Dissoziative Phanomene – Erkennen – Verstehen - Begleiten Mag. Ingrid Spalt Oktober 2017 Vorwort Es scheint so selbstverständlich, dass wir unseren Körper, unsere Gedanken und Gefühle als Teil von uns empfinden. Dass wir die eigene Person als getrennt von der Umwelt wahrnehmen; dass wir zwischen Vergangenheit und Gegenwart unterscheiden. „Was, wenn sich diese Gewissheiten auflösen? Wenn Vertrautes fremd und bedrohlich wirkt, ich mich selbst und die Welt als fremd und unwirklich erlebe? Ich meinen Körper nicht spüre und mich nicht mehr bewegen kann? Solche Phänomene kennzeichnen dissoziative Zustände, in denen das natürliche Empfinden von mir selbst als eine Person, die Grenzen zwischen Ich und Umwelt, zwischen gestern und heute verschwimmen. In einer extrem bedrohlichen Situation spaltet sich das beobachtende Ich vom handelnden Ich ab und der Körper reagiert wie per Autopilot. An sich stellt diese Abspaltung eine effektive Rettungsmaßnahme dar, die in dem Moment der extremen Gefahr störende Emotionen wie Angst oder Panik ausschaltet. Obwohl diese natürliche Notfallmaße grundsätzlich nur für eine kurze Dauer angelegt ist, bleiben aber manche Menschen in diesem Zustand hängen und erleben diese Momente immer und immer wieder“ (Gelitz, 2017, S.3). Das Verständnis dieser Phänomene hilft dabei, das Leiden zu lindern, weil es für die Betroffenen bereits eine große Erleichterung ist, dass es für ihr beängstigendes Erleben eine Erklärung gibt. Diese Erklärung und insbesondere auch den Umgang mit diesem Phänomen, habe ich versucht auf den nun folgenden Seiten kurz und knapp für Sie zusammenzufassen. Bitte beachten Sie diese Zusammenfassung keinesfalls als vollständig. Auch ist es nicht möglich alle unterschiedlichen Erklärungen, Standpunkte und Fachmeinungen zu den verschiedenen Bereichen darzustellen, dazu ist das Phänomen der Dissoziation zu schwer zu fassen. Mein Ziel war vor allem, Ihnen etwas in die Hand zu geben, mit dem Sie hoffentlich die Symptome der Dissoziation besser einordnen können und im besten Fall auch den von Ihnen begleiteten Menschen die Unterstützung geben können, die sie brauchen. Ingrid Spalt 1 INHALTSVERZEICHNIS Seite 1. Einleitung ............................................................................................................... 3 2. Dissoziation – ein Begriffsspektrum ................................................................... 4 2.1 Die traumatische Zange ................................................................................. 5 2.2 Was passiert im Körper? ............................................................................... 6 2.3 Dissoziative Störungsbilder............................................................................. 8 2.4 Dissoziation der Persönlichkeitsstruktur ......................................................... 9 2.4.1 Das Kontinuum der Dissoziation ......................................................... 9 2.4.2 Die Ego – State – Theorie ................................................................. 10 2.4.3 Die Theorie der Strukturellen Dissoziation ........................................ 10 3. Stabilisierung und praktische Hilfestellung bei dissoziativen Zuständen .... 12 3.1 Wie zeigen sich dissoziative Zustände? ...................................................... 12 3.2 Was tun bei dissoziativen Zuständen? ........................................................ 14 4. Therapeutische Interventionen, die im pädagogischen Alltag Anwendung finden können ............................................................................... 15 4.1 Trigger erkennen und damit umgehen ......................................................... 15 4.2 Gefühle und inneres Erleben annehmen ...................................................... 16 4.3 Achtsamkeit – Awareness ............................................................................ 17 4.4 Stress reduzieren – Stressregulation erlernen ............................................. 17 4.5 Ego – State – Therapie und Teilearbeit ........................................................ 20 5. Zusammenfassung ............................................................................................ 21 6. Literaturverzeichnis ........................................................................................... 22 Abbildungsverzeichnis .................................................................................................. 24 Anhang 1: Die 5-4-3-2-1-Übung Anhang 2: Achtsamkeitsübungen 2 1. Einleitung Trauma – ein Begriff, der bis in die Ausläufer des letzten (20.) Jahrhunderts noch kaum verwendet wurde und in seiner Bedeutung und Konsequenz eher unbeachtet war, ist mittlerweile nicht nur in der Wissenschaft sondern auch in der Gesellschaft angekommen. Es war und ist in der Geschichte der Menschheit unumstritten, dass körperliche Verletzungen oft zu bleibenden Schäden führen. Die Frage nach den bleibenden Folgen seelischer Verletzungen, z.B. bedingt durch körperliche und sexuelle Gewalt, Vernachlässigung und Hunger u.a. stellt man sich erst seit kurzer Zeit. In der Fachliteratur spricht man davon, dass etwa 70 % der Kinder und Jugendlichen in Einrichtungen traumatische Erfahrungen gemacht haben, ein Teil davon mehrfach. Das heißt, ein Großteil jener Menschen, die in „unseren“ Einrichtungen betreut werden, ist von Traumatisierung betroffen. Und zwar nicht nur in Einrichtungen der Kinder – und Jugendhilfe, sondern auch in Einrichtungen des Chancengleichheitsgesetzes. Die Auswirkungen erlebter Traumata stellen uns bereits im Kindes- und Jugendalter vor oft große Herausforderungen. Hensel (2014, S.34) weist darauf hin, dass „komplextraumatisierten Kindern und Jugendlichen durch Psychotherapie nicht geholfen werden kann, wenn nicht der Alltag durch Bezugspersonen begleitet wird, die eine spezifische Expertise im Umgang mit diesen Kindern haben.