78 5 Allgemeines zur pathologischen Dissoziation – strukturelle Dissoziation 5 Allgemeines zur pathologischen Dissoziation – strukturelle Dissoziation Annegret Eckhardt-Henn 5.1 Einleitung Die Dissoziation und die Möglichkeit eines dissoziativen Erlebens gehört zum psychischen Erlebensspektrum des Menschen. Noch vor einigen Jahren wurde viel darüber diskutiert, ob es sich bei der sog. physiologischen und pathologischen Dissoziation um ein Kontinuum oder aber ein Spektrum dissoziativen Erlebens und dissoziativer Störungen handeln könnte. Heute unterscheiden wir physiologische dissoziative Zustände, die alle Menschen kennen, von pathologischen dissoziativen Erlebenszuständen, die bei akuter Belastung (z. B. stark angespannten Situationen, akuten belastenden Ereignissen, wie Unfällen) oder in der direkten Folge von schweren Belastungsreaktionen oder im weiteren Zeitverlauf nach schwerer Traumatisierung im Sinne einer posttraumatischen Störung auftreten und sich zu einer schweren dissoziativen Bewusstseinsstörung entwickeln können, die zunehmend zu einer Beeinträchtigung der Alltags- und Berufsaktivitäten führt. Dissoziatives Erleben kann den Bereich der Selbstwahrnehmung, z. B. als Depersonalisation, oder die Wahrnehmung der Außenwelt, z. B. als Derealisation, betreffen (Ⴇ Kap. 23 in diesem Band). Häufig finden wir hier auch die Bezeichnung »detachment« oder »numbing«, wenn es sich um Störungen, die während akuter Belastung, z. B. im Rahmen von Unfallereignissen auftreten, handelt. Dies wird als peritraumatische Dissoziation bezeichnet. Aktuell verstehen wir die Dissoziation als einen komplexen psychophysiologischen Prozess, bei dem es zu einer teilweisen oder völligen Desintegration psychischer Funktionen (z. B. der Erinnerung, des Identitätsbewusstseins, der unmittelbaren Empfindungen, der Wahrnehmung des Selbst und der unmittelbaren Umgebung) und körperlicher Bewegungsabläufe kommt. Es handelt sich um eine Störung des Bewusstseins i. S. einer kurzzeitigen Unterbrechung der eigenen Bewusstheit. Dissoziation kann also als eine neuropsychische Funktionsveränderung verstanden werden, welche die normalen Beziehungen und Bezogenheiten der neuropsychischen Prozesse unterbricht und diese Trennung weiter aufrechterhält (vgl. auch Mattheß 2013). Psychodynamisch betrachtet, beinhaltet die Dissoziation in gleicher Weise Aspekte eines Abwehrmechanismus, eines Selbstheilungsversuches oder einer Rekonstruktion oder eines Folgezustandes zurückliegender Belastungen im Sinne eines psychopathologischen Symptoms. Janet beschrieb die Dissoziation als eine nicht-intentionale Autoregulation von Belastungserfahrungen, d. h. als einen pathologischen Zustand, der in der Folge schwerer Traumatisierung auftreten kann. Freud verstand die Dissoziation als einen regressiven Abwehrvorgang, d. h. als einen psychodynamischen Prozess. Eckhardt-Henn: Dissoziative Bewusstseinsstörungen. ISBN: 978-3-7945-3201-8. © Schattauer GmbH 79 5.1 Einleitung Van der Kolk und Fisler (1995) beschrieben vier unterschiedliche Phänomene, um den Begriff der »Dissoziation« zu umschreiben. Alle Phänomene stehen jeweils miteinander in Beziehung: 1. Die sensorische und emotionale Fragmentation der Erfahrung/des Erlebens 2. Die »peritraumatische Dissoziation« oder das »spacing out«: Derealisation und Depersonalisation während des traumatischen Ereignisses 3. Fortgesetzte Depersonalisation und »spacing out« während des täglichen Lebens 4. Traumatische Erinnerungen sind mit verschiedenen Ich-Zustände verbunden Aufgrund unterschiedlicher Klassifikationskonzepte in der ICD-10 und im DSM-5 herrscht aktuell bezüglich der Frage, wie dissoziative