Multidimensionale Beurteilung somatoformer Störungen im

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Multidimensionale Beurteilung somatoformer
Störungen im versicherungspsychiatrischen Kontext
Renato Marelli, Hans Georg Kopp, Joachim Küchenhoff
RM und JK: keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Beitrag. HGK arbeitet für die Rehaklinik Bellikon, eine Klinik der SUVA.
Summary
There is much debate about disability due to somatoform disorders and
possible guidelines for an adequate medical expert assessment in this re­
spect. The ambiguity of the diagnostic concept and its questionable vali­
dity are discussed. On the basis of more recent evidence, a multidimen­
sional approach is proposed in order to overcome these shortcomings in the
evaluation of a possibly somatoform symptomatology. The following dimen­
sions should be part of such an approach: the characteristics of somatoform
complaints, course on time axis, comorbidity, subjective illness appraisal and
coping strategies. Somatoform disorders must be differentiated from sim­
ple dysfunctional beliefs and behaviour patterns. Moreover, disorder­spe­
cific factors are outlined that can help to define the prognosis. In addition,
to assess psychological resources within the frame of personality structure a
diagnostic procedure according to the Operationalized Psychodynamic Diag­
nosis (OPD) system is recommended. Diagnostics according to OPD can help
to answer the difficult question whether in a given situation somatoform
disorder results in a transient or rather permanent and relevant restriction of
functioning also from a medico­legal point of view.
Ausgangspunkt und Fragestellung
Diagnostik und Therapie somatoformer Störungen ge­
ben seit Jahren Anlass zu Kontroversen in der Fachlite­
ratur, etwa zur Kritik der Diagnostik der anhaltenden
somatoformen Schmerzstörung. In den letzten Jahren
erschienen zwar weiterführende wissenschaftliche Studien
zu Epidemiologie und Diagnostik sowohl in Europa wie
in den USA. Mit Ausnahme der sehr eng gefassten Dia­
gnose der Somatisierungsstörung sind die übrigen Diagno­
sen der somatoformen Störungen aber weiterhin unge­
nügend validiert. Die unbefriedigend ausgearbeiteten dia­
gnostischen Kriterien helfen im psychiatrischen Alltag nicht
recht weiter. Der Kliniker fragt sich: Wie kann der Schwere­
grad der Störung abgeschätzt werden? Genügt es, für die
Therapie die Symptomatik allein zu berücksichtigen, oder
muss man schon bei der Therapieplanung Kontextfaktoren
wie Persönlichkeit oder soziale Faktoren einbeziehen? Sind
möglicherweise solche Kontextfaktoren sogar entscheiden­
der für die Prognose als die präsentierten Symptome? Ko­
morbiditäten, vor allem Angst und Depression, sind jeden­
falls häufig, wie sich mittlerweile gezeigt hat. Des Weiteren
lassen sich nicht nur ganz unterschiedliche Beschwerde­
manifestationen unterscheiden, wie dies die gängige Dia­
gnostik in ICD­10 und DSM­IV nahe legt, sondern auch ganz
unterschiedliche Verläufe mit zum Teil mehr körperlichen
und zum Teil mehr psychischen Beschwerden. Welche Kon­
sequenzen ergeben sich daraus prognostisch und schliesslich
auch im Bereich der Begutachtung im Rahmen der Sozial­
versicherungen?
Besondere Schwierigkeiten treten auf, wenn es dar­
um geht, psychische Funktionseinschränkungen aufgrund
somatoformer Störungen im Rahmen der Sozialversiche­
rungen zu bewerten. Vor allem die Einschätzung der Arbeits­
fähigkeit steht im Vordergrund. Hierbei geht es nicht nur um
das Stellen einer Diagnose, sondern auch um die Quantifi­
zierung der Symptome, die Einschätzung des Schweregrades
mit den Auswirkungen auf das Denken, Fühlen und Han­
deln der betroffenen Personen. Im Einzelfall schliesst sich
die Frage an, ob es der betroffenen Person nicht doch – trotz
und mit ihrer somatoformen Symptomatik – möglich und
zumutbar wäre, ohne zusätzlichen gesundheitlichen Scha­
den in Kauf zu nehmen, einer Arbeit nachzugehen. Mit der
vorliegenden Arbeit soll ein Beitrag zur objektivierenden
Betrachtungsweise und zur Standardisierung der Leistungs­
beurteilung geleistet werden. Dies geschieht im Bewusst­
sein, dass aktuell keine randomisierten kontrollierten Stu­
dien für die Beurteilung von versicherungspsychiatrisch
relevanten Gesundheitsstörungen hinsichtlich Schweregrad,
Verlauf, Behandlungserfolg und Prognose vorliegen, ins­
besondere nicht von somatoformen Störungen [1]. Die hier
skizzierten Überlegungen bauen auf dem aktuellen Stand
der wissenschaftlichen Literatur auf, haben jedoch zudem
den Vorteil, auf den Erfahrungen in der stationären und
ambulanten psychiatrischen Versorgung, in der stationären
Rehabilitation und der psychiatrischen Gutachtenpraxis zu
beruhen.
Diagnostik
Die Unklarheiten der Diagnostik und ihre Verbesserung
Unstrittig ist es, dass die gängigen Klassifikationssysteme
bisher keine befriedigenden Lösungen zur Diagnostik der
somatoformen Störungen gefunden haben. Das beginnt
bereits damit, dass ICD 10 [2] und DSM IV [3] sich im
Detail doch erheblich voneinander unterscheiden. Die für
das ICD 10 wichtige Kategorie der somatoformen autono­
Korrespondenz:
Dr. med. Renato Marelli
Leonhardsstrasse 16
CH-4051 Basel
[email protected]
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men Funktionsstörung wird im DSM IV nicht berücksich­
tigt, dafür sind die Konversionsstörungen im DSM IV den
somatoformen Störungen und im ICD 10 den dissoziativen
Störungen zugeordnet. Die klinischen Phänomene lassen
sich parallel der Körperorgan­Systematik und dem psychia­
trischen Bereich zuordnen und abbilden, und damit ist es
in gewisser Weise den Zufällen des Erstzugangs überlassen,
welche Diagnose gestellt wird. Der Internist mag es bevor­
zugen, die somatoformen Beschwerden unter den funktio­
nellen Störungen bei der körperorganbezogenen Diagnostik
abzubilden; dann muss er den inneren Zusammenhang der
Beschwerden und weitere psychologische oder psychiatri­
sche Charakteristika gar nicht mehr reflektieren. Er mag sich
darüber freuen, dass er seinen Patienten nicht durch eine
psychiatrische Diagnose stigmatisiert und die eigene ärzt­
liche Zuständigkeit bewahrt. Aber diese Vorteile sind teuer
erkauft; wenn der Patient mehrere solcher funktioneller
Beschwerden äussert, wird ihr Zusammenhang diagnostisch
nirgendwo dargestellt, und allfällige Komorbiditäten im
psychiatrischen Bereich bleiben oft unberücksichtigt.
Aber auch der psychiatrisch gebildete Diagnostiker wird
seines Lebens nicht froh. Die Kernaussage, dass somatoforme
Störungen «medizinisch unerklärt» seien, ist nirgendwo
gut qualifiziert. Die einzelnen somatoformen Störungen
voneinander und gegenüber dissoziativen, artifiziellen,
affektiven und Angststörungen abzugrenzen, ist nicht
präzise möglich. Wenn er in seiner Arbeit sich ansonsten
einer bio­psycho­sozialen Multidimensionalität verpflich­
tet, so muss er sie hier aufgeben, denn in der Diagnostik der
somatoformen Störung sind psychologische und interperso­
nale Faktoren vernachlässigt, das Krankheitsverhalten und
die subjektiven Ursachentheorien zu wenig berücksichtigt.
Andererseits aber wird eine Dualität zwischen Psyche und
Soma eingeführt, die auf der Vernachlässigung neurobio­
logischer Einflussfaktoren beruht. Schliesslich merkt er, dass
die Diagnostik weder ihm selbst hilft, weil sie nicht hand­
lungsleitend ist, noch dem Patienten, der sich mehr und
mehr durch sie schlecht akzeptiert fühlt.
Diese Kritikpunkte sind nicht neu. Sie haben in den
letzten Jahren nach Lösungsansätzen verlangt. Es sind im
Wesentlichen drei Vorschläge zu unterscheiden:
– Die Abschaffung der Diagnose: Mayou et al. haben vor­
geschlagen, auf die Diagnose ganz zu verzichten, und die
klinischen Phänomene anderen Achsen zuzuschreiben
[4]. Das freilich bedeutete, das Kind mit dem Bad auszu­
schütten. Interessanter ist daher der zweite Vorschlag.
