Somatoforme Störungen - IMB

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Nervenarzt 2007 . 79 :99-11 7
DOl 10 .1007/s00115-007-2388-8
Online publiziert: 9 . Dezember 2007
© Springer Medizin Verlag 2007
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Klinik für Psychiatrie, Medizinische Universität Gra z
Somatoforme Störunge n
Konzept, Klinik, Ätiopathogenese und Therapi e
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Patienten mit „medizinisch unerklärten Körpersymptomen ” stellen im medizinischen Versorgungssystem eine diagnostische und therapeutische Herausforderung dar . Eine psychiatrische Perspektive betont diagnostisch primäre psychische Störungen einerseits, somatoforme Störunge n
andererseits . In der klinisch-somatischen Medizin existiert eine eigenständige diagnostische Beschreibung von fachbezogen definierten funktionellen Körpersyndromen . Beide diagnostischen
Systeme sind nicht deckungsgleich. Kritikpunkte an der derzeitigen Konzeptualisierung und Klassifikation von somatoformen Störungen werden dargestellt . Die in den aktuellen psychiatrische n
Klassifikationssystemen aufgeführten somatoformen Störungen werden in ihren klinischen Charakteristika skizziert . Somatoforme Störungen werden ätiopathogenetisch vorteilhaft innerhal b
eines multifaktoriellen Modells beschrieben, in dem psychosoziale und neurobiologische Einflüsse eigenständig bewertet werden müssen. Es lassen sich formale Behandlungsziele und allgemeine Behandlungsprinzipien beschreiben . Psychoedukative, psychopharmakologische, kognitiv-behaviorale, psychodynamische und rehabilitative Ansätze begründen eine multimodale Therapi e
der somatoformen Störungen. Das Management in der primärärztlichen Versorgung verdient ei ne besondere Beachtung .
Schlüsselwörte r
Somatoforme Störungen . Funktionelle Körpersyndrome . Konzept . Kritik . Klinik
Ätiopathogenese . Therapi e
Somatoform disorders. Clinical evidence,
etiology, pathogenesis, and therap y
Summary
Patients presenting with bodily symptoms and complaints that are not explained by organic pathology or well-known pathophysiological mechanisms comprise a major challenge to any medical
care system . From a perspective of psychiatric classification, such medically unexplained somati c
symptoms are diagnosed as depressive and anxiety disorders on the one hand or somatoform disorders on the other. In clinical physical medicine a quite different diagnostic approach is taken t o
conceptualize functional somatic syndromes . Concepts of somatoform disorders are outlined, critical issues regarding existing diagnostic systems are discussed, and possible alternative approaches for upcoming versions of DSM-V and ICD-11 are mentioned . The main somatoform disorder s
are described in their clinical characteristics . Etiopathogenetically, somatoform disorders may bes t
be considered within a multifactorial model . Some pragmatic guidelines for multimodal treatmen t
of somatoform disorders are outlined .
Keywords
Clinical features • Concept • Critique . Etiopathogenesis . Functional somatic syndrome s
Somatoform disorders . Treatment
Der Nervenarzt 1 • 2008
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Auf allen Ebenen des medizinischen Versorgungssystems stellen Patienten mit körperlichen Symptomen und Beschwerden, die nicht ausreichend durch bekannte somatisch e
Krankheiten oder pathophysiologische Mechanismen erklärt werden können, eine besondere diagnostische und therapeutische Herausforderung dar. Dieser Beitrag behandelt di e
Diagnosekriterien und Klassifikationssysteme aus der psychiatrischen sowie aus der klinisch-somatischen Perspektive . Behandlungsziele und allgemeine Behandlungsprinzipie n
werden beschrieben .
Hintergrun d
Nicht selten geht mit sog. ► „medizinisch unerklärten Körpersymptomen” eine Reihe von nachteiligen Konsequenzen wie verstärkte medizinische Inanspruchnahme, unnötige diagnostische Maß nahmen, nicht indizierte Therapien, hohe Patientenunzufriedenheit, konflikthafte Arzt-Patienten Beziehung, gerade bei den häufig chronischen Verläufen auch erhöhte psychiatrische Komorbidität, psychosoziale Behinderung und reduzierte gesundheitsbezogene Lebensqualität einher . Epidemiologischen Studien zufolge, die an der Allgemeinbevölkerung, auf der primär- und der sekundär ärztlichen Versorgungsstufe durchgeführt wurden, liegen die Häufigkeitsraten zwischen 20 und 50 %
Das klinisch-phänomenologische Be[19] . Das klinisch-phänomenologische Beschwerdebild dieser Patienten ohne klar diagnostizierbar e
somatische Krankheiten ist vielfältig und heterogen . Es können neurologische Funktionsstörunge n
schwerdebild der Patienten ohne klar
der Motorik, der Sensorik/Sensibilität und der Regulation der Bewusstseinslage imponieren, lokali diagnostizierbare somatische Kranksierte oder generalisierte Schmerzen, Missempfindungen und Dysästhesien, organzentrierte Funkheiten ist vielfältig und heterogen
tionsstörungen mit bevorzugter autonomer Innervation bestehen, oder aber Vitalstörungen, ein e
besondere körperliche und mentale Müdigkeit und Erschöpfbarkeit, eine allgemein verringerte Belastbarkeit vorliegen, körperbezogene Befürchtungen, Krankheitsängste und Krankheitsüberzeugungen oder körperliche Beschämungsgefühle und Überzeugungen einer körperlichen Verunstaltung berichtet werden .
Es existieren zwei unterschiedliche Traditionen, diese Patienten mit „medizinisch unerklärte n
► Klinisch-somatische Medizin
körperlichen Symptomen ” diagnostisch zu beschreiben, zum einen innerhalb der ► klinisch-soma ► Psychiatrie tischen Medizin, speziell der inneren Medizin, zum anderen innerhalb der ► Psychiatrie . Beide di agnostischen Ansätze sind keineswegs deckungsgleich oder reibungsfrei ineinander überzuführen .
► Medizinisch unerklärte
Körpersymptome
Diagnostische Konzeptualisierung der klinisch-somatischen Medizi n
► Funktionelle Störungen
Den fachbezogen definierten
Körpersyndromen liegt meist ein
allgemeines psychosomatisches
Verständnismodell zugrunde
Fast alle medizinischen Disziplinen kennen Patienten, die sich einem engen organmedizinische n
Krankheitsverständnis entziehen und sich durch eine spezielle Symptomkonstellation aus dem jeweiligen Fachgebiet auszeichnen . In Abgrenzung von fachtypischen somatischen Erkrankungen mi t
organisch-strukturellen Läsionen werden diese Symptome als ► funktionelle Störungen konzeptualisiert . Beispiele für solche funktionellen Körpersyndrome sind etwa die Fibromyalgie, das Colo n
irritabile, das chronische Müdigkeitssyndrom etc . Diesen fachbezogen definierten Körpersyndro men liegt meist ein allgemeines psychosomatisches Verständnismodell zugrunde, insofern psycho soziale Stressoren, bestimmte Persönlichkeitscharakteristika und psychopathologische Symptome i n
der Pathogenese als bedeutsam erkannt werden .
Große Überlappungen auf der Symptomebene, eine häufige Koexistenz mehrerer dieser funktionellen Körpersyndrome sowie eine ausgeprägte Assoziation wiederum mit einer Reihe psychiatrischer Störungen wie vor allem depressiver und Angststörungen machen es sehr wahrscheinlich ,
dass es sich bei ihnen nicht um kategorial zu verstehende Störungen handelt . Auch jenseits einer
noch nicht zufrieden stellend gelösten Zuordnung zu psychiatrischen Diagnosekategorien existiert
in der medizinischen Literatur eine polare Tendenz, in diesen funktionellen Körpersyndromen ei n
allgemeines Somatisierungssyndrom zu erkennen zum einen, unterschiedliche diskrete Somatisierungssyndrome anzunehmen zum anderen [24] .
