Angststörungen - Familienleben.ch

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Angststörungen
Frank W. Paulus
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie
und Psychotherapie
Universitätsklinikum des Saarlandes
Angststörungen
Definition
Klassifikation
Prävalenz und Komorbidität
Klinik
Ätiologie und Pathogenese
Diagnostik
Therapie
2
Angststörungen
1. Definition
Angst - Furcht/Panik
emotionale Reaktion auf eine diffuse - oder offensichtliche
Gefahrenquelle
Basisemotion / Primäraffekt (Ekman & Friesen)
Aktivierung der Kampf-Flucht-Reaktion des sympathischen
Nervensystems / bzw. Vorbereitung darauf
Adaptiv und funktional: Fest verdrahtete Alarmreaktion auf Gefahr
Ziel: Gefahr entkommen / vermeiden/ Vorbereitung auf mögliche
Bedrohungen
Panikattacke: spontan, ohne offensichtliche externe Bedrohung
oft Wahrnehmung eines drohenden Untergangs
(z.B. Furcht vor dem Tod, Wahnsinn oder Kontrollverlust „Umfallen“)
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Angststörungen
1. Definition
Angst/Panik-Komponenten
kognitiv / subjektiv:
„oh Gott, was wird nur passieren?“, ich kann gar nichts
kontrollieren“, „ich bin hilflos ausgeliefert!“ „ich werde
sterben“
Gesteigerte Aufmerksamkeit (Vigilanz)
Besorgte Antizipation „gefährlicher“ Situationen
physiologisch / körperlich:
Anspannung und chronische Übererregung
z.B.: erhöhte Herzfrequenz, schweres Atmen, Schwitzen,
Erröten oder Erblassen, „Klos“ im Hals, Zittern
verhaltensbezogen:
Tendenz zur Vermeidung,
unmittelbares Bedürfnis, zu fliehen
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Angststörungen
1. Definition
Klinisch bedeutsame Ängste sind:
nicht vorübergehend
für die Entwicklungsphase unangemessen
mit starken und anhaltenden Beeinträchtigungen
verbunden
Sie
beeinträchtigen die normale Entwicklung und
lösen Probleme im sozialen Umfeld aus
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Angststörungen
1. Definition
Furcht/Panik und Angst
viele Quellen von Furcht und Angst sind erlernt!
Furcht und Angst sind hochgradig konditionierbar!
Vorsicht vor Generalisierung!
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Angststörungen
2. Klassifikation nach ICD-10
Angststörungen speziell des KA:
emotionale Störungen des Kindesalters
(F 93)
Angststörungen aller Lebensalter:
Phobische Störungen (F40)
Sonstige Angststörungen (F41)
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Angststörungen
2. Klassifikation nach ICD-10
F93 emotionale Störungen des Kindesalters
F93.0
emotionale Störung mit Trennungsangst des
Kindesalters
F93.1 phobische Störung des Kindesalters
F93.2 Störung mit sozialer Ängstlichkeit des
Kindesalters
F93.8 sonstige emotionale Störungen des
Kindesalters
F93.80 generalisierte Angststörung des Kindesalters
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Angststörungen
2. Klassifikation nach ICD-10
F40 phobische Störungen
F40.0
Agoraphobie
F40.00 Agoraphobie ohne Panikstörung
F40.01 Agoraphobie mit Panikstörung
F40.1
soziale Phobien
F40.2 spezifische (isolierte) Phobien
F40.8 sonstige phobische Störungen
F40.9 nicht näher bezeichnete phobische Störung
9
Angststörungen
2. Klassifikation nach ICD-10
F41 sonstige Angststörungen
F41.0
Panikstörung (episodisch paroxysmale Angst)
F41.1 generalisierte Angststörung
F41.2 Angst und depressive Störung, gemischt
F41.3 sonstige gemischte Angststörungen
F41.8 sonstige spezifische Angststörungen
F41.9 nicht näher bezeichnete Angststörung
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Angststörungen
2. Klassifikation nach ICD-10
F93.0 emotionale Störung mit Trennungsangst des
Kindesalters – Kriterien:
►unrealistische und anhaltende Besorgnis über
-
-
ein mögliches Unheil, das der Hauptbezugsperson
zustoßen könnte oder
den möglichen Verlust solcher Personen
(z.B. Furcht, dass sie weg gehen und nicht wieder
kommen könnten oder dass das Kind sie nie mehr
wiedersehen wird) oder
anhaltende Sorge um den Tod von Bezugspersonen
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Angststörungen
2. Klassifikation nach ICD-10
F93.0 – Kriterien:
► unrealistische und anhaltende Besorgnis, dass ein
unglückliches Ereignis das Kind von einer
Hauptbezugsperson trennen werde (z.B., dass das
Kind verloren gehen, gekidnappt, ins Krankenhaus
gebracht oder getötet werden könnte);
► andauernde Abneigung oder Verweigerung die
Schule zu besuchen aus Angst vor Trennung von
einer Hauptbezugsperson oder um zuhause zu
bleiben (weniger aus anderen Gründen, z.B. Angst
vor bestimmten Ereignissen in der Schule);
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Angststörungen
2. Klassifikation nach ICD-10
F93.0 – Kriterien:
► Trennungsschwierigkeiten am Abend, erkennbar an
einem der folgenden Merkmale:
a. anhaltende Abneigung oder Weigerung, Schlafen
zu gehen, ohne dass eine Hauptbezugsperson
dabei oder in der Nähe ist;
b. häufiges Aufstehen nachts, um die Anwesenheit
der Bezugsperson zu überprüfen oder bei ihr zu
schlafen;
c. anhaltende Abneigung oder Weigerung,
auswärts zu schlafen.