Symptome, die sich auf körperlicher Ebene abspielen, einzuordnen sind, nicht immer Klarheit (vgl. Eckhardt-Henn 2015). Die aktuelle Klassifikation der ICD-10 und des DSM-5 werden in Tab. 5-1 gegenübergestellt. Im DSM-5 werden dissoziative körperliche Symptome unter der Kategorie »Somatic Symptom and Related Disorders« aufgeführt. In der Kategorie »Trauma and Stress-Related Disorders« (Trauma- und stressbezogene Störung – 309.81) wird die Posttraumatische Belastungsstörung kategorisiert. Es gibt als Unterpunkt die weitere Spezifizierung der »posttraumatischen Belastungsstörung« mit dissoziativen Symptomen wie Depersonalisation und Derealisation. Die dissoziative Amnesie wird hier nicht aufgeführt, aber unter dem Abschnitt »Komorbidität« wird darauf hingewiesen, dass es viele Betroffene mit dissoziativen Amnesien gibt, die später in ihrem Leben eine Posttraumatische Belastungsstörung entwickeln und zwar insbesondere dann, wenn die traumatischen Erinnerungen, die eine Amnesie auslösen, ins Bewusstsein kommen. Bei der Beschreibung der Dissoziativen Identitätsstörung (300.14) wird darauf hingewiesen, dass einige traumatisierte Menschen sowohl eine Posttraumatische Belastungsstörung als auch eine Dissoziative Identitätsstörung haben können (Ⴇ Kap. 22 in diesem Band). Patienten mit Dissoziativen Identitätsstörungen haben aber auch dissoziative Symptome, die nicht als eine Manifestation einer Posttraumatischen Belastungsstörung eingeordnet werden können, wie z. B. Amnesien für tägliche Ereignisse, nicht-traumabezogene, dissoziative Flashbacks mit folgender Amnesie für den Inhalt des Flashbacks, disruptive Intrusionen, die mit den dissoziativen Identitätszuständen verbunden sind, sowie unregelmäßige, teils voll ausgeprägte dissoziative Symptome, die zwischen den verschiedenen Identitätszuständen auftreten können. Andererseits zeigen Patienten mit Posttraumatischer Belastungsstörung auch dissoziative Symptome, wie z. B. eine Amnesie für bestimmte Aspekte des Traumas, dissoziative Flashbacks, Symptome von Intrusion und Vermeidung, negative Veränderungen der Kognition und Stimmung und ein Hyperarousal, das sich auf das traumatische Ereignis bezieht. Die ICD-10 bleibt in ihrer Klassifikation sehr unklar. Hier werden die dissoziativen Bewusstseinsstörungen, die dissoziativen Störungen der Persönlichkeit, wie die Dissoziative Identitätsstörung mit der eher unscharfen Kategorie der dissoziativen Störung der Bewegung und Sinnesempfindung zusammengefasst. Unter Letzterer werden wiederum die dissoziativen Krampfanfälle subsummiert. Der Begriff der »Konversionsstörungen« wird in Klammern gesetzt. Dabei werden die Konversionsstörungen nicht, wie ursprünglich verstanden, als eine psychodynamische Kategorie beschrieben, sondern wie sonst auch in der ICD-10 ausschließlich Eckhardt-Henn: Dissoziative Bewusstseinsstörungen. ISBN: 978-3-7945-3201-8. © Schattauer GmbH 80 5 Allgemeines zur pathologischen Dissoziation – strukturelle Dissoziation üblich als eine pathogenetische Kategorie (Ⴇ Kap. 2 in diesem Band). Die dissoziativen Störungen auf körperlicher Ebene werden in der ICD-10 mit den Konversionsstörungen äquivalent beschrieben. Tab. 5-1 Klassifikation der ICD-10 und des DSM-5 ICD-10 DSM-5 F44 Dissoziative Störungen (Konversionsstörungen) Dissociative disorders F44.0 Dissoziative Amnesie 300.14 Dissociative identity disorder F44.1 Dissoziative Fugue 300.12 Dissociative amnesia F44.2 Dissoziativer Stupor 300.6 Depersonalization/Derealization disorder F44.3 Trance und Besessenheitszustände 300.15 Other specified dissociative disorders F44.4 bis F44.7 Dissoziative Störungen der Bewegung und der