Psychiatrie Vor 9 Dissoziative Störungen (Konversionsstörungen) Definition: Es handelt sich um eine Gruppe von Störungen, bei denen es zu körperlich (meist neurologisch) anmutenden Ausfällen kommt, ohne dass es eine erklärende somatische Ursache gibt und deren Entwicklung ein psychischer Konflikt vorausgeht. Es kommt dabei zu einer teilweisen oder vollständigen Entkopplung von seelischen und (umschriebenen) körperlichen Funktionen (Dissoziation). Das klinische Bild kann äußerst vielgestaltig sein. Klassifikation: Die Störung der Integration betrifft die Erinnerungen an die Vergangenheit, das Identitätsbewusstsein und unmittelbare Empfindungen, aber auch die Kontrolle von willkürlich steuerbaren Körperfunktionen und Körperbewegungen Unter Konversion ist ein Vorgang zu verstehen, in dem ein seelischer Konflikt in körperliche Symptome so umgesetzt (konvertiert) wird, dass die Symptome den Konflikt in symbolischer Form zum Ausdruck bringen und die Psyche dadurch zugleich Entlastung von einer inneren Anspannung erfährt. Historisches: Die dargestellten Störungen sind historisch eng mit dem bereits von Hippokrates verwendeten Begriff der Hysterie verbunden. Ende des 19. Jahrhunderts gewann der Begriff durch Charcot (1825-1893) fast den Charakter einer neurologischen Krankheit mit vielfältigen Symptomen, die sich vor allem, aber nicht ausschließlich, im psychischen Bereich manifestieren sollten. Wegen seiner negativen Prägung wird heute bewusst auf den Begriff Hysterie verzichtet. Im ICD-10 sind dissoziative und Konversionsstörungen in einem eigenen Abschnitt zusammengefasst. Das DSM-IV unterscheidet dissoziative von Konversionsstörungen. Epidemiologie: Allgemeine Angaben über die Häufigkeit in der Allgemeinbevölkerung fehlen. Dissoziative Störungen der Bewegungen und der Sinnesempfindungen werden in der Allgemeinbevölkerung in 0,5% bis 4% gefunden, im Allgemeinkrankenhaus sind sie häufiger. Alle Altersgruppen können betroffen sein, der Häufigkeitsgipfel liegt zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr. Bei Frauen wird die Störung häufiger diagnostiziert. Dissoziative Amnesien, dissoziative Fugue, multiple Persönlichkeitsstörungen; und Depersonalisationsstörungen werden nur selten diagnostiziert Atiopathogenese: Psychoanalytische Theorien: Innerseelische, unbewusste Konflikte werden quasi in Körpersprache übersetzt. Dadurch besteht häufig ein deutlicher Symbolcharakter der Symptomatik. Bei der Wahl des Symptoms wird neben seiner symbolhaften Bedeutung auch eine Prägung durch eine individuelle Anfälligkeit bestimmter Organsysteme diskutiert. In klassischen Hysteriekonzepten spielt die ödipale Konfliktproblematik eine wichtige Rolle. Wichtige Abwehrmechanismen sind Verleugnung, Verdrängung, Verschiebung, Projektion und Identifizierung Der primäre Krankheitsgewinn besteht in inneren Vorteilen, die ein Patient aus seinen neurotischen Symptomen ziehen kann. Unter sekundärem Krankheitsgewinn wird ein äußerer Vorteil verstanden, den ein Patient nachträglich erreichen kann (z.B. vermehrte Zuwendung). Nach lerntheoretischen Modellen sind primärer und sekundärer Krankheitsgewinn verstärkende Faktoren. Konversionssymptome können auch als aktualisierte frühe und „primitive" Bewegungsabläufe bzw. sensorische Phänomene angesehen werden. Auch das gehäufte Auftreten psychogener Störungen bei nahen Bezugspersonen (z.B. in Familien oder Schulklassen) kann so erklärt werden („Lernen am Modell"). Symptomatik und klinische Subtypen Die Symptomatik ist unterschiedlich. Art und Ausmaß der bestehenden Symptomatik können schnell wechseln Es besteht evtl. eine enge zeitliche Verbindung zu akut traumatisierenden Ereignissen, oder längere Zeit bestehenden unlösbaren oder unerträglichen Konflikten. Trotz der Ernsthaftigkeit der geklagten Beschwerden werden diese häufig von den Patienten scheinbar ruhig angenommen. Eine Beziehung zu psychischen Konflikten wird oft völlig abgelehnt. Die früher beschriebenen, sehr demonstrativen Ausdrucksformen (z. B. „Arc de cercle„) sind heute unspezifischeren Symptomen („Intimformen", insbesondere vegetative Symptome) gewichen. Dissoziative Störungen der Bewegung und der Sinnesempfindung (Konversionsstörung Definition: Dissoziative Störungen, die sich im Bereich der Bewegungsfunktionen oder der Sinneswahrnehmungen manifestieren. Der Patient bietet körperliche Symptome, ohne dass sich eine ausreichende organische Erklärung findet. Die häufigsten Störungen sind: Paralysen und Paresen, Ataxie, Astasie (Unfähigkeit zu stehen), Abasie (Unfähigkeit zu gehen), Zittern und Schütteln Aphonie und Dysarthrie, Sensibilitätsstörungen der Haut, visuelle Störungen, Krampfanfälle (Zungenbiss, Urininkontinenz oder schwere Sturzverletzungen sind selten). Die Fortführung normaler Alltagsaktivitäten