Diagnostische Konzeptualisierung der Psychiatri e
Gängige Klassifikationssysteme der Psychiatrie berücksichtigen zwei Hauptwege, „medizinische un erklärte körperliche Symptome ” diagnostisch einzuordnen . So weisen zunächst zahlreiche primäre
psychische Störungen, wie insbesondere depressive und Angststörungen, aber auch dissoziative un d
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Der Nervenarzt 1
.
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CM E
posttraumatische Belastungsstörungen eine Fülle von integralen somatischen Symptomen auf . Die se körperlichen Beschwerden bilden vor allem in der primärärztlichen Versorgung den Hauptfoku s
des Symptomberichtes von Patienten .
Mit dem DSM-III (1980) wurde unter der Krankheitsgruppe der „somatoformen Störungen ” eine weitere, eigenständige diagnostische Kategorie eingeführt . Somatoforme Störungen beschreiben
eine Klasse von psychischen Störungen, deren wesentliche Charakteristika körperliche Symptome
sind . Diese scheinen eine somatische Krankheit anzuzeigen, ohne dass hierfür aber ausreichende
Belege einer organischen Pathologie oder bekannter pathophysiologischer Mechanismen erbrach t
werden können . Sie sind auch nicht besser durch andere psychische Störungen zu erklären . Es besteht bei ihnen der starke klinische Eindruck, dass psychologische Einflüsse oder Konflikte in de r
Bildung und in der Aufrechterhaltung der Symptome bedeutungsvoll sind . Im Unterschied zu artifiziellen Störungen oder zur Simulation liegt bei ihnen aber keine willentliche Kontrolle der körperlichen Symptomatik vor.
Klassifikation im DSM
Waren die einzelnen somatoformen Störungen im DSM-III(-R) lediglich alphabetisch aufgereiht ,
verrät die Anordnung im DSM-IV(-TR) eine klinisch besser nachvollziehbare Rationale . Aufgeführ t
sind zunächst 2 Störungen, die auf körperliche Beschwerden mit chronischer Persistenz fokussieren .
Es ist dies zunächst die ► Somatisierungsstörung mit multiplen körperlichen Symptomen, die meist
über Jahre bestehen . Ihr unmittelbar nachgeordnet ist die ► undifferenzierte somatoforme Störung
mit einem oder mehreren körperlichen Beschwerden, die zumindest 6 Monate bestehen müssen . Es
folgen 2 Störungen mit spezifischen körperlichen Symptomen, die Konversions- und die Schmerzstörung. Bei der sich anschließenden Hypochondrie und der körperdysmorphen Störung imponieren syndromal eine Besorgnis um oder eine Fehlinterpretation von körperlichen Sensationen un d
Symptomen zum einen, des körperlichen Erscheinungsbildes zum anderen .
Somatoforme Störungen beschreibe n
eine Klasse von psychischen Störun gen, deren wesentliche Charakteristi ka körperliche Symptome sin d
Im Unterschied zu artifiziellen
Störungen oder zur Simulation lieg t
bei somatoformen Störungen kein e
willentliche Kontrolle der körper lichen Symptomatik vo r
► Somatisierungsstörun g
► Undifferenzierte somatoform e
Störun g
Klassifizierung in der IC D
Gegenüber dem DSM-IV(-TR) weist die ICD-10 nicht nur marginale Unterschiede auf . Reflektiert
auf eine übergeordnete Klasse „somatoformer Störungen ” erheben sich auch grundlegenderenosologische Fragen :
So kombiniert zunächst die ICD-10 somatoforme Störungen mit stressbezogenen und neurotischen Störungen, um eine Assoziation zum traditionellen Neurosenkonzept und eine hierbe i
unterstellte vorrangige Psychogenese zu bewahren .
Andererseits ist wiederum die Konversionsstörung aus der Klasse der somatoformen Störunge n
herausgenommen . Zusammen mit den dissoziativen Störungen wird sie in einer eigenen Gruppe geführt . Obwohl sie paradigmatisch eine „somatoforme Störung” im oben definierten Sinn e
verkörpert, ist der Tribut an das historische Hysterieverständnis für die ICD-io höherrangig al s
die schlüssige Eingliederung in die neue diagnostische Klasse . Ein weiterer Grund für die Ab trennung besteht in der relativ akuten und oft nur kurzfristigen Symptommanifestation de r
Konversionsstörung, während die übrigen somatoformen Störungen eine sehr viel stärkere Tendenz zur Chronizität aufweisen .
Als eigenständige diagnostische Kategorie wird in der ICD-ro ferner die „somatoforme autonome Dysfunktion” geführt, die kein Analogon im DSM-IV besitzt . Die subkategorisierende
Orientierung an traditionellen Organsystemen verrät eine originäre internistische Konzeptualisierung . Für die einzelnen medizinischen Fachdisziplinen besitzen diese „funktionellen Störungen” mit labiler vegetativer Innervierung einen wichtigen differenzialdiagnostischen Stellen wert (s. oben) .
Die körperdysmorphe Störung hingegen verliert in der ICD-io ihre kategoriale Selbständigkei t
und wird unter die hypochondrische Störung subsumiert .
Die Neurasthenie, die im Wesentlichen synonym für das Müdigkeitssyndrom steht, wird in de r
ICD-io mit eingeschlossen, aber wenig konsistent nicht als somatoforme, sondern als getrennt e
Kategorie geführt .
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Tab. 1 Multidimensionales Beschreibungssystem von Somatisierungssymptomen un d
Somatisier t•~ +v :J r~+, . (Nach Mayou et al . [23] )
Körperliche Symptome/Beschwerden
Typu s
Anzahl : mono-/oligo- vs. polysymptomatisch,
Verlauf : akut vs. chronisc h
Krankheitspathologie/Pathophysiologie
Koexistent, komorbi d
Gesundheitsüberzeugungen
HypochondrischeÄngste/Überzeugungen ,
externalisierende Attributionen z . B . an Umwelt ,
subjektive Krankheitskonzepte (psychologisch vs . organisch )
Krankheitsverhalten
Kontaktverhalten zu Ärzten/medizinischen Einrichtungen ,
selbstdestruktive Dimension (Anzahl invasiver Eingriffe, Suizidalität ,
offene/heimliche Selbstschädigung, chronische Schmerzen )
Assoziierte psychiatrische Störungen
z . B . Angst, Depression, Substanzmissbrauch, Dissoziation
Psychosoziale Stressoren
akut vs . chronisch, Hinweise auf Traumatisierunge n
Soziale Faktoren/Konsequenzen
Sekundärer Krankheitsgewinn ,
Schadensansprüche ,
psychosoziale Behinderungen ,
Arbeitsunfähigkeit, Berentun g
Symptomkontrolle
somatoform/funktionell - artifiziell - simulier t
Aktuelle Diskussion zur diagnostischen Kategorie der somatoformen Störunge n
Gegen die künftigen Versionen vo n
DSM-V und ICD-11 werden bez .
Konzeptualisierung und Klassifikatio n
kritische Argumente vorgebrach t
Der Vorschlag einer Neuplatzierung
sieht vor, die " Hypochondrie" al s
„Gesundheitsangststörung” innerhal b
der Angststörungen zu führen, vo n
der,,Krankheitsfurcht" aber als eine r
speziellen Phobie abzugrenzen
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Die diagnostische Kategorie der „somatoformen Störungen” erfuhr seit Einführung durch das DSMIII auch zahlreiche Kritik . In der Vorbereitungsphase auf die künftigen Versionen von DSM-V un d
ICD-11 hat derzeit die Kontroverse um Konzeptualisierung und Klassifikation noch an Heftigkeit
zugenommen [12, 20, 23, 32] . Die vorgebrachten kritischen Argumente sind hierbei recht unter schiedlicher Natur [14] :
vorrangige psychosoziale Konzeptualisierung der somatoformen Störungen unter Vernachlässigung wichtiger neurobiologischer Einflussfaktoren ,
keine eindeutige Qualifizierung von „medizinisch unerklärt”,
fehlende konzeptuelle Klarheit angesichts der großen Heterogenität der Störungsgruppe ,
nur oberflächliche Aufsummierung von körperlichen Symptomen ohne Beachtung wichtige r
Dimensionen des Krankheitsverhaltens ,
schwierige interne Abgrenzung der einzelnen somatoformen Störungen, problematische externe Differenzierung gegenüber dissoziativen, artifiziellen, affektiven und Angststörungen ,
unklare Zuordnung einzelner somatoformer Störungen (z . B . Somatisierungsstörung, Hypochondrie) zu Achse-I- vs. Achse-Il-Störungen,
geringe Praktikabilität und Nützlichkeit der diagnostischen Gruppe der somatoformen Störungen in der primärärztlichen Versorgung ,
schwierige Übersetzbarkeit der „funktionellen Körpersyndrome der klinischen Medizin ” in di e
psychiatrische Störungsgruppe der „somatoformen Störungen” .