– Eine Positivdiagnostik psychosozialer Faktoren: Sie
würde klinisch relevante Dimensionen enthalten, so
die selektive Aufmerksamkeit auf Körpersignale, die
dysfunktionalen Kognitionen, eine katastrophisierende
Bewertung von Körpersignalen, die dauerhafte Attri­
buierung von Körpersignalen an nichtdiagnostizierte
physische Bedingungen, ein exzessives Inanspruch­
nahmeverhalten und ein Vermeidungsverhalten. Diese
Vorschläge verbessern die Diagnostik des krankheits­
bezogenen Verhaltens, sind aber einseitig auf diesen
Bereich ausgerichtet.
– Vermeiden von Dichotomien: dieser Vorschlag geht
pragmatisch vor und will nicht mehr und nicht weni­
ger als Widersprüche und Parallelführungen zwischen
den Diagnosesystemen vermeiden. So geht es um die
Vereinheitlichung von DSM und ICD, die Vereinheitli­
chung der Kriterien für funktionelle und somatoforme
Störungen, die Vereinheitlichung von klinischen und
Forschungskriterien und um identische Abbildung auf
medizinischen und psychiatrischen Achsen.
Die zwei letzten Vorschläge sind sicher sinnvoll und nützlich;
aber sie lösen für sich allein gleichwohl nicht das kom­
plexe diagnostische Problem, das die somatoformen Stö­
rungen darstellen. Daher ist es unser Anliegen, einen Bei­
trag für den Entwurf einer multidimensionalen Diagnostik
der somatoformen Störungen zu leisten, die sich folgenden
Zielen unterstellt:
– Sie bildet die notwendige klinische Komplexität ab;
– sie ist handlungsanleitend und daher gleichermassen
für die Begutachtung und für die Behandlungsplanung
geeignet;
– sie ist trotz der Komplexität des Ansatzes pragmatisch
handhabbar;
– sie ist reliabel anwendbar.
Phänomenologie
Grundsätzlich lässt sich die Phänomenologie von somato­
formen Störungen auf mehreren Ebenen bzw. Dimensionen
abbilden. Es sind dies:
– die Dimension «Somatoforme Beschwerden» bzw.
Körpersymptomatik im eigentlichen Sinne, inklusive
sogenanntes «multisomatoformes Profil»;
– die Dimension Komorbidität: Depression und/oder
Angst;
– die Dimension Krankheitserleben und Krankheitsver­
halten.
Dimension Somatoforme Beschwerden und Verläufe
Rein klassifikatorisch scheint es [5] nützlich, das ganze mög­
liche Beschwerdespektrum bei somatoformen Störungen
allgemein in drei Typen von Beschwerden aufzuteilen, näm­
lich Manifestation als Schmerz, ferner funktionelle Organ­
störungen inkl. pseudoneurologische Organstörungen und
schliesslich den Bereich von Erschöpfung/Müdigkeit. So­
dann lassen sich unter klassifikatorischen Gesichtspunkten
drei Verlaufstypen abgrenzen: Monosymptomatischer Ver­
lauf (z.B. nur Schmerz), polysymptomatischer beziehungs­
weise «multisomatoformer» Verlauf und ferner die Fälle
von sogenannter Gesundheitsangststörung, wo nicht der
Beschwerdedruck subjektiv im Vordergrund steht, sondern
eine hartnäckige, weit ausgreifende hypochondrische Ge­
dankendynamik [6].
Studien zur Beschwerdemanifestation bei somatofor­
men Störungen haben gezeigt, dass eine gleichzeitige oder
sequenzielle Entwicklung von somatoformen Beschwerden
aus verschiedenen Bereichen (sog. multisomatoforme Prä­
sentationsweise) viel eher die Regel als die Ausnahme ist
[7]. Ein solches multisomatoformes Syndrom ist z.B. eine
Kombination von Schmerz, Erschöpfung und funktioneller
Organstörung. Auch wenn die spontane Beschwerdepräsen­
tation oft ganz auf Schmerzen konzentriert sein mag, denen
wahrscheinlich auch bislang das ärztliche Hauptaugenmerk
galt und welche argumentativ das Funktionsdefizit belegen
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und rechtfertigen sollen, so gilt es doch, die Gesamtheit der
Beschwerden und der Symptommanifestation zu erfassen.
Lassen sich somit in einem ersten Abklärungsschritt
klare Hinweise auf verschiedene Manifestationsbereiche
der somatoformen Symptomatik erkennen, so ist phänome­
nologisch wahrscheinlicher geworden, dass eine Beschwer­
depräsentation dem somatoformen Spektrum zugerechnet
werden muss, allenfalls sogar einer typischen Kerngruppe
innerhalb dieses Spektrums.
Was kann nun hinsichtlich Schweregrad und Prognose
aus dieser Phänomenologie abgeleitet werden?
Je mehr multipel ausgeprägt die somatoforme Be­
schwerdeentwicklung ist, also je mehr Bereiche des Körpers
von einer multisomatoformen Symptomentwicklung betrof­
fen werden, desto häufiger liegt eine depressive komorbide
Auslenkung vor [7], desto zeitstabiler, also zur Chronizi­
tät tendierend verlaufen die präsentierten somatoformen
Beschwerden, und ein solches Beschwerdeprofil ist in der
Regel auch mit mehr Funktionsverlust assoziiert [8]. Ein
solcher Funktionsverlust bei somatoformen Störungen lässt
sich einerseits teils direkt auf die somatoformen Beschwer­
den zurückführen, korreliert zum anderen Teil aber auch
mit dem Ausmass der affektiven Auslenkung, insbeson­
dere der depressiven Symptomatik [9], [10]. Es ist wichtig,
sich dies vor Augen zu halten, da somit das Merkmal einer
«multisomatoformen» Manifestationsweise zusammen mit
affektiver Auslenkung eine Kerngruppe von Betroffenen
im somatoformen Spektrum kennzeichnet, die einen relativ
hohen Schweregrad und eine eher ungünstige Prognose
aufweist. Diese werden also mit einiger Wahrscheinlich­
keit durch die Störung eingeschränkt (allenfalls invalidi­
siert) bleiben.
Dimension Komorbidität: Depression und/oder Angst
In der Erforschung der grundlegenden Mechanismen, wel­
che die oft vielgestaltige Präsentation von Somatisierung
bedingen, geht man heute davon aus, dass ein innerer
Zusammenhang zwischen verschiedenen Bereichen von
somatoformer Symptombildung auf der einen Seite und den
typisch komorbiden Dimensionen Depression und Angst be­
steht [11]. Es handelt sich hier also nicht nur um eine häu­
fige Komorbidität; das ganze Spektrum der Manifestation
sollte viel eher als zusammengehöriges Stress­Diathese­
modell [12] aufgefasst werden. Daraus kann die prakti­
sche Folgerung gezogen werden, dass im Rahmen des Ab­
klärungsganges neben den somatoformen Beschwerden,
die meistens ganz im Vordergrund der Aufmerksamkeit des
Betroffenen und somit des Beschwerdevortrags stehen, aktiv
nach dem Vorhandensein von Symptomen von Depression
und Angst gesucht werden muss – dies umso mehr, als sie oft
in atypischer, somatisierter oder wenig typisch ausgeprägter
Form vorhanden sind beziehungsweise wenig verbalisiert
werden können oder gar bestritten werden.
Eine depressive Auslenkung ist nicht nur hinsichtlich
Schweregrad der Störung und resultierendem Funktions­
verlust bedeutsam, sondern es handelt sich wahrscheinlich
um Depressionsformen, die schlecht auf eine depressions­
spezifische Behandlung ansprechen, wie dies für die Kom­
bination «Depression mit Schmerz» bei Schmerzpatienten
gezeigt werden konnte [13].
Die Dimension Angst manifestiert sich in der Regel mit
den Symptomen einer generalisierten Angststörung und
ängstlich getönter selektiver Aufmerksamkeitsfokussierung
auf Körpersignale sowie somatisierte Angstmanifestationen.
