736 Fachwissen S Schmerztherapie in der pädiatrischen Onkologie Schmerzerlebnis, Medikamente und Pharmakokinetik Rolf Mertens Schmerzen bei Kindern Noch in den 70er- und 80er-Jahren erhielten Säuglinge und Kinder vergleichweise bedeutend weniger postoperative Analgesie als Erwachsene. Einerseits befürchtete man, mit hohen Analgesiedosen unerwartete, möglicherweise irreversible Nebenwirkungen zu verursachen, ggf. auch eine Atemdepression zu provozieren. Andererseits können Säuglinge und junge Kinder im Vergleich zu älteren Patienten die Schmerzintensität nicht angeben. Kinder in dieser Altersgruppe reagieren unterschiedlich in ihrer Schmerzäußerung auf die oft fremden Personen und die nicht vertraute Umgebung. Früh- und Neugeborene wurden damals auch unter minimaler Analgesie / Narkose operiert. Man ging davon aus, dass sie keine oder weniger Schmerzen empfänden als ältere Patienten, da ihr Nervensystem noch nicht ausgereift sei. Das Schmerzerleben ist immer subjektiv und hängt unter anderem vom Alter und von der Schmerzerfahrung des einzelnen Patienten ab. Auch die neue Krankheitssituation, z. B. die „Hilflosigkeit“ der Eltern, verursacht Reaktionen, die sich nicht vom Schmerzerlebnis trennen lassen. Schmerzerfassung ▼ Visuelle Analogskalen Je jünger der Mensch ist, desto schwieriger ist es, den Schmerz präzise zu erfassen. Eine Messung der Schmerzintensität kann man bei Kindern ab ca. 8 Jahren, ähnlich wie bei Erwachsenen, mit den sogenannten visuellen Analogskalen definieren. Kinder ab 3 Jahren Für die Altersgruppe von 3 bis ca. 7 Jahren sollte man die Gesichterskalen (Smiley-Skala) anwenden. Sie erlaubt eine Einschätzung der Schmerzintensität. Kinder unter 3 Jahren Beobachtungsskalen, wie z. B. der Berner Schmerzscore, sind für die Schmerzmessung bei Kindern unter 3 Jahren geeignet. Als subjektive Parameter werden hier der Schlaf, die Beruhigung, die Gesichtsmimik, das Weinen, der Körperausdruck sowie die Atmung und die Hautfarbe in einer Skala von 0–3 berücksichtigt. Als objektive Parameter werden Herzfrequenz und Sauerstoffsättigung erfasst. Die maximale Punktzahl beträgt 27. Liegt der Gesamtscore unter 10 Punkten, sollte das Kind wenig Schmerz empfinden. Schmerzerlebnis / Schmerzcharakter ▼ Schmerz als Bedrohung Kinder reagieren meist stärker auf Schmerzereignisse als Erwachsene. Schmerzen werden als bedrohlich empfunden, da das Kind den Ursachenzusammenhang nicht versteht und die Angst vor dem Schmerz nicht kontrollieren kann. Jüngere Kinder werden im Schmerzkonzept über- und ältere Kinder unterschätzt. Welche Schmerzart liegt vor? Für eine adäquate Schmerzbehandlung müssen rezeptorische von neuropathischen Schmerzen unterschieden werden können. Dies ist bei besonders jungen Patienten sehr schwierig. ▶ Rezeptorische Schmerzen charakterisieren somatische Schmerzen im Bereich der Knochen, der Weichteile und der Haut oder viszerale Schmerzen, hervorgerufen durch Tumoren und Metastasen, die Hohlorgane oder das Peritoneum befallen haben. Mertens R. Schmerztherapie in der pädiatrischen Onkologie – Schmerzerlebnis, Medikamente und Pharmakokinetik. Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2011; 46: 736–742 Heruntergeladen von: Thieme Verlagsgruppe. Urheberrechtlich geschützt. Pädiatrisch onkologische Patienten erfahren häufig Angst und Schmerzen: zum einen durch die Erkrankung selbst, aber auch im Zusammenhang mit den notwendigen diagnostischen und therapeutischen Prozeduren. Im Gegensatz zu Erwachsenen ist es bei den sehr jungen Patienten oft schwierig, Charakter, Intensität und Lokalisation des Schmerzes zu erfassen. So erhalten sie vor allem zu Beginn der Behandlung häufig eine unzureichende Analgesie. Fachwissen 737 S Abb. 1 Schmerzerlebnisse sollten unbedingt vermieden werden. So kann z. B. eine ausreichende Analgosedierung bei wiederholten schmerzhaften Eingriffen bewirken, dass die jungen Patienten erst gar keine Angst vor den Maßnahmen entwickeln. ▶ Neuropathische Schmerzen sind in die Extremitäten einschießende bzw. brennende Schmerzen, wie sie häufig nach Gliedamputationen auftreten oder durch verschiedene vincaalkaloide Zytostatika verursacht werden. Für eine adäquate Schmerzbehandlung muss zwischen rezeptorischen und neuropathischen Schmerzen unterschieden werden. Schmerzursachen Schmerzen können durch die Chemotherapie ausgelöst werden. Als Folge der immunsuppressiven Therapie können schwere Infektionen auftreten. Häufig werden Mukositiden Grad III und IV (meistens in den leukopenischen Phasen) beobachtet, die starke Schmerzen verursachen, sodass die Patienten keine orale Nahrung zu sich nehmen können [1, 2]. Aber auch notwendige medizinische Eingriffe bei der Diagnose und während der Therapie verursachen eine schwere psychische Traumatisierung, wenn sie wiederholt unter unzureichender Analgesie durchgeführt werden (z. B. Venen-, Knochenmarks- und Lumbalpunktionen). ▶ Dies gilt es in jedem Fall zu vermeiden. Vorbeugen Schmerzhaften Ereignissen muss unbedingt vorgebeugt werden. In manchen Fällen ist dies jedoch auch mit geeigneten Supportivmaßnahmen schwierig. Selbst bei ausreichender Mundpflege erleiden Patienten zytostatikaart- und dosisabhängig schwere Mukositiden. ▶ Daher sollte in diesen Phasen grundsätzlich eine ausreichende Schmerzbehandlung mit parenteralem Morphin eingeleitet werden. Analgosedierung bei Punktionen Bei den Knochenmarks- und Lumbalpunktionen während einer Therapie kann durch ausreichende Analgosedierung ein Präventionseffekt erzielt werden. Eine Oberflächenanästhesie der Haut lässt sich leicht mit lokalanästhetikahaltigen Pflastern erreichen, so z. B. für die Anlage eines Zugangs ggf. auch bei der Lumbalpunktion. Das hängt jedoch vom Alter des Kindes ab. Erst recht bei jüngeren Kindern sollte eine Knochenmarks- bzw. Lumbalpunktion grundsätzlich mit Lokalanästhesie und einer Analgosedierung (z. B. Midazolam und Ketamin) erfolgen. Mit dieser Medikamentenkombination wird bei den Patienten eine retrograde Amnesie erreicht, sodass bei wiederholten Eingriffen erst gar keine Angst vor den Maßnahmen auftritt [3]. Schmerzhaften Ereignissen muss unbedingt vorgebeugt werden! Sie können bei den Patienten zu einem psychischen Trauma über die gesamte Therapie und darüber hinaus führen. Standardisiertes Protokoll Die Analgosedierung sollte nach einem standardisierten Protokoll von 2 Ärzten in geeigneten Räumlichkeiten