Sinnesempfindung 315 Unspecified dissociative disorder F44.4 Dissoziative Bewegungsstörung F44.5 Dissoziative Krampfanfälle F44.6 Dissoziative Sensibilitäts- und Empfindungsstörungen F44.7 Dissoziative Störungen (Konversionsstörungen), gemischt F44.8 Sonstige dissoziative Störungen (Konversionsstörungen) F44.80 Ganser-Syndrom F44.81 Multiple Persönlichkeit(sstörung) F44.82 Transitorische dissoziative Störungen (Konversionsstörungen) in Kindheit und Jugend F44.88 Sonstige näher bezeichnete dissoziative Störungen (Konversionsstörungen) F44.9 Nicht näher bezeichnete dissoziative Störung (Konversionsstörung) Eckhardt-Henn: Dissoziative Bewusstseinsstörungen. ISBN: 978-3-7945-3201-8. © Schattauer GmbH 81 5.1 Einleitung Klinische Symptomatik Viele dissoziative Störungen werden über lange Zeit nicht erkannt. Die Patienten berichten oft nicht spontan darüber. Dies hängt damit zusammen, dass sie oft die Symptome gar nicht als pathologisch empfinden oder dass sie die Symptome als ich-synton erleben oder sich für die Symptome schämen bzw. davon geängstigt sind, weil sie Angst haben, verrückt zu werden oder als verrückt eingestuft zu werden. Viele betroffene Patienten leiden zudem an komorbiden, nicht-dissoziativen Symptomen und Erkrankungen, die eine zugrunde liegende dissoziative Störung maskieren können (Steinberg 2004; Dell u. O’Neil 2009). Die Symptome manifestieren sich bei zwei Dritteln der Patienten zwischen dem Beginn der Adoleszenz und dem 3. Lebensjahrzehnt. Aber auch im Kindheits- und Jugendalter könnten dissoziative Symptome vorkommen (Ⴇ Kap. 25 in diesem Band). Patienten, die komplex traumatisiert sind, also über viele Jahre, entwickeln überdurchschnittlich häufig im Alter zwischen 35 und 45 Jahren schwere dissoziative Symptome, wenn es zur Dekompensation bis dahin angewandter Coping-Strategien kommt. Weibliche Patienten sind hier deutlich häufiger betroffen. Dell und O’Neil (2009) unterscheiden eine partielle von einer vollständigen pathologischen Dissoziation. Dissoziative Störungen werden von den Betroffenen, aber auch von Beobachtern als eine Unterbrechung oder Diskontinuität der normalen Integration des Bewusstseins, der Identität, der Erinnerung, der Emotionalität, der Wahrnehmung, der Körperrepräsentation, des Verhaltens und der motorischen Kontrolle empfunden und beschrieben. Dabei kann psychologische und körperliche Funktion betroffen sein. Die peritraumatische Dissoziation tritt häufig unmittelbar nach oder während eines stark belastenden oder traumatischen Erlebnisses auf. Zum Beispiel kommt es vor, dass Unfallteilnehmer »unter Schock stehen« und auf der Autobahn umherirren. Das kann als eine Form der peritraumatischen Dissoziation verstanden werden. Es handelt sich um eine direkte massive Abwehr der Psyche gegen unerträgliche und momentan nicht integrierbare Belastungserfahrungen. Wie eine Art »Totstellreflex« wird gar nichts mehr realisiert und wahrgenommen. Dies kann in manchen Fällen aber auch die Handlungsfähigkeit vorübergehend erhalten. Fallbeispiel Eine 40-jährige Patientin, die mit ihrem Ehemann einen sehr schweren Autounfall erlebt hatte, berichtete: »Es gab einen Riesenknall und es ging alles verdammt schnell. Wir lagen auf dem Dach. Mein Mann war bewusstlos zwischen Lenkrad und Sitz eingeklemmt. Es rauchte aus dem Motorraum. Ich dachte, es explodiert gleich, ich muss ihn rausholen, sonst stirbt er. Ich weiß nicht, wie ich es fertig gebracht habe, aber ich habe ihn rausgezogen und als wir auf dem Feld lagen, explodierte der Wagen und ging in Flammen auf. Erst als der Notarztwagen kam und sie mich behandelten, bemerkte ich, dass ich eine tiefe Fleischwunde am Oberarm hatte und offenbar viel Blut verloren hatte. Ich habe erst danach wieder Schmerzen empfunden und dann erst kam der riesige Schreck und ich bin heulend zusammengebrochen. Aber mein Mann hat es überlebt.