► anhaltende, unangemessene Angst davor, allein
oder tagsüber ohne eine Hauptbezugsperson zu
Hause zu sein;
► wiederholte Alpträume zu Trennungsthemen;
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Angststörungen
2. Klassifikation nach ICD-10
F93.0 – Kriterien:
► wiederholtes Auftreten somatischer Symptome
(Übelkeit, Bauchschmerzen, Kopfschmerzen oder
Erbrechen) bei Gelegenheiten, die mit einer Trennung
von einer Hauptbezugsperson verbunden sind, wie beim
Verlassen des Hauses, um zur Schule zu gehen oder bei
anderen Gelegenheiten, die mit einer Trennung
verbunden sind (Urlaub, Ferienlager);
► extremes und wiederholtes Leiden in Erwartung,
während oder unmittelbar nach der Trennung von einer
Hauptbezugsperson (es zeigt sich in Angst, Schreien,
Wutausbrüchen; in der anhaltenden Weigerung, von
zuhause wegzugehen; in dem intensiven Bedürfnis, mit
den Eltern zu reden oder in dem Wunsch nach Hause
zurückzukehren, in Unglücklichsein, Apathie oder
sozialem Rückzug).
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Angststörungen
2. Klassifikation nach ICD-10
F93.0 – Kriterien:
B. Fehlen einer generalisierten Angststörung des
Kindesalters (F93.80).
C. Beginn vor dem sechsten Lebensjahr.
D. Die Störung tritt nicht im Rahmen einer umfassenden
Störung der Emotionen, des Sozialverhaltens oder der
Persönlichkeit auf oder bei einer tiefgreifenden
Entwicklungsstörung, einer psychotischen Störung oder
einer substanzbedingten Störung.
E. Dauer mindestens vier Wochen.
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Angststörungen
2. Klassifikation nach ICD-10
F93.1 phobische Störung des Kindesalters
falls der phobische Inhalt spezifisch für eine bestimmte
Entwicklungsphase ist, ist nicht der Abschnitt F40-F48
zu verwenden, sondern es ist diese Störung zu
diagnostizieren
Beginn: in der entwicklungsangemessenen Altersstufe
(z.B. Angst vor bestimmten Tieren, Angst vor Monstern)
Ausmaß der Angst ist klinisch auffällig
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Angststörungen
2. Klassifikation nach ICD-10
F93.1 - Kriterien
► A. Eine anhaltende oder wiederkehrende Angst
(Phobie), die zwar entwicklungsphasenspezifisch ist
(oder zum Zeitpunkt des Beginns war), die aber
übermäßig ausgeprägt und mit deutlichen sozialen
Beeinträchtigungen verbunden ist.
► Fehlen einer generalisierten Angststörung des
Kindesalters (F93.80).
► C. Die Störung tritt nicht im Rahmen einer
umfassenderen Störung der Emotionen, des
Sozialverhaltens oder der Persönlichkeit auf oder
bei einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung, einer
psychotischen Störung oder einer
substanzbedingten Störung.
► D. Dauer mindestens vier Wochen.
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Angststörungen
2. Klassifikation nach ICD-10
F93.2 Störung mit sozialer Ängstlichkeit des
Kindesalters - Kriterien
► A. Anhaltende Ängstlichkeit in sozialen Situationen, in denen
das Kind auf fremde Personen, auch Gleichaltrige, trifft, mit
vermeidendem Verhalten.
► B. Befangenheit, Verlegenheit oder übertriebene Sorge über
die Angemessenheit des Verhaltens Fremden gegenüber.
