Der Hype um die kranke Seele. - Psychologische Hochschule Berlin

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Ausgabe 5/12, 15. Jahrgang
PSYCHISCHE STÖRUNGEN
Der Hype um die
kranke Seele
Illustration: Oliver Weiss
K
Die Deutschen – ein Volk von
psychisch Kranken? Depression und Burnout – eine Epidemie des 21. Jahrhunderts? Für
solche Befunde besteht kein
Grund, ist Frank Jacobi überzeugt. Psychische Erkrankungen gehörten schon immer
zum Leben dazu – so wie körperliche auch. Sie werden heute nur öfter als solche wahrgenommen und diagnostiziert.
aum ein Monat vergeht, in
dem die Öffentlichkeit
nicht über die Zunahme
psychischer Störungen diskutiert. Dies ist vor allem darauf
zurückzuführen, dass die Krankenkassen seit Mitte der 1990er Jahren
einen Zuwachs psychischer Diagnosen verzeichnen. Darüber hinaus
verbreiten sich immer stärker Ergebnisse aus epidemiologischen und
gesundheitsökonomischen Bevölkerungsstudien, aus denen Umfang
und Kosten psychischer Störungen
hervorgehen. Diese Faktoren mögen auch dazu beigetragen
haben, dass die Europäische Kommission die Losung „Keine
Gesundheit ohne psychische Gesundheit“ ausgegeben hat. Ein
bio-psycho-soziales Verständnis von Gesundheit findet sich zwar
bereits seit rund 60 Jahren in der Verfassung der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Dort ist Gesundheit als ein „Zustand
des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens“ und nicht nur als das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen definiert. Richtig angekommen ist das Thema im öffentlichen Bewusstsein aber wohl erst in jüngerer Zeit.
Breites Spektrum an Leiden. Psychische Störungen umfassen ein
breites Spektrum an Leidenszuständen und sind meist eine extreme Ausprägung eines an sich normalen Erlebens wie Angst
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oder Traurigkeit. Psychische Störungen sind prinzipiell auch für NichtBetroffene nachvollziehbar – ein
Gleichsetzen mit „verrückt“ ist in der
Regel irreführend. Unter dem Begriff
psychische Störungen werden im
Folgenden die Diagnosen aus dem
Kapitel F der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten (ICD-10) verstanden, in dem
psychische und Verhaltensstörungen
aufgeführt sind. Dort sind alle Diagnosen hinsichtlich ihrer Merkmale
und Zusatzkriterien konkret beschrieben, so dass sie alle beteiligten Berufsgruppen verstehen.
Ein Beispiel: Jeder Mensch kennt Zeiten von Niedergeschlagenheit und Erschöpfung und hat sich irgendwann schon einmal
„depressiv“ gefühlt. Für die Diagnose einer Depression müssen
allerdings mehrere Kriterien gleichzeitig erfüllt sein, die beileibe
nicht auf jeden zutreffen. Außerdem muss eine deutliche Veränderung gegenüber dem Normalzustand einer Person erkennbar sein: Das ist dann der Fall, wenn der betroffene Patient
mindestens 14 Tage lang fast ununterbrochen unter einer gedrückten Stimmung und großer Antriebslosigkeit leidet. Zusätzlich gesellen sich drei weitere depressionstypische Symptome
hinzu. Diese betreffen sowohl körperliche Aspekte wie etwa die
Beeinträchtigung des Schlafes oder des Appetits als auch psychische Aspekte wie Gefühle von Wertlosigkeit oder wiederkeh-
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Früher war es Rücken­
schmerz – heute stellt
der Arzt korrekter­
weise eine psychische
Störung dahinter fest.
rende Gedanken an Suizid. Die genannten Symptome verursachen in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Einschränkungen bei den Betroffenen. Sie dürfen nicht mit einfacher Trauer
– ausgelöst beispielsweise durch den Verlust einer geliebten,
nahestehenden Person – oder durch einen medizinischen Krankheitsfaktor erklärbar sein. Zum Krankheitsbild Depression zählt
auch nicht, was Experten einer bipolaren Störung („manischdepressiv“) zuordnen.