Abgrenzungsprobleme ergeben sich zwischen schwere­
ren Depressionen mit einem sogenannten somatischem
Syndrom und komorbider Depressivität bei einer somato­
formen Störung. Dies ist therapeutisch und versicherungs­
medizinisch bedeutsam, denn bei einer schweren Depres­
sion wird man in der Regel mit der Diagnose einer somato­
formen Störung sehr zurückhaltend sein. Vor allem lässt sich
anhand des bisherigen Verlaufs mit parallelen Schwankun­
gen der Ausprägung von Depression und Körpersymptoma­
tik auf ein depressives Grundleiden schliessen.
Dimension Krankheitserleben und -verhalten
Neben den genannten Manifestationsformen sind störungs­
spezifische dysfunktionale Kognitionen und Interaktions­
muster ein konstitutives Element von somatoformen Störun­
gen. So lassen sich als weitere Krankheitsdimensionen auch
typische Muster im Bereich des Körpererlebens mit selektiver
Aufmerksamkeit auf Körpersignale und damit verbundenem
Krankheitsverhalten erheben, zum Beispiel das Ausmass der
hypochondrischen Dimension und der somatischen Fixie­
rung (unverrückbare körperliche Ursachenüberzeugungen),
ferner die Intensität der dysfunktionalen Inanspruchnahme
medizinischer Leistungen und die Überzeugung, in der Leis­
tungsfähigkeit eingeschränkt zu sein.
Charakteristische Auffälligkeiten finden sich besonders
in der Dimension «Arzt­Patient­Beziehung», letztlich oft
mit Infragestellung der ärztlichen Rolle und Kompetenz,
häufigem Arztwechsel und Nachsuchen nach ärztlicher
Hilfe, ohne das therapeutische Angebot sinnvoll wahrneh­
men zu können.
Ferner nehmen viele Betroffene eine passive Rolle in der
Behandlung ein und haben ausgeprägte Widerstände gegen
eine erweiterte Sichtweise im Sinne eines biopsychosozialen
Krankheitsmodells. Werden solche Überzeugungs­ und In­
teraktionsmustern festgestellt, ist es wahrscheinlicher, dass
eine entsprechende Beschwerdeklage in das somatoforme
Spektrum einzureihen ist, und dies erschwert oder verun­
möglicht gar einen therapeutischen Zugang und trägt damit
durch enttäuschende Interaktionsspiralen zwischen Patient
und Arzt im Rahmen von Abklärung und Behandlungsver­
suchen zur Chronifizierung bei.
Probleme bei der Abgrenzung von dysfunktionalen
Überzeugungen und Verhaltensmustern am Beispiel
der Schmerzpatienten
Bei der Dimension «Krankheitserleben und ­verhalten»
ergeben sich gewöhnlich erhebliche Probleme in der Abklä­
rung von Schmerzpatienten. Ist nämlich die diagnostische
und damit auch erweiterte psychosoziale Abklärung eines
solchen Schmerzpatienten (der möglicherweise eine anhal­
tende somatoforme Schmerzstörung hat) einmal beim The­
menkreis von dysfunktionaler Überzeugung und Interaktion
sowie Vermeidungsverhalten angelangt, so tut sich gerade
beim Umgang mit Schmerz eine differenzialdiagnostische
Herausforderung auf.
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In der Mehrzahl lässt sich bei Schmerzpatienten (und
oft auch bei Patienten mit somatoformer Schmerzsympto­
matik) mindestens ein organischer Kern für die Schmerz­
symptomatik finden. Die Patienten klagen mit Nachdruck
über die Schmerzen, kommunizieren diese auch auf der
Verhaltensebene und zeigen zahlreiche Muster von Ver­
meidungsverhalten. Solche Patienten haben enttäuschende
Episoden der Behandlung hinter sich und stehen unter der
Einwirkung einer Reihe von psychosozialen Belastungs­
faktoren, die z. T. Auswirkungen der Schmerzsituation sind.
Dass hier viel Funktionsverlust geklagt wird, der in diesem
Ausmass somatisch nicht zureichend erklärt werden kann,
charakterisiert vor allem die Situation, die der Versiche­
rungsmediziner vorfindet.
Es stellt sich jeweils die differenzialdiagnostische Frage,
ob diese dysfunktionalen Muster ein Ausdruck beziehungs­
weise ein Manifestationsbereich einer somatoformen Stö­
rung sind, oder ob es im vorliegenden Falle (was erfahrungs­
gemäss deutlich häufiger ist) um einen mittlerweile mehr
oder weniger chronifizierten Zustand von dysfunktionalen
Lernvorgängen am Schmerz geht, wo Vermeidung, Selbst­
limitierung mit resultierender Passivität, Dekonditionierung
und Schmerzverstärkung eingetreten sind, dies auch im
Sinne einer sogenannten «Symptomausweitung».
Der Begriff der sogenannten «Symptomausweitung»
bzw. «symptom magnification syndrome» oder «symptom
amplification» bezeichnet in der Rehabilitationsmedizin
eine Konstellation von dysfunktionalen Mustern auf der
Verhaltens­ und Überzeugungsebene von Schmerzpatien­
ten mit ausgeweitetem Funktionsverlust infolge von Passi­
vität und Vermeidungsverhalten, deren Funktionsniveau
rehabilitativ angehbar ist [14, 15]. Solche Patienten sind
gewöhnlich eine Herausforderung für die Rehabilitations­
medizin. Die Unterscheidung ist von praktischer Bedeutung,
da für solche in Chronifizierung begriffenen Situationen von
lediglich dysfunktionalen Überzeugungs­ und Verhaltens­
mustern verhaltenstherapeutisch ausgerichtete Trainings­
programme angeboten werden, solche Behandlungsansätze
jedoch eigentlichen somatoformen Patienten nicht weiter­
helfen würden. Zu beachten ist, dass der Begriff der soge­
nannten «Symptomausweitung» nicht einer psychischen
Störung im nosologischen Sinne entspricht.
Bei Patienten mit somatoformen Störungen sind
Merkmale, die sich mit dysfunktionalen Schmerzpatienten
überlappen, häufig, da auch somatoforme Patienten eine
gewisse organische Komponente ihrer Schmerzen aufwei­
sen können und neben Verdeutlichungstendenzen [16] ins­
besondere oft auch zu Passivität, Inaktivität, Vermeidung
und Selbstlimitierung neigen. Dies ist insbesondere der Fall,
wenn ein Patient nur noch die Berentung als Zukunfts­
perspektive sieht. Aber auch versicherungsmedizinisch ist
eine diagnostische Abgrenzung nötig, da der störungsspe­
zifische Anteil von dysfunktionalen Mustern von mehr un­
spezifischen, unter dem Einfluss von Kontextfaktoren er­
lernten Mustern unterschieden werden sollte. Hinweise zur
Klassifikation ins eigentliche somatoforme Spektrum geben
(neben den Dimensionen von einschlägig belastet erschei­
nender Biografie und auffälliger Persönlichkeitsstruktur und
allenfalls aufweisbarer plausibler individueller Pathogenese)
das störungsspezifische Profil, also eine Symptomatik mit
typisch somatoformer Beschwerdepräsentation, affektiver
Auslenkung und ängstlicher Aufmerksamkeitslenkung auf
die Beschwerden, eine damit verbundene spezifische inten­
sive Gedankendynamik sowie typisch dysfunktionale Inter­
aktionsmuster mit den Behandlern.
Deutlich eher in Richtung einer blossen dysfunktio­
nalen Bewältigung eines somatischen Problems (gewöhn­
lich handelt es sich um Schmerzpatienten mit ausgeweite­
tem Funktionsdefizit im Sinne der sogenannten «Symptom­
ausweitung») weist hingegen der Umstand, dass es auf der
Symptomebene um einen monotopen (wenngleich undif­
ferenziert­plakativ vorgetragenen) Schmerz geht bei relativ
gewichtigem, somatisch erklärbarem Anteil und dass vor­
wiegend passiv vermeidende Muster den Alltag und auch
die gedankliche Dynamik prägen, also wenig ängstliche
Besorgnis und Aufmerksamkeitslenkung feststellbar sind.
Der Hinweis auf den Schmerz beziehungsweise eine zu
befürchtende Schmerzverstärkung begründet und legiti­
miert aus Sicht des Betroffenen hier ein meist umfang­
reiches Vermeidungsverhalten. Gewöhnlich finden sich in
solchen Situationen mit sogenannter «Symptomauswei­
tung» auch soziale und interaktionelle Kontextfaktoren,
welche die Invalidenrolle zementieren helfen, und allfällige
Anteile von Aggravation sind zu diskutieren.