► C. Deutliche Beeinträchtigung und Reduktion sozialer
Beziehungen (einschließlich zu Gleichaltrigen), die
infolgedessen vermindert sind; in neuen oder erzwungenen
sozialen Situationen deutliches Leiden und Unglücklichsein mit
Weinen, Schweigen oder Rückzug aus der Situation.
► D. Befriedigende soziale Beziehungen zu Familienmitgliedern
und zu gut bekannten Gleichaltrigen.
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Angststörungen
2. Klassifikation nach ICD-10
F93.2 – Kriterien:
► E. Die Störung beginnt im allgemeinen in der
Entwicklungsphase, in der diese ängstlichen Reaktionen als
angemessen angesehen werden. Die übermäßige
Ausprägung, das zeitliche Überdauern und die begleitenden
Beeinträchtigungen müssen vor dem sechsten Lebensjahr
manifest werden.
► F. Fehlen einer generalisierten Angststörung des
Kindesalters (F93.80)
► G. Die Störung tritt nicht im Rahmen einer umfassenderen
Störung der Emotionen, des Sozialverhaltens oder der
Persönlichkeit auf oder bei einer tiefgreifenden
Entwicklungsstörung, einer psychotischen Störung oder
einer substanzbedingten Störung.
► H. Dauer mindestens vier Wochen.
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Angststörungen
2. Klassifikation nach ICD-10
F93.80 generalisierte Angststörung des
Kindesalters
► Kinder und Jugendliche klagen meist weniger über die für die
generalisierte Angststörung typischen Beschwerden als
Erwachsene und
► die spezifischen Symptome der vegetativen Stimulierung stehen
oft weniger im Vordergrund.
► Dann F93.80 verwenden.
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Angststörungen
2. Klassifikation nach ICD-10
F93.80 - Kriterien
► A. Intensive Ängste und Sorgen (ängstliche Erwartung)
über einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten an
mindestens der Hälfte der Tage. Die Ängste und Sorgen
beziehen sich auf mindestens einige Ereignisse und
Aktivitäten (wie Arbeits- oder Schulpflichten).
► B. Die Betroffenen haben Schwierigkeiten, die Sorgen
zu kontrollieren.
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Angststörungen
2. Klassifikation nach ICD-10
F93.80 - Kriterien
► C. Die Ängste und Sorgen sind mit mindestens drei der
folgenden Symptome verbunden (mindestens zwei Symptome
an mindestens der Hälfte der Tage):
1.
Ruhelosigkeit, Gefühl überdreht, nervös zu sein (deutlich
z.B. durch das Gefühl geistiger Anstrengung zusammen
mit der Schwierigkeit, sich zu entspannen);
2.
Gefühl von Müdigkeit, Erschöpfung oder einfach
Anstrengung durch die Ängste und Sorgen;
3.
Konzentrationsschwierigkeiten oder Gefühl, der Kopf sei
leer;
4.
Reizbarkeit;
5.
Muskelverspannung;
6.
Schlafstörung (Ein- und Durchschlafstörungen, unruhiger
oder schlechter Schlaf) wegen der Ängste und Sorgen.
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Angststörungen
2. Klassifikation nach ICD-10
F93.80 - Kriterien
► D. Die vielfältigen Ängste und Befürchtungen treten in
mindestens zwei Situationen, Zusammenhängen oder
Umständen auf. Die generalisierte Angststörung tritt
nicht in einzelnen paroxysmalen Episoden (wie eine
Panikstörung) auf, die Hauptsorgen beziehen sich auch
nicht auf ein einzelnes Hauptthema (wie bei der Störung
mit Trennungsangst oder der phobischen Störung des
Kindesalters). (Treten bei einer generalisierten
Angststörung auch häufiger fokussierte Ängste auf, hat
die generalisierte Angststörung Vorrang vor der
Diagnose einer anderen Angststörung.)
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Angststörungen
2. Klassifikation nach ICD-10
F93.80 - Kriterien
► E. Beginn in der Kindheit oder in der Adoleszenz (vor
dem 18. Lebensjahr).
► F. Die Ängste, Sorgen oder körperlichen Symptome
verursachen klinisch deutliches Leiden oder
Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen und in
anderen wichtigen Lebens- und Funktionsbereichen.
► G. Die Störung ist keine direkte Folge einer
Substanzaufnahme (z.B. psychotrope Substanzen,
Medikamente) oder einer organischen Krankheit (wie
z.B. Hyperthyreose) und tritt auch nicht ausschließlich im
Rahmen einer affektiven oder psychotischen Störung auf
oder bei einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung.
