Schmerz © Schattauer 2009 Psychosomatische Aspekte des Schmerzes bei Kindern und Jugendlichen T. Göttken Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Kindes- und Jugendalters, Universität Leipzig Schlüsselwörter Keywords Somatoforme Störungen/Symptome, psychoanalytische Psychosomatik, Alexithymie Somatoform disorders/symptoms, psychoanalytic psychosomatic, alexithymia Zusammenfassung Summary Diese Arbeit beschreibt für die klinische Praxis relevante Aspekte der somatoformen Störungen bei Kindern und Jugendlichen. Konkurrierende Modelle machen deutlich, dass es sich um ein Störungsbild mit multifaktorieller Ätiologie und Pathogenese handelt, das bisher nur in Ansätzen geklärt ist. Im vorliegenden Beitrag werden einige psychoanalytische Konzepte der Psychosomatik dargestellt. Dabei soll gezeigt werden, dass die bereits von Sigmund Freud getroffene Unterscheidung zwischen körperlichen Symptomen, denen die Symbolisierung eines neurotischen Konfliktes zugrunde liegt, und somatoformen Symptomen, die aus einem Defekt der Ich-Funktionen und einer Symbolisierungsstörung resultieren, nach wie vor für das Verständnis und die Behandlung dieser Störungen relevant ist. Die niedrige Prävalenz der Somatisierungsstörung steht in deutlichem Widerspruch dazu, dass somatoforme Einzelsymptome sehr häufig vorkommen. Dieser Widerspruch ist den restriktiven Kriterien der Diagnosesysteme geschuldet und verschleiert behandlungsbedürftige somatoforme Syndrome, begründen diese doch sowohl einen starken individuellen Leidensdruck als auch eine intensive Inanspruchnahme medizinischer Versorgungsleistungen. This article describes aspects of somatoform disorders in children and adolescents relevant to clinical practice. From the presence of competing models it is clear that this is a disease of diverse aetiology and complex pathogenesis which has yet not been fully explored. Psychoanalytic concepts of psychosomatics are described. Already Freud distinguished between somatoform symptoms which have the function of symbolising psychic conflicts and somatoform symptoms that result of a lack of symbolisation and of ego-functions in deficit. Until today, this distinction is still relevant concerning the comprehension and treatment of somatoform disorders. Although the diagnosis somatoform disorder is given relatively seldom, somatoform symptoms are widespread in population. This contradiction is mainly based on the restrictive criterions of diagnostic systems. They often disguise somatoform syndromes that need to be treated considering the high psychological strain of affected patients and their intense medical demands. Korrespondenzadresse: Dipl.-Psych. Tanja Göttken Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Kindes- und Jugendalters Universität Leipzig Liebigstr. 20a, 04103 Leipzig Tel.: 03 41/97 24–061, Fax: –109 [email protected] Psychosomatic aspects of pain in children and adolescents Kinder- und Jugendmedizin 2009; 9: 271–276 Eingereicht am: 10. November 2008; angenommen am: 19. November 2008 Häufig werden insbesondere in den Praxen der Allgemeinmedizin und der Kinderheilkunde Kinder und Jugendliche vorgestellt, die unter körperlichen Symptomen und Schmerzen leiden, die durch organische Ursachen nicht oder nicht ausreichend erklärt werden können. Häufige körperliche Beschwerden bei Kindern sind ● Kopfschmerzen, ● Bauchschmerzen und ● das Gefühl eines Kloßes im Hals (18). Bevor diese Patienten eine Psychotherapie aufsuchen, haben sie meist schon zahlreiche Arztkontakte mit entsprechender organbezogener Diagnostik hinter sich. Innerhalb der Interaktion zwischen Arzt, Eltern und Patient kommt es oft im Verlauf der Diagnostik und Behandlung zu zahlreichen interpersonellen Schwierigkeiten. Auf die Mitteilung, den körperlichen Symptomen liegt kein organischer Befund zugrunde, sondern ihre Genese sei psychisch, reagiert der größere Teil dieser Patienten mit großem Unverständnis. Vielen