Aus diesen zahlreichen Kritikpunkten an der derzeitigen Fassung der diagnostischen Gruppe „somatoformer Störungen” werden unterschiedliche Konsequenzen für künftige Revisionen in den psychiatrischen Klassifikationssystemen (DSM-V, ICD-11) gezogen .
Der radikalste Veränderungsvorschlag für ein künftiges DSM-V stammt von Mayou und Kolle gen [23] . Er beinhaltet wesentlic h
eine Umverteilung der derzeit unter den „somatoformen Störungen” subsumierten Einzelstörungen und Platzierung an anderen Orten des Klassifikationssystems sowi e
eine Forderung nach Erweiterung der einzelnen kategorialen Diagnosen um eine Beschreibun g
innerhalb eines multidimensionalen Systems .
Der Vorschlag einer Neuplatzierung sieht vor, die „Hypochondrie ” als „Gesundheitsangststörung”
innerhalb der Angststörungen zu führen, von der „Krankheitsfurcht” aber als einer speziellen Phobie abzugrenzen . Die „körperdysmorphe Störung ” ließe sich günstiger bei den Zwangsstörungen ein ordnen, die „Konversionsstörung” wiederum mit den dissoziativen Störungen vereinen, wie es bereit s
die ICD-10 vorgegeben hat. Die folgenreichste Veränderung würde aber die diagnostischen Subgrup -
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pen „Somatisierungsstörun g”, „undifferenzierte somatoforme Störun g”, „Schmerzstörun g” und in erweiterter Sicht auf die ICD auch die „somatoforme autonome Dysfunktion” und die „Neurastheni e”
betreffen . Diese Subkategorien, die bisher in diagnostischer Hinsicht wesentlich eine Registrierun g
der Anzahl von einander phänomenologisch doch recht ähnlichen körperlichen Symptomen ohn e
ausreichende medizinische Erklärung erforderten, würden innerhalb eines Kontinuums vereinheitlicht als „somatische Symptome” oder als „funktionelle somatische Syndrome ” in Achse-III aufgeführt und damit so behandelt, wie es derzeit auch als Kodierung für die bekannten Somatisierungssyndrome der klinisch-somatischen Medizin wie z. B . Colon irritabile oder chronisches Müdigkeits syndrom schon möglich ist . Koexistente psychische Störungen würden weiterhin als Achse-I-Diagnosen erfasst, nachweisbare psychosoziale Belastungen einschließlich der bei „somatoforme r” Pati enten häufig beobachteten nachteiligen Interaktionen mit Ärzten und medizinischen Einrichtungen
in Achse-IV registriert . Auch spezielle Varianten einer Persönlichkeitsstörung, wie sie beispielsweise
für Fälle einer „Somatisierungsstörung ” diskutiert werden, könnten als Achse-Il-Diagnose kodiert
werden . Als bedeutsame Modifikation ist auch die Forderung nach einer multidimensionalen Beschreibung des individuellen Patienten mit somatoformen Beschwerden und Symptomen anzusehen . Diese beinhaltet eine detaillierte Beurteilung des klinischen Schweregrads und der biopsychosozialen Komplexität der Symptomatik, wie sie gerade im konsiliarpsychiatrischen und psychosoma tischen Arbeitsfeld unerlässlich ist (0 Tab. 1) .
Die zur Debatte gestellte radikale Neugliederung der somatoformen Störungen ist innerhalb de r
wissenschaftlichen Kommunität nicht unwidersprochen geblieben . In der Tat würde eine de facto Abschaffung der diagnostischen Hauptkategorie „somatoformer Störunge n” in Achse-I vielerorts als ein
Rückschritt hinter die Bemühungen des DSM-III angesehen werden, jene diagnostisch zwar sehr he terogene, aber in ihrer Versorgungsproblematik einheitlich herausfordernde Patientengruppe in einen übergeordneten klassifikatorischen Fokus zu stellen und damit eine konzentrierte wissenschaft liche Bearbeitung überhaupt erst anzustoßen [10, 27, 32] . Es ist derzeit noch nicht absehbar, welche
diagnostischen Modifikationen sich letztlich in den künftigen Versionen von DSM-V und ICD-11
durchsetzen werden . Eine Reihe von konzeptuellen Alternativmodellen, die einerseits wichtige Kritikpunkte berücksichtigen, sich andererseits aber weiter um den Erhalt einer eigenständigen diagnostischen Hauptkategorie bemühen, existiert aber schon [4, 5, 18, 28] .
Eine bedeutsame Modifikation ist di e
Forderung nach einer multidimensionalen Beschreibung des individuelle n
Patienten mit somatoforme n
Beschwerden und Symptome n
Welche diagnostischen Modifi kationen sich durchsetzen werden ,
ist derzeit nicht absehba r
Klinik somatoformer Störunge n
Unabhängig von künftig erwartbaren Modifikationen sollen die derzeit in den psychiatrischen Klas sifikationssystemen von DSM-IV-(TR) und ICD-10 aufgeführten somatoformen Störungen in ihre n
grundlegenden klinischen Merkmalen kurz skizziert werden [15] .
Konversionsstörun g
Gegenüber anderen somatoformen Störungen, bei denen in erster Linie die Diagnose auf der Basis
von körperzentrierten Beschwerden gestellt wird, ist für die Konversionsstörung eine nachweisbare
körperliche Symptomatik zu fordern . Es imponieren klinisch neurologische Symptome der Willkürmotorik, der Sensorik/Sensibilität sowie Zustände einer gestörten Bewusstseinslage bei nichtepilep tischen „psychogenen” Anfällen . ► „Minussymptome" im Sinne definierter motorischer oder sensorischer/sensibler Funktionsverluste können von ► „Positivsymptomen" im Sinne von qualitativ
veränderten Bewegungsabläufen mit oder ohne assoziierte Bewusstseinsveränderung phänomenologisch unterschieden werden . Die Diagnose einer Konversionsstörung darf keine reine Ausschlussdi agnose sein. Dennoch beruht sie auf einer sehr sorgfältigen Erhebung des internistischen und neurologischen Status, die von der Durchführung notwendiger apparativer diagnostischer Maßnahmen gestützt sein muss . Klinisch ist zu beachten, dass Konversionssymptome häufig in einen Kontext allge meinmedizinischer oder neurologischer Erkrankungen eingebettet sind, ohne durch diese aber aus reichend erklärt zu werden. Dies gilt auch für eine beachtliche psychiatrische Komorbidität . Speziell weitere dissoziative Symptome sollten sorgfältig exploriert werden, da hierüber ein mehrheitlic h
komplizierter Verlauf assoziiert zu sein scheint.