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Angststörungen
3. Prävalenz und Komorbidität
Angststörungen sind häufige psychische
Störungen im Kindes- und Jugendalter!
bei 2 - 43 % aller Kinder, je nach Studie
Trennungsängste 1 - 5 %
Generaliserte Angststörung: 0,5 – 3,6 %
Soziale Ängste: 1 – 4,6 %
Spezifische Phobien: 2-6 %
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Angststörungen
3. Prävalenz und Komorbidität
Angststörungen und komorbide Störungen bei 307 2- bis 5-jährigen
Kindern:
Komorbide
Störungen
Isolierte Störung
Komorbidität
Störung mit
Trennungsangst
21%
79%
Depression,
soziale Phobie,
PTBS
Generalisierte
Angststörung
47%
53%
ADHS,
Störung mit
Trennungsangst ,
PTBS
Soziale Phobie
45%
55%
Störung mit
Trennungsangst,
Spezifische Phobie
Spezifische
Phobie
0%
100%
Depression,
soziale Phobie,
PTBS 26
Angststörungen
4. Klinik
Fallbeispiel
emotionale Störung mit Trennungsangst des
Kindesalters
(aus: Schneider & Blatter, 2006, S. 532)
„Tom ist 11 Jahre alt und hat große Angst, wenn seine Eltern ihn
abends alleine lassen möchten. Er schlägt um sich und weint
bitterlich. Er möchte genau wissen, wann seine Eltern
wiederkommen, und bittet sie inständig, doch zu Hause zu bleiben.
Er klagt außerdem über Bauchschmerzen. Nur wenn der Vater
verspricht, Tom von unterwegs anzurufen und eine genaue Zeit
angibt, wann sie wieder zu Hause sein werden, können die Eltern
Tom allein lassen. Trotzdem ruft Tom die Eltern im Verlauf des
Abends mehrfach auf dem Handy an, um sich zu vergewissern,
dass ihnen nichts zugestoßen ist. Unterschiedliche Geräusche
nimmt Tom als Krankenwagensirene wahr und macht sich große
Sorgen um seine Eltern. Er bleibt so lange wach, bis sie wieder zu
Hause sind, und schläft erst dann vollkommen übermüdet ein.“
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Angststörungen
4. Klinik
Fallbeispiel spezifische Phobie (aus: Schneider & Blatter, 2006, S. 532)
„Stefanie, acht Jahre, kommt mit ihren Eltern zu Erstgespräch. Die
Mutter erzählt, dass Stefanie starke Angst vor Feuerwerk und
Schüssen habe. Bei knallenden Geräuschen zucke Stefanie
zusammen, beginne zu zittern, und ihr Herz klopfe stark. Sie
schmeiße dann mit Dingen um sich und verkrieche sich unter der
Bettdecke. Die Angst habe Konsequenzen für ihren Alltag: aus
Furcht vor platzenden Luftballons oder Tischbomben nehme
Stefanie keine Einladungen zu Kindergeburtstagen mehr an. Sie
vermeide es auch, andere Kinder zu besuchen, und bleibe am
liebsten zu Hause. An Silvester habe sie ihre Eltern überredet, an
einen Ort zu fahren, an dem keine Feuerwerk stattfindet.“
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Angststörungen
4. Klinik
Fallbeispiel soziale Phobie (aus: Schneider & Blatter, 2006, S. 532)
„Finn besucht seit zwei Monaten die 5. Klasse des Gymnasiums. Er
beteiligt sich kaum am Unterricht, obwohl seine schriftlichen
Leistungen sehr gut sind. Er fürchtet, dass seine Klassenkameraden
ihn bei einer falschen Antwort auslachen könnten. Wird er
aufgerufen, errötet er und beginnt zu stottern. Besonders stark
fürchtet er sich, wenn er vor der ganzen Klasse etwas vortragen
muss. Er reagiert dann bereits am Abend davor mit
Schweißausbrüchen und Übelkeit. In den Pausen steht er abseits
und beteiligt sich nicht am gemeinsamen Fußballspiel. Zu Hause
scheint er wie ausgewechselt und tollt ausgelassen mit seinem
jüngeren Bruder und seinem Kindergartenfreund aus der
Nachbarschaft herum.“
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Angststörungen
4. Klinik
Fallbeispiel generalisierte Angststörung
(aus: Schneider & Blatter, 2006, S. 532)
„Markus, 8 Jahre alt, sorgt sich in der Schule ständig darum, eine
Aufgabe nicht rechtzeitig zu Ende zu bringen oder vom Hausmeister
aus Versehen eingeschlossen zu werden. Er grübelt zu Hause über
vieles nach, zum Beispiel über seine Leistungen beim
Fußballtraining oder seine Freunde. Markus kommt wegen
unterschiedlichster Dinge in Stress, obwohl alles eigentlich gut läuft.
Er ist gut in der Schule und bei seinen Alterskameraden akzeptiert.