dieser Patienten fehlt die Einsicht in Zusammenhänge zwischen körperlicher Symptomatik und psychosozialen Faktoren. Oft fühlen sich diese Kinder und ihre Familien auch durch die mitteilenden Ärzte abgelehnt und nicht in ihrem Leiden ernst genommen, was meist ungünstige Reaktionen auslöst. Das oft unermüdliche Verharren auf den Schilderungen ihrer körperlichen Beschwerden und ihre Weigerung, eine Psychogenese der Symptome anzuerkennen, sind in der Behandlung bei Patienten dieser Gruppe oft eine große Herausforderung für die behandelnden Ärzte und Psychotherapeuten. Die geschilderten Schwierigkeiten der Arzt-Patient-Beziehung liegen unter anderem darin begründet, dass der Patient selbst zu einer Integration des Somatischen und Psychischen nicht in der Lage ist. Der Pädiater und Psychoanalytiker D. W. Winnicott erKinder- und Jugendmedizin 5/2009 271 272 T. Göttken: Psychosomatische Aspekte des Schmerzes kannte, was heute noch aktuell ist: dass es bei psychosomatischen Patienten eine Spaltung zwischen dem Körperlichen und dem Seelischen gibt. Diese entstehe seiner Ansicht nach aus einer Ich-Schwäche heraus und kennzeichne einen frühen Abwehrvorgang (34). Pädiater und Psychotherapeuten müssen daher stellvertretend für den Patienten eine Integrationsleistung übernehmen. Da der Patient jedoch meist aus einer Abwehr unbewusster unlustvermittelnder Inhalte heraus an der Vorstellung einer rein somatischen Genese festhält, ist ein integratives Vorgehen von Soma-Ärzten und Psycho-Ärzten ein ebenso unabdingbares wie unbedingt zu forderndes Ziel der Behandlung dieser Patientengruppe. Die frühzeitige Diagnostik und Behandlung einer Somatisierungsstörung stellt eine Möglichkeit dar, die Chronifizierung der Störung zu verhindern und damit dem Patienten Leid und unnötige medizinische Eingriffe zu ersparen. Somatoforme Beschwerden kommen in der Bevölkerung häufig vor. Den durch sie verursachten Behandlungskosten sowie Beeinträchtigungen der Arbeitsfähigkeit bei Erwachsenen kommt eine große gesundheitspolitische Bedeutung zu. Fragen nach dem Beginn und Verlauf somatoformer Störungen sowie nach ätiologischen und pathogenetischen Mechanismen sind bisher nur in Ansätzen geklärt. Definition, Klassifikation und Zusammenhänge Körperliche Symptome oder Schmerzen ohne organische Ursachen, durch die diese hinreichend erklärt werden könnten, werden nach den operationalisierten Diagnosekriterien der ICD-10 sowohl unter den somatoformen Störungen (ICD-10: F45) als auch unter den dissoziativen Störungen (ICD-10: F44) klassifiziert. Bei letzteren handelt es sich um körpersymptomatische dissoziative Störungen (F 44.4–F44.7), die mit einem Verlust oder einer Veränderung der Bewegungsfunktion oder der Empfindung verbunden sind (pseudoneurologische Symptomatik). Sie werden als psychogen angesehen und stehen in enger zeitlicher Verbindung zu traumatisierenden Ereignissen, unerträglichen und unlösbaren Konflikten und gestörten Beziehungen (14). Dieser Zusammenhang ist dem Patienten meist nicht bewusst. Bei den somaKinder- und Jugendmedizin 5/2009 toformen Störungen wie beispielsweise der anhaltenden somatoformen Schmerzstörung (ICD-10: F45.4) gibt der Patient Schmerzen und Körpersymptome an, die eine medizinische Ursache zunächst nahe legen, die sich jedoch nicht oder nicht ausreichend durch ein organisches Korrelat erklären lassen. In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage nach der Übertragbarkeit für das Kindes- und Jugendalter. Pfeiffer et al. (26) fordern, das Zeitkriterium für die Diagnose einer Somatisierungsstörung von zwei Jahren auf sechs (oder zwölf) Monate zu reduzieren, da diese Zeitspanne bezogen auf die Lebensspanne und die Entwicklungsaufgaben eines beispielsweise zehnjährigen Kindes als bedeutsam erachtet werden muss. Schulstress, insbesondere bei Schulanfang oder Schulwechsel, sowie schlechte Schulleistungen sind stark mit dem Auftreten körperlicher