kann erheblich erschwert sein. Körperliche Folgen sind möglich (z. B. Kontrakturen). Dissoziative Störungen von Identität, Gedächtnis und Bewusstsein Definition: Desintegration verschiedener seelischer Funktionen (z.B. Erinnerung an die Vergangenheit, Identitätsbewusstsein) Multiple Persönlichkeitsstörung (dissoziative Identitätsstörung) Das Merkmal dieser Störungen ist die Existenz von zwei oder mehr unterschiedlichen Persönlichkeiten oder Persönlichkeitszuständen innerhalb eines Individuums. Der Wechsel von der einen zur anderen Persönlichkeit vollzieht sich beim ersten Mal oft plötzlich. Dissoziative (psychogene) Amnesie Plötzliche Unfähigkeit, sich an wichtige persönliche Daten zu erinnern. Meist ist die Erinnerungslücke unvollständig und beschränkt auf bestimmte Inhalte (selektive Amnesie) oder auf einen umschriebenen Zeitabschnitt (lokalisierte Amnesie). Die Amnesie setzt meist abrupt ein und endet plötzlich. Dissoziative (psychogene) Fugue Plötzliches, unerwartetes Weggehen von zu Hause oder aus der gewohnten Umgebung, verbunden mit der Annahme einer neuen Identität und der Unfähigkeit, sich an die frühere Identität zu erinnern. Typischerweise gehen der dissoziativen Fugue belastende Ereignisse oder Situationen voraus. Dissoziativer (psychogener) Stupor Stupor ist gekennzeichnet durch eine massive Verringerung oder das vollständige Fehlen willkürlicher Bewegungen und normaler Reaktionen auf äußere Reize. Es bestehen Hinweise auf kurz vorangegangene belastende Ereignisse. Depersonalisationsstörung Definition: Unter einer Depersonalisationsstörung (Entfremdungserleben) wird die Veränderung der Wahrnehmung der eigenen Person oder des eigenen Körpers verstanden. Die Depersonalisation kann mit dem Erlebnis der Derealisation verbunden sein (Veränderung der Umgebungswahrnehmung). Die Patienten klagen über ein Gefühl der Leere im Kopf, das Gefühlserleben wird als unpersönlich beschrieben, die eigenen Handlungen erscheinen dem Patienten mechanisch. Das Symptom der Depersonalisation und der Derealisation ist eine unspezifische psychische Reaktionsweise und bei einer Vielzahl anderer Erkrankungen zu beobachten. Weitere Formen Der psychische Vorgang der Dissoziation bzw. der Konversion spielt auch bei anderen Störungen eine Rolle; u.a.: Ganser-Syndrom („Vorbeireden") Trance-Zustände (Zustände mit verändertem Bewusstsein) Indoktrination („Gehirnwäsche", z.B. in Gefangenenlagern) Diagnostik und Differenzialdiagnose Die Abgrenzung zur organischen Störung darf sich jedoch nicht alleine auf das Fehlen organischer Symptome beschränken. Zu fordern ist darüber hinaus ein enger zeitlicher Zusammenhang mit Belastungen, Problemen oder einer gestörten Beziehung. Ein solcher Zusammenhang ergibt sich häufig aus der Fremdanamnese. Weitere Differenzialdiagnosen: -psychosomatische Störungen (fassbare Organveränderungen), -somatoforme Schmerzstörung, hypochondrische Störung, Simulation Von neurologischen Symptomen lassen sich dissoziative Störungen evtl. dadurch abgrenzen, dass die psychogenen Störungen sich nicht streng an morphologischen oder funktionellen Bedingungen orientieren. Auch Anfallsleiden (Temporallappen-Epilepsie), Intoxikationen, katatone und depressive Zustände müssen ausgeschlossen werden. Zur Depersonalisation kann es bei starker Emüdung, akuten Psychosen Angststörungen und Persönlichkeitsstörungen kommen. Therapie Der Schwerpunkt der Therapie liegt auf psychotherapeutischen Verfahren. Grundlage aller therapeutischen Strategien ist ein tragfähiger therapeutischer Kontakt zwischen Arzt und Patient. Stets sollte der entstehende primäre und vor allem auch sekundäre Krankheitsgewinn beachtet werden. Therapeutische Maßnahmen sollten möglichst frühzeitig einsetzen, um Folgeschäden im körperlichen und sozialen Bereich zu vermeiden. Die psychotherapeutischen Verfahren können in vielen Fällen mit Entspannungsverfahren kombiniert werden. Mit Verhaltenstherapie können kognitive Überzeugungen zur Symptombildung verändert und die Körperwahrnehmung beeinflusst werden. Durch einen psychodynamischen Therapieansatz sollen zugrunde liegende zentrale Konflikte und Affektzustände deutlicher werden. Psychopharmaka werden meist nur kurzfristig eingesetzt. In Frage kommen Antidepressiva und (seltener) Benzodiazepine. Verlauf Typisch ist ein meist abrupter Beginn, der oft in einem engen zeitlichen Zusammenhang mit einem als belastend empfundenen Ereignis oder einer Situation steht. Die Symptombildung ist meistens flüchtig, kann aber auch chronisch werden. Manche Menschen entwickeln in Belastungssituationen ein sich wiederholendes Reaktionsmuster. Ein Symptom Wechsel ist möglich. Komorbidität Eine wesentliche Komorbidität findet sich mit -Persönlichkeitsstörungen -Angsterkrankungen -somatoformen Störungen