Diagnostisch gilt das Hauptaugenmerk dem Nachweis eines ► psychologischen Stresses im Sinne
einer subjektiv bedeutsamen psychosozialen Belastung, Traumatisierung und/oder innerseelische n
Konfliktlage im unmittelbaren Vorfeld der körperlichen Symptombildung. Die sorgfältige neurolo -
Für die Konversionsstörung is t
eine nachweisbare körperlich e
Symptomatik zu forder n
► Minussymptom e
► Positivsymptom e
Die Diagnose darf keine rein e
Ausschlussdiagnose sei n
► Psychologischer Stres s
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► „Belle indifference”
Konversionssymptome können sich
im weiteren Verlauf durchaus als Prodromi einer verkannten oder noch
nicht objektivierbaren neuropsychiatrischen Krankheit erweisen
gische Bewertung der klinischen Phänomenologie unter Würdigung der objektiv erhobenen Befund e
ist weiterführend. Zeichen einer> „belle indifference”, einer prädisponierenden histrionischen Primärpersönlichkeit sowie eines ausgeprägten sekundären Krankheitsgewinns können die Diagnosestellung im Einzelfall zusätzlich erleichtern . Gleichzeitig darf aber von diesen Zeichen keine bewei sende Wertigkeit erwartet werden . Von höherer diagnostischer Validität sind Hinweise auf früher e
Somatisierungsphänomene in der biographischen Entwicklung, eine assoziierte Psychopathologie ,
ein interpersonelles Modell für die Symptombildung, emotionaler Stress oder Traumaexposition i n
der Auslösesituation .
In die Verlaufsprognose gehen psychiatrische Komorbidität, assoziierte Persönlichkeitsstörung,
resultierende psychosoziale Behinderung, inadäquate medizinische Inanspruchnahme, hohes iatrogenes Schädigungsrisiko, rasche Verfügbarkeit und Akzeptanz geeigneter psychiatrischer und psychotherapeutischer Behandlungsangebote bedeutsam ein . Als allgemein prognostisch günstige Faktoren können angesehen werden : ein akuter Symptombeginn mit einer klar identifizierbaren psycho sozialen Belastung, ein kurzes Intervall zwischen Beginn der Symptomatik und erfolgender psychia trischer Behandlung, eine gute Intelligenz . Für eine Subgruppe mit chronisch-persistierenden Kon versionssyndroinen müssen komplexe psychiatrische Komorbiditäten und ausgeprägte psychosozi ale Behinderungsgrade festgehalten werden .
Konversionssymptome können sich im weiteren Verlauf durchaus als Prodromi einer verkannte n
oder noch nicht objektivierbaren neuropsychiatrischen Krankheit erweisen . Neurologische Fehldiagnosen sind bei Erstmanifestationen möglich, aber unter den Bedingungen einer modernen Diagnostik v. a . subtiler bildgebender und neurophysiologischer Verfahren heute eher selten .
Somatisierungsstörun g
Der Krankheitsverlauf ist
häufig chronisch
Die Symptome haben entscheidende
Konsequenzen für die Inanspruchnahme vielfältiger Ärztekontakte
► Somatischer Symptomindex
Eine sorgfältige Abgrenzung
gegenüber organischen
Erkrankungen ist vorzunehmen
Der Beginn der Erkrankung liegt
meist in der Spätadoleszenz und im
jungen Erwachsenenalter
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Die Patienten weisen im Laufe ihres Lebens multiple organbezogene Symptomkomplexe auf, für di e
keine ausreichende medizinische Erklärung gefunden wird . Der Krankheitsverlauf ist häufig chro nisch. In zeitlich variierender Abfolge können gastrointestinale, kardiopulmonale, pseudoneurologische, psychosexuelle, gynäkologische und Schmerzsymptome beklagt werden . Diese Symptom e
haben entscheidende Konsequenzen für die Inanspruchnahme vielfältiger Ärztekontakte, führen z u
mannigfaltigen diagnostischen Prozeduren und internistischen wie chirurgischen Therapien und be dingen einen kaum mehr überschaubaren Gebrauch von unterschiedlichen Medikamenten .
Eine Diagnosestellung führte in der Vergangenheit infolge divergierender diagnostischer Krite rien in DSM und ICD zu sehr unterschiedlichen Häufigkeitsangaben . Eine ursprünglich sehr hoc h
angesetzte Schwelle zu erfüllender körperlicher Symptome aus mehreren unterschiedlichen Organsystemen definierte zwar eine relativ homogene Patientengruppe, die aber epidemiologisch unbedeutsam erschien . Die Restkategorie einer „undifferenzierten somatoformen Störung ” hingegen er langte durch diesen diagnostischen Algorithmus eine zahlenmäßig dominante Rolle . Hohe Überlap pungen mit Angst- und depressiven Störungen sowie große Heterogenität zeichnen wiederum aber
diese diagnostische Gruppe aus . Ein variabler gestalteter ► somatischer Symptomindex (SSI) oder
die Definition eines „multiplen somatoformen Syndroms ” stellen gegenüber der Somatisierungsstörung einen alternativen und in der ärztlichen Versorgung praktikableren diagnostischen Zugang dar .
Eine sorgfältige Abgrenzung gegenüber organischen Erkrankungen wie z . B . Encephalitis dissemi nata, HIV/AIDS, Lupus erythematodes oder akute intermittierende Porphyrie, die besonders in ih ren Prodromalstadien chamäleonartige Symptombilder und Körperbeschwerden verursachen können, ist vorzunehmen . Hilfreich in der differenzialdiagnostischen Entscheidung für eine Somatisierungsstörung sind: früher Beginn, mehrjähriger Verlauf von Symptomen in unterschiedlichen Organsystemen, kein Nachweis struktureller Veränderungen, fehlende auffällige Laborparameter trot z
persistierender Beschwerden .
Der Beginn der Erkrankung liegt meist in der Spätadoleszenz und im jungen Erwachsenenalter.
Der Krankheitsverlauf zieht sich oft in fluktuierender Intensität chronisch durch das ganze Leben .
Eine ungünstige Prognose ist häufig gegeben . Die Diagnose einer Somatisierungsstörung ist selbs t
bei Längsschnittsbeobachtungen zwischen 6 und 12 Jahren erstaunlich stabil .
Eine Subgruppe von Patienten mit einer Somatisierungsstörung unterzieht sich im Krankheitsverlauf exzessiven medizinischen Untersuchungen, absolviert zahlreiche medikamentöse Therapie n
und weist eine erhöhte Rate von operativen Eingriffen auf .
CM E
Von allgemeiner klinischer Bedeutung ist, dass eine nachweisbare Somatisierungsstörung mit zusätzlichen organischen Erkrankungen einhergehen kann, bei einer koexistenten somatischen Komor bidität das Krankheitsgefühl z . T. extrem ausgeprägt ist, aber trotz einer oft lebenslangen Morbiditä t
die Mortalitätsrate im Langzeitverlauf nicht exzessiv erhöht ist . Im Vergleich zu Patienten mit orga nischen Krankheiten weisen Patienten mit einer Somatisierungsstörung einen wesentlich höhere n
psychosozialen Behinderungsgrad auf.
Wichtige zusätzliche psychiatrische Implikationen ergeben sich aus der Tatsache, dass Patiente n
mit einer Somatisierungsstörung sowohl im aktuellen Beschwerdebild als auch in der Lebenszeit perspektive eine erhöhte Komorbidität bzw . Koexistenz hinsichtlich weiterer psychischer Störunge n
wie Depression, Angst, Panik, Zwang, Drogen-, Medikamentenmissbrauch, Suizidalität, dissoziative Identitätsstörung und diverse Persönlichkeitsstörungen zeigen . Meist müssen diese ► koexistenten psychiatrischen Störungen als Folgeerkrankungen einer Somatisierungsstörung eingestuft
werden . Koexistente psychiatrische Störungen oder Persönlichkeitsstörungen bestimmen nicht nu r
den Schweregrad einer Somatisierungsstörung . Sie sind auch mit einer insgesamt negativeren Verlaufsprognose verknüpft .