erfolgen (z. B. Intensivstation, Reanimationszimmer). ▶ Ein Arzt überwacht die Vitalparameter, ▶ ein weiterer führt die medizinischen Manipulationen durch. In einer retrospektiven Studie wurden in der Aachener Kinderklinik 695 Analgosedierungen ausgewertet. Der Mittelwert der Ketamin-Dosis betrug 0,426 mg/kg KG, der Richtwert 0,1 mg/kg KG. Bei den 695 Fällen traten 2 Ereignisse ein: ▶ Ein Patient erlitt einen Stridor (die Maßname wurde abgebrochen und einen Tag später auf der Intensivstation wiederholt). ▶ Beim 2. Patienten musste ein Abfall der Sauerstoffsättigung mit einer Sauerstoffgabe behandelt werden. Bei beiden waren weder Intubation noch Beatmung erforderlich. Mertens R. Schmerztherapie in der pädiatrischen Onkologie – Schmerzerlebnis, Medikamente und Pharmakokinetik. Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2011; 46: 736–742 Heruntergeladen von: Thieme Verlagsgruppe. Urheberrechtlich geschützt. Gefahr der Traumatisierung Die durch die Tumorinfiltration, Tumorkompression oder Metastasen in Nerven, Knochen und Weichteilen verursachte Schmerzsituation bedeutet für den jungen Patienten eine neue, nicht real und physisch erfassbare Situation. Diese erschwert den Umgang mit einer adäquaten Analgesie deutlich. Sie führt dazu, dass schwer erkrankte Kinder häufig gerade zu Beginn der Behandlung eine unzureichende Analgesie erhalten. ▶ Das dadurch bedingte primäre Schmerzerlebnis prägt und führt oft zu einem psychischen Trauma über die gesamte Therapie und darüber hinaus. Bildnachweis: Rolf Mertens Begegnung mit der Schmerztherapie ▼ 738 Fachwissen S Abb. 2 Lsg = Lösung; Ed = Effektivdosis. Beispiel eines Analgosedierungsprotokolls 3DWLHQWHQGDWHQ $6$.ODVVH 1DPH $OOHUJLHQ 9RUQDPH 0XQG|IIQXQJ=DKQVWDWXV *HEXUWVGDWXP OHW]WHIOVVLJH1DKUXQJ $OWHU OHW]WHIHVWH1DKUXQJ *U|H 'DWXPGHU$QDOJRVHGLHUXQJ *HZLFKW 8QWHUVFKULIW$U]W 0HGLNDPHQW $QDOJR VHGLHUXQJ .RQ]HQWUDWLRQ 5LFKWGRVLV >PJNJ@ 5LFKWGRVLV>PONJ@ GHUIHUWLJHQ/VJ 'RVLVLQPO IHUWLJH/VJ 0LGD]RODPK\GURFKORULG PJLQPO YHUGQQWPLW 1D&ODGPO ²PJNJ PD[PJNJ ²PONJ PD[PONJ $WURSLQK\GURFKORULG PJNJ PLQPJ PD[PJ PONJ (VNHWDPLQK\GURFKORULG PJLQPO PJPO ²PONJ $QWLGRW )OXPD]HQLO PJPO PJNJ PD[PJ(G ELV]X[ PONJ PD[POELV]X[ $QDSK\OD[LH 3UHGQLVRQ 5HDQLPDWLRQ PJNJ 'LPHWLQGHQ PJPO ²PJNJ ²PONJ (SLQHSKULQK\GURFKORULG PJLQPO YHUGQQWPLW 1D&ODGPO ²PONJ PJLQPO YHUGQQWPLW 1D&ODGPO Bildnachweis: Rolf Mertens 8KU]HLW %OXWGUXFN +HU]IUHTXHQ] 2 2>OPLQ@ 6lWWLJXQJ 2EOLJDW PJ PJ 'RUPLFXP 6.HWDPLQ ZHLWHUH %HPHUNXQJHQ 0HGLNDPHQWH Eine Analgosedierung nach standardisiertem Protokoll ist sicher und verhindert eine psychische Traumatisierung der Patienten. Alternative zu Midazolam In seltenen Fällen reagieren Kinder auf die Midazolamgabe paradox und / oder die Sedierung reicht nicht aus. Als Alternative bietet sich die Kombination von Propofol mit Ketamin oder Remifentanil an. ▶ Diese Analgosedierung sollte grundsätzlich in Zusammenarbeit mit Anästhesisten erfolgen. q Abb. 2 zeigt ein Beispiel eines Analgosedierungsprotokolls. Medikamentöse Schmerztherapie im Unterschied zum Erwachsenenalter ▼ WHO-Stufenschema In der internistischen Medizin wird sehr häufig das WHO-Stufenschema als Leitlinie angewendet. Diese Empfehlungen