Berufs- und Gesundheitspolitik Dr. Alexandra-B. Fabisch, Dr. Jan F. Wiborg, Dr. Anne Lautenbach, Dipl.-Psych. Katharina Voigt, Prof. Dr. Dipl.-Psych. Bernd Löwe Wenn die Seele krank macht Das „Netzwerk für somatoforme Störungen“ – Sofu-Net – arbeitet fachübergreifend und hilft Patienten damit noch schneller Etwa acht Millionen Deutsche sind pro Jahr von einer somatoformen Störung betroffen, das heißt, von einer Krankheit, für die es keine hinreichenden organischen Ursachen gibt. Für diese Patienten vergehen im Schnitt sechs Jahre vom Beginn der Beschwerden bis zur ersten Psychotherapie. Trotz der hohen Relevanz des Themas sind innovative Versorgungskonzepte rar. Wie man Kliniken, ambulant tätige Psychotherapeuten und Hausärzte zum Wohle der Patienten in ein funktionierendes Netzwerk einbinden kann und welche Abläufe und Strukturen für eine bessere Patientenversorgung erforderlich sind, ist Gegenstand der Forschung des Sofu-Net: „Netzwerk für somatoforme Störungen“. Foto: iStockphoto P atienten mit somatoformen Störungen sind in allen Bereichen des Gesundheitssystems zu finden. Ob auf einer gastroenterologischen Station, in der kardiologischen Funktionsdiagnostik oder in orthopädischen Spezialsprechstunden – jeder Arzt, egal welcher Fachrichtung, kennt diese Patienten. Ihre Beschwerden sind vielfältig, der Leidensdruck hoch, die Diagnostik jedoch ohne Befund. 338 Am Ende zahlreicher Untersuchungen stehen meist ratlose Ärzte und frustrierte Patienten. Unzufriedenheit in der Arzt-Patienten-Beziehung und hohe gesundheitsökonomische Kosten resultieren. Bis zu 753 Millionen Euro werden laut Statistischem Bundesamt jährlich durch somatoforme Störungen – also Leiden, für die es keine hinreichende organische Ursache gibt – verursacht. Das somatisch fundierte Krankheitskonzept führt die Patienten immer wieder in das Gesundheitssystem. Der innerpsychische Konflikt wird auf ein oder mehrere Organsysteme übertragen. Häufige sind Schmerzen, Symptome Schwindel, Übelkeit, Palpitationen oder Diarrhö. Trotz wiederholter Versicherung von Ärzten, dass kein organischer Befund vorliegt, beharren die Patienten auf der körperliArzt und Krankenhaus 11/2012 Berufs- und Gesundheitspolitik zeigen auch die ersten Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitevaluation von Sofu-Net: Der Weg zum Psychotherapeuten dauerte in unserem Kollektiv durchschnittlich 16 Jahre. Nur 13 Prozent der Betroffenen wurden in den ersten zwei JJahren der Erkrankung therapiert, 57 Prozent warteten länger als zehn JJahre. Und in dieser Zeit wird fleißig untersucht und behandelt: Im Wartezimmer der teilnehmenden Hausärzte fanden sich doppelt so viele „High User“ unter den Patienten mit somatoformen Beschwerden, verglichen mit der restlichen Patientenpopulation. Und das wird sich so schnell auch nicht ändern: Nur rund ein Drittel der Betroffenen suchte in den vergangenen zwölf Monaten einen Therapieplatz. Defizite in der Regelversorgung chen Ursache der Beschwerden. Eine psychische Komponente wird häufig nicht akzeptiert, die Motivation zu einer Psychotherapie ist in der Regel gering. Lange Leidenswege mit zahlreichen Untersuchungen und häufige Arztwechsel sind typisch. Dass in der Regelversorgung Raum für Verbesserungen bei der Behandlung von Patienten mit somatoformen Störungen besteht, Arzt und Krankenhaus 11/2012 Da die Krankheitseinsicht bei diesen Patienten gering ist, stellt die Motivation zur Psychotherapie eine der wichtigsten Hürden für