Beschwerden assoziiert (17). In vielen Studien wurde ein Zusammenhang von geringem sozio-ökonomischem Status und hohen SymptomScores beschrieben (2, 33). Prävalenz und Komorbidität Schon Briquet beobachtete 1859, dass das Krankheitsbild der Somatisierungsstörung häufig im Kindes- und Jugendalter beginnt (8). Bass und Murphy fanden einen durchschnittlichen Beginn der Symptomatik mit 14 Jahren (5). Die wenigen existierenden Prävalenzangaben bewegen sich zwischen 1,1 und 14 % (26). Diese basieren allerdings auf unterschiedlichen Störungskonzeptionen unter Einsatz verschiedener Erhebungsinstrumente. Verlässliche epidemiologische Angaben über die Häufigkeit somatoformer Störungen bei Jugendlichen im Alter von 14–24 Jahren Tab. 1 Beispielitems des SOMS 2 nach Rief (28) ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● Kopf-/Gesichtsschmerzen Bauch-/Magenschmerzen Rückenschmerzen Gelenkschmerzen Schmerzen in Armen/Beinen Brustschmerzen Übelkeit Erbrechen Druckgefühl, Unruhe im Bauch häufiges Wasserlassen lieferten Lieb et al. (23). 3 021 Jugendliche aus München und Umgebung wurden mit dem Münchener Composite International Diagnostic Interview (M-CIDI) nach somatoformen Symptomen befragt. Die Ergebnisse zeigten, dass 50 % der Jugendlichen der repräsentativen Stichprobe einmal in ihrem bisherigen Leben an einem somatoformen Symptom litten. Eine somatoforme Störung nach den restriktiven DSM-IV-Kriterien erfüllen nur 2,7 % der Jugendlichen. Wenn man allerdings auch unterschwellige Syndrome in Betracht zieht, berichten insgesamt etwa 11 % der Jugendlichen von somatoformen Syndromen. Für Frauen der erhobenen Altersgruppe wurde ein 2,7-fach höheres Risiko ermittelt, an einer somatoformen Störung bzw. einem somatoformen Syndrom zu erkranken. Als häufigste somatoforme Symptome wurden von den Jugendlichen ● Kopfschmerzen (11 %), ● Kloß im Hals (9,1 %) und ● Bauchschmerzen (8,8 %) angegeben. Außerdem wurde ein Altersgipfel für die Entwicklung einer Schmerzstörung zwischen dem 12. und dem 17. Lebensjahr ermittelt (23). Eine neuere Untersuchung an 807 Vorschulkindern von drei bis fünf Jahren (15) zeigte, dass 20 % der Kinder häufige körperliche Beschwerden angeben wie: ● Bauchschmerzen (7,9 %), ● Müdigkeit (5,7 %), ● Schmerzen in den Beinen (4 %), ● Kopfschmerzen (2 %) und ● Schwindel (0,4 %). Essau et al. (18) ermittelten anhand des M-CIDI (36) bei 13,1 % der untersuchten Jugendlichen (n = 1 035) mit einem durchschnittlichen Alter von 14,3 Jahren (SD = 1,7) das Vorliegen einer somatoformen Störung. Hessel et al. untersuchten die Prävalenz somatoformer Beschwerden bei 14- bis 25-jährigen Jugendlichen anhand einer bevölkerungsrepräsentativen Stichprobe (n =189) (21). Zum Einsatz kam der SOMS 2 (Screening für Somatoforme Störungen) von Rief et al. (씰Tab. 1), ein Fragebogen, ab 15 Jahren einsetzbar mit einer Durchführungsdauer von fünf Minuten (28). Es konnte eine große Häufigkeit somatoformer Einzelsymptome bei den Jugendlichen nachgewiesen werden. © Schattauer 2009 T. Göttken: Psychosomatische Aspekte des Schmerzes Am häufigsten wurden ● Kopf- und Gesichtsschmerzen (19%), ● Rückenschmerzen (17%), ● Gelenkschmerzen (10%), ● Übelkeit (10%) und ● Schmerzen im Bauch (9%) angegeben. Ätiologie und Pathogenese Allerdings konnte nur bei einer Jugendlichen unter Anwendung der Klassifikationssysteme DSM-IV und ICD-10 eine Somatisierungsstörung festgestellt werden. Die Autoren betonen, dass diese niedrigen Prävalenzraten in deutlichem Widerspruch stehen zu der Häufigkeit somatoformer Einzelsymptome, die sowohl einen starken individuellen Leidensdruck als auch eine intensive Inanspruchnahme somatischer Versorgungsleistungen begründen. Dieser Widerspruch zur Realität des Versorgungssystems ist den restriktiven Kriterien dieser Diagnosesysteme geschuldet und verschleiert behandlungsbedürftige somatoforme Syndrome. Die Komorbidität mit anderen psychischen Störungen nimmt mit dem Alter