Wichtig ist aber insgesamt zu verstehen, dass die Ab­
grenzung solcher Schmerzpatienten mit unspezifischen
dysfunktionalen Bewältigungsmustern von eigentlichen
somatoformen Schmerzpatienten keine scharfe ist; es gibt
einen Übergangsbereich.
Daher wurde Anfang 2009 für die deutsche Adaptation
des ICD­10 eine neue Schmerzdiagnose geschaffen: Un­
ter dem Überbegriff F45.4 (Anhaltende Schmerzstörung)
wird neben der anhaltenden somatoformen Schmerzstö­
rung (F45.40) neu eine «Chronische Schmerzstörung mit
somatischen und psychischen Faktoren» F45.41 einge­
führt. Es soll damit eine Gruppe von Schmerzproblemen
von mehr als sechs Monaten Dauer bezeichnet werden,
deren Ursprung somatisch bedingt war und wo psychische
Faktoren eine wichtige Rolle für Schweregrad, Exazer­
bation und weiteren Verlauf bzw. Aufrechterhaltung
erlangten [17]. Dies trifft gemäss klinischer Erfahrung auf
zahlreiche Situationen von chronischem Schmerz zu. Mit
dieser neuen Diagnose ergibt sich aber ein neues Pro­
blem, die Abgrenzung zur somatoformen Schmerzstörung,
zur dysfunktionaler Bewältigung von somatisch begrün­
deten Schmerzen und zur Aggravation. Umso bedeutsamer
scheint in dieser Hinsicht die Herausarbeitung eines stö­
rungsspezifischen Profils für somatoforme Störungen auf­
grund von Merkmalen, die sich im klinischen Kontext
ermitteln lassen.
Es bleibt zu betonen, dass allein aus der Diagnose einer
somatoformen Störung nicht automatisch ein erheblicher
Funktionsverlust abgeleitet werden kann. Es gibt nämlich
ein bis anhin schlecht charakterisiertes Spektrum von im
Wesen somatoformen, wohl meist flüchtigen Beschwer­
den in der Bevölkerung, welches zu keiner relevanten Ein­
schränkung führt [18].
Auch schliesst eine somatoforme Diagnose eine bewusst
übertreibende Darstellung (Aggravation) der Krankheits­
situation keineswegs aus.
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Kurz zusammengefasst lässt sich festhalten, dass nicht
alles dysfunktionale Verhalten bei somatoformen Patienten
störungsspezifisch bedingt ist, eine diesbezügliche Abgren­
zung aber anspruchsvoll bleibt.
Persönlichkeit
Weder für die Behandlung noch auch für die Begutach­
tung somatoform belasteter Patienten reicht es aus, allein
die soeben beschriebenen Phänomene genau zu erfassen.
Diese Kriterien erklären nur einen Teil der breiten prognos­
tischen Varianz. Die störungsspezifische Charakterisierung
von Erleben und Verhalten muss sich in einen Kontext ein­
fügen lassen, der – subjektiv vom Patienten aus gesehen –
durch Lebensführung und Lebenserfahrung gebildet wird
und der – objektiv vom Untersucher aus betrachtet – einen
verstehenden Zugang zu den Beschwerden ermöglicht. Da­
für eignet sich die Persönlichkeitsdiagnostik. Persönlich­
keitsfaktoren spielen eine nicht zu unterschätzende Rolle.
Sie werden im Folgenden differenziert.
Komorbidität Persönlichkeitsstörung
Neben der Diagnose der somatoformen Störung wird eine
weitere Diagnose aus dem Bereich der Persönlichkeitsstö­
rung (ICD­10 F 6) gestellt. Diese Komorbidität bestimmt den
Schweregrad der Erkrankung, ist zugleich auch mit einer
negativeren Verlaufsprognose verbunden. Komorbide Per­
sönlichkeitsstörungen werden bei allen Formen somatofor­
mer Störungen angetroffen. Garyfallos et al. finden bei 63%
der Patienten mit somatoformen Störungen eine komorbide
Persönlichkeitsstörung [19]. Bei Schmerzstörungen erfül­
len mehr als die Hälfte die Kriterien einer Persönlichkeits­
störung bei dem SKID­II­Screening; bei ausführlichen SKID­
II­Interviews wird der Anteil allerdings geringer [20].
Ichfunktionen oder strukturelle Integration
der Persönlichkeit
Hier wird das Funktionsniveau der Persönlichkeit in der
Gegenwart angesprochen. Die Beurteilung der Ichfunk­
tionen oder der strukturellen Integration der Persönlichkeit
erlaubt es, einerseits möglicherweise pathogenetische Fak­
toren zu beschreiben, andererseits die Möglichkeiten des
Umgangs mit der Störung und mit ihren Folgen, also auch
die Freiheitsgrade im Umgang mit der durch die Krankheit
gegebenen Belastung. Die Nomenklatur in diesem Bereich
der Persönlichkeitsdiagnostik ist uneinheitlich. Fabra [21]
stellt folgende sog. Komplexen Ichfunktionen heraus:
– Realitätsprüfung und Urteilsbildung;
– Beziehungsfähigkeit und Kontaktgestaltung;
– Affektsteuerung und Impulskontrolle;
– Selbstwertregulation und Regressionsfähigkeit;
– Intentionalität und Antrieb;
– Abwehrorganisation.
Diese Aufzählung erfasst wichtige Merkmale, bleibt aber
unbefriedigend: Bisher konnte die Einschätzung der ge­
nannten Kriterien nicht nachweislich reliabel durchgeführt
werden.
Eine Graduierung der ichfunktionalen Fähigkeiten wird
nicht angegeben und es fehlen geeignete Ankerbeispiele.
Küchenhoff [22] hat die Wahl der therapeutischen Ver­
fahren und die therapeutische Prognose von Merkmalen der
Persönlichkeitsorganisation abhängig gemacht. Ausgehend
von einer Differenzierung der Persönlichkeitsorganisationen
hat er folgende Unterscheidung vorgeschlagen, die auch den
Zeitverlauf mit berücksichtigt:
– Somatoforme Störungen als Konfliktreaktionen: sie treten
vorübergehend auf, sind an eine Auslösesituation ge­
bunden und durch Psychotherapie gut erreichbar. Die
Patienten verfügen über eine gute Integration der Struk­
tur und Stabilität des Strukturniveaus.
– Somatoforme Störungen als neurotische Störungen: sie
halten lange an oder rezidivieren. Die Beschwerden
lassen sich nicht nur auf eine aktuelle Belastung zurück­
führen; diese steht vielmehr in einer inhaltlichen Ver­
bindung zu lebensgeschichtlich langfristig bedeutsamen
Belastungen und Konflikten. Die Diagnostik der Persön­
lichkeitsstruktur weist eine nur mässige Integration der
Struktur auf.
– Somatoforme Störungen und alexithyme Charakteristika
oder Persönlichkeitspathologien: auch hier bestehen die
Beschwerden lange. Es lassen sich schwere struktu­
relle Beeinträchtigungen erkennen, die die Verarbeitung
von Belastungen und Krisen erschweren. Es sind nicht
in erster Linie die ungelösten persönlichen Konflikte,
sondern die Schwächen in den Ichfunktionen, die die
Kompensationsmöglichkeiten der Patienten einschrän­
ken und sich dann im körperlichen Beschwerdeangebot
manifestieren.
Die momentan klarste Darstellung sowohl der ichfunk­
tionellen Merkmale als auch der Graduierung von persön­
lichkeitsabhängigen Fähigkeiten findet sich in der OPD­2
(Arbeitskreis OPD 2006), denn dort sind Funktionsniveaus
der Persönlichkeit nach vier Ausprägungsformen (gut –
mässig – gering – desintegriert) in den folgenden Dimen­
sionen genau definiert und einem manualisierten reliablen
Ratingverfahren zugänglich:
– Fähigkeit zur Selbst­ und Fremdwahrnehmung;
– Fähigkeit zu emotionalem Selbstbezug und emotionaler
Kommunikation;
– Fähigkeit zur Selbststeuerung;
– Fähigkeit zur Bindung.
Jede dieser Dimensionen ist in Subdimensionen aufge­
fächert und differenziert.