Im Vergleich zu Patienten mi t
organischen Krankheiten weise n
Patienten mit einer Somatisierungsstörung einen wesentlich höhere n
psychosozialen Behinderungsgra d
au f
► Koexistente psychiatrische
Störungen
Somatoforme autonome Funktionsstörung
Störende Symptome einer autonom-vegetativen Dysregulation kennzeichnen in der ICD-10 die dia gnostische Rubrik der „somatoformen autonomen Funktionsstörung”. Diese diagnostische Kategorie verweist zum einen auf typische organbezogene Symptomkomplexe im kardiovaskulären, obere n
und unteren gastrointestinalen, respiratorischen sowie urogenitalen System . Sie kann zum anderen
auch ein allgemeines psychovegetatives Syndrom umfassen, in dem anatomisch schwer lokalisier bare Beeinträchtigungen der körperlichen Befindlichkeit mit Müdigkeit, Erschöpfbarkeit, Nervosität, Kopfdruck, Schwitzen, Zittern und Unruhe imponieren und mit diffusen seelischen Beschwer den wie angstvolle Spannungszustände, Dysphorie oder Unlust kombiniert sind .
Die Einführung einer eigenständigen diagnostischen Kategorie der somatoformen autonome n
Funktionsstörung bot zunächst den Vorteil, dass organzentrierte Funktionsstörungen, die beispielsweise als „Herzneurose”, „Hyperventilationssyndrom” oder „Colon irritabil e” in den einzelnen inter nistischen Spezialitäten als typische „funktionelle Körpersyndrom e ” identifiziert werden, eine rasch e
Entsprechung innerhalb eines psychiatrischen Klassifikationssystems finden konnten . Dies galt auch
für die diagnostische Einstufung von Patienten, die jenes in der ärztlichen Praxis so oft angetroffen e
Syndrom einer ► allgemeinen vegetativen Labilität aufweisen . Mit dieser kategorialen Übersetzung
aus einem medizinischen Diagnosesystem in ein psychiatrisches Klassifikationsschema waren abe r
die bereits angedeuteten inhärenten konzeptuellen Probleme selbstverständlich nicht gelöst (s . oben) .
Auch bestehen große ► differenzialdiagnostische Abgrenzungsprobleme etwa zur Somatisierungsstörung (mit variablem Symptomindex), zur Schmerzstörung und Neurasthenie, ferner zur generali sierten Angststörung, besonders zur Panikstörung und zur depressiven Störung .
► Allgemeine vegetative Labilitä t
► Differenzialdiagnostisch e
Abgrenzungsprobleme
Schmerzstörun g
Schmerz ist das häufigste Symptom in den unterschiedlichen medizinischen Versorgungskontexte n
und ist sowohl mit körperlicher als auch psychischer Krankheit assoziiert . Schmerz drückt eine seh r
persönliche Empfindung mit eigenen Bedeutungen und Verhaltensweisen aus . Ein mittlerweile hoch
differenziertes neurophysiologisches Modell der Entstehung und Wahrnehmung von Schmerz richte t
sich klar gegen ein dualistisches Verständnis von Schmerz als Folge einer organischen Pathologie ei nerseits, als Konsequenz psychologischer Faktoren andererseits . Gerade diese dualistische Sichtwei se bedingte in frühere diagnostische Fassungen einer „somatoformen Schmerzstörung ” große konzeptuelle Probleme . Die im DSM-IV(-TR) formulierten diagnostischen Kriterien einer „Schmerzstörung ” weisen gewisse Vorteile gegenüber jenen in der ICD-10 auf :
prominenter Schmerz in einer oder mehreren Körperregionen als Hauptfokus der Beschwerde n
und mit für eine klinische Beachtung hinreichender Intensität ,
infolge der Schmerzen klinisch bedeutsames Leiden oder Behinderung in sozialen, berufliche n
oder anderen wichtigen Funktionsbereichen ,
wichtige Rolle psychologischer Faktoren bei der Entstehung, Exazerbation und Aufrechterhal tung des Schmerzes,
Schmerz ist sowohl mit körperliche r
als auch psychischer Krankheit
assoziier t
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keine artifiziell induzierten oder simulierten Symptome und Behinderungen ,
keine bessere Erklärung durch Stimmungs-, Angst- oder psychotische Störungen und auch keine ausschließliche Dyspareunie ,
klassifikatorische Unterscheidung einer Schmerzstörung, die vorrangig mit psychologische n
Faktoren assoziiert ist, einer Schmerzstörung, die vorrangig mit organmedizinischen Bedingungen assoziiert ist und einer Schmerzstörung, bei der beide Aspekte kombiniert vorliegen ,
akuter Typus bei Verlaufsdauer unter 6 Monaten ,
chronischer Typus bei Verlaufsdauer von 6 und mehr Monaten .
In dieser diagnostischen Fassung ist der künftige klassifikatorische Weg einer Schmerzstörung au s
der Gruppe der somatoformen Störungen hin zu einer bisher eher wenig verwendeten diagnostische n
Gruppe „psychologische Faktoren, die einen medizinischen Krankheitsfaktor beeinflussen” vorge zeichnet, die in einer künftigen DSM-V-Revision eine deutliche Aufwertung erfahren wird [3] . Das
Das Klassifikationssystem von ICDKlassifikationssystem von ICD-10 zielt in seinem diagnostischen Verständnis per se auf eine Chro 10 zielt in seinem diagnostischen
nizität der Schmerzstörung . Das DSM-IV(-TR) bietet auch die Kodierungsmöglichkeit eines „akute n
Verständnis auf eine Chronizität der
Schmerzstörung Verlaufstypus”. Diese Patienten werden aber allenfalls in einer sich dramatisch zuspitzenden Arzt-Patienten-Beziehung sporadisch einem Konsiliarpsychiater vorgestellt . In der Regel werden Schmerzpa tienten meist erst nach einem mehrjährigen Verlauf auch von einem Psychiater gesehen . In der Konzeptualisierung der chronischen Schmerzkrankheit empfiehlt es sich, stets von einer komplexen psy chologischen, sozialen und organischen Multikonditionalität auszugehen . Im Verlauf eigenständi g
zu beachten sind häufig koexistente Angst- und depressive Störungen . In einer ärztlichen Perspekti► latrogene Schädigung
ve ist v. a . die Möglichkeit einer ► iatrogenen Schädigung im Krankheitsverlauf eines Schmerzpatienten zu bedenken . Hier sind in erster Linie die potenziell negativen Folgen eingreifender diagnos tischer und therapeutischer Maßnahmen wie operativer Interventionen aufzuführen . Außerdem besteht die Gefahr multipler Verschreibungen von tranquilisierenden und analgetischen Substanzen ,
die nicht selten einen Benzodiazepin- und Schmerzmittelabusus induzieren .
Neurasthenie
Neurasthenie umschreibt syndromal einen Zustand einer anhaltenden übersteigerten Müdigkei t
und Erschöpfung, einer exzessiven Ermüdbarkeit selbst nach geringen seelischen und körperliche n
Anstrengungen . Fluktuierende Konzentrationsstörungen, muskuläre Schwächen, lokalisierte un d
generalisierte Muskelschmerzen und andere körperliche Missempfindungen sind häufige Begleitsymptome.
