgueschen Sinne verschwindendes Maß besitzt.
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KAPITEL III. DER LEBESGUESCHE RAUM
Die charakteristische Funktion χ der rationalen Zahlen in [0, 1] ist nicht Riemann-integrierbar, da jeder
Punkt in diesem Intervall Unstetigkeitstelle ist. Im Lebesgueschen Sinne gilt aber
Z1
χ(x) dx = 0,
0
da χ im Lebesgueschen Sinne fast überall mit der Funktion f ≡ 0 übereinstimmt, denn die rationalen Zahlen
sind als abzählbare Vereinigung von Nullmengen (rationalen Zahlenpunkten) wieder eine Nullmenge.
Die Zerlegung des Funktionsbereichs nach Lebesgue berücksichtigt den aktuellen Verlauf der Funktion.
Die Zerlegung des Definitionsbereichs nach Riemann wird hingegen ohne Kenntnisnahme des tatsächlichen
Funktionenverlaufs vorgenommen.
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