Abends braucht Markus vor lauter Sorge lange, bis er einschläft.
Außerdem bleibt das Licht im Flur brennen und die Tür zum
Kinderzimmer einen Spalt weit auf, weil Markus sich vor der
Dunkelheit fürchtet.“
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Angststörungen
5. Ätiologie und Pathogenese
Neurobiologische Befunde
Temperament und Behaviour Inhibition BI
Lerntheoretische Ansätze
Kognitives Modell von Kendall und Ronan
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Angststörungen
5. Ätiologie und Pathogenese
Biologische Befunde
Spezifische Phobie
Erhöhte Durchblutung einzelner Hirnbereiche in PET Untersuchungen bei Konfrontation mit dem phobischen Objekt
( z.B. rechter anteriorer cingulärer Kortex, linke Insula, rechter
anteriorer Temporallappen)
Überhöhte Aufmerksamkeitsreaktion, Potenzierung der
Schreckreaktion sowie starke vegetative Reaktionen gehen mit
der phobischen Angstreaktion einher
Noch keine Übereinstimmung der Befunde
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Angststörungen
5. Ätiologie und Pathogenese
Biologische Befunde
Soziale Phobie
Lanzenberger et al. (2005)
► Erhöhte Herzratenreaktion in der phobischen Situation
► 5-HT1A-Rezeptordichte:
Bei Panikstörung und Sozialer Phobie ist die 5-HT1A Rezeptordichte
in limbischen Strukuren wie dem Cingulum (Pfeil) reduziert.
Die Farbtabelle gibt quantitative Werte der Rezeptordichte an
(blaue Farbtöne bedeuten niedrige, rote Farbtöne hohe Rezeptorkonzentrationen).
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5. Ätiologie und Pathogenese
Temperament
„Tripartite Model of Mood and Anxiety
Disorders“
(Clark & Watson, 1991)
ANXIETY
high
physiological
overarousal
DEPRESSION
high
high
low
NE
PE
negative affectivity /
emotionality
positive affectivity /
emotionality
Angststörungen
5. Ätiologie und Pathogenese:
Temperament
Behavioral Inhibition BI:
Unbehagen gegenüber neuen Reizen sowie Vermeidungsverhalten
gegenüber zuvor unbekannten Stimuli sind ein früh messbares
Temperamentsmerkmal. Bereits Säuglinge im Alter von vier Monaten
unterscheiden sich darin signifikant voneinander.
(Kagan, Reznick & Snidman, 1988)
„Behavioral Inhibition is defined as the consistent tendency to show
marked behavioral restraint or fearfulness with unfamiliar people,
situations, or events“
(Kagan et al. 1988)
“the child’s initial behavioral reactions to unfamiliar people, objects, and
contexts, or challenging situations”
(Kagan et al. 1985, p. 53)
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5. Ätiologie und Pathogenese:
Temperament
BI und Psychopathologie:
„Behavioral Inhibition to the unfamiliar“
im 2.Lebensjahr ist ein nachgewiesener Prädiktor für
► soziale Phobie und
► affektive Störungen
im Verlauf der weiteren Lebensspanne.
- Protektiver Faktor gegenüber Störung des Sozialverhaltens
(Biedermann et al., 2001; Biedermann et al., 1993; Caspi et al., 1996; Hayward
et al., 1998; Hirshfeld et al., 1992; Hirshfeld-Becker et al., 2007, 2008; Kagan
& Snidman, 1991; Pine et al., 2009; Rosenbaum et al., 1992; Rubin et al.,
1997; Schwartz et al. 1999)
5. Ätiologie und
Pathogenese:
Temperament
BI und Psychopathologie:
► „Behavioral Inhibition to the unfamiliar“
ist verknüpft mit einem Risiko für spätere „major
depression“ und Panikstörungen
► Bei Vierjährigen, die von ihren Müttern oder Lehrer als
„scheu“ beschrieben wurden hatten die Mütter selbst
eine 11-fach erhöhte Prävalenz für „soziale Phobie“
►BI (Labormaß) ist erhöht bei Vorschulkindern von
Eltern mit Panikstörung
(Battaglia et al., 1997; Manassis et al., 1995; Rosenbaum et al.,
1988, 2000)
5. Ätiologie und
Pathogenese:
Temperament
BI und Psychopathologie:
► „Verbindung hoher BI-Score mit drei Jahren und
„major depression“ im jungen Erwachsenenalter
(Caspi et al., 1996)
► Soziale Phobie in der Adoleszenz erhöht das Risiko