In konzeptueller und klinischer Hinsicht ist es evident,
dass mit der Beschreibung der strukturellen Integration der
Persönlichkeit wichtige Beurteilungskriterien mit prognos­
tischer Relevanz benannt werden. Als Beispiel seien die in
der OPD unter «Selbstwahrnehmung» und «Selbststeue­
rung» aufgelisteten Fähigkeiten zur Affektdifferenzierung
und zur Affekttoleranz erwähnt. Störungen des Affekt­
erlebens wurden seit Jahrzehnten als pathogenetischer Fak­
tor in der Entstehung somatoformer Störungen diskutiert
(Alexithymie). Zugleich ist die Affekttoleranz ein wesent­
licher Copingfaktor und wichtig für die langfristige Adapta­
tion und Kompensation chronifizierter Beschwerden.
Wegen der Klarheit der klinischen Evidenz sollte das
Kriterium der strukturellen Integration der Persönlichkeit
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daher als gesichert, also als ein für die multidimensionale
Beurteilung unverzichtbarer Faktor angesehen werden.
Aspekte des Krankheitsverhaltens
und der Arzt-Patient-Beziehung
Die vorstehend beschriebenen Dimensionen wirken sich
auf die Gestaltung der Arzt­Patient­Beziehung und auf das
Krankheitsverhalten aus und wieder zurück auf den Krank­
heitsverlauf. Die Merkmale der Persönlichkeit sind nicht nur
der spezifischen psychopathologischen Diagnostik zugäng­
lich, sondern manifestieren sich konkret und direkt fassbar
in der Gestaltung der therapeutischen Beziehung und im
Umgang mit der eigenen Krankheit. Das In­Frage­Stellen
der ärztlichen Rolle gehört zur Definition der somatoformen
Störungen, und aus dieser ablehnenden Haltung resultieren
weitere Schwierigkeiten, so der Anspruch auf Versorgung,
ohne die angebotene Hilfe wahrnehmen zu können, oder
eine ausgeprägte Passivität in der Behandlung [23], schliess­
lich die Unmöglichkeit zu einer bio­psycho­sozialen Sicht
der Beschwerden.
Von den selbstreflexiven Ich­Funktionen wird das
Krankheitsverhalten direkt berührt, und das in mehrfacher
Hinsicht. Je weniger die Fähigkeit zur Selbstreflexion aus­
gebildet ist, umso mehr stützt sich der Patient auf die kul­
turell gängigen, gesellschaftlich angebotenen Deutungs­
und Entlastungsmuster. Dazu gehören die somatoformen
Ursachenüberzeugungen. Je weniger sie relativiert werden
können, je grösser also das Ausmass der hypochondrischen
Ängste und der somatischen Fixierung, umso schwieriger
ist es, psychosoziale Faktoren zu berücksichtigen, und umso
grösser die Inanspruchnahme medizinischer Leistungen und
umso wahrscheinlicher das Nachsuchen nach Verrentung.
Biographisch bedingte Konflikte in der Persönlichkeitsentwicklung und Lerngeschichte
In der Lebensgeschichte werden Konfliktmuster deutlich,
die sich gleichsam als belastender roter Faden durch die
erzählte Geschichte ziehen. Aber auch Lernerfahrungen im
Umgang mit körperlicher Krankheit oder Schwäche spie­
len eine Rolle. Auch wenn die im vorherigen Kapitel ge­
schilderte strukturelle Integration u.a. auch biographische
Wurzeln hat, ist sie der Querschnittsdiagnostik zugänglich.
In drei Hinsichten ist die Exploration der Lebensgeschichte
zusätzlich ertragreich und notwendig für die prognostische
Einschätzung:
a) Lerngeschichte: Die lebensgeschichtlich frühe und an­
haltende Konfrontation mit schweren Krankheiten in
der Familie kann eine hypochondrische Einstellung
vorbereiten. Ausserdem prädisponieren die sog. soma­
tisierenden Familienstile dazu, im Erwachsenenalter
Emotionalität vorwiegend körperbezogen zu artiku­
lieren.
b) Traumatisierung: dass schwere frühe Missbrauchs­ oder
Gewalterfahrung somatoformen Störungen voraus­
gehen, kann als empirisch gesichert gelten [24]. Bei
weiterbestehenden traumabedingten Veränderungen
der Persönlichkeit ist die Wahrscheinlichkeit einer Ge­
nesung geringer.
c) Konfliktdynamik: Aus der Kenntnis der biographisch
verstehbaren Belastungen und Konflikte lässt sich das
Ausmass der psychodynamischen «Unverzichtbarkeit»
der Symptomatik ermessen. Es sind oft schwerwiegende
Mangelerfahrungen im zwischenmenschlichen Bereich
und auch die Kindheit und Jugend prägende dauer­
hafte Vernachlässigungen und Versorgungsdefizite, die
als Ursprung der grossen Bedürftigkeit der Patienten an­
gesehen werden können.
Die gutachterlichen Herausforderungen
Als Gutachter ist es besonders hilfreich, über breite Er­
fahrung zu verfügen [16], wie sich somatoforme Patien­
ten hinsichtlich Beschwerdevortrag, aber auch in ihrem
Krankheitserleben, ihrer Gedankendynamik und ihrer
Beziehungsaufnahme zum Untersucher präsentieren. Eine
sorgfältige Erhebung der ganzen Alltagssituation und des
Funktionsniveaus samt Wertung von Inkonsistenzen, die
sowohl bei einer somatoformen Störung wie auch bei den
mehr unspezifischen, oben geschilderten Bewältigungs­
störungen ausgeprägt sind, muss dabei vorgenommen wer­
den [25].
Herausforderungen aus medizinischer Sicht
Im klinischen wie auch im versicherungsmedizinischen
Alltag steht sehr häufig eine chronische Schmerzsituation
zur Beurteilung. Ob diese durch eine somatoforme Störung
erklärt werden kann, bleibt vorerst meist unklar, da ein
weites Spektrum von möglichen Zusammenhängen zwi­
schen Ausprägung der Schmerzsymptomatik, somatischen
Komponenten des Schmerzleidens, affektiven Leidens­
zuständen, Überzeugungen und Bewältigungsfaktoren
sowie Kontextfaktoren gegeben ist. So erklärt sich erfah­
rungsgemäss häufig ein «Zuviel» an subjektiver Schmerz­
stärke und Leidensdruck sowie ein (gemessen am objekti­
ven Gewicht des somatischen Faktors) exzessiv erscheinen­
der Funktionsverlust durch das Auftreten einer depressiven
Verstimmung. Aber auch maladaptiv erlernte, aus Sicht
der Rehabilitationsmedizin dysfunktionale Strategien der
Schmerzvermeidung, Inaktivität und körperliche Dekon­
ditionierung («fear­avoidance») erklären oft Funktionsver­
lust und Chronifizierung, ohne dass im eigentlichen Sinne
eine somatoforme Störung vorliegen würde. Mit solchen an
sich noch unspezifischen Verhaltens­ und Überzeugungs­
mustern, die unter dem Einfluss von Kontext­ beziehungs­
weise Anreizfaktoren im Sinne von Lernprozessen gefördert
werden, kommt man den für die somatoformen Störungen
konstitutiven Merkmalen zwar näher, die aber nur einen
Teil der verschiedenen Dimensionen dessen bilden, was den
eigentlichen Begriff des «Somatoformen» ausmacht.
Bildlich gesprochen besteht somit eigentlich eine weit
gespannte Grauzone beim ganzen Spektrum von denkbaren
Schmerzpatienten: Auf der einen Seite sind es diejenigen
Situationen, wo der somatisch tätige Kollege noch «festen
pathophysiologischen Boden unter den Füssen» hat oder
zu haben glaubt, ganz auf der anderen Seite des Spektrums
hinlänglich klar ausgeprägte somatoforme Störungen, wo
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die fehlende somatische Grundlage, die Beschwerdepräsen­
tation, die ganze etappenweise Herausbildung der Sympto­
matik in enger zeitlicher Verbindung mit Belastungen und
Konfliktsituationen im Sinne einer plausiblen Pathogenese
diagnostisch wegweisend sind, dies allenfalls auch vor dem
Hintergrund einer dazu disponierenden biografischen Be­
lastung bzw. Persönlichkeitsstruktur.
Wo man sich in dieser diagnostischen Grauzone Hilfe
suchend zum Beispiel an den Kriterien der ICD­10 für
eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung orientie­
ren will, so stellt man fest, dass der Begriff der «nicht voll­
ständigen Erklärung» durch einen physiologischen Prozess
oder eine körperliche Störung einen weiten Ermessenspiel­
raum offen lässt und damit nicht reliabel handhabbar ist,
ebenso nicht das Kriterium von emotionalen Konflikten und
psychosozialen Problemen, die schwerwiegend genug sein
müssten, um als «entscheidend ursächlich» gelten zu kön­
nen. Auch die neue Diagnose «Chronische Schmerzstörung
mit somatischen und psychischen Faktoren» F45.41 hilft
hier nur bedingt weiter, da damit Abgrenzungsprobleme
lediglich verschoben werden.
