Dissoziative Störungen (Konversionsstörungen) (Konversionsneurose, hysterische Neurose) Es handelt sich um Krankheitsbilder, bei denen es zu einer teilweisen oder vollständigen Entkopplung von seelischen und körperlichen Funktionen kommt. Das Hauptmerkmal dieser Störungen sind psychogen entstandene, organisch anmutende Körpersymptome. Besonders häufig sind neurologisch anmutende Symptome zu finden, seltener beziehen sich die Symptome auf das vegetative oder endokrine System. Betrifft die Dissoziation das Bewußtsein der eigenen Identität, so resultieren Störungen wie die multiple Persönlichkeitsstörung, bei Desintergration des Gedächtnisses können wichtige persönliche Ereignisse nicht mehr erinnert werden (dissoziative Amnesie). Allgemeines Kennzeichen ist die Entkopplung (Dissoziation) seelischer und körperlicher Funktionen (z.B. neurologische Symptome ohne Körperliche Ursache). Die Störung der Integration betrifft die Erinnerungen an die Vergangenheit, das Identitätsbewußtsein und unmittelbare Empfindungen, aber auch die Kontrolle von willkürlich steuerbaren Körperfunktionen und -bewegungen. Unter Konversion ist ein Vorgang zu verstehen, in dem ein seelischer Konflikt in körperliche Symptome so umgesetzt (konvergiert) wird, daß die Symptome den Konflikt in symbolischer Form zum Ausdruck bringen und die Psyche dadurch zugleich Entlastung von einer inneren Anspannung erfährt. Daher werden die meisten der genannten Störungen als Konversionsstörungen klassifiziert. Historisch mit dem Begriff „Hysterie“ verbunden. im DSM-III-R werden die dissoziative Störung und die Konversionsstörung unterschieden. Die Depersonalisationsstörung wird im DSM-III-R unter die dissoziativen Störungen klassifiziert, im ICD-10 unter „andere neurotische Störungen“. 1 Epidemiologie Die teilweise noch großen Unterschiede in den Kriterien bringen es mit sich, daß allgemein anerkannte und überprüfbare Angaben über die Häufigkeit in der Allgemeinbevölkerung bisher fehlen. Frauen sind häufiger als Männer betroffen, am häufigsten bei Jugendlichen. Dissoziative Störungen der Bewegung und der Sinneswahrnehmung sind die häufigsten Störungen dieser Gruppe (z.B. psychogene Sehstörungen, Lähmungen). Dissoziative Amnesien (psychogene Erinnerungsstörungen z.B. bei Naturkatastrophen), dissoziative Fugue (psychogenes Weglaufen), multiple Persönlichkeitsstörungen und Depersonalisationsstörungen werden nur selten diagnostiziert (in USA höhere Angaben). Ätiopathogenese Hier stehen psychoanalytische Theorien im Vordergrund. Ausgangspunkt dieser Modellvorstellungen ist ein Bestehen unerfüllter Triebwünsche, die zwar ins Unbewußte verdrängt werden, deren Dynamik aber trotzdem erhalten bleibt und sich schließlich in unterschiedlichen Konversionssymptomen äußern kann. Innerseelische Konflikte werden somit quasi in eine Körpersprache übersetzt. Dadurch besteht sehr häufig Ausdrucks- und Symbolcharakter der Symptom (z.B. für die zugrundeliegende Situation blind sein). Bei der Symptomwahl wird neben der symbolhaften Bedeutung auch eine Prägung durch individuelle Anfälligkeiten bestimmter Organsysteme diskutiert. Z.B Persönlichkeitsspaltung: Lösung des innerseelischen Konflikts durch Verteilung gegensätzlicher Triebwünsche auf mehrere Persönlichkeiten. In früheren Theorien wurde davon ausgegangen, daß der Symptombildung i.d.R. ein Konflikt im sexuell-erotischen Bereich zugrunde liegt. In späteren Auffassungen wurde