Wahre Häufigkeit versus Inanspruchnahme. Solchen Kriterien
entsprechend, können psychische Störungen in Studien mit
diagnostischen Instrumenten wie strukturierten Interviewleitfäden abgefragt werden, um so die Häufigkeit (Prävalenz) über
einen bestimmten Zeitraum hinweg zu ermitteln. Übrigens ist
die Zuverlässigkeit (Reliabilität) solcher Diagnosestellung durchaus befriedigend und oftmals höher als bei manchen organischen
Befunden – obwohl hier in der Regel keine „objektiven“ Laborparameter vorhanden sind.
Wenn Gesundheitseinrichtungen oder Kostenträgern derartige Daten aber nicht in Feldstudien, sondern über vorhandene
Routinestatistiken erheben, dann ist zu beachten, dass in diesen
Fällen die Repräsentativität eingeschränkt ist: Nur ein gewisser
Teil derjenigen, die die Kriterien für eine psychische Störung
erfüllen, sucht aktiv eine Behandlung auf und setzt damit das
Behandlungsangebot auch adäquat um. Es gibt demzufolge
einen „Inanspruchnahme-Bias“, der nicht allein vom Schweregrad oder der klinischen Bedeutsamkeit des Falles, sondern auch
von anderen Faktoren abhängt. Hierzu zählt beispielsweise ein
aktives und informiertes Gesundheitsverhalten auf Patientenseite, das wiederum oft mit Alter, Bildung oder Geschlecht zusammenhängt. Ob Ärzte und Therapeuten Betroffene als psychisch krank erkennen und behandeln, ist auch von der individuellen lokalen Praxis des jeweiligen klinischen Alltags hinsichtlich Diagnostik, Indikationsstellung und Angebotssituation
abhängig. Daher sind wahre Häufigkeit – basierend auf Schätzungen aus Bevölkerungsstudien – und Inanspruchnahme beziehungsweise Versorgungsaspekte – basierend auf administrativen Statistiken – getrennt darzustellen.
Krankheitstage wegen Depression & Co. gestiegen. Die Entwick-
lung der Krankheitsstatistiken veranlasste die Kassen, gesonderte Schwerpunkt-Analysen anzustellen, die zur verstärkten
Würdigung psychischer Störungen beitragen. Es zeigte sich:
Krankschreibungen wegen psychischer Diagnosen nehmen
spätestens seit Mitte der 1990er Jahre zu – und zwar entgegen
dem allgemeinen Trend, wonach Arbeitsunfähigkeitstage (AUTage) in vielen anderen Krankheitsgruppen abnehmen. Auch
bei den Frühverrentungen stieg der Anteil der psychischen
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Störungen an – mittlerweile zählen sie zu den häufigsten Diagnosen. Die hohe Zahl der Fehltage am Arbeitsplatz aufgrund
psychischer Störungen beruht insbesondere auf einer hohen Zahl
an AU-Tagen pro AU-Fall – höhere Werte gibt es nur bei Krebserkrankungen. Und ein weiterer wichtiger Aspekt: Die Zahl der
AU-Tage ist bei den anderen Krankheitsarten durchschnittlich
um das Dreifache erhöht, wenn (zusätzlich) auch noch psychische
Störungen vorliegen.
Die Folge dieser Entwicklung ist: Psychische Störungen
rangieren bei den meisten Kostenträgern inzwischen mit Blick
auf die Anzahl der Fehltage am Arbeitsplatz gleich hinter Muskel- und Skeletterkrankungen sowie Verletzungen und Krankheiten des Atmungssystems auf dem vierten Platz – wobei in
Abhängigkeit von der Versichertenstruktur große Veränderungen zwischen den einzelnen Krankenkassen festzustellen sind:
AU-Tage wuchsen besonders stark in den Dienstleistungssektoren, die erhöhte Anforderungen an den Umgang mit den eigenen
Emotio­nen stellen. Außerdem finden sich deutlich erhöhte
Raten bei Menschen, die ohne Arbeit sind.
