Dissoziative Bewusstseinsstörungen

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Dissoziative Bewusstseinsstörungen
Sind Dissoziationen pathologische Mechanismen, die zum Zerfall der
Einheit des bewussten Erlebens, Erinnerns und kontrollierten Handelns
führen? Sind sie dadurch gekennzeichnet, dass die normalerweise
integrierten Funktionen des Bewusstseins, des Gedächtnisses, des
Selbsterlebens und der Wahrnehmung der Umwelt unterbrochen sind?
Spielen beim Zustandekommen von Dissoziationen neurobiologische
Abläufe, z.B. frontokortikale Hemmprozesse, die entscheidende Rolle?
Oder müssen wir uns diese Bewusstseins- und Identitätsstörungen als
besondere Abwehrformen vorstellen, die mit schweren traumatischen
Erlebnissen in Beziehung stehen? Sind es, wie eine psychodynamische
Sichtweise annimmt, intrapsychische Verarbeitungsmechanismen einer
nichtintentionalen Autoregulation von Belastungserfahrungen? Oder
tappen wir noch im Dunkeln, solange bildgebende Verfahren noch keine
eindeutigen Anworten zu diesem Phänomen gefunden haben?
Um diese und andere Fragen zu klären, haben die Herausgeber dieses Buches – Sven Olaf Hoffmann und
Annegret Eckardt-Henn – ein starkes Team zusammengestellt: Die klinische Psychiatrie und Psychotherapie
von Hamburg über Frankfurt und Freiburg bis nach Basel und Graz ist vertreten, Stralsund und
Atlanta/Georgia sind dabei, ebenso Utrecht, Hannover, Göttingen, Bielefeld und Ulm, besonders aber
Lübeck, Mainz und Heidelberg: Peter Fiedler, Manfred Spitzer und Ulrich Sachsse gehören zu den aktuellen
Dissoziationsforschern dieses Sammelbandes, Franz Resch und auch Fritz Hohagen, Ursula Gast und Birger
Dulz – um nur einige zu nennen.
Woher das Interesse an Dissoziationen, am Verlust einer bewussten Erlebens- und Erinnerungseinheit sowie
einer umfassenden Handlungskontrolle? Hatten nicht schon Altmeister wie Kraepelin und Bleuler, Freud,
Jung, besonders Ellenberger, über Menschen nachgedacht, die als vielfältig, multipel, fragmentiert,
vielleicht auch als hysterisch und gespalten galten? Hatten sie nicht schon die Bedeutung der Trennung von
Verbundenem erkannt und beschrieben, wie Prozesse der Auflösung des inneren Zusammenhanges sich
vollziehen, wenn die Dinge der Seele auseinander geraten, ihre Verbindung zueinander verlieren?
War nicht längst bekannt, dass bei der Dissoziation gewisse Formen des Fühlens und Denkens, des
Sprechens und Handelns einer Person sich verselbstständigen, sich ablösen von der zuvor noch festen
Beziehung zur übrigen Persönlichkeit und eigenständig in Erscheinung treten? Dass damit das Selbst seine
Kohärenz verlieren kann und – zumindest für Augenblicke – brüchig wird?
Eigentümlich, dass die Erkenntnisse des frühen 20. Jahrhunderts für lange Zeit wenig beachtet wurden, fast
in Vergessenheit gerieten und erst seit ein paar Jahren wieder aufmerksamer studiert werden. Manche
Autoren dieses Buches – wie Birger Dulz und Ulrich Sachsse – vermuten, dass eine gewisse Nähe der
Dissoziation zur Hysterie bzw. zu anderen Formen der Selbstinszenierung dazu geführt haben könnte, diese
Symptomatik in Verruf zu bringen. Sie hoffen darauf, dass Forschungen im Bereich der Hirnphysiologie
weitere Klärung und Verdichtung des dissoziativen Störungsbildes ergeben mögen.
Vielleicht deuten neuere Studien, die sich bemühen, neurobiologische, lerntheoretische und
psychodynamische Ansätze zu integrieren, aber auch auf einen anthropologischen Aspekt hin: Dass die
Fähigkeit und Möglichkeit, sich selbst oder die Umgebung plötzlich als unwirklich zu erleben, sich für
einen Moment außerhalb des eigenen Körpers zu fühlen, belastende Erlebnisse aus dem zugänglichen
psychodynamische Ansätze zu integrieren, aber auch auf einen anthropologischen Aspekt hin: Dass die
Fähigkeit und Möglichkeit, sich selbst oder die Umgebung plötzlich als unwirklich zu erleben, sich für
einen Moment außerhalb des eigenen Körpers zu fühlen, belastende Erlebnisse aus dem zugänglichen
Erinnerungsspeicher zu löschen, eigentlich jedem Menschen gegeben ist.
Die Systematik des Buches ist darauf angelegt, im ersten Teil Aspekte der Begriffsgeschichte der
Dissoziation aufzurollen, im zweiten Teil die spezifischen Symptome dissoziativer Störungen – also das
klinische Erscheinungsbild der dissoziativen Amnesie, der Fugue, des Stupors, der Identitätsstörung u.Ä.
auszuführen, im dritten Teil ein besonderes Augenmerk auf traumatische Hintergründe der Dissoziation zu
lenken, im vierten Teil wichtige Aspekte der Diagnostik und Differenzialdiagnostik anzusprechen und im
fünften und letzten Teil Fragen der Therapie zu klären.
Es kann bei der Unterschiedlichkeit der hier zu Worte kommenden Forscherpersönlichkeiten nicht
verwundern, dass dieses Werk nicht "aus einem Guss" geraten ist, dass es verschiedene, bisweilen
kontroverse Ansätze enthält. Aber gerade darin liegt der Reiz: Hier wird man studieren können, in welche
Dimensionen der Erkenntnis sich das Phänomen der Dissoziation gegenwärtig bewegt – und zwar auf
hohem wissenschaftlichen Niveau, ohne dass die Lesbarkeit darunter leidet. Ein Dank an Annegret
Eckardt-Henn und Sven O. Hoffmann, die nicht nur die Herausgeberschaft übernommen haben, sondern
auch selbst als Forscher das Wort ergreifen.
Jens Clausen in Soziale Psychiatrie
©Psychiatrienetz
Letzte Aktualisierung:05.10.2011
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