Veränderte Bewusstseinszustände - ReadingSample - Beck-Shop

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Veränderte Bewusstseinszustände
Grundlagen – Techniken – Phänomenologie
Bearbeitet von
Dieter Vaitl
1. Auflage 2012. Buch. 376 S. Hardcover
ISBN 978 3 7945 2549 2
Format (B x L): 16,5 x 24 cm
Weitere Fachgebiete > Psychologie > Psychotherapie / Klinische Psychologie
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Dissoziative Bewusstseinsstörungen
Dissoziative Bewusstseinsstörungen sind als eigene nosologische Gruppe
von Störungen seit etwa 35 Jahren in den Blickpunkt medizinischer und psychologischer Forschung gerückt. Daneben taucht der Begriff „Dissoziation“
bei verschiedenen Formen von veränderten Bewusstseinszuständen als Erklärung auf. Mit ihm wurden so verschiedene Phänomene wie Nahtod-Erfahrungen, Außerkörper-Erfahrungen, hypnotische Zustände oder Besessenheit erklärt. Das vorliegende Kapitel dient dazu, diese – meist psychologisch formulierten – Erklärungsansätze zu präzisieren und ihren Stellenwert
innerhalb der Forschung zu veränderten Bewusstseinszuständen näher zu
bestimmen. Zunächst wird die ungeheuere Symptomvielfalt phänomenologisch-deskriptiv dargestellt und geordnet; anschließend sollen die psychologischen Interpretationen, soweit dies gelingt, neurobiologisch untermauert
werden.
6.1
Begriffsgeschichte
Dissoziationsphänomene sind klinisch seit langem bekannt. Einer der Ersten,
der sich ihnen ausgiebig und mit Scharfsinn gewidmet hat, war Pierre Janet
(1859–1947) (Janet 1889). Ihn interessierten zur damaligen Zeit als ungewöhnlich geltende Erscheinungen wie psychische Automatismen (z. B. automatisches Schreiben), Hypnose und Hysterie. Anhand von klinischen Fallstudien und Experimenten beschreibt er die Kernsymptome dieser Erscheinungen als ein Auseinanderklaffen von Wahrnehmungen, Erinnerungen und
Gefühlen, woraus Erlebnisse plötzlicher Fremdheit, emotionaler Leere und
Realitätsverzerrungen entstehen. Die ursprüngliche Fähigkeit, die verschiedenen Eindrücke, die aus der Innen- oder aus der Umwelt stammen, in einer
Synthese miteinander zu verbinden, ist eingeschränkt oder fehlt gänzlich. Daraus ergibt sich eine tief greifende Störung des Selbsterlebnisses (Depersonalisation) und ein Zerfall des normalen Zusammenwirkens psychischer Funktionen und Handlungen (Dissoziation). Als Ursache für diese Störungsformen wurde der Somnambulismus angenommen, ein hypnoider oder Tranceähnlicher Zustand, der zur damaligen Zeit als charakteristisches Symptom für
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Hysterie galt. Der hierbei auftretende Verlust an Kontrolle über gewohnte Erinnerungs- und Verhaltensmuster wird nach seiner Vorstellung durch traumatische Lebensereignisse oder hohe psychische Belastungen ausgelöst.
Die klinischen Beobachtungen sprechen dafür, dass die Symptome, die im
19. Jahrhundert als Hysterie bezeichnet wurden, charakteristisch sind für die
im 20. Jahrhundert als „dissoziative Störungen“ klassifizierten Krankheitsbilder (Nijenhuis 2004).
Der englische Begriff „dissociation“ wurde in der älteren psychiatrischen
Literatur mit „Bewusstseinsspaltung“ übersetzt. Dies trifft die Vielfalt an dissoziativen Phänomenen nur unzureichend. Trotz der seit mehr als einem
Jahrhundert bekannten Erscheinungsformen kam erst von 1980 an, mit Einführung des DSM-III, ein wissenschaftlicher Diskurs in Psychiatrie, Psychosomatik, klinischer Psychologie und Psychotherapie in Gang. Zur Vertiefung
der historischen Entwicklung des Dissoziationsbegriffs und seiner wechselvollen Forschungsgeschichte sei auf Ellenberger (1996), Gast (2004), Hoffmann und Eckhardt-Henn (2004) sowie Howell (2005) verwiesen.
6.2
Klassifikation
Die heute weitgehend akzeptierte Definition von Dissoziationen lautet nach
dem Diagnostischen und Statistischen Manual psychischer Störungen der
American Psychiatric Association (DSM-IV-TR) wie nachfolgend zitiert.