Befunde sind kein Artefakt. Es gibt jedoch einige Aspekte, die
als Ursache für eine vermehrte Krankschreibung andere Grün-
Fehltage wegen kranker Seele
100 %
5 %
90 %
95 %
80 %
7 %
88 %
70 %
√ Psychische Diagnosen
√ Andere Krankheitsarten
9 %
81 %
10 %
75 %
60 %
50 %
40 %
30 %
20 %
0 %
1995
2000
2005
2010
Entwicklung der Arbeitsunfähigkeitstage (AU-Tage) in Deutschland: Im
Zeitraum von 1995 (100 Prozent) bis 2010 (85 Prozent) hat es einen
leichten Rückgang der AU-Tage gegeben. Der Anteil psychischer Diagnosen ist im gleichen Zeitraum auf mindestens zehn Prozent gestiegen
– ein im Vergleich zu anderen Krankheiten, die Arbeitsunfähigkeit nach
sich ziehen, immer noch moderater Wert.
Quelle: F. Jacobi
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Körperlich und psychisch fit im Job
Arbeitschutz und Gesundheitsförderung stärker miteinander zu verzahnen–
das ist ein Anliegen der Demografiestrategie „Jedes Alter zählt“, die das
Bundeskabinett Ende April verabschiedet hat. Der Arbeitsschutz in den
Betrieben soll künftig so ausgerichtet sein, dass nicht nur technische,
sondern auch psychische Gefährdungen Berücksichtigung finden. Die
Krankenkassen sollen dafür gewonnen werden, gemeinsam mit den Unternehmen Gesundheitsprogramme zu entwickeln. Die AOK unterstützt mit
ihrem Service „Gesunde Unternehmen“ Betriebe bereits dabei, arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren zu identifizieren und abzubauen. Dazu hält die
Gesundheitskasse ein speziell auf die Betriebe zugeschnittenes Maßnahmenpaket bereit. Weitere Informationen zum Thema im Internet unter:
www.demografiestrategie.de; www.aok-bgf.de
de als eine „echte“ Zunahme psychischer Störungen vermuten
lassen. Dazu zählen die Ausdifferenzierung des Diagnosespektrums und der behandelnden Fachärzte, der Direktzugang zum
Psychotherapeuten in Folge des Psychotherapeutengesetzes aus
dem Jahr 1999, die verbesserte Wahrnehmung psychisch kranker Menschen durch Hausärzte und die vermehrte Akzeptanz
psychischer Probleme und Symptome auf Patientenseite, insbesondere bei jüngeren Männern. Dies bedeutet freilich nicht, dass
die vermehrte Diagnostik der letzten Zeit ein Artefakt ist, dass
also viele Fälle in den Statistiken eigentlich „gar nicht wirklich
krank“ sind. Es ist auch zu beachten, dass in der Praxis das
Phänomen des Überdiagnostizierens – im Sinne von Krankschreibung aufgrund einer psychischen Störung, obwohl die
diagnostischen und Schweregrad-Kriterien gar nicht erfüllt sind
– weit seltener ist als das des Unterdiagnostizierens – im Sinne
von Nicht-Erkennen und Nicht-Behandeln.
Verlagerung hin zu psychischen Diagnosen. Der Befund, dass sich
die AU-Tage bei den meisten Kassen aufgrund psychischer
Diagnosen seit Mitte der 1990er Jahre – entgegen einem allgemeinen Trend bei anderen Erkrankungsarten – nahezu verdoppelt haben, wird öffentlich gerne dramatisch hervorgehoben.
Indirekt wird eine Kostenexplosion, bedingt durch psychische
Störungen, beschworen. Bei genauerer Betrachtung der Zahlen
zeigt sich indes, dass die AU-Tage seit dem Jahr 1995 insgesamt
eher ein wenig zurückgegangen sind. Gleichwohl liegt der Anteil
psychischer Störungen aktuell bei zehn bis 15 Prozent, während
er vor knapp 20 Jahren bei fünf bis zehn Prozent lag (siehe Abbildung „Fehlzeiten wegen kranker Seele“ auf Seite xx). Ein Anteil
von zehn bis 15 Prozent ist – im Lichte der großen, in epidemiologischen Studien ermittelten Krankheitslasten betrachtet –
durchaus moderat. Es ließe sich auch so formulieren: Angesichts
des gesellschaftlichen Wandels, bedingt durch einen rasanten
Zuwachs an kommunikativen und emotional relevanten Aufgaben im Dienstleistungsbereich sowie ein immer stärkeres
Verschwimmen von Arbeit und Freizeit, sind wir heute nicht
kränker, sondern anders krank. Und wahrscheinlich hat auch
eine Verlagerung in Richtung psychischer Störungen als Diagnose derart stattgefunden, dass ein Teil der Betroffenen früher
auch krankgeschrieben worden wäre – nur eben nicht wegen
eines psychischen Leidens, sondern anders klassifiziert, das heißt
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beispielsweise mit dem Befund einer muskuloskelettalen Erkrankung. Psychische Störungen gehören quasi zum normalen Leben
dazu – ebenso wie körperliche Erkrankungen. Dies bedeutet aber
nicht, dass wir eine psychisch kranke Gesellschaft sind.