« Eine erhöhte Bereitschaft, mit einer peritraumatischen Dissoziation zu reagieren, wird aktuell als ein Risikofaktor für die Entwicklung einer chronischen Posttraumatischen Belastungsstörung angesehen; es sagt diese besser vorher als andere Symptombereiche (Marchand et al. 2015). Eckhardt-Henn: Dissoziative Bewusstseinsstörungen. ISBN: 978-3-7945-3201-8. © Schattauer GmbH 82 5 Allgemeines zur pathologischen Dissoziation – strukturelle Dissoziation Aktuell wird in Anlehnung an die Schneider’schen Negativ- und Positiv-Symptome der Schizophrenie zwischen fehlenden Funktionen, wie z. B. Erinnerungen, Gefühlszuständen, Körperempfindungen, »negativen Symptomen« und sogenannten »positiven dissoziativen Symptomen«, die sich durch ein nicht steuerbares, als intrusiv erlebtes »Zuviel« charakterisieren lassen, unterschieden. Hierzu gehören als überwältigend erlebte und willentlich nicht beeinflussbare Gefühle, plötzlich auftretende visuelle Bilder, plötzlich auftretende Flashbacks, intrusive Gedanken oder Erinnerungen und auch Erinnerungen auf körperlicher Ebene, die sich in Form von somatischen Beschwerden äußern können. Von diesen Symptomen können die subjektive Wahrnehmung und die subjektive Fähigkeit zur Bewältigung alltäglicher Lebensanforderung sehr stark bis maximal beeinträchtigt werden. Wenn es zum Auftreten intrusiver Erinnerungen und Flashbacks kommt, treten in der Folge davon oft dissoziative Amnesien auf, die gewissermaßen die Funktion haben, die belastenden und ängstigenden Inhalte der Flashbacks wieder aus der subjektiven bewussten Wahrnehmung zu löschen. Dell und O’Neil (2009) beschreiben Intrusionen, die nur teilweise vom Bewusstsein ausgeschlossen sind, und Intrusionen, die vollständig vom Bewusstsein ausgeschlossen sind. Diese Unterscheidung ist auf Janet (1889) zurückzuführen. Bei der vollständigen pathologischen Dissoziation, wie z. B. der Amnesie oder der Fugue, ist dem Individuum in diesem Moment nicht mehr zugänglich, was es während der amnestischen Periode fühlte oder tat. Bei der partiellen pathologischen Dissoziation hingegen ist sich der Betroffene gleichzeitig der unfreiwilligen, ich-fremden Intrusion in seiner exekutiven Funktion und seinem Selbstgefühl bewusst. Betroffene Patienten haben immer ein bewusstes Erleben aller anderen dissoziativen Intrusionen außer bei der dissoziativen Amnesie. Nach Dell und O’Neil (2009) kommen partielle pathologische dissoziative Symptome sehr viel häufiger vor als dissoziative Amnesien. Sie unterscheiden sechs Symptomcluster als allgemeine Symptome pathologischer Dissoziation: • Generelle Erinnerungsprobleme • Depersonalisation und Derealisation • Posttraumatische Flashback-Erlebnisse • Somatoforme Symptome • Trance-Zustände • Intrusionen anderer Selbst-Zustände, die bewusst wahrgenommen werden • Amnesien • Fugue-Zustände Hier wird das Spektrum sehr viel weiter gefasst, als es dann bei der Beschreibung der eigentlichen dissoziativen Störungen der Fall ist. Wichtig erscheint mir vor allem, dass die Autoren immer wieder betonen, dass aufgrund der partiellen dissoziativen Symptome, die oft schon einige Jahre vor einer voll ausgeprägten, dissoziativen, abgrenzbaren Störung auftreten, häufige Fehldiagnosen gestellt werden. Generelle Erinnerungsprobleme können sich in schlechten Erinnerungen an den Vortrag, in häufiger Vergesslichkeit, in dem subjektiven Erleben, dass wichtige Ereignisse vergessen wurden, in dem