Der diagnostische Status der Neurasthenie war in den bisherigen psychiatrischen Klassifikations systemen sehr fluktuierend . Aktuell wird die Neurasthenie lediglich in der ICD-10 geführt . In de m
► Chronisches Müdigkeitssyndrom
ursprünglich als reines Forschungskonstrukt eingeführten ► „chronischen Müdigkeitssyndrom "
(„chronic fatigue syndrom e" /CFS) erwuchs mittlerweile ein bedeutsames Alternativkonzept . Der in itiale medizinische Beobachtungskontext konzentrierte sich v . a . auf Verläufe nach Infektionen . Seit
der Definition durch die „Centers for Disease Control (CDC ) ” erlangte das „chronische Müdigkeits syndrom” aber, nicht zuletzt durch seine große Publizitätsträchtigkeit, fast den Stellenwert einer neu en nosologischen Entität . Es ist davon auszugehen, dass die in der Neurasthenie bzw . im CFS ent haltenen zentralen Symptome von Müdigkeit und Erschöpfung zwar eine eigenständige psychopa Das CFS-Syndrom kann nach körperthologische Wertigkeit beanspruchen können, sowohl in der Allgemeinbevölkerung als auch in un lichen Erkrankungen wie z . B . viralen
Infekten, aber auch nach und im Konterschiedlichen klinischen Settings häufig verbreitet sind, aber keinesfalls einem homogenen Krank text unterschiedlicher psychiatrischer
heitsbild zuzuordnen sind. Das Syndrom einer „chronischen Müdigkeit ” kann nach körperliche n
Störungen auftreten Erkrankungen wie z . B . viralen Infekten, aber auch nach und im Kontext unterschiedlicher psychiatrischer Störungen auftreten . Breite Übergänge zu affektiven, Angst-, somatoformen und Persönlichkeitsstörungen müssen hierbei klassifikatorisch im Auge behalten werden . Gerade beim CFS sin d
aber auch gewichtige kulturelle und gesellschaftliche Einflüsse zu beachten, die zur Konzeptualisie ► „Modekrankheiten"
rung „neuzeitlicher Diagnosen” und ► „Modekrankheiten" beitragen können .
Differenzialdiagnostisch ist eine Reihe von somatischen Erkrankungen zu bedenken, die ein e
ausgeprägte Müdigkeit verursachen können, wie z . B. Karzinome, akute virale Infektionen, Herz- ,
Lungen-, rheumatologische, Autoimmunerkrankungen, Hypothyreoidismus, Morbus Addison, Anämien, entzündliche/metabolische Myopathien, Myasthenia gravis, Verletzungen des ZNS, Encephalitis disseminata, Lyme-Borreliose, Schlafapnoesyndrom, Narkolepsie, zahlreiche Medikament e
Neurasthenie umschreibt
syndromal einen Zustand einer
anhaltenden übersteigerten
Müdigkeit und Erschöpfung
106 I
Der Nervenarzt 1 . 2008
(z. B . Antihistaminika, (3-Blocker, Diuretika, Kalziumkanalblocker, Benzodiazepine, Trizyhlika, Neu roleptika, Lithium, Narkotika, Alkohol, andere Drogen), Schwermetalle, chemische Lösungsmittel ,
Pestizide . Die differenzialdiagnostische Abgrenzung gegenüber depressiven Störungen (Major-De pression, Dysthymie, saisonale affektive Störung) oder Angststörungen (Panikstörung, generalisierte Angststörung) gelingt nicht immer leicht . Sehr häufig müssen diese psychischen Störungen auch
als eine Komorbidität festgehalten werden, da sie z. B . in den unterschiedlichen CFS-Definitionen
Ausschlusskriterien darstellen . Auch gegenüber einer Reihe von somatoformen Störungen (Somatisierungsstörung, Hypochondrie, spezielle funktionelle Körpersyndrome wie v . a. Fibromyalgie, Colon irritabile) bestehen differenzialdiagostische Abgrenzungsprobleme . Zudem müssen in vereinzel ten Fällen auch Zwangsstörungen, hypochondrische Wahnstörungen, Suchterkrankungen und Persönlichkeitsstörungen bedacht werden .
Zu einem chronischen Verlauf und einer negativen Prognose scheinen ein ► organisch fixiertes
Krankheitskonzept mit strikter Ablehnung jeglicher psychosozialer Einflüsse, unbehandelte depressive und Angststörungen, zusätzliche somatoforme Störungen, begleitende somatische Erkrankungen, iatrogene Einflüsse durch „bestätigende” immunologische, infektiologische oder umweltto xische „Befund e” sowie Engagement in vorrangig an Umwelteinflüsse externalisierenden Selbsthilfeorganisationen beizutragen .
Die differenzialdiagnostisch e
Abgrenzung gegenüber depressive n
Störungen oder Angststörunge n
gelingt nicht immer leich t
► Organisch fixiertes
Krankheitskonzep t
Hypochondri e
Patienten mit Hypochondrie zeichnen sich charakteristischerweise durch eine besondere Wahrnehmungssensibilität gegenüber normalen körperlichen Sensationen aus, die sie als Anzeichen von be fürchteten schwerwiegenden Erkrankungen interpretieren . Diese grundlegende perzeptiv-kognitive Einstellung bedingt vielfältige, medizinisch unerklärte körperliche Symptome . Es herrscht ein e
► quälende Krankheitsfurcht bzw . -überzeugung vor, die häufig auch nach eingehender ärztlicher
Untersuchung und Versicherung persistiert .
Die meisten hypochondrischen Patienten klagen über multiple, medizinisch unerklärte Symp tome . Am häufigsten hierunter sind muskuloskeletale, gastrointestinale und zentralnervöse Symptome . Typische Körpersensationen, die leicht in den Fokus einer hypochondrischen Amplifikatian geraten können, sind: normale physiologische und anatomische Variationen (orthostatisch bedingte Tachykardie, kurzer Atem bei körperlicher Anstrengung, Inkonsistenzen im Bindegeweb e
der Mammae), benigne Dysfunktionen und Allerweltsbeschwerden (Tinnitus, Schluckauf, Durch fall, Kopfschmerz), somatische Korrelate bzw. Konsequenzen intensiver Affekterlebnisse (Harndrang
bei Angst, Erröten bei Beschämung, kardiovaskuläre Unregelmäßigkeiten bei Ärger) sowie jeglich e
Symptome von ernsten Organkrankheiten.
Der diagnostisch konzeptuelle Status der Hypochondrie ist umstritten . Vor allem die Tatsache,
dass hypochondrische Syndrome häufig sowohl bei einer Reihe anderer psychiatrischer Störunge n
als auch bei zugrunde liegenden organischen Erkrankungen auftreten können, trägt hierzu bei . Eine
Unterscheidung in eine primäre Hypochondrie und sekundäre Hypochondrien wird klinisch derzeit akzeptiert . Eine primäre Hypochondrie ist im Verständnis der aktuellen psychiatrischen Klassifikationssysteme eine häufig zur Chronizität neigende somatoforme Störung . Sie ist sowohl im Verständnis von DSM-IV(-TR) als auch von der ICD-10 von einer „Krankheitsphobie ”, also einer phobischen Vermeidung von allem, was konnotativ mit „Krankheit ”, „Krankheitserregern`, „krankheitsbezogenen Informationen ` usw. verbunden ist, abzugrenzen . Eine solche Krankheitsphobie wird al s
„spezielle Phobie ” verstanden . Die starke Überlappung mit diversen Angststörungen, Zwangsstörungen, aber auch depressiven Störungen wird in künftigen Klassifikationssystemen möglicherweise z u
einer anderen kategorialen Positionierung führen (s . oben) .
Wenn die hypochondrischen Beschwerden integrale Symptome einer anderen psychiatrische n
Erkrankung oder eine erlebnisreaktive Folge auf eine somatische Erkrankung sind, dann wird hierüber auch die Verlaufsdynamik bestimmt . Es muss klinisch aber beachtet werden, dass depressive
oder dysphorische Syndrome auch sekundär im Kontext einer anhaltend hilf- und hoffnungslos erlebten Hypochondrie auftreten können . Und Ärger mag auch das Ergebnis bei ungeminderten Beschwerden, widersprüchlichen Diagnosen, unwirksamen Therapien und nicht zuletzt unverständigen und ablehnenden Ärzten sein. Hypochondrische Patienten mit psychiatrischer Komorbidität,
pathologischen Symptomattributionsstil und interpersoneller Vulnerabilität besitzen eine insgesam t
ungünstigere Prognose.