Jeder Dritte ist betroffen. Gleichwohl ist das Problem der psy-
chischen Erkrankungen nicht zu unterschätzen. So geht aus
repräsentativen epidemiologischen Studien hervor, dass etwa
jeder dritte bis vierte Erwachsene im Zeitraum eines Jahres
(mindestens) eine aktuelle Diagnose aus dem Bereich der psychischen und Verhaltensstörungen erhält. Das heißt, dass im
jeweils vergangenen Jahr die Kriterien für mindestens eine
psychische Störung zumindest zeitweise erfüllt waren. Das
Risiko, irgendwann im Laufe des Lebens von einer psychischen
Störung betroffen zu sein, wird auf rund 50 Prozent geschätzt.
Das bedeutet: Jeder Zweite leidet im Laufe seines Lebens mindestens einmal an einem psychischen Leiden. Die häufigsten
Störungsformen sind affektive Störungen – insbesondere Depression, somatoforme Störungen (Schmerzstörung), Substanzstörungen (Alkoholabhängigkeit) sowie verschiedene Formen
von Angststörungen. Psychotische Störungen wie Schizophrenie
und Essstörungen wie Anorexia oder Bulimia nervosa sind zwar
wenig häufige Störungsbilder. Sie gehen aber oft mit schwerwiegenden Konsequenzen und Chronizität einher (siehe Abbildung
„Depression, Phobie, Schmerz“: Häufigkeit einzelner psychischer
Diagnosen“ auf Seite xx).
Prävalenzzahlen zu hoch angesetzt? Die quantitative Bedeutung
psychischer Störungen ist mit über 15 Millionen Betroffener im
Alter von 18 bis 65 Jahren in Deutschland beziehungsweise mit
über 160 Millionen Betroffenen in der Europäischen Union –
bezogen auf die gesamte Lebensspanne, also nicht nur die 18- bis
65-Jährigen, – bemerkenswert und
nahezu doppelt so hoch wie in den
frühen 1980er Jahren. Angesichts
der berichteten hohen Prävalenzzahlen und dem geschätzten Lebenszeitrisiko von 50 Prozent stellt
sich die Frage, ob solche Schätzungen womöglich zu hoch angesetzt
sind. Frühere Studien und amtliche
Statistiken, die zu deutlich niedrigeren Häufigkeiten kamen, beschränkten sich zum einen auf eine
geringere diagnostische Breite –
beispielsweise nur schwere Psychosen sowie Depressionen, Alkoholabhängigkeit und Suizidhandlungen. Heute – nicht zuletzt im Zuge
der Weiterentwicklung moderner
Diagnosesysteme – ist das untersuchte Spektrum erheblich differenziert und ausgeweitet worden.
Außerdem betrachteten Statistiker
früher oft nur jene Fälle, die eine
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Depression, Phobie, Schmerz: Häufigkeit einzelner psychischer Diagnosen
Depression
Spezifische Phobien
Somatoforme Störungen
Alkoholabhängigkeit
Soziale Phobie
Panikstörungen
Generalisierte Angststörung
Agoraphobie (ohne Panik)
Bipolare Störungen
Psychotische Störungen
Zwangsstörungen
Drogenabhängigkeit
Essstörungen
12-Monatsprävalenz (%) 0
6,9 %
6,4 %
6,3 %
2,4 %
Im Zeitraum eines Jahres erkranken,
so aktuelle Studien, im Schnitt 6,9
Prozent aller Bürger in der Euro­
päischen Union an einer Depression
und durchschnittlich 6,4 Prozent an
spezifischen Formen der Phobie.