eine erfolgreiche Behandlung dar. Denn sobald eine psychische Ursache der Beschwerden angenommen wird, ziehen sich Patienten mit somatoformen Beschwerden oft zurück und suchen sich einen neuen Hausarzt. Aber auch der Blick der Mediziner für dieses Erkrankungsbild, was sich hinter multiplen körperlichen Symptomen verbirgt, sollte weiter geschärft werden. Eine gelungene Kommunikation zwischen Hausärzten, Psychotherapeuten und Kliniken hilft dabei, Patienten mit somatoformen Störungen schneller dorthin zu bringen, wo sie wirklich hingehören. Das sind nicht die Notaufnahmen und Spezialambulanzen der Krankenhäuser, sondern die psychosomatischen Fachkliniken. Mit sektorenübergreifenden, vernetzten Behandlungspfaden sollen Patienten mit somatoformen Störungen schneller in eine wirksame Behandlung vermittelt werden. Vernetzt haben sich zu diesem Ziel 41 Hausärzte, 32 Psychotherapeuten, acht klinische Einrichtun- gen und zwei assoziierte Schmerzzentren aus dem Hamburger Stadtgebiet. Eine wichtige Säule des Konzeptes ist das risikoadjustierte Screening durch geschulte Hausärzte. International validierte Fragebögen, ergänzt durch ein intuitives Ampelschema, erleichtern die Diagnosefindung. Hier werden neben der Somatisierung (PHQ-15) auch die häufigen Komorbiditäten Angststörung (GAD-7) und Depression (PHQ-9) erfasst. Wird ein Patient im Screening auffällig, ist eine schnelle Vermittlung an einen Spezialisten gefragt. Die große Hürde „Motivation zur Psychotherapie“ wird zum einen mit ausführlichen Aufklärungsgesprächen beim Hausarzt als direkte Vertrauensperson genommen. Zum anderen bietet das Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf eine Psychoedukationsgruppe sowie eine Spezialsprechstunde an. Hier kann mit einem Team aus Psychologen und Ärzten der Grundstein für eine nachhaltig erfolgreiche Behandlung gelegt werden. Die nahtlose Vermittlung an einen spezialisierten Psychotherapeuten wird mit einer engen Vernetzung der Partner gewährleistet. Mit hohem Engagement und Flexibilität setzen sich alle Teilnehmer für eine verbesserte Versorgung ein. Sektorübergreifende Vernetzung als Basis Diagnostik als auch Therapie erfolgen gemäß der aktuellen Leitlinie, welche im März dieses Jahres veröffentlicht wurde. Eine Informationsbroschüre mit allen Netzwerkpartnern, ihren Schwerpunkten, Sprechstunden und Kontaktdaten erleichtert die Kontaktaufnahme. Eine rege E-Mail-Korrespondenz sorgt für einen kontinuierlichen Informationsaustausch. So können Patienten meist innerhalb von ein bis zwei Wochen von einem Spezialisten gesehen werden. Das Sofu-Net-Projekt ermöglicht es, den Graben zwischen Hausärzten, Kliniken und Psychotherapeuten zu überbrücken. Ob eine wir- 339 Berufs- und Gesundheitspolitik Sofu-Net: Netzwerk für somatoforme Störungen Hausärzte • Systematisches Screening bei Risikopatienten entsprechend der aktuellen Leitlinien • Motivation der Patienten zur Psychotherapie • Vermittlung an Psychotherapeuten/Kliniken Psychotherapeuten • Kurzfristige Terminvergabe • Angebot maßgeschneiderter Therapiekonzepte gemäß eines gestuften Therapiemodells (leitlinienkonform) • Enge Kommunikation mit dem Hausarzt: Informationen zum Status quo und notwendige Unterstützung (z. B. Medikation) Kliniken • Spezialisierte Behandlung auf qualitativ höchstem Niveau • Zügige Vergabe von zeitnahen Therapieplätzen • Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf: Psychoedukationsgruppe; Spezialsprechstunde somatoforme