Dissoziative Störungen Tobias Renner Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter Universität Tübingen Wintersemester 2013/14 2013 Dissoziative Störungen Verlust der Integration bezüglich Erinnerungen Identitätsbewusstsein Empfindungen Körperbewegungen Verlust der Kontrolle über willkürliche Funktionen Keine organische Ursache der Symptomatik 2 Dissoziative Störungen Fehlen einer organischen Störung, welche die Symptomatik kausal erklären könnte Überfordernderung als Kernproblematik traumatisierendes Ereignis unlösbarer oder unerträglicher Konflikt 3 Klinische Manifestationen dissoziativer Störungen Motorik Lähmungen Abasie, Astasie Torticollis abnorme Bewegungsabläufe Sensibilität Hypästhesien, Anästhesien Hyperästhesien Sensorik Schwerhörigkeit, Taubheit Hyperakusis Sehstörungen bis zur Blindheit 4 Klinische Manifestationen dissoziativer Störungen Visceral Sprechstörungen bis zur Aphasie Dysphagien Singultus Erbrechen Bewußtsein Ekstase Sopor Stupor 5 Beschreibung im 19. Jhdt. als „Hysterie“ 6 Konzept der Dissoziation Pierre Janet 7 Klassifikation Dissoziativer Störungen ICD-10 Amnesie F44.0 Fugue F44.1 Stupor F44.2 Trance F44.3 Bewegungsstörungen F44.4 Krampfanfälle F44.5 Sensibilitäts- und Empfindungsstörungen F44.6 Ganser-Syndrom F44.80 Multiple Persönlichkeitsstörung F44.81 8 Dissoziative Störung - Konversionsstörung? Dissoziative Störung Konversionsstörung Störung des Bewusstseins Störung körperl. Funktionen Amnesie Bewegungsstörungen Fugue Lähmungen Trance Gangstörungen Multiple Persönlichkeit Krampfanfälle Stupor Schreiblähmung… ICD-10 und deutscher Sprachgebrauch: 9 Dissoziative Störung Psychopathologische Merkmale Belle indifference: Gleichgültigkeit oder Indolenz gegenüber Symptomatik Symptomatik kann zweckgerichtet erscheinen und demonstrativen Charakter aufweisen Zweckorientierung kann Außenstehenden erkenntlich sein, ist dem Patienten jedoch nicht bewußt 10 Epidemiologie stationäre Therapie in KJP: 1-2 % der Fälle, w > m häufiger in vorindustriellen Gesellschaften bzw. Übergangsgesellschaften typisches Manifestationsalter Jugendalter bzw. frühes Erwachsenenalter Dissoziative Störungen - auslösende Faktoren zentrales Moment ist Überforderung, durch z.B. kritische Lebensereignisse organische Erkrankung psychische Dauerbelastung tägliche Belastungen 12 Überforderung – Analyse der Lebensbereiche Familie Soziales Umfeld andere Lebensereignisse 13 Schule Auslösende Faktoren Erfassung der Lebensbereiche Schule u.a. schulische Überforderung, Lern- und Leistungsstörungen Familie u.a.familiäre Konflikte, Krankheit,Todesfälle von Bezugspersonen Soziales Umfeld erfahrene Übergriffe, Außenseitertum Andere belastende Lebensergeignisse Hinweise auf Vorliegen einer dissoziativen Störung Übernahme von Symptomen eines Modells Belle indiffèrence psychische Erkrankungen in Familie organische Erkrankungen am oder vor Beginn der Störung körperliche Belastung durch Krankheitsfolgen traumatische Lebensereignisse „primärer“ und „sekundärer“ Krankheitsgewinn Symbolgehalt Resch 2008 15 Differenzialdiagnose dissoziativer Störungen Epilepsien Neurologische Erkrankung Synkopale Anfälle Hyperventilationstetanie Hypoglykämischer Bewusstseinsverlust Tics Persönlichkeitsstörungen Psychosen Simulation Dissoziative Störung – keine Simulation! Klare Abgrenzung zu bewusster Simulation Z.76.8 Bei dissoziativer Störung keine Kontrolle über betroffene Funktionsbereiche kein bewusstes Einsetzen der Symptomatik 17 Dissoziative Störung vs. Somatoforme Störungen Somatisierungsstörung F 45.0 mind. 2 Jahre wechselnde körperliche Symptome “Ärztehopping” psychische Ursache wird nicht akzeptiert 18 Dissoziative Störung vs. Somatoforme Störungen Somatisierungsstörung F 45.0 mind. 2 Jahre wechselnde körperliche Symptome “Ärztehopping” psychische Ursache wird nicht akzeptiert Hypochondrische Störung F 45.2 Somatoforme autonome Funktionsstörung F 45.3 Anhaltende somatoforme Schmerzstörung F 45.4 kardiovaskulär, GI-Trakt, respiratorisch, urogenital 19 Ganser-Syndrom „Pseudodemenz“ durchgängiges Vorbeireden /-antworten kein bewusstes Fehlantworten, keine Simulation 20 Dissoziativer Stupor Beträchtliche Verringerung oder das Fehlen willkürlicher Bewegungen und normaler Reaktionen auf äußere Reize Fehlen körperlicher oder spezifischer psychiatrischer Störungen, die den Stupor erklären können häufig: kurz vorangegangenes belastendes Ereignis oder gegenwärtige Probleme Abgrenzung zum Pervasive Refusal Syndrome (PAS) tiefgreifende Verweigerungs- und Rückzugssymptomatik Verweigerung von Alltagsaktivitäten Nahrungsaufnahme Kommunikation Bewegung aktive Ablehnung von Hilfsangeboten potentiell lebensbedrohlich 22 Pervasive Refusal Syndrome (PAS) Unterschiede zu Dissoziativen Störungen Jans et al. 2011 23 Untersuchungsverfahren Fragebogen zu dissoziativen Symptomen (FDS) Freyberger et al. Heidelberger Dissoziationsinventar (HDI) Brunner et al. SKID-D Gast et al. Therapie - Verhaltensanalyse Auslöser wer, was, wann, wie, wo biologische und psychosoziale Entwicklung soziale Beziehungen Situationen, die die Symptomatik beeinflussen soziales, ökonomisches, kulturelles Umfeld Erfassung von Zielen, Motiven, Einstellungen, Werten Kognitionen, emotionalen Erlebens Klinische Beobachtung bei Stürzen keine Verletzung Symptomatik nicht zu bekannten neurologischen Bildern passend häufig nicht konsistentes Bild der Symptomatik cave: NIEMALS darauf hinweisen 26 Therapie dissoziativer Störungen Funktionsverlust aufheben Entlastung vom Ursprungskonflikt/von Überforderung Minimierung von sekundärem Krankheitsgewinn Umattribuierung der Krankheitsauffassung Keine Deutung des Symbolgehalts der Symptomatik, “Ein Umlernen ist möglich” 27 Therapie dissoziativer Störungen Behandlung des offensichtlichen Symptoms z.B. Physiotherapie der Gangstörung, etc. Behandlung der physiologisch-organischen Reaktion z.B. Behandlung der Atemstörung, Muskelverspannung, Entspannung nach Jacobson, ggfl. medikamentöse Behandlung Therapie des psychischen Verhaltens Situative Veränderungen Biographische Aufarbeitung 28 Therapeutische Grundhaltung Annahme, Entlastung, Führung „Ich kann Dir versichern, für Deinen jetzigen Zustand trägst Du keine Schuld“ „Du kannst lernen, etwas dagegen zu tun“ 29 Danke für Ihr Interesse und Ihre Aufmerksamkeit!