der 3-Stufenbehandlungen werden ebenfalls auf Kinder übertragen [4]. ▶ Stufe 1 sieht eine Behandlung mit nicht opioidhaltigen Analgetika vor. ▶ Stufe 2 erfolgt in der Kombination mit schwachen opioidhaltigen Analgetika. ▶ In Stufe 3 werden die starken opioidhaltigen Analgetika eingesetzt. Nichtopioidanalgetika In q Tab. 1 werden die gebräuchlichsten nicht opioidhaltigen Analgetika aufgeführt. Paracetamol 15 mg/kg KG wird in der Regel alle 4–6 h verabreicht. Die analgetische Potenz ist äußerst gering, in einzelnen Fällen werden Leberschäden beschrieben. Nicht steroidale Antirheumatika (NSAR) wie z. B. Ibuprofen 10 mg/kg KG sollten alle 6–8 h gegeben werden. NSAR haben eine bessere analgetische Wirkung als Paracetamol – bei Thrombozytopenie und Nierenfunktionsstörungen sollten sie jedoch nicht angewendet werden. Metamizol 15 mg/kg KG wird alle 6 h verabreicht. Es besitzt zusätzlich eine gute spasmolytische Eigenschaft. Die Nebenwirkung einer allergischen Agranulozytose ist extrem selten. Mertens R. Schmerztherapie in der pädiatrischen Onkologie – Schmerzerlebnis, Medikamente und Pharmakokinetik. Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2011; 46: 736–742 Heruntergeladen von: Thieme Verlagsgruppe. Urheberrechtlich geschützt. 0HGLNDPHQWHQGRVLHUXQJVSODQ$QDOJRVHGLHUXQJ%HKDQGOXQJ$QDSK\OD[LH5HDQLPDWLRQ Fachwissen 739 S Nichtopioid Applikation Anmerkung Paracetamol 20 mg/kg KG oral alle 6 h max. tägliche Dosis: Kinder > 2 Jahre 90 –100 mg/kg KG i. v. Perfalgan schwache analgetische Wirkung lebertoxisch besonders bei Mangelernährung Toxizität multifaktoriell (Genetik, Grunderkrankung) Paracetamol + Codein 15 mg/kg KG 4–6 h Toxizität multifaktoriell (Genetik, Grunderkrankung); Verringerung der therapeutischen Breite durch Komedikation als Folge von Leberschäden NSAR z. B. Ibuprofen 10 mg/kg KG (6–8 h) max. tägliche Dosis: 30–40 mg/kg KG oft bessere analgetische Wirkung bei Kindern als Paracetamol / ASS geringe gastrointestinale Nebenwirkungen Thrombozytenaggregationshemmung erhöht Methotrexatspiegel bei gleichzeitiger Gabe Nierenfunktionsstörungen Metamizol 10–15 mg/kg KG (4–6 h) spasmolytische Eigenschaft! Überempfindlichkeitsreaktionen / Allergien (Cave: Atopiker) allergische Agranulozytose: extrem selten ASS (selten) geringe therapeutische Breite Cave: Reye-Syndrom bei Thrombopenie kontraindiziert Auswahl stark wirksamer Opioide in der pädiatrischen Onkologie Opiat Applikation Bemerkung Piritramid 0,05–0,1 mg/kg KG i. v. kontinuierlich i. v.-Gabe möglich 0,01–0,03 mg/kg KG/h Buprenorphin 2,5–5–10 μg/kg KG alle 12 h, Dosiseskalation höhere analgetische Potenz gegenüber Morphin; geringe Atemdepression; Ceiling-Effekt etwa ab 4 mg/24 h Morphin 0,5–1 mg/kg KG alle 8 h individuelle Dosis keine obere Dosisgrenze nach oraler Gabe Bioverfügbarkeit ca. 30 % ; hepatisch metabolisiert u. a. zu Morphin-6-Hydrochlorid; renal eliminiert Fentanyl (Pflaster) 100 μg = 10 mg Morphin nur bei chronisch starken Schmerzen, wenn oral oder i. v. nicht möglich; Cave: Atemdepression Hydromorphon Verhältnis Palladon® retard zu Morphin retard: 1 : 7,5 kumuliert nicht bei Niereninsuffizienz, da keine aktiven Metabolite Die Gabe von Azetylsalizylsäure