Gerade im klinischen oder speziell auch im versiche­
rungsmedizinischen Alltag begegnen wir Patienten, die
einerseits rein störungsbedingt schon eine verzerrte Selbst­
bzw. Fremdwahrnehmung aufweisen, aber auch angesichts
des bisherigen unbefriedigenden Heilungsverlaufes ent­
täuscht, misstrauisch und im Untersuchungskontext be­
züglich Angaben über Biografie und Belastungssituatio­
nen nur selektiv offen sind. Dadurch unterscheiden sich
solche Untersuchungssituationen wesentlich von einem
Erstgespräch bei Beginn einer Psychotherapie. Diese Pro­
blematik stellt sich insbesondere verschärft im Bereich der
Unfallmedizin, da hier – mindestens initial – somatisch
begründbare Beschwerden vorlagen und weil auch wei­
terhin die Rolle eines somatischen Teilfaktors in der gan­
zen Problematik abgewogen werden muss. Aus Patienten­
sicht orientiert sich die Erinnerung der Betroffenen häu­
fig am Stereotyp «vor dem Unfall alles gut, nach dem Unfall
alles schlecht», was insgesamt den ärztlichen Untersucher –
neben der Analyse der Akten – hauptsächlich auf möglichst
objektiv erhebbare Befunde, die Art und den Inhalt des
Beschwerdevortrages und auf die Muster der geschilderten
Beschwerdeauswirkungen im Lebenskontext des Versicher­
ten als Beurteilungsgrundlage verweist.
Somit ergeben sich folgende praxisrelevante Fragen:
Was kann – gestützt auf Anamnese, Befunde und Beschwer­
devortrag – über das Vorhandensein einer somatoformen
Störung ausgesagt werden, über deren Schweregrad, über
störungsspezifische Auswirkungen, die therapeutische Zu­
gänglichkeit und damit Aussagen über den weiteren Ver­
lauf und die Prognose? Lässt sich aus dem vielleicht ober­
flächlich­verwirrlich scheinenden Bild von Befunden und
Beschwerden als ersten Schritt ein störungsspezifisches
somatoformes Profil herausarbeiten, ohne zum jetzigen Zeit­
punkt Rückgriff auf theoretische Vorannahmen nehmen zu
müssen? Oder nochmals anders formuliert: Lässt sich aus
der Qualität und Vielfalt der vorgetragenen Beschwerden
sowie dem bisherigen Verlauf sowie bei affektiver Komor­
bidität eine Aussage machen zu Schweregrad, Behandel­
barkeit, störungsspezifischen Auswirkungen und zum mut­
masslichen künftigen Verlauf? Anhand der oben beschrie­
benen Dimensionen sollte es gelingen, störungsspezifisches
Verhalten zu erkennen und eine somatoforme Störung mit
positiven Kriterien zu diagnostizieren, respektive diese ab­
zugrenzen von anderen psychischen Störungen oder von
lediglich dysfunktionaler Bewältigung eines somatischen
Problems.
Herausforderungen aus rechtlicher Sicht
Von juristischer Seite wird von der «zumutbaren Willens­
anstrengung» oder auch «Willensanspannung» gesprochen.
Man geht davon aus, dass die betreffende versicherte Person
allen guten Willen aufzubringen hat, um wirtschaftlichen
Schaden abzuwenden. Häufig geht es dabei um die Frage
der Aufnahme der Arbeit. Ist ihr eine solche aus gesundheit­
lichen Gründen nicht möglich, besteht Arbeitsunfähigkeit.
Kann der betroffene Mensch hingegen genügend Willen
aufbringen, bestünde keine Arbeitsunfähigkeit.
Der freie Wille und die Willensanstrengung
Die Frage, ob es einen freien Willen gibt, bewegt die Men­
schen seit Jahrhunderten. Auf den philosophischen Streit
soll hier nicht näher eingegangen werden. Aus medizi­
nischer Sicht kann jedoch festgestellt werden, dass einige
relevante psychische Funktionen im Denken, Fühlen und
Handeln intakt sein müssen, damit einem Individuum über­
haupt die Möglichkeit offen steht, einen eigenen Willen zu
haben und diesen auch umzusetzen. Das moralische Hand­
lungssubjekt entspringt dabei der «angeborenen und er­
worbenen» Persönlichkeit. Daraus ergibt sich, dass die zu­
grunde liegende Persönlichkeit einer genaueren psychia­
trischen Abklärung unterzogen werden muss. Die in der
Persönlichkeit inhärenten Fähigkeiten sind entscheidend
für die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit, insofern sie die
psychischen Ressourcen darstellen, über die der einzelne
Mensch verfügt.
Beschwerden und Beeinträchtigungen, die von somato­
formen Störungen ausgehen, unterliegen persönlichen und
damit auch motivationalen Einflüssen. Die Symptome einer
somatoformen Störung allein führen nicht zwingend – ver­
gleichbar mit körperlichen Pathologien – zu immer den­
selben funktionellen Einschränkungen und Beeinträch­
tigungen. Zwischen die Symptome der Störung und die
Konsequenzen allfälliger Beeinträchtigungen auf der Funk­
tionsebene schiebt sich die betroffene Persönlichkeit mit
ihren Grundmustern im Denken, Fühlen und Handeln,
wie sie es in ihrer Kindheitsbiografie erlernt oder später
erworben hat. Die psychiatrische Diagnostik trägt diesem
Umstand nur zum Teil Rechnung. Die Kriterien der ein­
zelnen somatoformen Störungen widerspiegeln die Aus­
drucksweise, die Phänomenologie der Störung, aber mit
dem Prinzip der Komorbidität lassen sich nur bei einem Teil
von Personen mit Hilfe von ICD­10 oder DSM IV die Per­
sönlichkeitsmerkmale mit der klassifizierenden Diagnostik
abbilden. Nur diejenigen Patienten, die deutliche Abwei­
chungen im Wahrnehmen, Denken, Fühlen und in den Be­
ziehungen zu anderen aufweisen in Form von tief verwur­
zelten, anhaltenden Verhaltensmustern, die sich in starren
Reaktionen auf unterschiedliche persönliche und soziale
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Lebenslagen manifestieren, erfüllen die Kriterien von defi­
nierten Persönlichkeits­ und Verhaltensstörungen der klas­
sifizierenden Diagnostik. Ein weiterer Anteil von betroffe­
nen Personen fällt durch ihre besonderen Probleme mit Be­
zug auf Schwierigkeiten bei der Lebensbewältigung derart
auf, dass sie als Zusatzkodierung im Sinne akzentuierter
Persönlichkeitszüge erfasst werden können. Viele Betrof­
fene sind jedoch mit dem relativ groben Kriterienmuster
von ICD­10 oder DSM IV nicht oder nur ungenügend zu
beschreiben. Trotzdem bilden auch bei ihnen Persönlich­
keitsmerkmale wesentliche Faktoren für die Bearbeitung
funktioneller Beschwerden, wie sie bei somatoformen Stö­
rungen vorkommen. Auf welche Weise jemand seine funk­
tionellen Beschwerden erlebt, wie er damit umgehen kann,
über welche Coping­Strategien er verfügt, ob er sie gar über­
winden kann, hängt wesentlich von der zugrundeliegenden
Persönlichkeit ab. Das Erscheinungsbild einer somatofor­
men Störung ändert sich auch je nach Verhalten der Persön­
lichkeit. Verharrt ein Mensch mit somatoformen Beschwer­
den in einer passiven resignativen Haltung, werden sich die
Beschwerden wahrscheinlich akzentuieren und möglicher­
weise den betroffenen Menschen nach und nach in seinem
sozialen Leben behindern. Schliesslich kann das zur Arbeits­
unfähigkeit und sogar zum sozialen Rückzug führen. Da­
mit es nicht so weit kommt, kann die betroffene Person ver­
suchen, durch willentliches Verhalten Einfluss auf die Stö­
rung zu nehmen, deren Auswirkungen eindämmen oder sie
gar überwinden. Grundsätzlich steht diese Möglichkeit des
Umgangs mit somatoformen Beschwerden auch Menschen
mit einer psychischen Störung offen. Die Frage, die sich im
versicherungspsychiatrischen Rahmen stellt, ist, inwiefern
neben den somatoformen Beschwerden noch andere, per­
sönliche Merkmale und solche aus dem sozialen Kontext
erfasst und berücksichtigt werden müssten, um zu einer
adäquaten Einschätzung der Leistungsfähigkeit zu gelangen.