“ Dieses spezifische Fachwissen ist notwendig, weil die Beeinträchtigungen durch traumatische Erfahrungen wirken; das erlebte Trauma ist fester Bestandteil der Lebensgeschichte eines Menschen. „Es beeinflusst Identität und Verhalten und reinszeniert sich in alltäglichen Kontexten, so dass eine Begegnung unvermeidlich ist“ (Schwerath, Friedrich, 2012, S. 117 f.). Oft zeigt es sich im Alltag zum Beispiel in Form von dissoziativen Symptomen. Viele Betroffene wissen nicht (ausreichend) Bescheid über das Phänomen der Dissoziation. Auch ihre Umgebung, ihre Angehörigen oder Betreuer/innen sind häufig überfordert, wenn Kinder, Jugendliche oder Erwachsene plötzlich völlig abwesend wirken, Gedächtnislücken haben, erstarren, orientierungslos sind oder sogar (dissoziative) Krampfanfälle haben. 3 Wesentliches Ziel dieser Ausführungen ist, Erkenntnisse der Psychotherapie in den Alltag zu transferieren, sodass auch „Nicht-Therapeuten“ in der Begleitung komplex traumatisierter Menschen im Alltag handlungsfähig bleiben. Aufgrund der verschiedenen Verwendungen des Begriffs „Dissoziation“ wird einleitend versucht einen Überblick über die vielfältigen Erscheinungsformen zu geben. Im Hauptteil geht es darum, wie Menschen mit dissoziativen Symptomen gut begleitet werden können. Dies bezieht sich insbesondere auf die Unterstützung in der akuten Situation, d. h. in dem Moment, wo die Dissoziation auftritt. Darüber hinaus werden abschließend noch einige (grundsätzlich) therapeutische Interventionen erläutert, die im pädagogischen Alltag Anwendung finden können. Ein Hinweis: Die im Text abwechselnd gewählte männliche bzw. weibliche Form steht jeweils pars pro toto, wechselt je nach Kontext und stellt keine Bewertung des jeweils anderen Geschlechts dar. 2. Dissoziation – ein Begriffsspektrum Der Begriff „Dissoziation“ wurde vom französischen Psychiater Pierre Janet (1859 – 1947) eingeführt. Er bezeichnete damit die „Desintegration und Fragmentierung des Bewusstseins“ infolge traumatisierender Erfahrungen. Heute existieren viele unterschiedliche Definitionen. Einleitend wird der Versuch unternommen, einen Überblick über die verschiedenen Definitionen bzw. Erscheinungsformen von Dissoziation zu geben, denn nach van der Hart, Nijenhuis & Steele (2008) ist für ein befriedigendes Verständnis von Traumatisierung ein befriedigendes Verständnis von Dissoziation grundlegend. Der Begriff kommt aus dem Lateinischen und bedeutet so viel wie „trennen, scheiden“. „Im Zusammenhang mit menschlicher Wahrnehmung bezeichnet Dissoziation das teilweise bis vollständige Auseinanderfallen von normalerweise zusammenhängenden Funktionen der Wahrnehmung, des Bewusstseins, des Gedächtnisses, der Identität und der Motorik“ (Wikipedia). Dissoziation kann somit auch als das Gegenteil von Assoziation verstanden werden. Der Begriff wird auch für bestimmte Symptome verwendet, für eine bewusste oder unbewusste mentale Aktivität, für einen Prozess während eines traumatischen 4 Erlebnisses, einen Abwehrmechanismus usw. Van der Hart et al. (2008) gehen davon aus, dass es bei chronischer Traumatisierung zu einer Dissoziation - einer Spaltung der Persönlichkeitsstruktur - kommt. Sie bezeichnen dies als Strukturelle Dissoziation. Michaela Huber (2013, S.7) vergleicht diese Spaltung der Persönlichkeitsstruktur mit dem „Zerspringen eines Spiegels“. Der Spiegel zerspringt aber nicht rein zufällig, sondern an bestimmten entwicklungsgeschichtlich vorbelasteten Sollbruchstellen in der Persönlichkeitsstruktur. Es existiert aber auch die Sichtweise, dass Dissoziation als natürliche Fähigkeit des Menschen angelegt ist, um in massiven Belastungssituationen die Psyche zu schützen. Auch im Alltag dissoziieren Menschen immer wieder, um Reizüberflutungen zu verhindern. Dies äußert sich oft in Zerstreutheit oder indem Routinehandlungen oder –wege nicht mehr bewusst wahrgenommen werden. Besonders gut können Kinder dissoziieren, was vermutlich zur inneren Verarbeitung von Erfahrungen nötig ist (Trauma Beratung Leipzig, 2016). 2.1 Die traumatische Zange Der pathologischen Form der Dissoziation liegt in der Regel ein traumatisches Ereignis zu Grunde. Zu dieser Form der Dissoziation kommt es dann, wenn bei einem subjektiv als (lebens)bedrohlich empfundenen Ereignis weder Kampf (Fight) noch Flucht (Flight) möglich sind. Michaela Huber spricht in diesem Zusammenhang von der traumatischen Zange. Abbildung 1 (Traumatische Zange, Ellen Spangenberg, zitiert nach Stegk, 2017) 5 Sind in der entsprechenden Situation Flucht oder Kampf möglich, wird das Ereignis möglicherweise als stark belastend, wahrscheinlich aber nicht als Trauma abgespeichert. „Der entscheidende Abwehrmechanismus des Gehirns im Moment der Traumatisierung ist die Dissoziation“ (Huber, 2013, S.7). Dissoziation kann somit als Versuch verstanden werden, den Menschen in traumatischen Situationen vor körperlichen und/oder Wahrnehmung seelischen dem Qualen Bewusstsein dadurch nicht zu schützen, dass zugänglich die ist. Das Rückzugssystem (die Flucht nach innen) wird aktiviert und ist verbunden mit Gefühlen von Ohnmacht, Hilflosigkeit und Kontrollverlust. Die Eindrücke und Wahrnehmungen werden fragmentarisch gespeichert, es entsteht ein zersplittertes Bild der traumatischen Situation. 