Definition: Dissoziative Störungen
Das Hauptmerkmal der dissoziativen Störungen ist die Unterbrechung normalerweise integrierter Funktionen des Bewusstseins, des Gedächtnisses, der Identität
oder der Wahrnehmung der Umwelt. Die Störung kann plötzlich oder allmählich
und sowohl vorübergehend wie chronisch verlaufen. (Saß et al. 2003, S. 575)
Dissoziative Phänomene können nach den heutigen Klassifikationsansätzen
getrennt als einzelne Störungen oder in Kombination mit anderen Störungsformen (z. B. Schizophrenie, affektive Störungen) auftreten. Im DSM-IV
werden vier dissoziative Störungsformen unterschieden.
Dissoziative Amnesie Es besteht eine umfassende Unfähigkeit, sich an
wichtige persönliche Informationen – meist traumatischer oder belastender
Natur – zu erinnern, die das Maß an gewöhnlicher Vergesslichkeit übersteigt. Dabei sind vorrangig autobiographische Informationen betroffen.
Dissoziative Amnesie ist ein Hauptsymptom der meisten dissoziativen Störungen.
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In der Regel handelt es sich bei dieser Gedächtnisstörung um eine anterograde Amnesie: Es fehlen Erinnerungen an Ereignisse unmittelbar vor, während und/oder nach einem traumatischen Geschehen. Sie kann sich jedoch
im Laufe der Zeit wieder spontan zurückbilden. Eine retrograde Amnesie
betrifft Ereignisse, die in einem größeren zeitlichen Abstand vor dem Trauma liegen. Entwickelt sich der Erinnerungsverlust mit einer gewissen Latenz
zum Traumaerlebnis, handelt es sich um eine posttraumatische Amnesie.
Die Erinnerungslücken können sich außerdem auf zeitlich eng umgrenzte
Perioden beschränken (lokalisierte Amnesie) oder – was relativ selten vorkommt – in einem Verlust sämtlicher Erinnerungen bestehen (generalisierte Amnesie). Oft sind sich die Betroffenen gar nicht bewusst, dass bei ihnen
eine Amnesie vorliegt; erst wenn sie von anderen Personen nach Einzelheiten des traumatischen Geschehens befragt werden, kommen ihnen ihre Erinnerungslücken zu Bewusstsein.
Die Betroffenen verlassen plötzlich und grundlos ihre
Alltagsumgebung (zu Hause, Arbeitsplatz), ohne sich dessen bewusst zu
sein, meist verbunden mit Verwirrung über die eigene Identität und einem
Erinnerungsverlust über den Hergang des Weggehens. Es kann auch vorkommen, dass eine neue Identität angenommen wird. Sie kann der neuen
Umgebung erstaunlicherweise bestens angepasst sein, z. B. durch intakte
Lebensvollzüge und problemlose soziale Interaktionen.
Dissoziative Fugue
Sie wird auch als Multiple Persönlichkeitsstörung bezeichnet. Dabei sind zwei oder mehrere Persönlichkeitszustände
(Identitäten) vorhanden, die wiederholt die Kontrolle über das Erleben und
Verhalten der Person übernehmen. Auch hier kommt es zu Erinnerungseinbußen hinsichtlich wichtiger persönlicher Informationen, die das Maß an
gewöhnlicher Vergesslichkeit übersteigen. Die Betroffenen haben Schwierigkeiten, eine ganzheitlich wirkende Selbstsicht und Erfahrungswelt aufzubauen, da ihnen eine Integration verschiedener Lebensaspekte, Identitäten,
Erinnerungen und Wahrnehmungen vorübergehend oder über einen längeren Zeitraum hin misslingt. Fiedler (2002) berichtet, dass gewöhnlich eine
primäre Identität existiert, die den Namen der Person trägt und von der sich
die anderen Identitäten absetzen. Solche Wechsel werden häufig innerhalb
von wenigen Sekunden durch psychosoziale Belastungen oder intensive
Emotionen ausgelöst. Das Störungsbild muss deutlich von dem der Persönlichkeitsstörungen abgetrennt werden.
Dissoziative Identitätsstörung
Trotz intakter Realitätskontrolle kommt es zu
einem wiederholten oder ständigen Gefühl des Losgelöstseins vom eigenen
Körper oder von psychischen Funktionen. Es lassen sich zwei Symptombereiche unterscheiden:
Depersonalisationsstörung
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Depersonalisation: Es besteht ein Gefühl der Selbstentfremdung, Irreali-
tät und Abtrennung des eigenen Selbst von sich, seinen Handlungen und
seiner Umwelt.
Derealisation: Eine bislang bekannte und gewohnte Umgebung wird als
sehr bekannt oder als völlig fremd erlebt.
Diese Entfremdungserlebnisse können bei den verschiedensten psychischen
Störungen vorkommen und sind bekannt als Reaktion auf heftige Belastungserfahrungen, wie etwa bei der posttraumatischen Belastungsreaktion
oder der posttraumatischen Belastungsstörung. Sie sind ebenfalls eines der
Symptome bei den anderen traumabedingten dissoziativen Störungen, z. B.