zu. Pine et al. (27) fanden einen Zusammenhang zwischen Kopfschmerzen und depressiven Symptomen bei Jungen und Mädchen, während andere Untersuchungen einen Zusammenhang von Kopfschmerzen mit Ängstlichkeit und Depressivität bei Mädchen und Verhaltensstörungen bei Jungen nahelegen (16). Auch Campo und Fritsch (11) konnten bei rekurrierenden abdominellen Beschwerden (RAP) eine besonders hohe Assoziation mit Angststörungen, die häufig auch mit Trennungsängsten verbunden sind, nachweisen. Auch bei Lieb (23) waren somatoforme Störungen/Syndrome am häufigsten mit affektiven Störungen assoziiert. Eine finnische Forschergruppe fand außerdem, dass Schwierigkeiten in der sozialen Interaktion mit Lehrern und Peers sowie ein Mangel an Freunden ein Prädiktor sind für hohe Symptom-Scores für somatoforme Symptome (3). Mehrere Untersuchungen legen nahe, dass eine erhöhte Reagibilität auf Stress mit internalisierenden Störungen wie Ängsten und Depressionen bei Kindern assoziiert ist und dass diese Kinder unter ansteigendem Stress mit erhöhten Krankheitsraten reagieren (6). Es können zwei Grundlinien der psychosomatischen Krankheitsentstehung differenziert werden: 1. die Dekompensation im Sinne einer regressiven Reaktivierung früher körperlicher Reaktionsmuster bei erheblichen frühen Störungen der Persönlichkeit, die sich in Ich-Defekten und Störungen der Objektbeziehungen ausdrücken und 2. eine Psychogenese bei neurotischen Konfliktlösungen auf der Körperebene bei relativ reifen Persönlichkeitsstrukturen nach dem Modell des Konversionsvorgangs (10). © Schattauer 2009 Konzepte der psychoanalytischen Psychosomatik Die Konversion ist das zuerst von Freud 1895 beschriebene und heute noch gültige Konzept der Umsetzung seelischer Konflikte in körperliche Phänomene (19). Sie besteht in der Umsetzung der Erregungssumme eines seelischen Konfliktes in körperliche, insbesondere sensorische und motorische, Innervationen. Aus dynamischer Perspektive ist das Konversionssymptom eine Symbolisierung von Konflikten, Wünschen, Befürchtungen und Fantasien in einer für den Patienten nicht mehr verständlichen Körpersprache. Freud erkannte neben den Psychoneurosen eine weitere nosologische Gruppe, die der Aktualneurosen (Angstneurose, Neurasthenie), deren Symptome (Asthenie, Tachykardie, diverse Schmerzerscheinungen, Störungen der Darmtätigkeit) eben nicht als symbolischer Ausdruck psychischer Konflikte zu verstehen seien. Das Körpersymptom resultiert bei den Aktualneurosen nicht in einer Kompromissbildung wie bei der Konversion, sondern in einem Scheitern der IchFunktionen. Sifneos (32) bezeichnete mit dem Konzept der Alexithymie die bereits von einer Gruppe französischer Analytiker (25) beschriebene, bei psychosomatischen Patienten auffällige, eingeschränkte Gefühlswahrnehmung. Diese Patienten sind nicht in der Lage, emotionale Belastungen psychisch, d. h. in symbolisierter Form, zu verarbeiten. Stattdessen werden Emotionen dadurch beherrscht, dass sie auf eine biologische Ebene abgeleitet werden. Das körperliche Symptom wird so zum Ventil einer biologischen Verarbeitung. Der seelische Konflikt wird so auf der Bühne des Körpers ausgetragen, was zu einer Stabilisierung des psycho-sozialen Systems auf Kosten der körperlichen und psychischen Gesundheit des Individuums führt. Schmerz hat auf der körperlichen Ebene die Funktion eines Signals aus dem Körperinnern an das Zentralnervensystem, das eine Störung anzeigt. Auf der psychischen Ebene zeigt es dem Individuum eine psychische Verletzung z. B. in Form eines Verlustes einer geliebten Person oder einer Selbstwertkränkung an. Auf einer interpersonellen Dimension ist der Schmerz ein nach außen gerichtetes Signal, das klagsam das eigene Leiden kommuniziert (10). Patienten mit psychosomatischen Störungen wie somatoformen Schmerzen weisen meist ein hohes Maß an psychosozialer Anpassung auf, indem sie unerträgliche seelische Konflikte in den Körper