► Quälende Krankheitsfurcht/-
überzeugung
Am häufigsten sind muskuloskeletale ,
gastrointestinale und zentralnervös e
Symptome
Eine Unterscheidung in eine primär e
Hypochondrie und sekundäre Hypo chondrien wird klinisch akzeptier t
Hypochondrische Patienten mi t
psychiatrischer Komorbidität, patho logischen Symptomattributionssti l
und interpersoneller Vulnerabilitä t
besitzen eine ungünstigere Prognose
Der Nervenarzt 1 • 2008
107
Somatische Krankheit
Physiologische Irritation
Psychische Störun g
Psychosozialer Stres s
v
Krankheitskonzept
Persönlichkeit
oAlexithymi e
° Verdrängung vs .
oSensitivierung
° Schmerzschwell e
° Wahrnehmungssti l
° Aufinerksamkeitsfoku s
° Beziehungsmuster
Affektzuständ e
° Krankheitserfahrunge n
1—10' 0 Traumaexpositionen
1
° Gesundheitseinstellungen, - wisse n
° soziales Lerne n
° kulturelle Normen
° Depression / Dysphorie
° Panik / Angs t
° Aggressio n
° „negative Affektivität”
Neurobiologische Mechanisme n
° Geneti k
° Geschlech t
° dysfunktionale HPA-Achs e
° Neurotransmitterdysfunktione n
° immunologische Dysfunktione n
° somatische Sensitivierun g
Körperlicher Distres s
Emotionales Arousa l
Krankheitsverhalte n
° körperbezogenes Kontrolliere n
° Hilfesuchverhalte n
° Beschwerdesti l
° Rückversicherun g
° körperliche Schonun g
° Krankheitsgewin n
° soziale Verstärkun g
° soziale Behinderun g
♦
A
Gesundheitsversorgungssyste m
° Arztbesuche / Doctor shoppin g
° medizinische Untersuchunge n
° somatisch-medizinische Therapien
Abb . 1 ♦ Multifaktorielles Bedingungsmodell des Somatisierungsverhaltens . (Mod. nach Kapfhammer [15])
Körperdysmorphe Störun g
Patienten mit körperdysmorphen Beschwerden werden in psychiatrischen
Praxen und Kliniken relativ selten gesehen
108
1
Der Nervenarzt 1 . 2008
Die körperdysmorphe Störung lässt sich als eine überwertige oder wahnhafte Überzeugung beschreiben, dass ein Körperteil verunstaltet sei, obwohl er objektiv als normal erscheint . Es liegen allenfall s
geringfügige Anomalien vor . Trotzdem besteht subjektiv das Gefühl, hässlich zu sein, einen ästhetischen Mangel im äußeren körperlichen Erscheinungsbild zu zeigen, der in den Augen der andere n
zur Zielscheibe von Spott, Verachtung und Beschämung werde . Syndromal imponiert also eine Stö rung des Körperbildes in seinen subjektiven und interpersonalen Dimensionen . Während das DSM IV die körperdysmorphe Störung als eine eigenständige Kategorie der „somatoformen Störungen ” be handelt, wird sie in der ICD-10 als eine Variante der hypochondrischen Störung gesehen . Patienten
mit körperdysmorphen Beschwerden werden in psychiatrischen Praxen und Kliniken relativ selte n
Auslöser / Trigge r
Körperliche Veränderungen
(z .B . physiologische Erregung,
körperliches Symptom ,
Aufmerksamkeitszuwendung )
(physiologische Reaktionen, körperlich e
Missempfindungen, Symptome )
r
Symptomverstärkun g
Wahrnehmung
(erhöhte Aufmerksamkei t
gegenüber Körper)
Krankheitsverhalten
(„Checking" des Körpers,
übermäßige Beschäftigung mi t
Gesundheit / Krankheit ,
Medikamenteneinnahme ,
Arztbesuche, medizinische
Untersuchungen)
Kognitive Interpretatio n
1
(körperliche Reaktionen als bedrohlich e
Krankheitszeichen interpretiert ; al s
unerträglich erlebt ; als persönlich weni g
beeinflussbar erlebt)
Abb . 2 ♦ Kognitiv-behaviorales Modell des Somatisierungsverhaltens . (Mod . nach Rief [26] )
gesehen . Sie stellen sich wesentlich häufiger in einem dermatologischen oder kosmetisch-chirurgischen Behandlungsrahmen vor. Typischerweise beginnen körperdysmorphe Beschwerden in de r
Adoleszenz . Zwar kann bereits in der Frühadoleszenz entwicklungs- und reifungsbedingt sowohl be i
Jungen als auch bei Mädchen relativ häufig eine Besorgnis um die Adäquatheit und Integrität des kör perlichen Erscheinungsbildes bestehen ; diese ist bei der Mehrheit der Pubertierenden aber nur vo n
passagerer Natur. Bei wenigen Jugendlichen entsteht hieraus ein körperdysmorphes Syndrom, da s
dann allerdings klinisch häufig eingebettet ist in andere psychische Störungen wie depressive, Angst- ,
posttraumatische und dissoziative Störungen . Der Zusammenhang mit einem ► gestörten Essverhalten ist gerade bei jungen Frauen zu beachten . Bei Frauen existiert aber auch ein zweiter Häufig keitsgipfel in den ► menopausalen Jahren mit starker Assoziation von körperdysmorphen Beschwerden und affektiven Störungen .
Die Diskussion einer nosologischen Nähe zum Spektrum der Zwangsstörung ist noch nicht ab schließend zu beurteilen. In einer Perspektive der psychiatrischen Komorbidität sind weitere Assoziationen zur Major-Depression, speziell zu einer atypischen Depression, zur sozialen Phobie, zu Ess störungen und zu Substanzmissbrauch als bedeutsam hervorzuheben .
Verlauf und Prognose sind abhängig von der psychiatrischen Grunderkrankung bzw. der psychodynamischen und psychosozialen Ausgangslage. Bei der körperdysmorphen Störung besteht aber
insgesamt eine starke Neigung zur Chronizität .
► Gestörtes Essverhalten
► Menopaus e
Bei der körperdysmorphen Störun g
besteht eine starke Neigung zu r
Chronizitä t
Ätiopathogenese
Somatoforme Störungen werden heute vorteilhaft innerhalb eines multifaktoriellen Entstehungsmo dells beschrieben, indem zahlreiche psychosoziale und neurobiologische Einflussfaktoren eigenständig thematisiert werden (0 Abb. 1 ; [15]) . Für das aktualgenetische Verständnis von somatoformen
Beschwerden und Symptomen erscheint es vorteilhaft, zahlreiche Einflussfaktoren in einem dynamischen Zusammenspiel zu konzipieren (0 Abb. 2) . Ein solches Modell ist auch für eine kognitivbehaviorale Therapieplanung grundlegend (s . unten) .
Psychosozialer Stress
Die vorliegende empirische Literatur lässt wenig Zweifel daran, dass psychosozialer Stress eine entscheidende Rolle in der Auslösung, Exazerbation und Aufrechterhaltung von Somatisierungsverhalten spielt. Psychosozialer Stress kann sowohl unter Aspekten negativer Lebensereignisse, chronischer
Psychosozialer Stress spielt eine entscheidende Rolle in der Auslösung ,
Exazerbation und Aufrechterhaltun g
von Somatisierungsverhalte n
Der Nervenarzt 1 • 2008
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psychosozialer Belastungen, reduzierten Copingverhaltens und mangelnder Unterstützungsressourcen konzeptualisiert werden . Hierbei ist eine Vermittlung möglich, die entweder direkt ein Somatisierungsverhalten anstößt oder aber erst über eine primäre psychische Störung (z . B . Angst-, depres sive Störung) ein solches fördert .
Persönlichkeitsdimensionen
Exzessive Gesundheitssorgen, hypochondrische Einstellungen, eine ausgeprägte negative Affektivi tät, Alexithymie können als Persönlichkeitseigenheiten zur Entwicklung von funktionellen somatischen Symptomen prädisponieren .