ist in den meisten Fällen bei onkologischen Patienten kontraindiziert. Tramadol Tramadol als schwach wirksames Opioid wird in Deutschland häufig eingesetzt. In einer Dosis von 1 mg/kg KG alle 3–4 h i. v./p. o. hat es in Kombination mit Metamizol (Opioideinsparung) eine gute analgetische Wirkung bei postoperativen Schmerzen [5]. In der Palliativmedizin ist Tramadol wegen erheblicher Nebenwirkungen wie Übelkeit und Erbrechen als Langzeittherapie nicht geeignet [6]. Tab. 2 KG = Körpergewicht. Morphin: Applikation Morphin sollte bei starken Schmerzen in jeder Phase des Patienten eingesetzt werden – ob in der Primärtherapie der malignen Erkrankung oder in der Finalphase. Hier eignen sich die orale regelmäßige Gabe eines retardierten Morphins oder die Dauerinfusion mit Bolusinjektion. Patientenkontrollierte Analgesie Bei der parenteralen Gabe von Morphin unter stationären Bedingungen sollte der Patient in der Lage sein, rasch durch eine Bolusinjektion zu reagieren. Ab einem Alter von 6–8 Jahren können Kinder die Verabreichung selbst kontrollieren (patient con- Mertens R. Schmerztherapie in der pädiatrischen Onkologie – Schmerzerlebnis, Medikamente und Pharmakokinetik. Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2011; 46: 736–742 Heruntergeladen von: Thieme Verlagsgruppe. Urheberrechtlich geschützt. Gebräuchliche Nichtopioidanalgetika in der Pädiatrie Tab. 1 KG = Körpergewicht; NSAR = nicht steroidale Antirheumatika. 740 Fachwissen S Indikation Komedikation Antiemese ▶ Dexamethason (Cave: bei hoher Tumorlast kontraindiziert) ▶ H5-Serotoninantagonisten Knochenschmerzen ▶ NSAR ▶ Bisphosphonate: z. B. Pamidronat, Zoledronat Muskelschmerzen ▶ Neuroleptika viszerale Schmerzen ▶ Metamizol neuropathische Schmerzen ▶ Amitriptylin ▶ Pregabalin ▶ Gabapentin Tab. 3 Indikationen für eine Komedikation bei pädiatrisch onkologischen Patienten. NSAR = nicht steroidale Antirheumatika. trolled analgesia, PCA). Bei jüngeren Patienten sollte die Bolusinjektion durch die Eltern oder das Pflegepersonal erfolgen (parent- / nurse-controlled analgesia, PNCA) [7]. ▶ Die Startdosis beträgt 0,01 mg/kg KG/h, ▶ die Bolusmenge sollte auf 0,015 mg/kg eingestellt werden. ▶ Um Überdosierungen zu vermeiden, ist eine Sperrzeit von 10–15 min eingestellt. ▶ Die Applikationsmenge sollte 0,3mg/kg KG/4 h nicht überschreiten. ▶ Bei Dauerinfusion von Morphin sollte stationär eine Sauerstoffsättigungsmessung erfolgen. Palliativsituation Die PCA eignet sich besonders in der Palliativsituation, wenn Kinder zu Hause betreut werden und eine orale Morphingabe nicht möglich ist. Sie stellt eine adäquate Schmerzbehandlung sicher und macht unabhängig vom medizinischen Personal. Das Verfahren setzt jedoch eine telefonische Rücksprache voraus. Die medikamentöse Schmerztherapie bei pädiatrisch onkologischen Patienten orientiert sich am 3-Stufen-Schema der WHO. Häufig unzureichende Analgesie Immer wieder findet gerade bei jungen onkologischen Patienten keine ausreichende Analgesie statt. Das Tab. 4 Beispiele für Opioide gegen Durchbruchschmerz. Opioide gegen Durchbruchschmerz Opiode Darreichungsform Morphintropfen 0,5 % oder 2 % Morphintabletten 10 mg (Sevredol®) Morphinlösung 