Amnesie, Fugue und dissoziative Identitätsstörung.
Historisch gesehen wurden noch andere dissoziative Phänomene differenziert, die im Zusammenhang mit dem Phänomen der „Hysterie“ beschrieben
oder als „Konversionssymptome“ erklärt wurden. Heute werden viele dieser
Symptome verschiedenen anderen Störungsformen zugeordnet. Gleich welcher Provenienz sie sein mögen, sollen sie hier der Vollständigkeit halber
kurz erwähnt werden. Das DSM-IV ordnet die Konversionsstörung den somatoformen Störungen zu. Das Klassifikationssystem ICD-10 unterscheidet
im Bereich der Konversionssymptomatik darüber hinaus vier weitere dissoziative Störungen, sofern eine neurologische Verursachung mit Sicherheit
ausgeschlossen werden kann.
Es besteht ein partieller oder vollständiger Bewegungsverlust eines oder mehrerer Körperglieder oder Koordinationsstörungen (Ataxie, Astasie und Abasie). Hierzu zählt auch das den
ganzen Körper befallende Zittern und Schütteln.
Dissoziative Bewegungsstörungen
Dissoziative Sensibilitäts- und Empfindungsstörungen Sofern neurologische Läsionen ausgeschlossen sind, handelt es sich um einen vorübergehenden Verlust verschiedener sensorischer Modalitäten (z. B. Taubheitsgefühle,
Kribbelsensationen). Visuelle Störungen bestehen meist in einer verminderten Sehschärfe, verschwommenen optischen Wahrnehmungen und Pseudohalluzinationen.
Bei dieser Störung fehlen jegliche willkürlichen
Bewegungen und die normalen Reaktionen auf äußere Reize (z. B. Licht,
Geräusche) sind verringert, wobei aufgrund physiologischer Reaktionen
(z. B. Muskeltonus, Körperhaltung, Atmung) ausgeschlossen werden kann,
dass die betroffene Person schläft oder bewusstlos ist.
Dissoziativer Stupor
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Dissoziative Krampfanfälle Sie ahmen epileptische Anfälle sehr deutlich
nach, ohne dass aber die dafür bezeichnenden Merkmale wie Bewusstseinsverlust, Zungenbiss oder Urininkontinenz auftreten.
In Anlehnung an Pierre Janet (Janet 1889) plädiert Nijenhuis (2004) auf der
Basis seiner psychometrischen Befunde für eine Unterscheidung zwischen
psychoformen und somatoformen Dissoziationen.
Die Merkmale von psychoformen Dissoziationen lassen sich als dissoziative Bewusstseinsstörungen charakterisieren. Hierzu zählen die Amnesien,
der Willensverlust und die Charakterveränderungen (nach Janet die sog.
psychischen Stigmata), ferner unterbewusste Handlungen, hysterische Anfälle, Wahnvorstellungen und Somnambulismus (nach Janet die so genannten psychischen Zufälle).
Die somatoformen Dissoziationen bestehen in Analgesie (Gefühllosigkeit für Schmerzen), Anästhesie (Empfindungsverlust) in allen Modalitäten
sowie in motorischen Hemmungen (Lähmungserscheinungen, Sprechhemmung).
Sonderformen: Besessenheit und Trance
Zu den bekanntesten, in zahlreichen Kulturen anzutreffenden Sonderformen
von Dissoziationen zählen Besessenheits- und Trance-Zustände. Es sind
selbstinduzierte, z. B. in einem Ritual, oder spontan auftretende außergewöhnliche Erlebnisse. Gekennzeichnet sind sie durch deutliche Bewusstseinsveränderungen und motorische Auffälligkeiten. Ihr Krankheitswert
hängt in den verschiedenen Kulturen, in denen sie auftreten, von den rituellen Praktiken, der sozialen Akzeptanz sowie vom Grad der subjektiven Beeinträchtigung ab. In den bekannten Klassifikationssystemen bleibt offen,
welche Merkmale klinisch relevant sind, um von einer Störung sprechen zu
können.
Charakteristisch für einen Besessenheitszustand sind das
Erlebnis und die Überzeugung, von einem Geist oder einer fremden Macht,
von einer Gottheit oder von einer anderen Person beherrscht und in Besitz
genommen zu werden. Im Unterschied zur dissoziativen Identitätsstörung
ist die Persönlichkeit nicht fragmentiert und in andere Persönlichkeitsteile
aufgelöst. Die meisten Erfahrungen sind Ich-dyston und können unter
Umständen als belästigend und das soziale Leben störend empfunden werden. Bei der Differenzialdiagnose sind zu berücksichtigen:
organische Störungen (z. B. Intoxikationen mit psychoaktiven Substanzen,
Epilepsien),
schizophrene und wahnhafte Störungen (nach Bender [1959] sog. mediumistische Psychosen),
Besessenheit
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