Gefühl, dass eine schwache Erinnerung eine Quelle von Schwierigkeiten im täglichen Leben ist und eine Belastung darstellt, ausdrücken. Somatoforme Symptome können sehr vielfältig sein und sich auf ganz unterschiedliche körperliche Empfindungen beziehen. Es können z. B. sonderbare Veränderungen der körperlichen Funktion auftreten, die nicht durch eine physische oder medizinische Ursache zu erklären sind. Hier kommen vor allem funktionelle neurologische Symptome vor in Form Eckhardt-Henn: Dissoziative Bewusstseinsstörungen. ISBN: 978-3-7945-3201-8. © Schattauer GmbH 83 5.1 Einleitung von Bewegungsstörungen, Lähmungserscheinungen, Gefühlsstörungen, Problemen bei der Harnentleerung, Schluckstörungen, aber auch unerklärbaren Schmerzzuständen oder anästhetischen Zuständen (Minderung oder Ausfallen der Schmerzempfindung) sowie Sehstörungen (z. B. Tunnelblick) oder einer akustischen Distanzierung (z. B. das Gefühl, taub zu sein) oder von physischen Sensationen, nichts mehr empfinden zu können. Ebenfalls können Zitteranfälle und Anfälle, die epileptischen Anfällen sehr ähnlich sein können, vorkommen. Die Anfälle wären m. E. (vgl. Eckhardt-Henn 2015 und Kap. 20 in diesem Band) eher den dissoziativen Bewusstseinsstörungen zuzuordnen. Depersonalisation- und Derealisationszustände können vorkommen, diese werden ausführlich im Kap. 23 in diesem Band beschrieben. Bei den somatoformen Symptomen sollten Konversionssymptome, die auch unbewusste, teilweise konflikthafte Inhalte haben können, von partiellen posttraumatischen flashbackartigen Körpererinnerungen, die mit dem Trauma in spezifischen Zusammenhang stehen und dem impliziten Erinnerungssystem zuzuordnen sind, unterschieden werden. Wenn ein Patient einen Trance-Zustand hat, wird er lange Zeit – manchmal Stunden – als abwesend empfunden. Er kann beispielsweise immer auf einen Punkt starren und nicht mehr reagieren. Die umgebenden Menschen können diese Zustände sehr gut beobachten, allerdings fallen sie ihnen manchmal erst verzögert auf. Auftretende Intrusionen anderer SelbstZustände, die bewusst wahrgenommen werden, können die folgenden sein (vgl. Dell 2009; Eckhardt-Henn 2015): • das Hören unterschiedlicher Stimmen, z. B. Kinderstimmen • das Hören zweier oder mehrerer Stimmen, die Kontroversen haben, die streiten • • • • • • • • • verfolgende Stimme, die negative Kommentare oder Drohungen aussprechen oder aber auch zu selbstverletzenden Handlungen aufrufen sprachliche Entwürfe, die nicht intendiert sind oder aber auch Äußerungen, die nicht zu sich selbstgehörig empfunden werden, so als ob sie selbstständig aus dem eigenen Mund herauskommen das Auftreten von Gedanken oder der Abzug von Gedanken gemachte oder intrusive Gefühle und Emotionen gemachte oder intrusive Impulse gemachte oder intrusive Handlungen vorübergehender Verlust eigentlich gut etablierten Wissens oder Fertigkeiten beunruhigende Wahrnehmungen einer Veränderung des Selbst profunde und chronische Verwirrung über das eigene Selbst Vollständig dissoziierte Intrusionen, die in die exekutiven Funktionen und das Selbst einbrechen, sowie Amnesien kommen oft vor, manchmal auch für kurze Abschnitte des Tages. So können Patienten plötzlich nicht mehr wissen, wie sie von A nach B gekommen sind oder in bestimmte Situationen kamen, können das Gefühl des Zeitverlustes haben, können sich plötzlich an Orten oder in Räumen finden, wo sie nicht wissen, wie sie dort hingekommen sind (Ⴇ Kap. 17 in diesem Band). Es können auch selbstverletzende Handlungen oder artifizielle selbstverletzende Handlungen vorkommen. Die Betroffenen wissen dann nicht, warum sie Verletzungen haben oder bluten, sie stellen