für eine spätere „major depression“
► Retrospektiv berichtetes BI ist ein bedeutsamer
Prädiktor für die Fortentwicklung einer bestehenden
sozialen Phobie hin zu einer depressiven Störung
(Breesdo et al., 2007)
5. Ätiologie und Pathogenese: Temperament
Komplexes Risikofaktor-Modell für
(Asendorpf, 2003, S. 801Internalisierungsprobleme
nach Rubin et al., 1990)
5. Ätiologie und Pathogenese:
Temperament
Komplexes Risikofaktor-Modell für Internalisierungsprobleme
(Asendorpf, 2003, S. 801; nach Rubin et al., 1990)
► Bei Geburt niedrige Reizschwelle und geringe Anpassungsfähigkeit
► Im 9. Monat: Gehemmtheit in unbekannten Situationen
► In Wechselwirkung mit einem insensitiven, kühlen Erziehungsstil der
Mutter entwickelt das Kind Hemmungen unvertrauten Situationen
gegenüber und eine unsichere Bindung an die Mutter
► Die Mutter entwickelt einen autoritären oder permissiven Erziehungsstil
diesem Kind gegenüber
► Ab Eintritt Kindergarten: häufige Nichtbeachtung durch Gleichaltrige;
Erzieherinnen interpretieren Ängstlichkeit und Unreife
► Rückzugstendenzen als Folge
► Ab Schulklasse: Klassenkameraden vergleichen sich und andere in
ihrer Persönlichkeit
► Kind wird sich seiner Außenseiterstellung bewusst und sein Selbstwert
sinkt
► Ablehnung durch Klassenkameraden und sich selbst
Angststörungen
5. Ätiologie und Pathogenese
Lerntheoretische Ansätze: Zwei-Faktoren Theorie von Mowrer (1947)
1. Phase: Klassische Konditionierung
UCS ----------------> UCR (unkonditionierte Angstreaktion)
CS ----------------> CR (konditionierte Angstreaktion)
2. Phase: Operante Konditionierung
CS = S
---------------> CER (kond. emot. Reaktion)
R --------------> C(Vermeidungsreaktion)
( neg. Verstärkung/ Ausbleiben der
erwarteten aversiven Reaktion)
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Angststörungen
5. Ätiologie und Pathogenese
Lerntheoretische Ansätze
Modelllernen
Der Mensch kann sich auch komplexe Verhaltensweisen
durch Nachahmung sehr zeitökonomisch aneignen
Phobische Reaktionen können auch durch Beobachtung
und Nachahmung der Reaktion anderer auftreten
Beobachtung negativer Verhaltenskonsequenzen führt zur
Hemmung, Beobachtung positiver
Verhaltenskonsequenzen zur Enthemmung
„Preparedness“- Theorie (Seligman, 1979)
Menschen entwickeln nicht vor beliebigen Situationen Angst,
sondern selektiv vor Situationen, welche eine biologischevolutionäre Bedeutung für den Organismus besitzen.
42
Angststörungen
5. Ätiologie und Pathogenese
Kognitives Modell von Kendall & Ronan
konzentriert sich auf Erklärung der Aufrechterhaltung
von Angststörungen
Annahme: Kinder und Jugendliche mit Angststörungen
weisen kognitive Defizite und Verzerrungen auf
kognitive Defizite: fehlende angemessene kognitive
Fertigkeiten bzw. deren unzulängliche Anwendung
kognitive Verzerrungen: Informationsverarbeitungsprozesse,
die einseitig oder falsch sind
Folge: dysfunktionale und fehlangepasste
Verhaltensweisen
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Angststörungen
5. Ätiologie und Pathogenese
Überaktivierung von im Gedächtnis verankerten
Informationsnetzwerken führt dazu, dass auf bedrohliche
Informationen chronisch und unangemessen fokussiert wird
Folgen:
Kinder schätzen Gefahren höher ein
Kinder unterschätzen ihre Copingmöglichkeiten
Kinder unterschätzen ihre Kontrollmöglichkeiten bzgl. der Gefahr
Kinder berichten über mehr katastrophisierende Gedanken
Kinder weisen negative Selbstverbalisationen auf
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Angststörungen
6. Diagnostik
DISYPS-II
Diagnostiksystem für psychische Störungen nach IC-10 und DSM-IV
für Kinder und Jugendliche II
Drei Beurteilungsebenen:
1.Klinische Beurteilung: Diagnose-Checklisten DCL
2.Fremdbeurteilung (Eltern, Lehrer):
Fremdbeurteilungsbögen FBB