verlagert haben. Anstelle der Psyche spielt der Körper verrückt, was im sozialen Umfeld besser akzeptiert wird (7). Zudem erhält der Patient aufgrund seiner körperlichen Beschwerden ein Übermaß an versorgender Hilfe aus seinem psychosozialen Umfeld (sekundärer Krankheitsgewinn). Die Patientengruppe der somatoformen Schmerzstörung ist äußerst heterogen. Zum einen finden wir Patienten mit Somatisierungsstörungen, die strukturelle Defizite aufweisen, zum anderen einen großen Anteil von Kindern und Jugendlichen mit somatoformen Störungen, die über eine höher strukturierte Abwehr und reife Ich-Funktionen verfügen. De M’Uzan und Marty (1978) bezeichneten die von ihnen bei psychosomatischen Patienten entdeckte charakteristische psychische Funktionsweise als „symptomatische Trias“ aus ● operativem Denken, ● projektiver Reduplikation und ● Hemmung der Fantasietätigkeit (13). Das operative Denken dieser Patienten imponiert bereits im Erstkontakt als ein schematisches Denken, im Konkreten verhaftet, assoziationsarm, ohne Abstand zu den Dingen und zeugt von mangelnder gedanklicher Freiheit. Das Konkrete, Faktische, Handgreifliche wird von diesen Patienten überbesetzt. Die Kinder- und Jugendmedizin 5/2009 273 274 T. Göttken: Psychosomatische Aspekte des Schmerzes projektive Reduplikation bezeichnet eine undifferenzierte Selbst- und Objektwahrnehmung. Der andere, das Gegenüber, bleibt für diese Patienten blass, der Arzt auf seine Funktion des Heilens beschränkt, die Beziehung zu ihm ton- und farblos. Diese Patienten erkennen sich selbst im anderen wieder. Der andere scheint keine eigenen Merkmale zu besitzen. Lustvolles Fantasieren scheint von diesen Patienten einer ursprünglichen Abwehr zu unterliegen, es verursacht Spannungen und unterliegt daher einer fundamentalen Hemmung. Als Konsequenz für die Behandlung fordert De M’Uzan eine eher ananklitische, d. h. Halt gebende und Anlehnung spendende psychotherapeutische Behandlung, die im Gegensatz zum aufdeckenden Vorgehen bei neurotischen Patienten langsam und systematisch die Vorstellungstätigkeit dieser Patienten fördert (13). Einen Zusammenhang zwischen restriktiven frühkindlichen Interaktionsformen und dem eingeschränkten Erwerb der Symbolisierungsfunktion bei psychosomatisch Erkrankten beschreibt Zepf (37). Mit Lorenzer (24) versteht er den Spracherwerb als einen Prozess der Sprachvermittlung, der sich in den Interaktionsformen mit den Primärobjekten im Zuge der Primärsozialisation realisiert. Diese finden im Kind engrammatisch Niederschlag. Damit ein Wort als Begriff auch in seiner Funktion als Symbol angeeignet werden kann, müssen Laut- und Interaktionsengramme in eine wechselseitige Beziehung gebracht werden. Der Erwerb der Symbolfunktion ist eng an ein entfaltetes, differenziertes Interaktionsspiel geknüpft. Nur so kann eine Abstraktionsfähigkeit entstehen, die zu Symbolgebrauch befähigt. Ist die Primärsozialisation gekennzeichnet durch einen Mangel an spielerischen, sich frei entfaltenden Interaktionsformen, dann kann sich beim Kind diese restriktive Praxis nur in Form von „Protosymbolen“ niederschlagen. Das hieße, der emotionale Gehalt der frühen Interaktionsformen bliebe unbewusst. Die Individuen zeigen eine emotionale Leere, die in dem Begriff der Alexithymie beschrieben wird. Affektwahrnehmung und -differenzierung sind eingeschränkt. Affektive Belastung kann nicht symbolisiert werden und findet ihren Ausdruck in der somatischen Abfuhr. Neben einem operativen Denken, Alexithymie und eingeschränkter Fantasietätigkeit werden als Charakteristikum bei psychoKinder- und Jugendmedizin 5/2009 somatischen Patienten häufig ein labiles, brüchiges Selbstgefühl und eine SelbstObjekt-Beziehung auf narzisstischer Grundlage gefunden. Symptomauslösend kann eine reale oder drohende Auflösung oder Enttäuschung dieser Beziehung sein. Relevante Ereignisse und Beziehungspersonen werden geschildert als stünden sie in keiner persönlichen