­Bipolare Störungen (Schizophrenie)
und Ess­störungen sind zwar weniger
häufig verbreitet – dafür aber in
­ihrer Behandlung ­langwieriger und
komplexer. Quelle: H.-U. Wittchen & F. Jacobi (2005)
2,3 %
1,8 %
1,7 %
1,3 %
0,9 %
0,8 %
0,7 %
0,5 %
0,4 %
1
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entsprechende Behandlung erhielten. Kritiker hoher Prävalenzschätzungen führen einerseits an, dass Berichte über die Häufigkeit psychischer Störungen lediglich der Pharmaindustrie nützten. Außerdem kann offenbar nicht sein, was nicht sein darf: Die
Prävalenzraten sind weitaus höher als das jeweilige Gesundheitssystem Patienten vertragen könnte. Oft schwingt der Unterton
mit: „Es kann doch nicht angehen, dass jeder Zweite im Laufe
seines Lebens an einer psychischen Störung leiden soll.“ Dem
lässt sich allerdings entgegengehalten, dass die 12-Monatsprävalenz irgendeiner körperlichen Erkrankung im Erwachsenenalter
bei über 60 Prozent liegt. Das heißt: 60 Prozent aller Erwachsenen erkranken im Laufe eines Jahres körperlich – von der Allergie über Bluthochdruck bis zur Krebserkrankung. Warum sollten
Gehirn und Nervensystem seltener betroffen sein als andere,
weniger komplexe Organbereiche? Im Übrigen ist bei körperlichen
Erkrankungen üblicherweise eine große Variabilität hinsichtlich
Schweregrad und Behandlungsbedarf zu verzeichnen, ohne dass
deswegen ihre festgestellte Häufigkeit angezweifelt wird.
auch meist im Zusammenhang mit psychischen Störungen
auftritt, insgesamt betrachtet immer noch ein relativ seltenes
Ereignis. Allerdings beginnen psychische Störungen in der
Regel früher als die meisten anderen Krankheitsarten und sind
nicht selten mit chronischen oder schwankenden Verläufen
sowie erheblichen Belastungen und Einschränkungen verbunden. Ferner bleiben psychische Störungen immer noch vergleichsweise häufig unerkannt und unbehandelt. Daher ist der Anteil
an YLD verglichen mit anderen Erkrankungen ausgesprochen
hoch: 42 Prozent aller aufgrund von Krankheiten mit Behinderungen beziehungsweise Einschränkungen verbrachten Lebensjahre sind mit psychischen Störungen assoziiert. Ferner ergaben
die Schätzungen der direkten und indirekten Kosten für psychische Störungen und neurologische Erkrankungen zusammen
den Betrag von 800 Milliarden Euro für die gesamte Europäische
Union – standardisiert auf das Jahr 2010. Dies ist mehr als bei
Herz-/Kreislauf-Erkrankungen, Krebs und Diabetes zusammen.
Kosten in Höhe von 800 Milliarden Euro. Die durch psychische
durch psychische Störungen gehen übrigens weit über die
Krankschreibungen hinaus. So heißt es etwa in Studien aus dem
Dienstleistungsbereich, dass bei nicht krankgeschriebenen depressiven Berufstätigen die reduzierte Arbeitsleistung pro Monat
mehreren Abwesenheitstagen entspricht. Und auch bei nicht
oder nur teilweise Erwerbstätigen ist eine Einschränkung bei
der Erfüllung von Rollenaufgaben ein entgangener Nutzen für
die Gesellschaft. Ferner kann – auch wenn dies wissenschaftlich
noch kaum untersucht ist – davon ausgegangen werden, dass
psychische Störungen mehr noch als andere Erkrankungen das
Risiko in sich tragen, dass Betroffene beruflich unter ihren
Möglichkeiten bleiben, weil sie etwa aufgrund sozialer Ängste
höhere Bildungsangebote oder bestimmte Karrierechancen nicht
wahrnehmen. Verglichen mit den hohen monetären und nicht-
Krankheiten ausgelöste Krankheitslast wird mittels Maßzahlen
berechnet, welche die WHO seit Ende der 1980er Jahre im
Rahmen der ersten „Burden of disease“-Studien entwickelt hat.