diese Vorstellung erweitert und auf andere konflikthafte Themen übertragen. In klassischen Hysteriekonzepten spielen die ödipale Konstellation mit der Fixierung auf den gegengeschlechtlichen Elternteil und eine ungelöste Abhängig- 2 keitsproblematik eine wesentliche Rolle. Wichtige Abwehrmechanismen sind Verleugnung, Verschiebung, Projektion und Identifizierung. Wichtig für das Verständnis der Entstehung von Konversionssymptomen ist das Erreichen eine möglichen primären Krankheitsgewinns. Darunter versteht man die inneren Vorteile, die ein Patient aus seinen neurotischen Symptomen und einer dadurch begründeten Krankheit ziehen kann (z.B. Vermeidung problematischer Situationen=> Verringerung innerer Anspannung, die mehr wiegt als symptomatische körperliche Beeinträchtigung).Unter sekundärem Krankheitsgewinn versteht man einen äußeren Vorteil, den eine Patient nachträglich aus den bestehenden neurotischen Symptomen ziehen kann (z.B. vermehrte Zuwendung, Erlangung einer Rente). Also zunächst Folge, dann Verstärkung der Symptomatik. In lerntheoretische Modellen erscheinen konversionsneurotische Symptome als Aktualisierung früher und „primitiver“ Bewegungsabläufe und sensorischer Phänomene. Tritt dadurch innere oder äußere Entlastung auf, so kann das zu einer Verstärkung und damit zu einem Wiederauftreten oder zur Persistenz der Symptomatik beitragen. Durch „Lernen am Modell“ kann auch vermehrtes Auftreten bei nahen Bezugspersonen erklärt werden. 3 Dissoziierte Funktion Symptomatik (Beispiele) Körperbewegung (Willkürmotorik) - Parese/Paralyse - Aphonie (Stimmverlust) - Akinese (Bewegungslosigkeit) - Tremor - Visusminderung/ Blindheit - Anästhetische Hautareale - Minderung des Hörvermögens - Multiple Persönlichkeitsstörung - Amnesie - Fugue (zielloses Fortlaufen) - Krampfanfall - Stupor Sinneswahrnehmung Personale Identität Gedächtnis Komplexe Störung Symptomatologie und klinische Subtypen Symptomatik ist je nach Art des betroffenen Funktionsbereichs sehr unterschiedlich. So z.B.: Art und Ausmaß der Symptomatik können schnell wechseln. Dissoziative Störungen und Konversionsstörungen sind als psychogene Störungen anzusehen. D.h. den Beschwerden liegt keine körperliche Störung zugrunde, die auslösenden oder verursachenden Bedingungen sind im psychischen Bereich zu suchen. Es besteht evtl. eine enge zeitliche Verbindung zu akut traumatisierenden Ereignissen, oder die Symptomatik ist Ausdruck eines längere Zeit bestehenden unlösbaren oder unerträglichen Konflikt. Ausmaß der Symptomatik kann von inneren und äußeren Bedingungen abhängen, z.B. emot. Zustand des Patienten. Die früher beschriebenen sehr demonstrativen Ausdrucksformen (z.B.“arc de cercle“= massives Überstrecken des gesamten Körpers) sind heute unspezifischere Symptomen („Intimformen“ z.B. vegetative Störungen, Gereiztheit) gewichen. 4 1) Dissoziative Störungen der Bewegung und der Sinnesempfindungen Diejenige dissoziativen Störungen, die sich im Bereich der Bewegungsfunktionen oder der Sinneswahrnehmung manifestieren. Der Patient bietet körperliche Symptome, ohne das sich dafür eine ausreichende organische Erklärung findet. am häufigsten sind neurologisch anmutende Symptome. (siehe auch Tabelle) Häufigste Symptome: Paralysen (Bewegungsunfähigkeit) und Paresen (Lähmung), Ataxie (mangelnde Koordination), Astasie (Unfähigkeit zu stehen), Abasie (psychogene Gangstörung), Zittern und Schütteln, Aphonie (Stimmverlust) und Dysarthrie (undeutliches Aussprechen), Sensibilitätsstörungen der Haut, visuelle Störungen (z.B. Tunnelsicht), Krampfanfälle (die wie epileptische Anfälle aussehen, meist aber nicht zu Verletzungen führen). Als Folge ist die Fortsetzung normaler Alltagsaktivitäten meist nicht möglich, körperliche Folgen können Kontrakturen (Bewegungsunfähigkeiten der Gelenke) und Inaktivitätsatrophie (Muskelschwäche?) sein. 2) Dissoziative Störungen der Identität, des Gedächtnisses und des Bewußtseins Es kommt zur Desintegration verschiedener seelischer Funktionen. Die wichtigsten Unterformen sind: Multiple Persönlichkeitsstörung: Die Existenz von zwei oder mehreren Persönlichkeiten oder Persönlichkeitszuständen innerhalb eine Individuums. In typischen Fällen sind die verschiedenen Persönlichkeiten vollständig voneinander getrennt, sind vollständig, mit eigenen Eigenschaften und übernehmen volle Kontrolle über das Verhalten. Der Wechsel von einer Persönlichkeit zur anderen vollzieht sich beim ersten Mal meist plötzlich und ist eng mit traumatischen Erlebnissen verbunden. Spätere Wechsel oft begrenzt auf belastende Ereignisse. Nicht zu verwechseln mit der volkstümlichen Bezeichnung der „gespaltenen Persönlichkeit“ für Schizophrenie. 5 Dissoziative (psychogene) Amnesie: Plötzliche Unfähigkeit sich an wichtige persönliche Daten zu erinnern. Meist ist die Erinnerungslücke unvollständig und beschränkt sich auf bestimmte Inhalte (selektive Amnesie) oder auf einen umschriebenen Zeitabschnitt(lokalisierte Amnesie). Vergessen meist bezogen auf das traumatisierende Ereignis. Generalisierte Amnesie evtl. für das ganze Leben ist seltener. Die Amnesie beginnt (oft nach belastendem Ereignis) und endet meist abrupt. Wiederholungen sind selten. Dissoziative (psychogene) Fugue: Hauptmerkmal: plötzliches, unerwartetes Weggehen von zu Hause oder aus der gewohnten Umgebung, verbunden mit der Annahme einer neuen Identität und der Unfähigkeit, sich an die frühere Identität zu erinnern. Meist gehen belastende Ereignisse oder Situationen voraus. Dissoziativer (psychogener) Stupor: Massive Verringerung oder vollständiges Fehlen willkürlicher Bewegungen und normaler Reaktionen auf äußere Reize. Hinweise auf kurz vorangegangenes belastendes Ereignis oder gegenwärtige Probleme. 3) Depersonalisationsstörung (Entfremdungserleben) Veränderung der Wahrnehmung der eigenen Person oder des eigenen Körpers. Depersonalisation kann mit dem Erlebnis der Derealisation verbunden sein (Veränderung der Wahrnehmung der Umgebung). Das Wissen über die Integrität des eigenen Körpers bleibt zwar erhalten, aber dieser rationale Vorgang löst sich von dem gefühlsmäßigen Erleben. Der Wechsel wird als subjektiv und spontan, nicht von anderen verursacht akzeptiert. Es wird über ein Gefühl der Leere im Kopf oder ein stumpfes Druckgefühl geklagt, das Gefühlserleben wird als unpersönlich beschrieben, die eigenen Handlungen erscheinen der Person mechanisch. Das Symptom der Depersonalisation (und der Derealisation) ist eine unspezifische psychische Reaktionsweise und ist bei 6 einer Vielzahl von anderen Erkrankungen oder episodisch z.B. auch bei starker Erschöpfung zu beobachten. Diagnose der Depersonalisationsstörung deshalb auch nur, wenn beschriebene Symptomatik ganz im Vordergrund steht und nicht Folge einer anderen psychischen Störung ist. 4) Andere und seltene Formen Der Vorgang der Dissoziation bzw. Konversion