2.2 Was passiert im Körper? Was es für ein Kind bedeutet, chronisch traumatischen Ereignissen ausgesetzt zu sein, weder flüchten noch kämpfen zu können, beschreibt Jochen Peichl (2014) in seinem Verlaufsmodell traumatischer Entwicklung in der frühen Kindheit. Nach diesem Modell besteht die psychobiologische Antwort auf fortgesetzte Traumatisierung aus zwei adaptiven Reaktionsmustern: Der Übererregung und der Dissoziation. Phase 1 - Übererregung Bei plötzlicher, drohender Gefahr breitet sich Alarm im Körper aus und es kommt zu einer Aktivierung des sympathischen Nervensystems. Die Folgen dieser Aktivierung sind eine vermehrte Ausschüttung von Stresshormonen verbunden mit einer Steigerung der Herzfrequenz, des Blutdrucks, der Atmung, des Muskeltonus; die Aufmerksamkeit erhöht sich und ist nach außen gerichtet. Ist der Kampf aussichtslos, wird die Gefahr als unkontrollierbar erlebt (und kommt auch keine Bindungsperson zu Hilfe), gelangt die Furcht bis zum Höhepunkt. Dieser wird von einer körperlichmuskulären Unbeweglichkeit begleitet. Man „erstarrt“ wörtlich vor Angst. Phase 2 – Dissoziation Zu dissoziativen Symptomen kommt es, wenn auf die Furchterstarrung während der Gefahr eine Erschlaffung des Körpers erfolgt. Diese geht einher mit einer massiven Aktivierung des Parasympathikus (Nervus Vagus). Die Gefahr im Außenraum wird 6 ausgeblendet, die Aufmerksamkeit richtet sich nach innen - mittels Dissoziation und Abspaltung. Dieser Zustand ist ein hypometabolischer Regulationsprozess, der immer dann im Leben eingesetzt wird, wenn Immobilität, Drosselung des Energieverbrauchs und ein Sich Weg-ducken eine letzte geringe Chance auf Überleben bieten. „Die letzte Form defensiver Strategie vor der endgültigen Kapitulation, der Ohnmacht“ (Peichl, 2014, S.46). In diesem Zustand der Unterwerfung werden endogene Opiate ausgeschüttet. Diese sorgen für eine schmerzreduzierende Analgesie, Bewegungsund Sprachlosigkeit. „Sobald ein Mensch in das Dissoziationskontinuum eingetreten ist, verstummt er durch Stimmbandlähmung“ (a.a.O.). Blutdruck und Puls sinken trotz hoher zirkulierender Dosen von Adrenalin und Noradrenalin im Blut. Diese akute und wirkungsvolle Notfallreaktion kann zwar das Überleben sichern, Schmerz, Angst und Ohnmacht reduzieren, hat aber – bei fortgesetzter Traumatisierung - verheerende Folgen für die mittel- und langfristige Persönlichkeitsentwicklung. Schauer & Elbert (2010, S.111) sprechen in diesem Zusammenhang von einer defensiven Kaskade und stellen diesen Prozess folgendermaßen dar: Abbildung 2: Defensive Kaskade 7 2.3 Dissoziative Störungsbilder Dissoziative Abspaltung von Gedächtnisinhalten bedient sich der oben beschriebenen neurophysiologisch festgelegten Muster. Insbesondere nach komplexen Traumatisierungen über längere Zeit verselbständigen sich diese und werden zu generellen Konfliktlösungsmustern, quasi „zur Gewohnheit“ (Sachsse, 2012, S. 71) auch im späteren Leben. Dissoziative Symptome, insbesondere Depersonalisation im Sinne von „neben sich stehen“, „sich nicht im Kontakt mit sich fühlen“, treten bei vielen psychischen Erkrankungen Posttraumatischen auf, z.B. bei Belastungsstörungen, akuten Belastungsreaktionen, Borderline-Persönlichkeitsstörungen, Angststörungen, Depressionen etc. Sie können aber auch den Schweregrad einer eigenständigen Störung haben. Vor allem solche relativ eindeutig beschreibbaren psychischen und somatoformen Phänomene haben als Diagnosekriterien unter F44 in den ICD-10 – Katalog Eingang gefunden: - Der Betroffene hat einen teilweisen oder völligen Verlust der normalen Integration von Erinnerungen an die Identitätsbewusstseins Vergangenheit (dissoziative (dissoziative Identitätsstörung Amnesie), oder des multiple Persönlichkeitsstörung, dissoziative Fugue), der unmittelbaren Empfindungen (dissoziative Störungen der Bewegung und der Sinnesempfindung) und der Kontrolle von Körperbewegungen (dissoziativer Stupor und dissoziative Krampfanfälle). - Es besteht ein zeitlicher Zusammenhang zwischen den dissoziativen Symptomen und den belastenden Ereignissen, Problemen oder Bedürfnissen. - Kein nachgewiesenes Vorliegen einer körperlichen Krankheit, welche die charakteristischen Symptome erklären könnte. Die schwerste dieser Störungen ist die Dissoziative Identitätsstörung (DIS), die sich sowohl im ICD-10 als auch im DSM-V (dominierendes psychiatrisches Klassifikationssystem der USA) findet. Dabei tritt die Person zu verschiedenen Zeiten als jeweils unterschiedliche Persönlichkeit auf. Im DSM V findet sich zusätzlich die nicht näher bezeichnete dissoziative Störung (NNBDS, engl. DDNOS). Diese Kategorie ist ein Sammelbegriff für Menschen, deren Symptome der DIS ähneln, aber weniger stark ausgeprägt sind. 8 2.4 Dissoziation der Persönlichkeitsstruktur Schwere Kindheit, dissoziative Störungen entwickeln sich normalerweise bereits in der insbesondere bei chronischer Traumatisierung. Dadurch wird die Entwicklung der kindlichen Persönlichkeit und des kindlichen Selbstgefühls massiv beeinträchtigt. Die folgenden Theorien versuchen die Dissoziation der Persönlichkeitsstruktur zu erklären. 2.4.1 Das Kontinuum der Dissoziation John und Helen Watkins (2003) beschreiben den Vorgang der Dissoziation als Kontinuum, das sich je nach Stärke, Intensität und Chronifizierung der Traumatisierung wie in der folgenden Übersicht abgebildet steigern kann. Abbildung 3: Kontinuum der Dissoziation und diagnostische Zuordnung (zitiert nach Peichl, 2007, S.10) Das Kontinuum beginnt links mit der „normalen Dissoziation“ (gedankliche Absorption, Tagträume). Die Dissoziation schreitet von links nach rechts immer weiter voran, d.h. immer mehr psychisches Material wird abgespalten bis es zur Herausbildung von EgoStates (siehe 2.4.2) und dann zur schwersten Form der Dissoziation zur dissoziativen Identitätsstörung (DIS) kommt. 9 2.4.2 Die Ego – State –Theorie Die Ego-State-Theorie der Watkins (2003) basiert auf dem oben genannten Kontinuitätsmodell. Ein Ego-State ist ein Ich-Zustand, der definiert werden kann als ein organisiertes Verhaltens- und Erfahrungssystem, dessen Elemente durch ein gemeinsames Prinzip zusammengehalten werden und das von anderen IchZuständen durch eine mehr oder weniger durchlässige Grenze getrennt ist. Die Herausbildung der Grenzen zwischen den Ego-States geschieht nach Watkins auf dem Boden von Dissoziationsphänomenen und nimmt mit der Stärke traumatischer Erfahrungen von links nach rechts zu. Je weiter die Dissoziation fortschreitet, desto weniger Kenntnis haben die einzelnen Persönlichkeitsanteile voneinander. Auch das Auftreten von abgrenzbaren inneren Anteilen bei nicht traumatisierten Menschen (innere Differenzierung) wird von Watkins mit der Dissoziationstheorie erklärt. Abbildung 4: Ego – States (Watkins 2003, zitiert nach Peichl 2012, S.125) Van der Hart et al. (2013) haben hier einen etwas anderen Zugang. Für sie zählen die normalen Bewusstseinsveränderungen, die in der Regel nicht mit einer strukturellen Veränderung der Persönlichkeit verbunden sind, nicht zu den Dissoziationen. 