Beschwerden Networking-Plattform • Regelmäßige Qualitätszirkel: Interdisziplinäre Fallbesprechung • Netzwerkkonferenzen: gemeinsame Entwicklung von Lösungen zur Optimierung der Netzwerkarbeit. Networking/ Ausbau persönlicher Kontakte kungsvolle, sektorenübergreifende Zusammenarbeit gelingt, hängt oft nur von Kleinigkeiten ab. So geben sich die beteiligten Partner in regelmäßigen Veranstaltungen Einblicke in die eigene Arbeit. Gemeinsam werden Strategien einer besseren Zusammenarbeit entwickelt. Ein Beispiel ist der Kurzbefund, den jetzt die beteiligten Psychotherapeuten für alle mitbehandelnden Kliniker und Hausärzte erstellen. In interdisziplinären Qualitätszirkeln werden konkrete Fallbeispiele besprochen. Die hausärztliche wie auch die psychotherapeutische und klinische Sicht auf Therapie und Management der Erkrankung wird rege diskutiert. Oftmals führt erst die interdisziplinäre und auch sektorenübergreifende Sicht zu überraschend neuen Erkenntnissen in Bezug auf Diagnostik und Behandlung. Die Optimierung von Prozessen innerhalb des Netzwerks wird in gut vorbereiteten Netzwerkkonferenzen diskutiert. Vor jeder dieser Konferenzen werden alle Netzwerkpartner nach ihren Erfahrungen in der Netzwerkarbeit telefonisch befragt. Nicht nur beobachtete Defizite, auch Lösungsvorschläge werden gesammelt, im Team weiterentwickelt und in den Konferenzen abgestimmt. So können passgenaue Verbesserungsmaßnahmen entwickelt und konsekutiv rasch und nachhaltig implementiert werden. Die stetige Weiterentwicklung und Verbesserung des Netzwerks folgt somit einem kontinuierlichen Verbesserungsprozess, wie man ihn aus dem Qualitätsmanagement kennt. Motivation und Commitment der Netzwerkpartner sind das Fundament für das Gelingen von SofuNet, reichen allein jedoch nicht aus. Was derzeit im geförderten Modell funktioniert, kann in der Routine nur umgesetzt werden, wenn auch die Finanzierung sichergestellt ist. So wird zum Beispiel die Zeit für ein ausführliches Motivationsgespräch in der hausärztlichen Praxis nicht vergütet. Ebenso fällt es den Fachärzten für psychosomatische Medizin schwer, in dem bestehenden System flexible, bei Kapazitätsengpässen überbrückende oder niedrigschwellige Angebote abzurechnen. Diese Themen wurden und werden von den Verantwortlichen von Sofu-Net mit den Kostenträgern diskutiert. Leider ist die Visibilität des somatoformen Patienten in Politik und Gesellschaft noch zu gering, und das Thema verschwindet nur allzu schnell von der Agenda der Entscheidungsträger. Das Projekt Sofu-Net ist Teil von psychenet, dem „Hamburger Netz psychische Gesundheit“. psychenet wird im Rahmen der Initiative „Gesundheitsregion der Zukunft“ vom Bundesministerium für Bildung und Forschung unterstützt. Über vier Jahre werden im Großraum Hamburg Best-Practice-Ansätze implementiert und wissenschaftlich evaluiert. Neben übergeordneten Themen, wie betriebliche Gesundheit, Aufklärungskampagnen oder Kommunikationsplattform, wird in fünf Gesundheitsnetzen an der Verbesserung der Versorgung von Patienten mit Essstörungen, Depressionen, Psychosen, Alkoholproblemen und somatoformen Störungen gearbeitet. Weitere Informationen zum Thema gibt es im Internet unter: www. psychenet.de. Anschrift für die Verfasser: Dr. Alexandra-B. Fabisch Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf Institut und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Martinistraße 52 20251 Hamburg E-Mail: [email protected] Arzt und Krankenhaus 11/2012 340