Beziehung zum Patienten. Den sprachlichen Zeichen fehlt die konnotative Bedeutung. Des Weiteren besteht bei psychosomatischen Patienten häufig eine eingeschränkte Fähigkeit, mit Aggressionen adäquat umzugehen. Aggressive Impulse unterliegen entweder einer Hemmung oder äußern sich in undifferenzierter Form (38). Der unmittelbare körperliche Ausdruck intrapsychischer Zustände ist eine sehr ursprüngliche Form von Spannungsabfuhr. Max Schur versteht die Entwicklung eines Individuums als fortlaufenden Prozess der Differenzierung von körpernahen diffusen Zuständen hin zu bewussten, immer differenzierteren emotionalen Zuständen als Desomatisierung. Brechen diese zunehmenden synthetisierenden Funktionen zusammen, bis hin zu einem körperlichen Ausdruck und einer körperlichen Verarbeitung von Affekten, kommt es zu einer Resomatisierung (31). In Anlehnung an Freuds Modell einer Ausbildung von Ich-Funktionen durch sekundärprozesshaftes Denken, versteht Schur die Entwicklung eines starken Ichs als Desomatisierung, d. h. die zunehmende Fähigkeit, libidinöse Energien zu neutralisieren und vom Körper ins Geistige zu verwandeln. Je ausgewogener die Qualität der Abwehrorganisation, desto geringer ist die Dekompensation ins Somatische. Sind die im Zuge der biopsycho-sozialen Entwicklung erworbenen reifen Verarbeitungs-, Kompensations- und Abwehrmöglichkeiten eines Patienten überfordert, kommt es zu einer Regression auf eine sehr frühe Ausdrucksform innerpsychischer Triebspannung. Die Symbolisierung der psychischen Inhalte eines Konfliktthemas in Form bewusster Vorstellungen und Fantasien sowie des sprachlichen oder gestalterischen Ausdrucks gelingt dem Patienten, der somatisiert, nicht. Das Symbol als Zeichen, das auf etwas anderes verweist, „trennt und überbrückt zugleich und hilft, Abwesendes zu repräsentieren“ (10). Durch die Symbolisierung gewinnt das Individuum eine Distanz zu körperlichen Vorgängen, sodass eine Reflektion innerer emotionaler Zustände möglich wird. Schmerzen können aber auch den Zusammenbruch oder das Fehlen der Symbolfunktion anzeigen, der innerpsychische Konflikt ist dann der bewussten Bearbeitung entzogen. Er ist somit dem Individuum nicht mehr zugänglich als Folge einer Resomatisierung. Neben dem Verlust der Symbolisierungsfähigkeit können körperliche Symptome aber auch symbolisch auf etwas verweisen, wie z. B. die konversionsneurotische Verarbeitung einen neurotischen Konflikt anzeigt. Schmerzen können brennend, stechend, pochend oder klopfend sein, was auf die aggressive Komponente des Schmerzes hinweist. Körperlich unmittelbar empfundener Schmerz kann auch eine unbewusste Bedeutung als Abwehr von Aggression gegen das Objekt durch Wendung der Aggression gegen das Selbst haben. Bei Mädchen in der Adoleszenz kann psychogener Bauchschmerz aus Schuldgefühlen wegen erster sexueller Fantasien oder Betätigungen resultieren. Bestrafungsängste werden dann in Form der Bauchschmerzen symbolisiert. In seinem Konzept des falschen Selbst beschreibt Winnicott eine Organisationsform des Selbst, die darauf gerichtet ist, sich durch das Verbergen des wahren Selbst zu schützen. Ist die mütterliche Fürsorge (angemessene affektive Einstimmung, Schaffen von Konstanz im sozialen Umfeld) in der Lage, die Bedürfnisse des Säuglings angemessen zu erfüllen, ihn vor übermäßigen Reizeinbrüchen zu schützen und solche Übergriffe auf ein Minimum zu reduzieren, dann kann vom Säugling eine Kontinuität des Seins erlebt werden. „Wenn die Umwelt sich nicht gut genug verhält, wird das Individuum zu Reaktionen auf Übergriffe veranlasst und die Prozesse des Selbst werden unterbrochen […] die Entwicklung eines falschen Selbst ist eine der erfolgreichsten Abwehrorganisationen, die den Kern des wahren Selbst schützen soll, und ihr Vorhandensein ruft das Gefühl der Vergeblichkeit hervor“ (35). Das falsche Selbst zeigt eine gute soziale Anpassung oft mit Überbetonung des Intellekts, trägt