2.4.3 Theorie der Strukturellen Dissoziation Die derzeit wohl aktuellste und umfassendste Theorie zur Dissoziation der Persönlichkeit stammt von Onno van der Hart, Ellert R.S. Nijenhuis und Kathy Steele. Van der Hart et al. (2008) gehen davon aus, dass bei allen traumabezogenen Störungen die Strukturelle Dissoziation eine gewisse Rolle spielt. 10 Bei der Strukturellen Dissoziation existieren verschiedene Subsysteme der Persönlichkeit getrennt voneinander. Die einfachste, grundlegende Form ist die Primäre Strukturelle Dissoziation. Dabei kommt es zu einer Aufspaltung in zwei Persönlichkeitsanteile: Den ANP (= anscheinend normalen Persönlichkeitsanteil) und den EP (emotionalen Persönlichkeitsanteil). Der ANP ist vor allem dadurch gekennzeichnet, dass er keine Erinnerungen an die Traumatisierungen hat (Amnesie) und nur in beschränktem Ausmaß über ausdifferenzierte Empfindungen verfügt. Er bemüht sich ein normales Alltagsleben zu führen (Alltags-Ich) und zu funktionieren, was ihm oft auch über viele Jahre gelingt. In dieser Zeit „schläft“ der EP und bleibt somit verborgen. Der ANP darf aber nicht als gesunder Anteil missverstanden werden, es handelt sich dabei um ein spezielles Überlebensmuster mit sehr eingeschränktem Handlungsspielraum, meist ohne authentische Spontaneität und Lebensfreude. Der Alltag wird oft als durchgängig anstrengend erlebt. Der EP ist Träger von traumatischen Erinnerungen und Empfindungen und auf das Handlungssystem fixiert, das zur Zeit der Traumatisierung aktiviert war. Der Zugang zu realitätsgerechteren Erfahrungen ist bei dominanten EP oft versperrt. Diagnostiziert wird bei Betroffenen oft eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), auch Angst- und Zwangsstörungen, sowie Depressionen und Bindungsstörungen sind typische Diagnosen (Trauma Beratung Leipzig, 2016). Kommt es im Laufe des Lebens zu polytraumatischen Erfahrungen, bleibt es nicht bei dieser grundlegenden Form einer Strukturellen Dissoziation. Bei der Sekundären Strukturellen Dissoziation differenziert (fragmentiert) sich der EP zu unterschiedlichen Empfindungs- und Verhaltensmustern, die in bestimmten Situationen aktiv /dominant werden. „Zum Beispiel wird ein EP rasch wütend, ein anderer erstarrt bei kleinsten Gefahren und ein dritter sucht unablässig nach Schutz, etc.“ (van der Hart et al., 2008, S. 80 – 94). Die Sekundäre Strukturelle Dissoziation findet sich vorrangig bei Betroffenen mit Komplexer Posttraumatischer Belastungsstörung und Borderline-Syndrom. Bei der Tertiären Strukturellen Dissoziation kommt es schließlich auch noch zu Spaltungen des ANP. Die voll abgespaltenen Selbst-Zustände wissen oft nichts voneinander und wechseln auf innere und äußere Trigger-Reize hin unkontrolliert. Dadurch kommt es zu einer krassen Diskontinuität im Zeiterleben, Amnesien mit 11 Zeitverlusten Die im Alltag, nicht Persönlichkeit des Betroffenen erinnerbarem Verhalten, usw. besteht ausschließlich aus dissoziativen Persönlichkeitsanteilen, dies entspricht der Dissoziativen Identitätsstörung (DIS). Bei Menschen mit nicht näher bezeichneter dissoziativer Störung (NNBDS) dominiert ein Persönlichkeitsanteil, bei Menschen mit dissoziativer Identitätsstörung (DIS) ist mehr als nur ein Anteil in der Welt aktiv. In Extremfällen nehmen die im Alltagsleben aktiven Teile einander nicht wahr. Häufiger kommt aber eine gewisse wechselseitige Anerkennung der Persönlichkeitsanteile vor. Oft stehen die verschiedenen Anteile im Konflikt miteinander, jene die im Alltag funktionieren, reagieren phobisch auf jene, die in der „Traumazeit“ stecken geblieben sind. Die meisten dissoziierten Persönlichkeitsanteile üben keine vollständige Kontrolle aus, sondern beeinflussen das Erleben von innen, werden als innere Präsenz wahrgenommen. Den Wechsel von einem Persönlichkeitsanteil in einen anderen bezeichnet man als „switchen“. Dabei handelt es sich um einen Vorgang, der sich unwillkürlich vollzieht. Wenn ein Switchen erlebt wird, kann es passieren, dass das Gefühl für die Zeit und für die Kontrolle über sich selbst verloren geht. Manche haben dann das Gefühl sie schauen sich lediglich von außen zu und können ihr Verhalten nicht steuern. 3. Stabilisierung und praktische Hilfestellungen bei dissoziativen Zuständen Dissoziative Phänomene kommen wie bereits erläutert bei früh und chronisch traumatisierten Menschen häufig vor. Auslöser sind meist Stresssituationen. Es drängen sich dann Gedanken, Gefühle, Empfindungen der Vergangenheit in die Gegenwart und der Kontakt zum Hier und Jetzt geht verloren. In diesem Zustand kann nichts aufgenommen werden und es findet keine Verarbeitung statt. Dissoziationen zeigen sich auf verschiedene Art und Weise. Meist erfolgen sie plötzlich und werden als wenig kontrollierbar erlebt. 