20 mg/ml 1Tropfen = 1,25mg Morphinsulfat (Oramorph®, auch Eindosisbehälter 10/30/100 mg) Fentanyl-Lutscher oral-transmukosale Aufnahme (Actiq®: 200–1600 μg) WHO-Stufenschema sollte lediglich eine Orientierungshilfe sein. Es müssen nicht alle Stufen einzeln erklommen werden. ▶ Starke Schmerzen erfordern stark wirksame Opioide, die rasch und konsequent eingesetzt werden müssen (q Tab. 2). Zudem werden in der Schmerztherapie häufig Koanalgetika nicht berücksichtigt, die in Kombination mit den schmerzstillenden Medikamenten eine additive analgetische Wirkung erzielen. ▶ Koanalgetika sind in der Therapie tumorassoziierter neuropathischer Schmerzen elementarer Bestandteil der Therapie. Verschiedene Koanalgetika und deren Indikationen werden in q Tab. 3 aufgeführt. Maximaldosis Schwache Opioide haben bekanntlich einen sogenannten Ceiling-Effekt: Nach Sättigung der Opioidrezeptoren ist auch durch Dosiserhöhung keine weitere Wirkungssteigerung zu erwarten. Für die starken Opioide existiert keine Maximaldosis, solange eine Dosissteigerung die Analgesie klinisch nachweisbar verbessert. Zudem fehlen evidenzbasierte Angaben, da die Durchführung von Studien an pädiatrischen Patienten schwierig ist. Starke Schmerzen erfordern stark wirksame Opioide, die rasch und konsequent eingesetzt werden müssen. Dabei existiert keine Maximaldosis, solange eine Dosissteigerung die Analgesie klinisch nachweisbar verbessert. Nur wenig Analgetikastudien an Kindern Ein therapeutisches Drug-Monitoring wäre wünschenswert und wichtig. Dieses scheitert meistens jedoch an der Verweigerung durch die Eltern, da sie ihre Kinder nicht noch zusätzlich belasten möchten. Notwendige Blutabnahmen für diese Pharmakokinetikstudien sind invasiv und aus diesem Grund lehnen die Eltern eine Teilnahme ab. Demzufolge existieren nur wenige Analgetikastudien an Kindern [8, 9]. Pharmakokinetik ▼ Unterschiedlich zu Erwachsenen In einer Studie mit stark wirksamen Opiaten konnten Kidd et al. bei jungen Probanden unterschiedliche Plasmamorphinkonzentrationen nach i. v.-Gabe von 0,1 mg/kg KG Morphin messen. Auch die Halbwertszeit ist bei Kindern gegenüber Erwachsenen unterschiedlich und kann durchaus verkürzt sein. Daher müssen pharmakologische Aspekte in der Therapie berücksichtigt werden. Zwischen Kindern und Erwachsenen besteht eine unterschiedliche Pharmakokinetik in ▶ der Absorption, ▶ der Verteilung, Mertens R. Schmerztherapie in der pädiatrischen Onkologie – Schmerzerlebnis, Medikamente und Pharmakokinetik. Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2011; 46: 736–742 Heruntergeladen von: Thieme Verlagsgruppe. Urheberrechtlich geschützt. Indikationen für eine Komedikation Fachwissen 741 S 2-malige vs. 3-malige Morphingabe Die rasche Metabolisierung des Morphins bei Kindern hat uns schon sehr früh veranlasst, bei Kindern von der 2-maligen oralen Morphingabe auf eine 3-malige Gabe überzugehen. ▶ Bei den meisten Patienten konnte dadurch ein besserer analgetischer Effekt erreicht werden, ohne die Tagesdosis zu steigern. Beginnen sollte man mit der 2-maligen Verabreichung, bei Dosissteigerung wird zunächst die 3-malige orale Morphingabe /Tag empfohlen. Nebenwirkungen Eine