aber eine große Neigung zu Zusammenbrüchen in sich. Es besteht eine Spaltung zwischen Überbetonung des Intellekts und psychosomatischer Existenz. Das falsche Selbst trägt unter dem Einfluss innerer und äußerer Belastungen die Gefahr einer regressiven Auftrennung der © Schattauer 2009 T. Göttken: Psychosomatische Aspekte des Schmerzes Verbundenheit von Körper und Seele in sich, was zur Entwicklung einer psychosomatischen Störung führt. Rudolf beschreibt die psychosomatische Bewältigung des depressiven Grundkonflikts. Patienten mit einem depressiven Grundkonflikt entwickeln eine strukturelle Störung, bei der die Bildung stabiler Selbst- und Objektrepräsentanzen, die Affektdifferenzierung, die Impulssteuerung und die Regulierung des Selbstwertgefühls erschwert werden (29). In dem depressiven Grundkonflikt stehen sich der Wunsch nach einem bergenden, Sicherheit und Wertschätzung gebenden Objekt und der aus der Objektenttäuschung resultierende verzweifelte Hass gegen das Objekt gegenüber. Die Konsequenzen eines frühen Objektverlustes bzw. einer frühen Vernachlässigung sieht Rudolf zum einen in einer oral getönten Sehnsucht, aber auch in einem Hass gegenüber dem Objekt sowie Gefühlen der Trauer und des Zu-kurz-gekommen-Seins. Schließlich resultiert noch eine Störung des Selbstwertes. Die depressive Somatisierung folgt einem Dreischritt. Auf intrapsychischer Ebene werden eine emotionale Daueranspannung und fehlende Entlastung als Folge der frühen Unmöglichkeit zu klagen und zu fordern angenommen. Diese führe zu Selbstverleugnung und Selbstüberforderung, die dann psychische und körperliche Erschöpfung nach sich zieht. Die sympathikotone und muskuläre Daueranspannung kann dann zu Chronifizierung des Schmerzgeschehens führen. Die autoaggressive Dynamik des depressiven Grundkonflikts kann sogar einen destruktiven Verlauf (überflüssige Operationen, schmerzhafte Maßnahmen) begünstigen. Bindungstheorie Die Bindungsforschung sieht in der unsicheren Bindung eines Kindes die Ursache für die von Alexander (1) angenommene psychovegetative Dauererregung, die das Risiko einer psychosomatischen Symptombildung erhöht. Neuere Forschung zur Neurobiologie des Stresses verweist in diesem Zusammenhang z. B. auf den bei Stress erhöhten Kortisolspiegel (20). Stress erhöht das Corticotropin-releasing Hormon (CRH), das Kortikotropin (ACTH) und die Kortisolproduktion. Diese Hormone wirken immunsuppressiv © Schattauer 2009 (29). Das unsicher-vermeidende oder unsicher-ambivalent gebundene Kind hat nicht die Repräsentanz einer Objektbeziehung ausbilden können, in der es negative Gefühle ausdrücken kann und die Resonanz einer positiven emotionalen Reaktion wie Trost, Zuspruch oder Hilfestellung der Bezugsperson erhält. Es entwickelt stattdessen kompensatorisch eine eingeschränkte Fähigkeit der Wahrnehmung und des Ausdrucks von Emotionen und damit eine Disposition zur Somatisierung. Hofer (22) konnte zeigen, dass der Kontakt und die Interaktion zwischen dem Neugeborenen und seiner Mutter die sich entwickelnden physiologischen und Verhaltenssysteme reguliert. Auch ein signifikant erhöhter Anteil von Patienten mit somatoformen Störungen (> 50 %), die unsicher-vermeidende Bindungsrepräsentanzen aufweisen, konnte nachgewiesen werden (30). Vieles deutet darauf hin, dass eine sichere Bindung eine bessere Dämpfung der physiologischen Stressantwort ermöglicht und damit die Stressschwelle erhöht. Im Gegensatz dazu scheint das Fehlen einer sicheren Bindung die Stressreagibilität durch Sensitivierung der Hypothalamus-Nebennierenachse zu erhöhen. Tipps für den Pädiater Zur Anwendung bei psychosomatischen Patienten: ● Störungscharakter akzeptieren ● Beschwerdeschilderungen ernst nehmen und anhören, auch wenn sie repetitiv, ermüdend und klagsam vorgetragen werden ● auf keinen Fall äußern: „Du bist gesund!