3.1 Wie zeigen sich dissoziative Zustände? Betroffene beschreiben diese Zustände folgendermaßen (Gies, 2017): Es fühlt sich an wie im Nebel 12 Es ist wie träumen Ich spüre dann keine Angst Mir tut dann nichts weh Ich beame mich an die Decke und schaue von oben zu Ich bin in einer anderen Zeit Ich stehe neben mir (schaue mir selbst zu) Mein Körper macht was wer will Die Welt verschwimmt und wird unwirklich Was nimmt die Umgebung wahr? Betroffene erinnern sich nicht an schmerzvolle und traumatische Erfahrungen oder streiten diese ab Die Betroffene erscheint manchmal in einem Trance-oder Dämmerzustand; wie in einer anderen Welt Lehrer berichten eventuell von Tagträumen des Kindes Betroffene zeigen rasche Veränderungen in ihrer Persönlichkeit Es kann wechseln zwischen scheu und offen, furchtsam und aggressiv Betroffene sind ungewöhnlich vergesslich oder verwirrt in Bezug auf Dinge, die sie eigentlich wissen müssten Häufig sind auch heftige Wutausbrüche, oft ohne erkennbaren Grund; in diesen Phasen verbunden mit einer ungewöhnlichen körperlichen Stärke In Bezug auf Fertigkeiten, Wissen, Lieblingsspeisen etc. zeigen sich deutliche Schwankungen oft von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde Es erscheint so, als würde der Betroffene lügen oder (offensichtliche) Verhaltensweisen leugnen Viele dissoziierende Kinder und Jugendliche leiden unter unerklärlichen Verletzungen oder verletzen sich manchmal selbst Kinder zeigen manchmal deutliche Rückentwicklungstendenzen im altersangemessenen Verhalten Körperausdruck, Mimik, und Inhalt von Erzähltem passen nicht zusammen, z.B. Schreckliches erzählen und dabei lachen (Jegodtka, Luitjens, 2013) 13 Neben dem wertschätzenden Umgang mit der Würdigung, dass die Dissoziation in der traumatischen Situation vielleicht lebensrettend war, soll nun Kontrolle über die dissoziativen Symptome erreicht werden. Denn dissoziative Zustände bewirken Erinnerungslücken Wahrnehmungsschwierigkeiten Sprachlosigkeit Veränderte Verhaltensstrukturen Starke Leistungsschwankungen – nicht Lernen können Dissoziation führt fast zwangsläufig zu Nichtpartizipation z.B bei Hilfeplangesprächen etc. Überraschende Aggression: Heftigkeit und Körperkraft sind kaum vorherzusehen 3.2 Was tun bei dissoziativen Zuständen? Folgende Maßnahmen werden in diesem Zusammenhang von Fachleuten empfohlen (Beckrath – Wilking et. al 2013, Boon et. al, 2013, Hantke, 2009): Kontakt herstellen, gezieltes Ansprechen der Person mit ihrem Namen Orientierung geben und Gegenwartsbezug herstellen (Wir sind hier in..., ich bin ..., es ist vorbei) Blickkontakt herstellen – soweit möglich (siehe unten); Klienten anregen die Umgebung visuell näher zu erkunden (Farben, Formen, Gegenstände etc.) Die Klientin in die Bewegung gehen lassen, eine andere Haltung als zuvor einnehmen lassen Haptische Orientierung geben (Fühlen Sie mal die Lehnen, die Wand, den Boden unter ihren Füßen...) Körperkontakt herstellen, zB Hand halten, am Arm anfassen (siehe unten) Zuvor etablierte Anker aufrufen (Gegenstände, Düfte, etc.) 5,4,3,2,1 – Übung (siehe Anhang 1) Musterunterbrechungen jeder Art: Fenster auf, aufstehen, Musik anmachen, gemeinsam Kaffee holen gehen Im Kontext absurde Aufgaben stellen, wie z.B. Rätsel, Rechenaufgaben, die 14 Frage nach einem tagespolitischen Ereignis oder mit falschem Namen ansprechen Intensive sensorische Stimulationen (zB Riechstäbchen, fishermen friends, Gummi am Handgelenk schnalzen, Igelball, Eiswürfel, Chilischoten, laute Musik) etc. Sowohl Augen- als auch Körperkontakt sind sehr behutsam einzusetzen. Traumatisierte Menschen fühlen sich bei Blickkontakt oft unwohl oder er ist für sie angstbesetzt. Betroffene sollten daher keinesfalls zu Blickkontakt gezwungen werden. Vorkommen kann auch, dass das Gegenüber zwar angeschaut bzw. starr fixiert wird, ohne dass dabei wirklich ein Kontakt stattfindet (Heller, Lapierre, 2012), sondern die Betroffene in diesem Moment dissoziiert. Gelingt es aber die Augen aktiv einzusetzen, kann dies zur Regulierung beitragen. Genauso ist es mit Körperkontakt. Sanfte angemessene Berührungen können elementar wichtig sein, weil es so dem Betroffenen gelingen kann, den Kontakt mit dem eigenen Körper wieder herzustellen. Es kann aber auch als Übergriff empfunden werden und so die Dissoziation verstärken. Ziel dieser Interventionen ist immer die Unterbrechung der Dissoziationen zur Erhöhung der Eigenkontrollerfahrung und Herstellung eines Kontaktes (Außenorientierung) und eines Gegenwartsbezugs. „Innere Vorgänge“ wie Gefühle, inneres Erleben oder Körperempfindungen werden in diesem Moment nicht erfragt! 4. Therapeutische Interventionen, die im pädagogischen Alltag Anwendung finden können 4.1 Trigger erkennen und damit umgehen Neben allgemeinem Stress sind auslösende Faktoren für Dissoziationen in den allermeisten Fällen sogenannte Trigger. Ein Trigger kann alles Mögliche sein, z.B. Geräusche, Gerüche, Farben, Formen, Berührungen, Ähnlichkeiten zu Menschen, Stimmen, etc. (Gies, 2017). Es handelt sich dabei um Sinneswahrnehmungen, 15 Gegenstände, innere Erfahrungen etc., die (bewusst oder unbewusst) an Traumata aus der Vergangenheit erinnern. In Form einer Tabelle zur Triggeranalyse (Scherwath, Friedrich, 2012, S. 211) können Trigger – sowohl äußere Auslöser als auch innere Bedingungen - erfasst werden: Reiz von außen Welches Gefühl wird Welcher Welche ausgelöst? Handlungsimpuls Selbstberuhigungs- taucht auf? Strategie hilft? Verhalten: Bewegungen: Erscheinungsbilder: Arten zu sprechen/Worte: Gerüche: Situationen/Bedingungen: Gelingt es, Trigger bewusst wahrzunehmen, kann an einem gezielten Umgang mit diesen gearbeitet werden. Dies kann vorerst ein Vermeiden, Reduzieren oder Distanzieren von Triggern sein, langfristig sollten aber die Fertigkeiten im Umgang mit Triggern erweitert werden und Ressourcen gefördert werden, um wieder die Kontrolle über das eigene Erleben zu erlangen. 