Zu einer versicherungspsychiatrisch fundierten Erfassung
ist eine biografisch und am aktuellen Erleben und Verhalten
orientierte Diagnostik der Persönlichkeit unabdingbar. Es
lässt sich dadurch feststellen, ob eine Verbindung zwischen
der präsentierten somatoformen Symptomatik, auslösenden
Konflikten, allfälligen dysfunktionalen Beziehungen, der Le­
bensgeschichte und dem sozialen Kontext des betroffenen
Menschen hergestellt werden kann. Gleichzeitig lassen sich
auch motivationale Einflüsse erkennen [26].
In die schweizerische Rechtssprechung haben die pro­
gnostischen Kriterien von Foerster [27] Einzug gehalten
[28]. Demnach ist Unzumutbarkeit einer willentlichen
Überwindung und damit eines Wiedereinstieges in den
Arbeitsprozess in denjenigen Ausnahmefällen anzunehmen,
wo eine mitwirkende, psychisch ausgewiesene Komorbidität
von erheblicher Schwere, Intensität, Ausprägung und Dauer
vorliegt oder andere qualifizierte, mit gewisser Intensität
und Konstanz erfüllte Kriterien, etwa chronische körper­
liche Begleiterkrankungen und ein mehrjähriger Krank­
heitsverlauf bei unveränderter oder progredienter Sympto­
matik ohne längerfristige Remission, ein ausgewiesener
sozialer Rückzug in allen sozialen Belangen des Lebens, ein
verfestigter, therapeutisch nicht mehr angehbarer innersee­
lischer Verlauf einer an sich missglückten, psychisch aber
entlastenden Konfliktbewältigung oder schliesslich unbe­
friedigende Behandlungsergebnisse trotz konsequent durch­
geführter ambulanter und/oder stationärer Behandlungs­
bemühungen und gescheiterte Rehabilitationsmassnahmen.
Foerster selber hat diese Faktoren zur Einschätzung
der «zumutbaren Willensanspannung» aus der Überlegung
angestellt, dass sich die Frage nach der Willensanstrengung
in der Begutachtungspraxis immer dann stellt, wenn der
weitere Krankheits­ beziehungsweise Beschwerdeverlauf
vorhergesagt werden soll [29]. In der Tat handelt es sich um
Verlaufs­ oder Prognosefaktoren. Andererseits hängen so­
wohl Verlauf als auch Prognose auch von äusseren sozialen
Umständen ab, letztlich von nicht medizinischen Faktoren,
welche unabhängig von einer allfälligen Erkrankung mit­
wirken. Sie hängen z.B. davon ab, ob geeignete therapeu­
tische Angebote bestehen und effektiv auch genutzt wer­
den, also letztlich von motivationalen Faktoren, welche un­
abhängig von einer allfälligen Erkrankung mitwirken [30].
Dohrenbusch hat auf das Problem der Gleichsetzung von
Verlaufsprognose und Schweregrad der Beeinträchtigung
hingewiesen. Dadurch würde nur das Ergebnis einer erfolg­
losen Krankheitsverarbeitung, nicht aber die Art und Weise
ihres Zustandekommens und erst recht nicht die Beteiligung
kontrollierter und willentlich zielgerichteter Verhaltenswei­
sen bei der Bewertung berücksichtigt.
Aus psychiatrischer Sicht erscheint somit die Ermittlung
der intellektuellen und psychischen Ressourcen zur Über­
windung einer Störung und damit zur Einschätzung der
Arbeitsfähigkeit respektive zur zumutbaren Willensanstren­
gung eine notwendige Ergänzung des störungsspezifischen
phänomenologischen Profils. Ob jemand die erforderliche
Leistung nicht aufbringen kann oder nicht will, ergibt sich
aus den intellektuellen Fähigkeit und der Persönlichkeit.
Persönlichkeitsfaktoren geben die besseren Kriterien ab zur
Bemessung der psychischen Ressourcen als lediglich Ver­
laufs­ und Prognosefaktoren.
Vorschlag einer multidimensionalen Beurteilung
somatoformer Störungen
Eine multidimensionale Beurteilung der somatoformen Stö­
rungen ist angesichts der Tatsache, dass geeignete einfache
Klassifikationskriterien fehlen und die klinische Gesamt­
situation enorm komplex ist, unverzichtbar. Dies gilt für
versicherungsrechtliche ebenso wie für klinisch therapeu­
tische Zusammenhänge. Aus der schlichten deskriptiven
Diagnostik lassen sich weder Behandlungs­ noch genügende
Prognosekriterien aufbauen. Für beide Planungsbereiche,
den Bereich der Behandlung wie den Bereich der prognos­
tischen Beurteilung, werden also weitere Kriterien benö­
tigt. Wenn bislang andererseits die Komplexität beschworen
wurde, so könnte leicht der Eindruck entstehen, als sollten
damit unrealistisch hohe diagnostische Ziele gesteckt wer­
den. Die Komplexität ist nicht zu reduzieren. Aber sie muss
eingebunden werden in eine operative Pragmatik, in eine
klinische oder gutachterliche Praxis, die handhabbar bleibt.
Zusammenfassend empfiehlt sich das im Folgenden be­
schriebene Vorgehen in drei Schritten:
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Die Bestimmung des störungsspezifischen
phänomenologischen Profils
Zur Diagnostik des Beschwerdebildes gehört in erster Linie
die multidimensionale Abbildung der phänomenologischen
Beschwerdedimensionen und ihrer Verläufe, der Dimension
Depression und Angst sowie des Krankheitserlebens und
­verhaltens, wie oben ausführlich geschildert wurde. Ent­
scheidend ist auch die Abgrenzung somatoformer Störun­
gen innerhalb des Spektrums dysfunktionaler Überzeugun­
gen von erlernten Mustern bei Schmerzpatienten im Sinne
von reinem Vermeidungsverhalten und Selbstlimitierung
mit resultierender Passivität und Dekonditionierung.
Die Diagnostik der strukturellen Integration
der Persönlichkeitsstruktur
Zur Einschätzung der Persönlichkeitsstruktur eignet sich
in Anlehnung an die Strukturachse der Operationalisier­
ten Psychodynamischen Diagnostik (OPD) die Diagnostik
der Selbst­ und Fremdwahrnehmung, der Fähigkeiten zur
Steuerung psychischer Funktionen, der emotionalen Kom­
munikation sowie der inneren Bindung und der äusseren
Beziehung.
Die Persönlichkeitsdiagnostik bietet sich zur Einschät­
zung psychischen Ressourcen eines Menschen an, um seine
dysfunktionalen Überzeugungen zu bewältigen.
Aus diesem Grund muss die Persönlichkeitsdiagnos­
tik in die Diagnostik der somatoformen Störung integriert
werden. Dabei reicht ein bloss deskriptiver Ansatz nicht
aus, z.B. indem als komorbide Störung eine Persönlichkeits­
störung festgestellt wird. Die Persönlichkeitsdiagnostik ist
dann für die Beurteilung hilfreich, wenn sie die Möglich­
keit des Patienten oder Probanden, auf funktional wichtige
Fähigkeiten zurückzugreifen, einzuschätzen erlaubt. Diese
Einschätzung sollte nicht in ein «Entweder/oder» oder ein
Tabelle 1
«Vorhanden/nicht vorhanden» einmünden, sondern am
besten abgestuft möglich sein. Ausserdem sollte sie reliabel
und valide sein.
Wie Marelli [26] bereits vorgeschlagen hat und wei­
ter oben schon festgestellt worden ist, bietet sich für diesen
Zweck als Grundlage die Operationalisierte Psychodyna­
mische Diagnostik [31] an. Allerdings ist das gesamte Sys­
tem zu aufwändig und kompliziert, um in der alltäglichen
Praxis eingesetzt werden zu können. Daher schlagen wir
vor, eine Einschätzung der Persönlichkeitsstruktur auf der
Grundlage der sog. Struktur­Achse des OPD vorzunehmen.