Ziel solcher Indikatoren ist der Vergleich verschiedener Krankheitsarten über Regionen hinweg – und zwar nicht nur anhand
von Säuglingssterblichkeit oder Lebenserwartung. Auch Aspekte wie verminderte Lebensqualität und Beeinträchtigung von
Rollenfunktionen sind als Krankheitslast einbezogen. Hierbei
schätzen Experten zum Beispiel bei den „Years lived with disability“ (YLD) die gesammelten Lebensjahre in der Bevölkerung,
die mit suboptimaler Gesundheit – also Beeinträchtigungen –
verbracht werden. Psychische Störungen führen zwar nur in
seltenen Fällen zum Tod. Zum Beispiel ist der Suizid, wenn er
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Seelischem Leid mehr Gewicht geben. Die indirekten Kosten
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monetären Kosten erscheint die Bedeutung, die psychischen
Störungen in unserem Gesundheitssystem zugebilligt wird, trotz
vermehrter Hinwendung immer noch nicht ausreichend zu sein.
Beispielsweise betragen die Ausgaben für Psychotherapie, die
laut Leitlinien eine erste Methode in der Behandlung psychischer
Leiden darstellt, nur knapp fünf Prozent aller ambulanten Gesundheitsausgaben. Und im Medizinstudium widmen sich
Curricula bis heute zu weit weniger als zehn Prozent dem Phänomen der psychischen Störungen und weiteren psychischen
Faktoren, die auch bei körperlichen Erkrankungen relevant sind.
Zunahme oder nicht? Falsche Frage! Hypothesen, dass psychische
Störungen real so dramatisch zugenommen haben, wie es die
Entwicklung der Kostenträger-Daten zunächst nahelegt, betreffen primär gesellschaftliche Veränderungen, insbesondere in der
Arbeitswelt. Und tatsächlich haben Risikofaktoren für psychische
Erkrankungen wie berufliche Leistungsorientierung, Gratifikationskrisen, mangelnde Bildungschancen oder Instabilität in
vielen Lebensbereichen zugenommen. Inwiefern solche Entwicklungen aber mit veränderten Raten psychischer Störungen
einhergehen, bleibt reine Spekulation – solange Experten die
entsprechenden Prävalenzen nicht in derselben Population mit
derselben Methodik in größeren Zeitabständen wiederholt
messen. In solchen wiederholten Bevölkerungsstudien, wie sie
in England, den Niederlanden oder den USA vorliegen, sind
allerdings im Abstand von zehn Jahren keine Zuwächse der
Prävalenz psychischer Störungen seit 1990 festzustellen. Auch
wenn psychische Störungen auf der Bevölkerungsebene nicht
zunehmen, gibt es allerdings bei feinerem Auflösungsgrad Subgruppen mit möglichen Steigerungsraten bei bestimmten Diagnosen. Dazu gehören etwa Depressionen und Hyperaktivitätsstörungen bei Kindern und Jugendlichen oder vermehrte psychische Störungen bei sozial benachteiligten Menschen.
Kein Jahrhundert der Depression. Vor dem Hintergrund der
gestiegenen Aufmerksamkeit – sowohl auf ärztlicher wie auch
auf Patientenseite – und der fehlenden Hinweise auf eine steigende Prävalenz lässt sich folgende Schlussfolgerung ziehen:
Psychische Störungen haben an Bedeutung gewonnen, ohne
dass dies einer realen allgemeinen Zunahme entspricht. Trotz
möglicher Zuwachsraten in bestimmten Subgruppen und trotz
durchaus noch vorhandener Wissenslücken macht deshalb es
keinen Sinn, bei psychischen und Verhaltensstörungen von einer
„Epidemie des 21. Jahrhunderts“ oder einem „Age of Depression“ zu sprechen. Ganz andere Aspekte als diese Epidemie-Hypothese sind heute tatsächlich von Belang. Zu nennen ist hier
insbesondere das Problem, dass die Versorgung bei psychischen
Störungen – trotz relativ guter Rahmenbedingungen in Deutschland – nicht optimal ist. Im Rahmen der Zunahme-Debatte
sollten übrigens auch andere Indikatoren psychischer Gesundheit in der Bevölkerung nicht aus dem Auge verloren werden:
Suizidraten sinken in den zurückliegenden Dekaden kontinuierlich, Alkohol- und Nikotinkonsum haben im Schnitt ebenfalls
abgenommen und die gemessene gesamtgesellschaftliche Lebensqualität verläuft erstaunlich unabhängig von gesellschaftlicher Wohlfahrt weitgehend gleich.