4.2 Gefühle und inneres Erleben annehmen Um nicht von intensiven Gefühlen wie Angst, Ohnmacht, Scham, Schuld etc. überwältigt zu werden und dem Ganzen hilflos ausgeliefert zu sein, versuchen traumatisierte Menschen häufig, diese Erinnerungen strikt zu meiden. Dieses konsequente, strikte Vermeiden eigener innerer Erfahrungen bezeichnen van der Hart et al. (2013, S.77) als „Phobie vor dem inneren Erleben“. Das Paradoxon dabei ist, dass das, was die Betroffenen voller Angst erwarten und zu vermeiden versuchen, ihnen wahrscheinlich erspart bliebe, wenn sie ihr augenblickliches Gefühl, etwa die Traurigkeit gelassen und ruhig annehmen könnten. Es ist unmöglich, innere Erlebensweisen zu verändern, wenn man ihnen auszuweichen versucht, weil man Angst vor ihnen hat, sich ihrer schämt oder sie abstoßend findet. Viele Menschen mit einer dissoziativen Störung fürchten sich auch vor inneren Stimmen, durch die sich andere Persönlichkeitsanteile Ausdruck 16 verschaffen. Sie bezeichnen sich selbst als „verrückt“, schämen sich ihrer Stimmen oder haben Angst vor ihnen. Den Stimmen im Kopf zuzuhören und mit ihnen zu sprechen ist oft ein erfolgreicherer Weg anstatt zu versuchen sie zu vertreiben. Entscheidend ist somit, dass Menschen mit dissoziativen Symptomen lernen einflussreiche Gedanken, Gefühle und Erinnerungen, die ihr Leben beeinträchtigen, auszuhalten. Das Hinsehen lässt die Angst schwinden, das Aushalten gibt Kraft und macht Veränderung möglich. 4.3 Achtsamkeit - Awareness Um dieses Hinsehen und Aushalten zu schulen, können verschiedene Achtsamkeitsübungen zur Anwendung kommen. Dabei wird geübt, belastende Gefühle wahrzunehmen ohne diese und die dazugehörigen Kognitionen bekämpfen zu müssen (Rahm et al. 1999, S. 393). Ziel ist ein wertungsfreies Wahrnehmen und die Fokussierung auf den Augenblick. Die Klientin konzentriert sich dazu auf sich selbst und stellt sich immer wieder die Frage, was erlebe ich jetzt? Sie bemüht sich alle Sinneseindrücke (Sehen, Riechen, Hören, Schmecken, Fühlen) zu registrieren. Auf diese Weise lässt sich Selbst-Bewusstheit (Awareness) allmählich verbessern. (Beispiele für Achtsamkeitsübungen – siehe Anhang 2) 4.4 Stress reduzieren - Stressregulation erlernen Stress bedeutet ein erhöhter Erregungs- und Anspannungszustand des Körpers. Bei einem traumatisierten Nervensystem besteht eine verringerte Spannbreite und Flexibilität zur Regulierung von Anspannung und Entspannung. Genau genommen meint der Begriff „Stress“ nicht nur Empfindungen unangenehmer körperlicher Anspannung, sondern jede energetische Aktivierung des autonomen Nervensystems. Es kann somit auch zu Dissoziationen kommen, wenn eine attraktive Situation für einen Menschen quasi des Guten zu viel wird, und er die Situation plötzlich als bedrohlich bis überfordernd erlebt. Zudem ist es so, dass Menschen, die in traumatischen Erfahrungen feststecken, häufig über eine erhöhte Grundanspannung (Hyperarousal) verfügen und daher rasch die Schwelle zur Überforderung erreichen, wo dissoziative Zustände auftreten können. 17 Aber auch erniedrigte Grundanspannung (Hypoarousal) kommt als Vermeidungs- und Betäubungsstrategie vor, wenn innerlich abgeschaltet wird, um wenig wahrzunehmen und zu fühlen. Zu viel und zu wenig zu empfinden sind zwei Seiten derselben Medaille. Beide Störungen verweisen auf Schwierigkeiten mit der Regulation des physiologischen Arousals und können zu Dissoziationen führen. Abbildung 5: Toleranzfenster (Odgen et.al, 2006, Siegel, 1999, van der Hart et al. 2006, zitiert nach Boon et al., S. 213) Das optimale Aktivierungsniveau, das weder zu hoch noch zu niedrig ist, befindet sich innerhalb des Toleranzfensters. Wird das Toleranzfenster verlassen, baut sich entweder ein Hyper- oder ein Hypoarousal auf. Oftmals ist bei traumatisierten Menschen das Toleranzfenster auch sehr klein. Diese Menschen fühlen sich rasch überwältigt oder schotten sich innerlich ab. Ziel ist es dann, das Toleranzfenster zu erweitern, damit das Alltagsleben besser bewältigt werden kann. Dazu kann u.a. das „Skills-Training“ eingesetzt werden. Das Skills-Training (Sendera, Sendera, 2016) wurde ursprünglich von Marsha Linehan in den 80iger Jahren als gezieltes Behandlungsprogramm für Patienten mit posttraumatischer Belastungsstörung und schweren Störungen der Emotionsregulation entwickelt. Das Skills-Training umfasst mehrere Module. Im Rahmen des Moduls „Stresstoleranz“ erhalten die Patienten Anleitung zur Selbsteinschätzung ihres Spannungszustandes. Der Spannungszustand wird auf einer Skala von 0 – 100 eingeordnet. Der Wert um 40 wird z.B. als leichter Spannungszustand bezeichnet, der Wert um 70 bedeutet, dass die Kontrolle über Gedanken und Gefühle verloren geht und ein Punkt erreicht wird, 18 der keinen Handlungsspielraum mehr zulässt. Dieser wird als „point of no return“ bezeichnet. Abbildung 6: Spannungskurve (Bohus, Wolf-Arehult, 2012, S. 11) Im Rahmen des Skills-Trainings werden die Patientinnen geschult, einerseits ihren Spannungszustand differenziert und bewusst wahrzunehmen und andererseits erfahren sie, welche Möglichkeiten sie haben, wenn die Spannung zu hoch ist, diese zu regulieren. Dies kann beispielsweise durch verschiedene Übungen für die 5 Sinne erfolgen, z.B eine kalte Dusche nehmen, einen Igelball über die Arme rollen, Zitronensaft trinken, spezielle Düfte riechen etc. (Bohus, Wolf-Arehult, 2012, S. 42-48). Für eine differenzierte Spannungswahrnehmung ist es wiederum erforderlich, die körperlichen Veränderungen und Impulse bewusst wahrzunehmen, siehe 4.3 Awareness – Achtsamkeit. Auch dazu wurde ein Modul im Skills-Training entwickelt. Daneben gibt es noch weitere Module, in denen die Patienten lernen, zwischenmenschliche Fähigkeiten zu schulen, den Umgang mit Gefühlen erlernen und „am Selbstwert arbeiten“. Auch Boon et al. (2013) haben ein Skillstraining zusammengestellt, das sich insbesondere an Menschen mit dissoziativen Symptomen richtet: „Traumabedingte 19 Dissoziation bewältigen – Ein Skills-Training für Klienten und ihre Therapeuten“. Sie decken in ihrem Manual eine große Bandbreite an Themen ab, die im Zusammenhang mit Dissoziation eine Rolle spielen: Sicherheit, emotionale Regulation, Sozialangst, Selbstverletzung, Depression usw. 4.5 Ego – State – Therapie und Teilearbeit Die von Helen und John Watkins entwickelte Ego-State-Therapie wurde im deutschsprachigen Raum wesentlich von Luise Reddeman und Jochen