Diese erlaubt es, die Struktur der Persönlichkeit zu erfassen;
die Kriterien haben den Vorteil, dass die Dimensionen der
Strukturachse systematisch erarbeitet wurden und aufein­
ander abgestimmt sind. Wie das ganze OPD­System ist auch
die Achse 4 auf ihre Reliabilität und Validität untersucht
worden. Sie erfüllt alle oben genannten Kriterien.
Die Tabelle 1 gibt einen Überblick über die zu eva­
luierenden Dimensionen Selbst­ und Fremdwahrnehmung,
Steuerung, emotionale Kommunikation sowie innere Bin­
dung und äussere Beziehung. Dabei sind einige Dimen­
sionen umformuliert und einige wegen inhaltlicher Über­
schneidungen und für den Ungeübten unklarer Definitio­
nen weggelassen worden. Es ergibt sich folgende Systematik:
Diese Dimensionen werden in vier Stufen eingeschätzt:
Gut integriert – mässig integriert – gering integriert –
desintegriert. Jede Dimension wird durch eine Beschrei­
bung (sog. Struktur­Checkliste) gekennzeichnet, und zwar
je eine für jede der vier Integrationsniveaus innerhalb einer
Dimension.
Die Diagnostik von Krankheitsverhalten
und Krankheitsüberzeugungen
Aus der somatoformen Körpersymptomatik, eventuell ver­
stärkt von depressiven und ängstlichen Anteilen, und der
Einschätzung der Persönlichkeitsstruktur (in Anlehnung an die OPD-Strukturachse).
Selbst- und Fremdwahrnehmung
Sich selbst wahrnehmen
– Selbstbild reflektieren und ausdifferenzieren;
– Eigene Affekte differenzieren;
– Eigene Identität entwerfen und weiterentwickeln.
Die Anderen realistisch wahrnehmen
– Selbst-Fremd-Unterscheidung: Eigene Gedanken, Bedürfnisse,
Impulse von denen Anderer unterscheiden;
– Andere in ihren verschiedenen Aspekten, d.h. ganzheitlich
wahrnehmen;
– ein realistisches Bild von Anderen entwerfen können.
Steuerung
Sich selbst regulieren
– Sich von Impulsen distanzieren, Impulse steuern und integrieren;
– sich von Affekten distanzieren und Affekte; regulieren;
– sich von Kränkungen distanzieren, Selbstwert regulieren.
Den Bezug zum Anderen regulieren
– Die Beziehung vor eigenen störenden Impulsen schützen;
– in Beziehungen die eigenen Interessen aufrechterhalten und
die Interessen Anderer angemessen berücksichtigen;
– die Reaktionen Anderer antizipieren.
Emotionale Kommunikation
– Die eigene Körperwahrnehmung emotional beleben;
– Empathie haben.
– Emotionale Kontaktaufnahme: Gefühle Anderen gegenüber
zulassen, Wir-Gefühl erreichen (Reziprozität);
– eigene Affekte zum Ausdruck bringen;
– sich von den Affekten Anderer erreichen lassen.
Innere Bindung und äussere Beziehung
Gute Selbstbilder haben
– Positive Selbstbilder: Für sich sorgen, sich beruhigen, trösten,
helfen, schützen, für sich eintreten;
– variable Bindungen: Unterschiedliche Beziehungsmuster;
Zuwendungen zum Einen ist nicht Abwendung vom Anderen.
Die gute Beziehung zu Anderen wahren
– Bindungsfähigkeit: sich emotional an Andere binden können;
– Hilfe annehmen: Unterstützung, Versorgung, Sorge, Anleitung,
Entschuldigung von Anderen annehmen (oder ihnen geben können);
– sich aus Bindungen lösen und Abschied nehmen können.
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Persönlichkeitsstruktur ergeben sich störungsspezifische
dysfunktionale Kognitionen und Interaktionsmuster, die
sich speziell in der Arzt­Patient­Beziehung manifestieren
und dort auch diagnostisch verwertet werden können.
Schlussfolgerungen
Mit Blick auf eine gutachterliche Beurteilung bei somato­
formen Störungen kann aus der Diagnose allein nichts
Definitives über die funktionelle Einschränkung ausge­
sagt werden. Andererseits sehen die Verfasser dieser Arbeit
angesichts von Schwierigkeiten mit der Diagnosestellung
bei somatoformen Störungen und den damit verbunde­
nen versicherungsmedizinischen Fragen, die in den letz­
ten Jahren evident wurden, in der Herausarbeitung
eines störungsspezifischen Profils eine wesentliche Hilfe
bei der Entscheidung, ob eine körperliche Beschwerde­
symptomatik im Rahmen einer Störung aus dem somato­
formen Spektrum verstanden werden muss. Auch erlaubt
die Herausarbeitung eines störungsspezifischen Profils,
welches – neben strukturellen Aspekten – auf neueren em­
pirischen Erkenntnissen zur Manifestation, Komorbidität
und zum Verlauf von somatoformen Störungen beruht,
überdies Aussagen zum Schweregrad und zur Prognose der
vorliegenden Störung.
Zusammenfassend betrachtet ergeben sich aus den ver­
schiedenen Dimensionen einer somatoformen Störung
folgende Aussagen:
– Eine multiple somatoforme («multisomatoforme»)
Symptomatik dient als diagnostischer Hinweis für das
Vorliegen einer somatoformen Störung von höherem
Schweregrad, mehr im Kernbereich des somatoformen
Spektrums, und ist gewöhnlich mit mehr affektiver
Komorbidität und Funktionseinschränkung sowie insbe­
sondere mit eher chronifizierendem Verlauf verbunden.
– Eine komorbide Depression sowie vermehrte Angst
implizieren einen höheren klinischen Schweregrad und
mehr Funktionseinschränkung.
– Das spezifische dysfunktionale Krankheitserleben und
Krankheitsverhalten und hier insbesondere die Arzt­
Patienten­Beziehung leisten diagnostisch einen Beitrag,
erlauben aber insbesondere auch eine Aussage über die
Möglichkeit eines therapeutischen Zugangs und damit
über die Prognose.
– Die zugrunde liegende Persönlichkeitsstruktur liefert
ihrerseits eine diagnostische Präzisierung und eine Aus­
sage zum therapeutischen Zugang und zu vorhandenen
Ressourcen und somit auch zur Frage der Bewältigung
der somatoformen Symptomatik. Wünschenswert ist
es, die individuelle Pathogenese mit der Auslösung der
Beschwerden, den Belastungsfaktoren, der Weiterent­
wicklung des Beschwerdebildes unter dem Einfluss von
Kontextfaktoren (Beziehungsumfeld, Arbeit, Erleben
der Behandlung, Interaktion mit Versicherungen usw.)
zu verstehen.
– Unabdingbar ist es, die gegenwärtig bestehende Per­
sönlichkeitsstruktur, so wie sie in der Lebensgeschichte
sich gebildet hat, zu erfassen. Diese Diagnostik ergänzt
und präzisiert Aussagen zum therapeutischen Zugang
–
und zu vorhandenen Ressourcen und somit auch zur
Frage der Bewältigung der somatoformen Symptomatik.
Aufgrund der obigen, störungsspezifischen Faktoren
lässt sich gegebenenfalls also eine Aussage machen
(auch ohne einen schon bisher eingetretenen, langjäh­
rigen ungünstigen Verlauf), ob eine Konstellation von
Anhaltspunkten gegeben ist, die dafür spricht, dass eine
relativ gravierende Störung aus dem Kerngebiet des
somatoformen Spektrums mit ungünstiger Prognose
vorliegt. Resultiert eine solche gravierende Störung mit
einer Einschränkung der psychischen Funktionsfähig­
keit, gilt es abzuklären, ob bei Aufbringung allen guten
Willens der bestehende Schaden nicht abzuwenden sei.
Dass einem Individuum die Möglichkeit offen steht,
einen eigenen Willen zu haben und diesen auch um­
zusetzen, entspringt letztlich Fähigkeiten der (ange­
borenen und erworbenen) Persönlichkeit. Daraus er­
gibt sich, dass die Persönlichkeitsdiagnostik in die Dia­
gnostik der somatoformen Störung integriert werden
muss. Kommt man zum Schluss, dass eine erhebliche
somatoforme Störung vorliegt und dass die psychischen
Ressourcen eingeschränkt sind, muss unseres Erachtens
auch von einer dauerhaften und damit relevanten Ein­
schränkung der zumutbaren Funktionsfähigkeit aus­
gegangen werden.
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