plötzlich fest, dass sie bestimmte Handlungen durchführen, sich aber nicht daran erinnern können, dass sie diese Handlungen beabsichtigt und begonnen haben. Eckhardt-Henn: Dissoziative Bewusstseinsstörungen. ISBN: 978-3-7945-3201-8. © Schattauer GmbH 84 5 Allgemeines zur pathologischen Dissoziation – strukturelle Dissoziation Klassische Fugue-Zustände (Ⴇ Kap. 17 in diesem Band), die eher selten auftreten, kommen häufiger bei der DIS (Ⴇ Kap. 22 in diesem Band) vor. Sie müssen von kleineren, schwächeren Alltags-Fugue-Zuständen unterschieden werden. Letzteres kann z. B. eine Situation sein, in der man aus einem Albtraum erwacht und sich plötzlich woanders als im Bett befindet oder man befindet sich plötzlich unter dem Bett, in einer Ecke, in einer Abstellkammer usw. Häufig kommt es vor, dass Handlungen von anderen berichtet werden, aber der Betroffene sich selbst nicht daran erinnern kann, oder dass er plötzlich Gegenstände findet, deren Herkunft er nicht erinnern kann. Oft erkennen die Betroffenen plötzlich Folgen von bestimmten Handlungen, aber können sich nicht mehr daran erinnern, diese Handlungen selbst durchgeführt zu haben. Die folgenden abgegrenzten wichtigen dissoziativen Störungsbilder werden je nachdem, welche der Symptome im Vordergrund stehen oder wie viele Symptome in welcher Qualität und Häufigkeit auftreten, unterschieden: • Depersonalisations- und Derealisationszustände • Dissoziative Amnesie und Fugue-Zustände • Dissoziative Identitätsstörung • Komplexe dissoziative Störung, nicht anders spezifiziert (Not Otherwise Specified, DDNOS) • Somatoforme dissoziative Symptome/ Konversionssymptome Die dissoziative Fugue, der dissoziative Stupor, Trance- und Besessenheitszustände kommen eher seltener vor. Zur Beschreibung Ⴇ Kap. 17–22 in diesem Band. 5.2 Pathogenetische Modelle Wir wissen heute, dass schwerere dissoziative Bewusstseinsstörungen in der Folge von komplexen Traumafolgestörungen auftreten. Hierzu gibt es mittlerweile zahlreiche empirische Arbeiten (Dell und O’Neil 2009; Spitzer et al. 2015 u. v. m.). Wenn ein Kind, ein Jugendlicher oder ein Erwachsener einer chronischen, über lange Zeit anhaltenden komplexen Traumatisierung ausgesetzt ist, kann die Herausbildung eines zentralen integrierenden Bewusstseins erschwert oder gar verhindert werden. Komplexe dissoziative Störungen werden gegenwärtig als »Diathese-Stressmodell« konzeptualisiert (vgl. Carlson et al. 2009; Ⴇ Kap. 6–9 in diesem Band). Sie werden als eine psychobiologische Antwort auf schwere, in einem bestimmten Zeitfenster der frühen Kindheit erlittene Traumatisierungen verstanden (Schore 2003; Ⴇ Kap. 22 in diesem Band). Ähnlich wie bereits von Pierre Janet wird die Dissoziation gewissermaßen als eine autoregulative Verarbeitungsstörung belastender Erfahrungen verstanden. Es kommt aufgrund neurobiologischer Veränderungen und struktureller sowie funktioneller ZNS-Veränderungen sehr wahrscheinlich zu spezifischen Störungen bestimmter Funktionen, wie der Regulation von Affektzuständen und Spannungszuständen und weiter zu einer Einschränkung der Fähigkeit zur Emotionsdifferenzierung (Ⴇ Kap. 6–8, 12 und 13 in diesem Band). Aufgrund mittlerweile mehrfach replizierter empirischer Ergebnisse wissen wir, dass Patienten, die komplexen traumatischen Erlebnissen über lange Zeit ausgesetzt waren, eine ständige zentrale Aktivierung in ihren neuroendokrinen humoralen Stressachsen zeigen, womit die teilweise sehr quälenden vegetativen Symptome erklärt werden können. Die Betroffenen geraten auch bereits durch Reize, die unter der bewussten Wahr- Eckhardt-Henn: Dissoziative Bewusstseinsstörungen. ISBN: 978-3-7945-3201-8. © Schattauer