Opiatbehandlung weist auch Nebenwirkungen auf, die bei Kindern und Erwachsenen unterschiedlich ausfallen. Übelkeit und Juckreiz treten bei Kindern und Erwachsenen in vergleichbarem Maße auf. Jedoch leiden Kinder deutlich weniger unter respiratorischen Problemen als Erwachsene [15]. Patienten mit chronischen Schmerzen – besonders in der Palliativsituation – erhalten Morphin ▶ per os als Retardtablette 3 mal / Tag oder ▶ bei fehlender Möglichkeit einer oralen Applikation i. v. oder subkutan in Form einer PCA. In stabilen Schmerzsituationen sind FentanylPlaster geeignet [16–18]. Wie und mit welchen Schmerzmitteln behandelt werden sollte, hängt im Wesentlichen vom Zustand des Patienten ab und bedarf einer individuellen Regulierung. Durchbruchschmerzen können mit rasch verfügbaren, kurz wirksamen Opioiden therapiert werden (q Tab. 4). Prophylaxe bei Opioidnebenwirkungen Bekannterweise neigen Patienten durch die Einnahme von Opioiden zu Obstipation. Daher sollten regelmäßig osmotisch wirksame Laxanzien eingesetzt werden, z. B. Lactulose, Macrogol. Juckreiz lässt sich äußerst gut mit Dimetinden behandeln. Diese wirken darüber hinaus auch sedierend für die Nacht. Ursachen für Unterversorgung ▶ ▶ ▶ ▶ ▶ ▶ ▶ ▶ ▶ ▶ ▶ ▶ ▶ ▶ Tab. 5 Schmerzdiagnose inkorrekt Unterschätzung der Schmerzintensität Dosierungsintervalle zu lang Dosierung zu niedrig Bevorzugung schwacher Opioide Angst vor Suchterzeugung Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung (BtMVV) keine Koanalgetika Morphin: „Ist mein Kind schon so weit?“ Verunsicherung durch Angehörige und Bekannte Verschreibung nach Bedarf Standarddosierung zu schwaches Analgetikum unzureichender Einsatz von Begleitmedikamenten Opioidbedingte Übelkeit und Erbrechen lassen sich in der Regel gut mit Antiemetika beherrschen. ▶ Grundsätzlich sollten die orale Opioidgabe und die supportive Behandlung nach einem festen Schema erfolgen. Zu den Grundregeln für die Therapie chronischer Schmerzen gehören: ▶ regelmäßige Einnahme nach festem Schema ▶ individuelle Dosisanpassung ▶ Prinzip der Antizipation ▶ möglichst orale Gabe retardierter Medikamente ▶ Prophylaxe von Nebenwirkungen Gründe für Unterversorgung ▼ Ist mein Kind schon so weit? Die in q Tab. 5 aufgeführten Gründe führen häufig zu einer Unterversorgung der jungen Patienten. So ist oft die Schmerzdiagnose inkorrekt, die Schmerzintensität wird unterschätzt, die Dosisintervalle sind zu lang oder die Dosierung zu niedrig, weil man den Kindern Medikamente ersparen möchte. Angst vor einer Suchterzeugung und vor der Abhängigkeit führt ebenfalls zu einem restriktiven Verhalten. Der Einsatz von Koanalgetika wird wegen der fehlenden Erfahrung bei Kindern häufig unterlassen. Und immer wieder taucht die Frage der Eltern auf: „Ist mein Kind schon so weit…?“ Mertens R. Schmerztherapie in der pädiatrischen Onkologie – Schmerzerlebnis, Medikamente und Pharmakokinetik. Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2011; 46: 736–742 Heruntergeladen von: Thieme Verlagsgruppe. Urheberrechtlich geschützt. ▶ der Metabolisierung sowie ▶ der Clearance [10–13]. Auch die Zusammensetzung des Körpergewebes, der Proteingehalt, die Leberenzymaktivität sowie genetische Polymorphismen beeinflussen die Medikamentenclearance und somit auch die analgetische Wirkung [14]. 