“ ● Integration des somatischen und psychischen Befundes zu einem ganzheitlichen Behandlungskonzept ● Mitteilung: „Wir ziehen einen Psychiater/Psychotherapeuten hinzu“, statt zu vermitteln: „Dein Problem gehört jetzt allein in den Zuständigkeitsbereich der Psycho-Fächer!“ ● frühzeitige Information über mögliche Zusammenhänge zwischen körperlichen Beschwerden und emotionalen und psychosozialen Belastungen in einer verständlichen Wortwahl (Psychoedukation) ● keine diagnostische Polypragmasie ● auf Deutungen der Symptome unbedingt verzichten! Biologische Ursachen Da die Schmerzsignale von vegetativ innervierten Organen viel schwieriger zu diskriminieren sind als solche aus der Peripherie, stellen diese Körperregionen auch bevorzugte Orte für somatoforme Schmerzen bei Kindern und Jugendlichen dar. Körperlicher Schmerz wird im Allgemeinen erst vorbewusst wahrgenommen und dann mithilfe des visuellen und taktilen Wahrnehmungssystems diskriminiert. Dies fällt bei Kopfund Bauchschmerzen besonders schwer (10). Bei der autonomen somatoformen Schmerzstörung wird die Bedeutung der somatosensorischen Amplifizierung, eine Übersensitivität gegenüber viszeralen Sensationen, beschrieben (4). Diese wird oft als Symptom einer bedrohlichen Krankheit aufgefasst. Cloninger (9, 12) beschreibt bestimmte Vulnerabilitäten bei Personen mit Somatisierungsneigung wie eine erhöhte Schmerzwahrnehmung, eine eingeschränkte verbale Kommunikationsfähigkeit, Störungen der Informationsverarbeitung sowie eine einge- schränkte Fähigkeit zur Stimulusdiskriminierung und Habituation auf repetitive Reize. Therapie Ob eine psychotherapeutische Intervention gelingen kann, hängt maßgeblich auch davon ab, wie dem Patienten mitgeteilt wird, dass seinen Symptomen kein organischer Befund zugrunde liegt (씰Kasten). Psychoanalytisch orientierte Therapien setzen an der inneren Konfliktdynamik des Kindes oder Jugendlichen an. Wenn es gelingt, die zugehörigen Repräsentanzen zu verstehen, können somatoforme Symptome und Schmerzen mit Bedeutung versehen werden. Bei Patienten mit konversionsneurotischem Hintergrund der somatoformen Schmerzstörung ist dies oft schneller möglich, da klar abgegrenzte Konflikte den Symptomen zugrunde liegen. Bei Patienten mit strukturellen Defiziten und unreifen Ich-Funktionen ist es ungleich Kinder- und Jugendmedizin 5/2009 275 276 T. Göttken: Psychosomatische Aspekte des Schmerzes Fazit für die Praxis Für die Einschätzung einer Somatisierungsstörung bei Kindern und Jugendlichen gilt es, in der Praxis unbedingt den Entwicklungsgedanken zu berücksichtigen. Das Zeitkriterium für die Diagnose einer Somatisierungsstörung sollte daher von zwei Jahren auf weniger als zwölf Monate verringert werden. Es zeigt sich, dass die restriktiven operationalisierten Diagnosekriterien niedrige Prävalenzraten der Somatisierungsstörung im Kindes- und Jugendalter bedingen. Dies verschleiert die Häufigkeit des Vorliegens behandlungsbedürftiger somatoformer Einzelsymptome. In der Praxis sollte für die Einschätzung der somatoformen Symptome anhand der Schilderungen des Kindes und Jugendlichen auch der entwicklungsabhängige Grad der Differenziertheit der Körperwahrnehmung und der Integration des Body-Image erfolgen. Besonders in der Adoleszenz können unbewusste intrapsychische oder interpersonelle Konflikte auf den Körper verschoben werden. Auf der Bühne des Körpers finden sie dann insbesondere bei Mädchen häufig Ausdruck in Bauchschmerzen, für die sich kein organisches Korrelat finden lässt. schwieriger, diesen Zusammenhang herzustellen. Er muss oft erst mühsam aufgebaut werden, indem die Patienten einen Zugang zu ihrem oft undifferenzierten Gefühlsleben bekommen. In diesem Fall zielen Interventionen auf Affektwahrnehmung und -differenzierung sowie die Entwicklung selbstregulativer Funktionen anstelle somatischer Abfuhr von Affekten. Literatur 1. Alexander F. Psychosomatische Medizin. Grundlagen und Anwendungsgebiete. Berlin, New York: Gruyter 1977. 2. 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