spielt auch bei anderen Störungen eine Rolle z.B.: - Ganser-Syndrom (demonstratives Vorbeireden, kann auch den Anpassungsstörungen zugeordnet werden). Systematische Desorientiertheit. - Trance-Zustände (verändertes Bewusstsein, eingeschränkte Empfänglichkeit für Umgebungsreize) - Indoktrination (Gehirnwäsche z.B. in Gefangenenlagern) nach DSM-III-R. Diagnostik und Differentialdiagnose Das Bild der dissoziativen Störung kann vollständig mit dem jeder organischen Erkrankung übereinstimmen. Primär muß, auch wegen möglicher Imitation einer organischen Erkrankung, die organische Störung differentialdiagnostisch ausgeschlossen werden. Diese Abgrenzung zur organischen Störung darf sich allerdings nicht allein auf das Fehlen organischer Symptome beschränken. Zu fordern ist darüber hinaus (=> „positive Diagnosestellung“) ein enger zeitlicher Zusammenhang mit Belastungen, Problemen oder gestörten Beziehungen. Ein solcher Zusammenhang ergibt sich häufig erst aus der Fremdanamnese. Weitere Differentialdiagnosen sind: - psychosomatische Störungen (Unterschied: Hier fassbare Organveränderungen), - somatoforme Schmerzstörung. - hypochondrische Störung, - Simulation (vorgetäuschte Störung). 7 Abgrenzung von neurologischen Symptomen evtl. dadurch, daß psychogene Störungen sich nicht streng an morphologischen oder funktionellen Bedingungen orientieren (z.B. psychogene Anfälle zwar dramatisch, aber selten Bewusstlosigkeit und Hinstürzen mit Verletzungen). Bei der Differentialdiagnose ist auf das Vorliegen von Anfallsleiden (Temporallappen-Epilepsie), Intoxikationen, katatone und depressive Zustände und Simulation zu achten. Das Depersonalisationssyndrom findet sich auch bei: - starker Ermüdung, - akuten Psychosen, - Angststörungen und - Persönlichkeitsstörungen. Verlauf Typischerweise abrupter Beginn, der oft in einem engen zeitlichen Zusammenhang mit einem als belastend empfundenen Ereignis oder Situation steht. Die Symptombildung ist meistens flüchtig und klingt spontan ab. Manche Menschen entwickeln in Belastungssituationen ein sich wiederholendes Reaktionsmuster. Bei längerem bestehen kann es zu einem Symptomwechsel kommen (z.B. zu psychosomatischen Erkrankungen). Therapie Schwerpunkt liegt auf psychotherapeutischen Verfahren, nur in Ausnahmefällen und vorübergehend psychopharmakologische Strategien (Anxiolytika bei Angstsymptomatik, Antidepressiva). Grundlage aller therapeutischen Maßnahmen ist ein tragfähiger Kontakt zwischen Patient und Therapeut. Dabei darf dem Patienten nicht das Gefühl gegeben werden, daß die Symptomatik als „eingebildet“ betrachtet wird. D.h. die vermutete Psychogenie der Beschwerden sollte dem 8 Patienten nicht auf den Kopf zugesagt werden, er sollte schrittweise an diese Einsicht herangeführt werden. Sowohl primärer, besonders aber sekundärer Krankheitsgewinn müssen beachtet werden. Therapeutische Maßnahmen sollten möglichst früh einsetzen, um Folgeschäden im körperlichen und sozialen Bereich zu vermeiden. Oft hat sich die Kombination mit organisch anmutenden Übungsbehandlungen (z.B. Krankengymnastik) bewährt. Durch diese Brücke zur somatischen Krankheit wird es dem Patienten oft erleichtert, das gebotene Symptom aufzugeben. In manchen Fällen ist es aber günstiger Aufmerksamkeit von Symptom abzulenken, um Fixierung zu vermeiden. Konflikt- oder symptomorientierte psychotherapeutische Ansätze können oft mit Entspannungsverfahren kombiniert werden. 9