742 Fachwissen S Onkologie untrennbar miteinander verbunden. Ein konsequentes Schmerzmanagement ist wichtig und sollte grundsätzlich in jede Behandlung integriert sein. Die Pharmakokinetik verschiedener Drogen (Substanzen) ist bei Kindern mangels klinischer Studien nicht ausreichend untersucht und schränkt daher oft deren Einsatz bei pädiatrisch onkologischen Patienten ein. Das WHO-Stufenschema sollte lediglich eine Orientierungshilfe sein, es müssen nicht alle Stufen erklommen werden. Bei starken Schmerzen sollten unbedingt starke Opioide eingesetzt werden! Für Opioide besteht keine Maximaldosis, solange die Dosissteigerung die Analgesie klinisch nachweisbar verbessert und keine respiratorischen Nebenwirkungen eintreten. ◀ Prof. Dr. med. Rolf Mertens ist Leiter des Bereichs pädiatrische Hämatologie / Onkologie der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin am Universitätsklinikum Aachen. E-Mail: [email protected] Kernaussagen ▶ Das Schmerzerleben ist immer subjektiv und hängt u. a. vom Alter, von der Schmerzerfahrung und der Umgebung des einzelnen Patienten ab. ▶ Gerade zu Beginn der Behandlung erhalten schwer erkrankte Kinder häufig eine unzureichende Analgesie. ▶ Schmerzhafte Ereignisse, vor allem bei wiederholten Eingriffen, sollten unbedingt vermieden werden! Sie können zu einem psychischen Trauma über die gesamte Therapie und darüber hinaus führen. ▶ Das WHO-Stufenschema dient nur als Orientierungshilfe für die Schmerztherapie: Starke Schmerzen erfordern stark wirksame Opioide, die rasch und konsequent eingesetzt werden müssen. ▶ Für Opiode besteht keine Maximaldosis, solange eine Dosissteigerung die Analgesie klinisch nachweisbar verbessert und keine respiratorischen Nebenwirkungen auftreten. ▶ Koanalgetika sind elementarer Bestandteil der Therapie tumorassoziierter neuropathischer Schmerzen. Interessenskonflikt Der Autor erklärt, dass keine Interessenkonflikte vorliegen. ▶ Wie und mit welchem Schmerzmittel behandelt wird, hängt im Wesentlichen vom Zustand des Patienten ab und bedarf der individuellen Regulierung. Literatur online Das vollständige Literaturverzeichnis zu diesem Beitrag finden Sie im Internet: Abonnenten und Nichtabonnenten können unter „www.thieme-connect.de/ejournals“ die Seite der AINS aufrufen und beim jeweiligen Artikel auf „Ergänzendes Material“ klicken – hier ist die Literatur für alle frei zugänglich. Abonnenten können alternativ über ihren persönlichen Zugang an das Literaturverzeichnis gelangen. Wie das funktioniert, lesen Sie unter: http://www.thieme-connect.de/ejournals/help#SoRegistrieren Beitrag online zu finden unter http://dx.doi. org/10.1055/s-0031-1297180 Literaturverzeichnis 1 White MC, Hommers C, Parry S, Stoddart PA. Pain management in 100 episodes of severe mucositis in children. Paediatr Anaesth 2011; 21: 411–416 2 Schiessl C, Schestag I, Griessinger N et al. Circadian rhythm of PCA-based opioid consumption in children with chemotherapy-related mucositis. Schmerz 2009; 23: 7–19 3 Gottschling S, Meyer S, Krenn T et al. 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