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Keine Gesundheit ohne psychische Gesundheit. Auswirkungen
gesellschaftlicher Trends sollten also nicht dramatisiert werden.
Gewiss verändern sich Befindlichkeiten. Stressfaktoren und
Unsicherheiten befinden sich stets im Wandel. Gleichzeitig
finden aber auch Anpassungsprozesse statt, neue Schutzfaktoren
in der Allgemeinbevölkerung greifen ebenfalls. Ferner sollte
nicht unberücksichtigt bleiben, dass sich die Arbeitsbedingungen in den vergangenen Jahrzehnten nicht nur verschlechtert,
sondern an vielen Stellen – nicht zuletzt durch Umsetzung arbeitspsychologischer Erkenntnisse – auch verbessert haben. In
einer Meta-Analyse wurde die nicht gefundene Schwankung
der Bevölkerungsprävalenz psychischer Störungen über die Zeit
hinweg so kommentiert: Jede Zeit hat ihre vulnerablen Individuen, die auf Stressoren mit psychischen Störungen – erkannt
oder unerkannt – reagieren. Angesichts der großen Relevanz
psychischer Störungen ist die ständige Frage, ob es nun eine
„echte“ Zunahme gibt, im Grunde falsch. Richtig und wichtig
ist dagegen die Botschaft: „Keine Gesundheit ohne psychische
Gesundheit“. Sie muss nicht durch drastische Überzeichnungen
aufgrund einer gefühlten Zunahme psychischer Störungen
gestärkt werden. Angesichts der heutigen Größenordnung ist
auch ohne Zunahme Handlungsbedarf angezeigt.
Anders krank als früher. Es gibt letztlich gute Argumente dafür,
dass eine vermehrte Investition in psychotherapeutische und
andere verhaltensbezogene Maßnahmen wie zum Beispiel bessere Anreize für Gespräche und verhaltensorientierte Interventionen im hausärztlichen Bereich dem „wahren Bedarf“ entgegenkommt. Wenn sich die erwähnten Zuwächse bei Krankenstand und Behandlung psychischer Störungen fortsetzen, dann
wäre dies eher als Aufholen an den wahren Erkenntnisstand
denn als Psychiatrisierung normaler Probleme zu werten. Wie
bereits eingangs hinsichtlich der gestiegenen Krankheitszahlen
aufgrund psychischer Diagnosen formuliert: Wir sind heute
einfach anders krank als früher. Und wir können es uns angesichts unseres relativen Wohlstandes und der großen Fortschritte in der Medizin mittlerweile eher leisten, den bereits seit dem
Jahre 1946 proklamierten psycho-sozialen Gesundheitsbegriff
der WHO ernstzunehmen und dem psycho-sozialen Teil ein
höheres Gewicht zu geben. √
Professor Dr. Frank Jacobi ist Diplom-Psychologe und lehrt an der
­Psychologischen Hochschule Berlin und an der Technischen Universität
­Dresden im Fach Klinische Psychologie. ­Kontakt: [email protected]
Lese- und Webtipps
· w ww.aok-bgf.de > Umfangreiche Informationen zur Betrieblichen Gesundheitsförerung und zum AOK-Service „Gesunde Unternehmen“.
· Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland des Robert KochInstituts: www.rki.de > Gesundheitsmonitoring > Forschungsprojekte >
Nicht übertragbare Krankheiten > DEGS-Zusatzuntersuchung „Psychische Gesundheit“
· Size, burden and cost of disorders of the brain in Europe:
www.psychologie.tu-dresden.de/i2/klinische/sizeandburden.html
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