Peichl bekannt gemacht. Peichl (2012) sieht die Arbeit mit den inneren Anteilen umso notwendiger, je ausgeprägter die dissoziative Problematik ist. Manche Elemente aus der Therapie können auch im pädagogischen Alltag angewendet werden. Zu Beginn (der Therapie) ist das Erstellen einer inneren Landkarte hilfreich. Dabei wird erforscht, welche States bislang bekannt sind, wer jeweils momentan weiter vorne auf der Bühne ist und wer weiter hinten oder unsichtbar ist. Die innere Vielfalt kennenzulernen und alle Anteile als gleich wichtig und ursprünglich adaptiv zu würdigen, wirkt integrativ und beruhigt innere Kämpfe. Auch „negative Introjekt – States“ in ihrer ursprünglichen Schutzfunktion einzubeziehen und gleichwertig zu behandeln ist oft verblüffend wirksam. Denn wie Schulz von Thun (1998, zitiert nach Beckrath – Wilking et al. 2013, S. 217) schreibt, „Anteile, die unerhört bleiben, neigen dazu sich irgendwann unerhört zu benehmen“. Weiters gilt es die Alltagspersönlichkeit zu stärken, zu überlegen, welche Anteile könnten diese Ressourcenteam Ziel der Arbeit unterstützen? von Das imaginativen kann zum Helfern Beispiel und mit einem Beschützern inneren geschehen. mit den inneren Anteilen ist die Förderung eines einheitlichen Selbstbewusstseins und die Verankerung aller Anteile in der Gegenwart, somit eine zunehmende Integration, gegenseitiges Bewusstsein und gegenseitige Empathie. „Die dissoziierten Ego-States sollen allmählich lernen, ihr Bewusstsein, ihre Fähigkeiten und später traumatischen Erinnerungen miteinander zu teilen, sodass die dissoziativen Barrieren ihre bisherige vor Überflutung schützende Funktion verlieren und entbehrlich werden“ (van der Hart et al., 2008, Frtische & Hartmann, 2010, zitiert nach Beckrath – Wilking et al., 2013, S. 218). In der beratenden und pädagogischen Arbeit ist allerdings zu beachten, mit Klienten nicht „zu tief“ und zu traumanah in die innere Arbeit einzusteigen, sondern weg vom 20 Trauma mehr die Gegenwartsorientierung zu gehen und die Ressourcen der Anteile zu betonen und auszubauen. Psychoedukation, Stabilisierung der Alltagsfunktionen und der Ego – States sind Ziele in der Beratung und im pädagogischen Setting. Scherwath und Friedrich (2012) sprechen in diesem Zusammenhang von der „einfachen Teilearbeit“. Dabei wird das Teilemodell deutlich reduziert und „nur“ als Denk- und Veranschaulichungsmodell verwendet. Sätze wie „ein Teil von dir wollte heute aufpassen, aber ein anderer Teil hat dich immer wieder abgelenkt“ werden ohne lange Erklärungen gut verstanden und erleichtern das Gespräch. Auch innere Konflikte können so aufgegriffen werden. Die Verwendung von Matrjoschkafiguren kann die Veranschaulichung unterstützen. 5. Zusammenfassung Im Alltag bewirken oft Stress und/oder kleine Auslöser (ein Geruch, ein Wort, ein Blick, innere Bilder, Gedanken etc.) alle möglichen Erscheinungsformen von Dissoziationen. In der Begleitung und Betreuung traumatisierter Menschen gilt es Maßnahmen zu erarbeiten, die die Betroffenen wieder aus diesem Zustand herausholen und die sie im besten Fall auch selber frühzeitig einsetzen können. Meist helfen körperliche Aktivität, intensive sensorische Reize oder ganz allgemein die Aufmerksamkeit auf die Umgebung zu lenken, damit zu dieser wieder Kontakt hergestellt wird. Wichtig ist, dass (gemeinsam) herausgefunden wird, was dem Betroffenen am besten hilft. Neben diesen Sofortmaßnahmen sind psychoedukative Maßnahmen, durch die die Menschen lernen, ihre Symptome zu verstehen, enorm wichtig. Dies kann bzw. sollte auch im Rahmen einer Psychotherapie, die zur gezielten Behandlung dissoziativer Störungen notwendig ist, stattfinden. 21 6. Literaturverzeichnis: Apfalter, I. (2017): Das Skills-Training. Seminarunterlagen zum Skillstraining am 5. und 6. Mai 2017. Wien. Beckrath-Wilking, U., Biberbacher, M., Dittmar, V., Wolf – Schmid, R. (2013): Traumafachberatung, Traumatherapie und Traumapädagogik. Ein Handbuch für Psychotraumatologie im beratenden, therapeutischen und pädagogischen Kontext. Paderborn: Jungfermann Verlag. Bohus, M., Wolf-Arehult, M. (2012). Interaktives Skills-Training für BorderlinePatienten: Das Therapeutenmanual. 2. Aufl. Stuttgart: Schattauer. Boon, S., Van der Hart, O., Steele, K. (2013). Traumabedingte Dissoziation bewältigen. Ein Skills-Training für Klienten und ihre Therapeuten. Paderborn: Jungfermann Verlag. Brambach, S. (2003). 5-4-3-2-1-Übung. Institut für Traumatherapie. Zugriff am 12.07.2017. Verfügbar unter https://www.traumatherapie.de/users/bambach/hydratext.html Gies, H. (2017): PTBS, Trigger und Dissoziation. Institut Trauma und Pädagogik. Zugriff am 05.06.2017. Verfügbar unter http://institut-trauma-paedagogik.de/files/downloads/dissoziation.pdf Elbert, T., Schauer, M. (2010): Dissociation Following Traumatic Stress. Etiology and Treatment. Journal of Psychology 01, University of Konstanz Zugriff am 15.06.2017. Verfügbar unter http://citeseerx.ist.psu.edu/viewdoc/download?doi=10.1.1.463.1667&rep=rep1&type=p df Falkai, P. u.a. (Hrsg.) (2015). Diagnostische Kriterien DSM 5. Deutsche Ausgabe. Göttingen: Hogrefe Verlag. 22 Gelitz, C. (2017): An den Grenzen der Normalität. Gehirn & Geist Zeitschrift für Psychologie und Hirnforschung. Dossier 02: Spektrum der Wissenschaft Verlag. Hantke, L. (2009). Dissoziationsstopps im Kontakt. Institut Berlin. Hertastraße 1. 12051 Berlin. Zugriff am 01.06.2017. Verfügbar unter www.institut-berlin.de Heller, L., Lapierre, A. (2012). Entwicklungstrauma heilen. Alte Überlebensstrategien lösen. Selbstregulierung und Beziehungsfähigkeit stärken. Das neuroaffektive Beziehungsmodell zur Traumaheilung – NARM. 4. Aufl. 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Stuttgart: Klett-Cotta Verlag. Rahm, D., Otte, H., Bosse, S., Ruhe-Hollenbach, H. (1999). Einführung in die Integrative Therapie. Grundlagen und Praxis. Paderborn: Jungfermann Verlag 23 Sachsse, U. (2012). Neurobiologische Grundlagen und Veränderungen nach traumatischen Lebenserfahrungen. In I. Özkan, U. Sachsse, A. Streeck-Fischer (Hrsg.), Zeit heilt nicht alle Wunden. Kompendium zur Psychotraumatologie (S. 65 – 84). