Sie sind hier: Bibliothek »Bücher »Persönlichkeitsstörung »Eckardt-Henn: Dissotiation http://www.psychiatrie.de/index.php?id=613&type=123 Dissoziative Bewusstseinsstörungen Sind Dissoziationen pathologische Mechanismen, die zum Zerfall der Einheit des bewussten Erlebens, Erinnerns und kontrollierten Handelns führen? Sind sie dadurch gekennzeichnet, dass die normalerweise integrierten Funktionen des Bewusstseins, des Gedächtnisses, des Selbsterlebens und der Wahrnehmung der Umwelt unterbrochen sind? Spielen beim Zustandekommen von Dissoziationen neurobiologische Abläufe, z.B. frontokortikale Hemmprozesse, die entscheidende Rolle? Oder müssen wir uns diese Bewusstseins- und Identitätsstörungen als besondere Abwehrformen vorstellen, die mit schweren traumatischen Erlebnissen in Beziehung stehen? Sind es, wie eine psychodynamische Sichtweise annimmt, intrapsychische Verarbeitungsmechanismen einer nichtintentionalen Autoregulation von Belastungserfahrungen? Oder tappen wir noch im Dunkeln, solange bildgebende Verfahren noch keine eindeutigen Anworten zu diesem Phänomen gefunden haben? Um diese und andere Fragen zu klären, haben die Herausgeber dieses Buches – Sven Olaf Hoffmann und Annegret Eckardt-Henn – ein starkes Team zusammengestellt: Die klinische Psychiatrie und Psychotherapie von Hamburg über Frankfurt und Freiburg bis nach Basel und Graz ist vertreten, Stralsund und Atlanta/Georgia sind dabei, ebenso Utrecht, Hannover, Göttingen, Bielefeld und Ulm, besonders aber Lübeck, Mainz und Heidelberg: Peter Fiedler, Manfred Spitzer und Ulrich Sachsse gehören zu den aktuellen Dissoziationsforschern dieses Sammelbandes, Franz Resch und auch Fritz Hohagen, Ursula Gast und Birger Dulz – um nur einige zu nennen. Woher das Interesse an Dissoziationen, am Verlust einer bewussten Erlebens- und Erinnerungseinheit sowie einer umfassenden Handlungskontrolle? Hatten nicht schon Altmeister wie Kraepelin und Bleuler, Freud, Jung, besonders Ellenberger, über Menschen nachgedacht, die als vielfältig, multipel, fragmentiert, vielleicht auch als hysterisch und gespalten galten? Hatten sie nicht schon die Bedeutung der Trennung von Verbundenem erkannt und beschrieben, wie Prozesse der Auflösung des inneren Zusammenhanges sich vollziehen, wenn die Dinge der Seele auseinander geraten, ihre Verbindung zueinander verlieren? War nicht längst bekannt, dass bei der Dissoziation gewisse Formen des Fühlens und Denkens, des Sprechens und Handelns einer Person sich verselbstständigen, sich ablösen von der zuvor noch festen Beziehung zur übrigen Persönlichkeit und eigenständig in Erscheinung treten? Dass damit das Selbst seine Kohärenz verlieren kann und – zumindest für Augenblicke – brüchig wird? Eigentümlich, dass die Erkenntnisse des frühen 20. Jahrhunderts für lange Zeit wenig beachtet wurden, fast in Vergessenheit gerieten und erst seit ein paar Jahren wieder aufmerksamer studiert werden. Manche Autoren dieses Buches – wie Birger Dulz und Ulrich Sachsse – vermuten, dass eine gewisse Nähe der Dissoziation zur Hysterie bzw. zu anderen Formen der Selbstinszenierung dazu geführt haben könnte, diese Symptomatik in Verruf zu bringen. Sie hoffen darauf, dass Forschungen im Bereich der Hirnphysiologie weitere Klärung und Verdichtung des dissoziativen Störungsbildes ergeben mögen. Vielleicht deuten neuere Studien, die sich bemühen, neurobiologische, lerntheoretische und psychodynamische Ansätze zu integrieren, aber auch auf einen anthropologischen Aspekt hin: Dass die Fähigkeit und Möglichkeit, sich selbst oder die Umgebung plötzlich als unwirklich zu erleben, sich für einen Moment außerhalb des eigenen Körpers zu fühlen, belastende Erlebnisse aus dem zugänglichen psychodynamische Ansätze zu integrieren, aber auch auf einen anthropologischen Aspekt hin: Dass die Fähigkeit und Möglichkeit, sich selbst oder die Umgebung plötzlich als unwirklich zu erleben, sich für einen Moment außerhalb des eigenen Körpers zu fühlen, belastende Erlebnisse aus dem zugänglichen Erinnerungsspeicher zu löschen, eigentlich jedem Menschen gegeben ist. Die Systematik des Buches ist darauf angelegt, im ersten Teil Aspekte der Begriffsgeschichte der Dissoziation aufzurollen, im zweiten Teil die spezifischen Symptome dissoziativer Störungen – also das klinische Erscheinungsbild der dissoziativen Amnesie, der Fugue, des Stupors, der Identitätsstörung u.Ä. auszuführen, im dritten Teil ein besonderes Augenmerk auf traumatische Hintergründe der Dissoziation zu lenken, im vierten Teil wichtige Aspekte der Diagnostik und Differenzialdiagnostik anzusprechen und im fünften und letzten Teil Fragen der Therapie zu klären. Es kann bei der Unterschiedlichkeit der hier zu Worte kommenden Forscherpersönlichkeiten nicht verwundern, dass dieses Werk nicht "aus einem Guss" geraten ist, dass es verschiedene, bisweilen kontroverse Ansätze enthält. Aber gerade darin liegt der Reiz: Hier wird man studieren können, in welche Dimensionen der Erkenntnis sich das Phänomen der Dissoziation gegenwärtig bewegt – und zwar auf hohem wissenschaftlichen Niveau, ohne dass die Lesbarkeit darunter leidet. Ein Dank an Annegret Eckardt-Henn und Sven O. Hoffmann, die nicht nur die Herausgeberschaft übernommen haben, sondern auch selbst als Forscher das Wort ergreifen. Jens Clausen in Soziale Psychiatrie ©Psychiatrienetz Letzte Aktualisierung:05.10.2011