3.Selbstbeurteilung (11-18): Selbstbeurteilungsbogen
SBB für 4 Bereiche
Stanine-Normen
45
Angststörungen
6. Diagnostik
DISYPS-II
Aufmerksamkeitsdefizit- / Hyperaktivitätsstörung
Störungen des Sozialverhaltens
Angststörungen:
Emotionale Störung mit Trennungsängstlichkeit des KA
Soziale Phobie
Generalisierte Angststörung
Spezifische Phobie
Depressive Störungen
Zwangsstörungen
Tiefgreifende Entwicklungsstörungen
Tic-Störungen
Störungen sozialer Funktionen, d.h. Bindungsstörungen und
Mutismus
46
Angststörungen
6. Diagnostik
FEEL-KJ
Fragebogen zur Erhebung der Emotionsregulation bei
Kindern und Jugendlichen
Anwendungsbereich von 10;0 bis 19;11 Jahre
Individual- und Gruppentest
Erfasst eindimensional und emotionsspezifisch
Emotionsregulations-Strategien für die Emotionen:
• Angst
• Trauer
• Wut
Kennwerte geben Hinweise auf das Risiko für die
Entwicklung psychopathologischer Auffälligkeit
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Angststörungen
6. Diagnostik
FEEL-KJ
Erfassung adaptiver Strategien
problemorientiertes Handeln
Zerstreuung
Stimmung anheben
Akzeptieren
Vergessen
Umbewerten
Kognitives Problemlösen
Erfassung maladaptiver Strategien
Aufgeben
aggressives Verhalten
Rückzug
Selbstabwertung
Perseveration
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Angststörungen
6. Diagnostik
AFS
Angstfragebogen für Schüler
Einsatzbereich von 9 bis 16/17 Jahren
Einzel- und Gruppenverfahren
mehrfaktorieller Fragebogen, der die ängstlichen und unlustvollen
Erfahrungen von Schülern unter 3 Aspekten erfasst:
• Prüfungsangst (PA)
• allgemeine (manifeste) Angst (MA)
• Schulunlust (SU)
außerdem: Skala zur Erfassung der Tendenz von Schülern, sich
angepasst und sozial erwünscht darzustellen (SE)
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Angststörungen
6. Diagnostik
KAT-II
Kinder-Angst-Test II
Einsatzbereich von 9 bis 15 Jahren
Einzel- und Gruppentest
Form A: Erfassung des dispositionellen Ängstlichkeitsgrades
(TRAIT-Skala)
Zwei zusätzlich einsetzbare Angstzustandsskalen (STATE-Skalen):
Form P (Prospektiv): Selbsteinschätzung akuter
Erwartungsangst vor furchtbesetzten Ereignissen
(z.B. Klassenarbeiten oder Arztbesuche)
Form R (Retrospektiv): Selbsteinschätzung im
Anschluss an derartige Situationen, die tatsächlich
erlebten Angstreaktionen zu charakterisieren
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Angststörungen
6. Diagnostik
PHOKI
Phobiefragebogen für Kinder
Einsatzbereich von 8;0 bis 18;11 Jahren
Untersuchung phobischer Ängste
Deutschsprachige Überarbeitung des Fear Survey Schedule for Children –
Revised (FSSC-R)
Ängste vor verschiedenen Objekten und Situationen
Bearbeitungsdauer ca. 15 Minuten
7 Subskalen
Angst vor Gefahren und Tod
Trennungsängste
Soziale Ängste
Angst vor Bedrohlichem und Unheimlichem
Tierphobien
Angst vor medizinischen Eingriffen
Schul- und Leistungsängste
Zusammenfassung zu einer Gesamtskala
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Angststörungen
7. Therapie
Verhaltenstherapie
Psychoedukation
Konfrontation in vivo / in sensu
Systemat. Desensibilisierung (Entspannung, Angsthierarchie,
Darbietung einzelner Items unter Entspannung) vs. Reizüberflutung
(flooding)
In vivo bei Kindern unter 10, da nicht sicher ist, dass die Kinder sich die
aversive Situation auch vorstellen
Implosion: die ausschließlich vorstellungsmäßige Darbietung
gefürchteter Situationen
Soziales Kompetenztraining
Entspannungsverfahren
„Hausaufgaben“ (Generalisierung, Transfer)
Elterntraining
Rückfallprophylaxe
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Angststörungen
7. Therapie
Psychoedukation
normale vs. pathologische Angst
drei Komponenten der Angst
Körpersymptome
Gedanken
Verhalten
Was ist Angst (evolutionsgeschichtlich)
Vermittlung der Zwei-Faktoren-Theorie der Entstehung von
Angst nach Mowrer.