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG. Sendera, A., Sendera, M. (2016). Skills-Training bei Borderline- und Posttraumatischer Belastungsstörung. 4. Aufl. Berlin Heidelberg: Springer Verlag. Schwerath, C., Friedrich, S. (2012). Soziale und pädagogische Arbeit bei Traumatisierung. München Basel: Ernst Reinhardt Verlag. Stegk, M. (2017): bolg_psychotherapie_luebeck. Zugriff am 15.06.2017. Verfügbar unter https://blogpsychotherapieluebeck.wordpress.com/2012/11/05/traumatherapiewas-ist-das/ Trauma Beratung Leipzig (2016): Dissoziation und Trauma. Strukturelle Dissoziation der Persönlichkeit. Zugriff am 10.07.2017. Verfügbar unter www.dissoziation-undtrauma.de Van der Hart, O.; Nijenhuis, R. S E.;. Steele, K. (2008). Das verfolgte Selbst. Strukturelle Dissoziation und die Behandlung chronischer Traumatisierung. Paderborn: Junfermann Verlag Wikipedia: Dissoziation. Zugriff am 12.06.2017. Verfügbar unter https://de.wikipedia.org/wiki/Dissoziation_(Psychologie) Abbildungsverzeichnis: Abbildung 1: Traumatische Zange Abbildung 2: Defensive Kaskade Abbildung 3: Kontinuum der Dissoziation Abbildung 4: Ego-States Abbildung 5: Toleranzfenster Abbildung 6: Spannungskurve 24 Anhang 1 Die 5-4-3-2-1-Übung (Dolan, 1991; zitiert nach Brambach, 2003) Die außenorientierte 5-4-3-2-1-Übung ist eine effektive Stabilisierungstechnik zur Reorientierung im Hier und Jetzt. Es werden ausschließlich konkrete Wahrnehmungen im "Hier und Jetzt" beschrieben werden. Durch die Orientierung der Wahrnehmung nach außen und eine Durchführung der Übung mit geöffneten Augen, eignet sich die Übung besonders gut um Dissoziationen zu stoppen. Anleitung: Finden Sie eine angenehme Position für ihren Körper und einen Punkt im Raum, auf dem Sie ihren Blick ruhen lassen. Die Augen sind dabei zunächst offen. Am Ende der Übung nehmen Sie sich entweder wie bei einem Ihnen schon vertrauten Entspannungstraining zurück oder zählen einfach rückwärts von 4 bis 1. Bei der Zahl 4 bewegen Sie die Füße und Beine wieder, bei der Zahl 3 nehmen Sie die Hände und Arme hinzu, bei der Zahl 2 räkeln und strecken Sie den ganzen Körper mit Rumpf und Kopf, atmen wieder tief und erst bei der Zahl 1 öffnen Sie erfrischt und hellwach die Augen. Sie wissen, dass Sie sich während der ganzen Übung erlauben können, jede körperliche Veränderung durchzuführen, die wichtig ist, um Ihr Wohlbefinden zu erhalten. Natürlich können Sie sich auch jederzeit vorher in der oben beschriebenen Weise zurücknehmen oder aber die Übung ohne Rücknahme bewusst zum Einschlafen nutzen! Sagen Sie sich laut oder in Gedanken, was Sie mit ihren Sinnen im Moment gerade wahrnehmen! 5 mal: Ich sehe ... ! → 5 mal: Ich höre ... ! → 5 mal: Ich spüre ... ! → 25 4 mal: Ich sehe ... ! → 4 mal: Ich höre ... ! → 4 mal: Ich spüre ... ! → 3 mal: Ich sehe ... ! → 3 mal: Ich höre ... ! → 3 mal: Ich spüre ... ! → 2 mal: Ich sehe ... ! → 2 mal: Ich höre ... ! → 2 mal: Ich spüre ... ! → Zuletzt, einige Zeit lang mehrmals 1 mal: Ich sehe ... ! → 1 mal: Ich höre ... ! → 1 mal: Ich spüre ... ! Hinweise, damit es funktioniert: 1. Es ist in Ordnung, immer wieder dieselben Wahrnehmungen zu benennen! 2. Wenn z. B. während der Phase des Sehens Geräusche stören, wechseln Sie einfach zum Hören und integrieren Sie die Geräusche auf diese Weise in Ihre Wahrnehmung! 3. Wenn Sie mit der Abfolge der Übung durcheinander geraten, ist dies ein Zeichen, dass Sie es gut machen und besonders schnell entspannen. Sie können dann entweder in diesem Zustand verweilen oder "raten", wo Sie waren und fortfahren. 4. Wenn Sie während der Übung merken, wie sich die Augen schließen wollen, lassen Sie die Augen sich schließen! Sie können dann entweder die konkreten Wahrnehmungen der geschlossenen Augen beschreiben oder nur noch hören und spüren. 5. Bei manchen verstärkt es den positiven Effekt der Übung, wenn Sie die Wahrnehmungen laut aussprechen und dabei die eigene Stimme hören! 26 Anhang 2 Achtsamkeitsübungen (Apfalter, 2017) Sehen • Wahrnehmen und Beschreiben von Bildern und Fotos • Wahrnehmen und Beschreiben von Personen • Wahrnehmen und Beschreiben von Gegenständen aus dem Alltag oder von Gegenständen im Raum Hören • Wahrnehmen und Beschreiben von Geräuschen oder Musikinstrumenten • Erzeugen von Geräuschen • Wahrnehmen und Beschreiben von Musikstücken • Wahrnehmen und Beschreiben von Rhythmen • Wahrnehmen und Beschreiben von Geräuschen bzw. der Stille im Raum Spüren • Tastsack mit kleinen Gegenständen • Wahrnehmen des Körperkontakts mit dem Sessel, dem Boden • Wahrnehmen der Körperhaltung (verschiedenen Körperhaltungen einnehmen) • Wahrnehmungen von Empfindungen im Körper im Ruhezustand • Wahrnehmen von einzelnen Körperteilen (in Bewegung und im Ruhezustand) • Wahrnehmen und Beschreiben von Steinen, Muscheln, usw. • Barfuß gehen auf verschiedenen Untergründen (im Freien) • Partner/in blind führen • Igelball am Körper abrollen • Ein Ei aufstellen • Mikado spielen Riechen und Schmecken • Geruchsproben (Parfum, Gewürze, Kaffee, ätherische Öle, Essig, ...) • Geschmacksproben (süß-salzig-bitter-sauer) • Wahrnehmen und Beschreiben des Verzehrs einer Praline oder einer Rosine 27 • Riechen und Schmecken beim Kochen • Riechen und Schmecken bei der Kaffee- oder Teezubereitung • Ein Aromabad nehmen Atemübungen • Atem beobachten • Atem zählen beim Ein- und Ausatmen • Beim Ein- und Ausatmen bis zehn zählen, bei jeder Ablenkung bei 1 beginnen • Den Atem mit Fußschritten messen: Schritte zählen beim Ein- und Ausatmen; Tempo variieren Körperübungen • Body Scan • Bodenkontaktübungen • Spiegelbildübung: Sich vor den Spiegel stellen und beschreiben, was man sieht • Leichtes Lächeln 28