GmbH 85 5.2 Pathogenetische Modelle nehmungsschwelle dargeboten werden, in schwere Spannungszustände. Man kann dies als einen permanenten Zustand des Hyperarousal, einen systemischen Alarmzustand, beschreiben. Mit zunehmender Spannung können dissoziative Symptome sich verstärken und umgedreht, kann es nach dissoziativen Zuständen zu einer Verstärkung der Spannungszustände kommen. Diese Phänomene bedingen sich offenbar gegenseitig. Solche Spannungszustände führen zu einer Verminderung der Emotionsidentifizierung und -differenzierung. In der Folge fühlen sich die Patienten sehr überfordert und können sich nur schlecht von bestimmten Belastungen und von diesen innerlich als überschwemmend erlebten Gefühlszuständen distanzieren. Die Fähigkeit, Probleme oder Konflikte zu lösen, vermindert sich damit noch weiter, sie geraten in einen Zustand der Hilflosigkeit, der zu einem erhöhten Drang führt, eine unmittelbare Lösung zu finden. Von vielen Autoren und Klinikern wurde beobachtet, dass Patienten mit dissoziativen Störungen auch bei nicht traumaassoziierten Reizen im weiteren Verlauf der Erkrankung immer schneller dissoziative Symptome in unspezifischen Spannungs- und Belastungszuständen entwickeln können. Ihre Ich-Fähigkeit und ihre Bewältigungsfähigkeit nehmen weiter ab. Oft kann es dann zum Auftreten selbstverletzender Verhaltensweisen, die manchmal die dissoziativen Zustände, vor allem Depersonalisations- und Derealisationszustände, beenden können, kommen. Das Modell der strukturellen Dissoziation Charles Samuel Myers beschrieb in einer vielfach zitierten Arbeit »Shell Shock in France 1914–1918« bereits 1940 eine Grundform der strukturellen Dissoziation bei akut traumatisierten Soldaten des Ersten Weltkrieges. Auf diesem Hintergrund entwickelten Van der Hart und Nijhenhuis (2008) aus Holland und Steele et al. (2009; USA) das Modell der »Strukturellen Dissoziation« (Nijenhuis et al. 2003; Van der Hart et al. 2008; Nijenhuis und Den Boer 2007). Dieses Modell hat sich als Verständnismodell schwerer dissoziativer Störungen, wie der komplexen Dissoziativen Identitätsstörung und der komplexen dissoziativen Störung (DDNOS), etabliert. Unterschieden werden die primäre strukturelle Dissoziation, die sekundäre strukturelle Dissoziation und die tertiäre strukturelle Dissoziation. Unterschiedliche Grade der Aufmerksamkeit/Bewusstheit, wie z. B. Tagträume, imaginatives Erleben, starke Konzentration auf ganz bestimmte Inhalte und damit Zurücktreten des direkten Erlebens, Konzentrationsstörungen bei Krankheitszuständen, Müdigkeit und auch Zustände von Derealisation und Depersonalisation – wenn sie nicht in pathologischem Ausmaß auftreten – gehen mit einem unterschiedlichen Ausmaß der Qualität und Quantität erinnerbaren Erlebens einher. Diese Zustände müssen von der strukturellen Dissoziation unterschieden werden. In früheren Arbeiten wurden solche Zustände oft als physiologische Dissoziation oder leichte, unspezifische Dissoziation beschrieben. Aktuell werden sie nicht mehr zu den eigentlichen pathologischen dissoziativen Störungen des Bewusstseins gerechnet. Den oben beschriebenen »veränderten« Bewusstseinszuständen und den Zuständen der primären, sekundären und tertiären strukturellen Dissoziation liegen sehr wahrscheinlich verschiedene Mechanismen zugrunde, die allerdings gegenwärtig noch nicht wirklich aufgeklärt sind. Viele Menschen, die häufiger veränderte Bewusstseinszustände erleben, haben keine strukturelle Dissoziation, aber umgekehrt zeigen Menschen mit struktureller Dissozia- Eckhardt-Henn: Dissoziative Bewusstseinsstörungen. ISBN: 978-3-7945-3201-8. © Schattauer GmbH