Habituationsrational
53
Angststörungen
7. Therapie
Habituationsrational
Angst
Zeit
54
Angststörungen
7. Therapie
Konfrontation in vivo / in sensu
Ziel: Abbau des Vermeidungsverhaltens
Angsthierarchie erstellen:
Rangordnung der gefürchteten Reize erstellen
Bsp. Angstthermometer
Konfrontation vorbereiten:
Zustimmung der Eltern und Kinder erforderlich
Vermittlung eines Erklärungsmodells für die Angstproblematik
Herausarbeiten des Vermeidungsverhaltens
zentral für die Aufrechterhaltung der Angst
Aufklärung über das therapeutische Vorgehen
55
Angststörungen
7. Therapie
Konfrontation in vivo / in sensu
Ziel: Abbau des Vermeidungsverhaltens
Konfrontation mit Angstsituation
Kinder unter 12 auf jeden Fall graduell,
ältere Kinder: massiertes Vorgehen ggf. möglich
Übung an individuelle Symptomatik anpassen
Genügend Zeit einplanen um eine Reduktion der Angst
erleben zu können
Ziel ist deutlicher Angstanstieg und – abfall in der Situation
Verstärkung für das Ertragen der Angst
Selbstkontrolle / Generalisierung
Alleiniges Aufsuchen phobischer Situationen
Evtl. Eltern als Kotherapeuten
Weiterhin Patient- Therapeut Kontakte um Probleme zu
besprechen
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Therapie mit dem
Sceno
FP
Angststörungen
7. Therapie
soziales Kompetenztraining
v.a. hilfreich bei sozial unsicheren Kindern / Kindern mit fehlenden sozialen
Kompetenzen
Rollenspiele zum Aufbau sozialer Fertigkeiten
Fähigkeit, nein zu sagen
Fähigkeit, Bitten, Wünsche und Forderungen zu äußern
Fähigkeit, positive und negative Gefühle zu äußern
Fähigkeit, Gespräche anzuknüpfen, sie fortzuführen und zu beenden
(Lazarus, 1973)
Einzel- und Gruppentraining
Entspannungsverfahren
Progressive Muskelentspannung
Autogenes Training
Wirksamkeit nicht durch Studien belegt, aber klinisch hilfreich, wenn
körperliche Symptome im Vordergrund stehen und im Rahmen der
systematischen Desensibilisierung
„Hausaufgaben“
z.B. Selbstbeobachtung, Konfrontationsübungen
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Angststörungen
7. Therapie
Kognitive Interventionen
Erkennen, Überprüfen und Verändern angstfördernder
Gedanken
„Gedanken sind Dinge, die durch den Kopf
gehen“
Zusammenhang Gedanken – Gefühle erarbeiten
Erarbeiten alternativer / funktionaler Gedanken, die die
dysfunktionalen Gedanken ersetzen sollen
Identifikation effektiver Bewältigungsstrategien
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Angststörungen
7. Therapie
Elterntraining
oft zeigen Eltern überbehütenden Erziehungsstil: Ziel ist Abbau
dieses Verhaltens
Eigenverantwortung des Kindes soll gestärkt werden
Erfassung eigener Ängste der Eltern und ggf. Überleitung in
Eigentherapie
Vermittlung lerntheoretischer Grundlagen zum Aufbau erwünschten
und Abbau unerwünschten Verhaltens
Bearbeitung dysfunktionaler Gedanken der Eltern in
Angstsituationen des Kindes
Kommunikations- und Problemlösetraining
Ängstliches Verhalten nicht durch zu starke Beachtung verstärken
Verstärken von Angst bewältigendem Verhalten
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Angststörungen
7. Therapie
Rückfallprophylaxe
Überprüfung, was Kind resp. Eltern von der Therapie
behalten haben / verstanden haben
Durchsprechen eines „Worst-Case-Szenarios“
darauf vorbereiten, dass Rückschläge möglich sind
Therapie langsam ausschleichen
Pharmakotherapie mit SSRIs:
Im Allgemeinen nicht, erforderlich nur in schweren
Fällen.
Benzodiazepine vermeiden
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Angststörungen
7. Therapie
Forschungsstand in Meta-Analysen
Chambless & Ollendick (2001):
Angststörungen: lediglich kognitive Verhaltenstherapie mit
und ohne Familienangstmanagement ist wahrscheinlich
wirksam
In-Albon & Schneider (2007):
Kinder, die DSM- oder ICD-Kriterien einer Angststörung erfüllten,
randomisierte Studien
ausschließlich kognitive VT
Behandlungsbedingung Posttest: 70.4% ohne primäre
Angstdiagnose
Wartekontrollgruppe Posttest: 14% ohne primäre
Angstdiagnose
Stabilität des Therapieerfolgs bis zu 7 Jahre nachgewiesen
(In-Albon, T. & Schneider, S. (2007). Psychotherapy of childhood anxiety disorders: A
meta-analysis. Psychotherapy and Psychosomatics, 76, 15-24)
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