Entwicklungseinflüsse des sozialen Lernen s
► Krankheiten in der Familie
Ein übermäßiger Somatisierungsstil und ► Krankheiten in der Familie allgemein, speziell Klage n
über Schmerzen oder körperliche Behinderungen von Familienmitgliedern prägen früh entstehen de Krankheitskonzepte und typisches Krankheitsverhalten bei späteren Patienten mit Somatisierungssyndromen. Eine mangelnde elterliche Fürsorge und eigene schwerwiegende Krankheiten in
Frühkindliche körperliche, emotioder Kindheit stellen wichtige Prädiktoren für ein Somatisierungsverhalten im Erwachsenenalter dar .
nale oder sexuelle Traumatisierungen
Frühkindliche körperliche, emotionale oder sexuelle Traumatisierungen scheinen in ganz besonders
scheinen besonders eine allgemeine
verheerender Weise eine allgemeine Vulnerabilität für spätere psychische Morbidität, insbesonder e
Vulnerabilität für spätere psychische
für Somatisierungssyndrome zu setzen . Die vorliegenden empirischen Studien legen nahe : Je stärMorbidität zu setzen ker Personen frühen Traumatisierungen ausgesetzt gewesen sind, um so höher ist ihr Risiko, dass si e
bereits in der Adoleszenz oder im jungen Erwachsenenalter an schweren, häufig chronisch verlaufenden depressiven Störungen mit ausgeprägter Suizidalität und multiplen Somatisierungs-, speziell Schmerzsyndromen erkranken, einen insgesamt schlechten psychobiologischen und psychosozialen Status aufweisen und ein oft pathologisches medizinisches Inanspruchnahmeverhalten zeigen .
Der Zusammenhang von Persönlichkeitsstörung und Trauma-Dissoziation-Somatisierungskomple x
ist gerade in der Gruppe der „high utilizers ” hoch bedeutsam .
Krankheitswissen und Krankheitserfahrun g
Der aktuelle Wissensstand über bestimmte Krankheiten unterliegt starken soziokulturellen Determi nanten und wird multimedial vermittelt . Er beeinflusst auch die subjektiven Krankheitstheorien vo n
Einzelpersonen und kann unter dem Eindruck aktueller Krankheitsschicksale im sozialen Umfeld di e
Ernsthafte persönliche Krankheitserperzeptiv-evaluativen Einstellungen gegenüber eigenen körperlichen Sensationen verändern . Ernstfahrungen, aber auch epidemische
hafte persönliche Krankheitserfahrungen, aber auch epidemische Gesundheitsängste z . B . hinsichtGesundheitsängste können zu einer
lich der Umweltverschmutzung können zu einer besonderen Sensibilität beitragen . Individuelles So besonderen Sensibilität beitragen matisierungsverhalten und gesellschaftlich konstruierte „Modekrankheiten ` können sich hierbei im
„subjektiven Sichkrankfühlen” oft zum dominanten Lebensstil verschränken . Dem manchmal verhängnisvollen Einfluss von einigen ärztlichen Experten in der Förderung von hypochondrisch un d
paranoid ausgestalteten Umweltängsten gilt es gesondert Rechnung zu tragen . Spezielle kulturelle
Bedeutungsmuster tragen zur Erklärung wichtiger Unterschiede zu Häufigkeit und Verlauf von somatoformen Störungen bei.
Soziale Verstärkersystem e
Reaktionsweisen von FamilienReaktionsweisen von Familienmitgliedern oder Lebenspartnern beeinflussen die persönliche Ver mitgliedern oder Lebenspartnern
arbeitung von somatischen Symptomen maßgeblich und können die sekundäre Entwicklung eine s
können die sekundäre Entwicklung
abnormen Krankheitsverhaltens verstärken . Eine einseitige Konzeptualisierung von somatische n
eines abnormen Krankheitsverhaltens
Symptomen innerhalb eines organmedizinischen Krankheitsverständnisses, die Durchführung nich t
verstärken streng indizierter diagnostischer Maßnahmen sowie die unbegründete Verordnung von Medikamenten sind als weitere iatrogene Faktoren zu identifizieren . Haftungsrechtliche Ansprüche für Behinderungen nach einfachen körperlichen Traumata, Möglichkeiten einer Zeitrente oder vorzeitigen Pensionierung können eigenständig zur Persistenz von objektiv harmlosen körperlichen Defiziten beitragen .
110
Der Nervenarzt 1 • 2008
Geschlechtsdifferenzielles Risiko
Zahlreiche epidemiologische Studien unterstreichen für Frauen und Männer unterschiedliche Er krankungshäufigkeiten bei den einzelnen somatoformen Störungen . Hierbei ist ein insgesamt deutlicheres Risiko für Frauen festzuhalten . Für ein besseres Verständnis dieser geschlechtsdifferenziellen
Befunde sind ebenfalls multifaktorielle Einflüsse zu betrachten : niedrigere Wahrnehmungsschwelle gegenüber Schmerzreizen und geringere Schmerztoleranz, höhere Schmerzsensibilität im weiblichen Zyklusverlauf, ausgeprägteres Körperbewusstsein, allgemein höhere Vigilanz gegenüber kör perlichen Veränderungen und stärkere Verbindung von internen viszeralen Hinweisreizen auf äuße re Situationsaspekte, differenzielle Entwicklung von Krankheitskonzepten und Krankheitsverhalten ,
höheres Lebenszeitrisiko hinsichtlich affektiver und Angststörungen, höhere Risiko zu geschlechts spezifischen Traumaerfahrungen.
Es besteht ein deutlic h
höheres Risiko für Fraue n
Genetische Dispositio n
Einige somatoforme Störungen weisen eine genetische Komponente auf. Eine familiäre Assoziatian zwischen polysymptomatischer Somatisierungsstörung (früher : Briquet-Syndrom), Alkoholismus und antisozialer Persönlichkeit scheint zu bestehen . Aber auch für eine Reihe von funktionellen
Körpersyndromen wie z. B . Fibromyalgie oder chronischem Müdigkeitssyndrom werden interessante genetische Befunde erhoben .
Eine familiäre Assoziation zwische n
polysymptomatischer Somatisierungsstörung, Alkoholismus un d
antisozialer Persönlichkeit scheint zu
bestehe n
Neurobiologische Vermittlungsprozess e
Allgemeine Stressforschung und neurobiologische Untersuchungen zu depressiven, Angst-, posttrau matischen und dissoziativen Störungen haben interessante Einblicke in neurobiologische Mechanis men geliefert, die auch für das Verständnis somatoformer Störungen von großer Bedeutung sind .
Eine Kontrastierung von akuten Symptombildungen wie z . B . bei der Konversionsstörung gegenüber chronischen Symptomverläufen wie z . B . bei der Somatisierungsstörung ist hierbei grundlegend .
Akute Konversionsbildungen lassen sich vorteilhaft in kognitiven Modellen der Informationsverarbeitung und der Dissoziationstheorie konzeptualisieren . Sie verweisen auf das komplexe Zusammen spiel neuronaler Schaltkreise, die sowohl die Kartierung von inneren Körperzuständen und dere n
Repräsentation in unterschiedlichen neuroanatomischen Verarbeitungsniveaus bestimmen als auch
an der auswählenden, bewertenden und exekutiven Prozessierung beteiligt sind . Beschriebene kortikofugale Hemmmechanismen gegenüber afferenten Stimuli lassen mittlerweile konzeptuelle Brücken auch zu psychologischen und psychodynamischen Modellen erkennen [16] .
Bereits frühe Studien zeigten auf, dass Patienten mit multiplen somatoformen Symptomen sic h
in einem anhaltend erhöhten psychophysiologischen Reaktionsniveau signifikant von Patienten mi t
monosymptomatischen Konversionssymptomen unterscheiden . Dieses Phänomen wird heute verstärkt unter dem neurobiologischen Konstrukt einer s „somatischen Sensitivierung ” diskutiert . Es
ist sowohl mit Faktoren vereinbar, die zu einer Verstärkung enteroperzeptiver Informationen z . B.
von Schmerzsignalen beitragen, wie auch mit Faktoren, die einen sensorischen Filterungsprozess be einträchtigen . Bedeutsam erscheint, dass diese biologische Sensitivierung mit zahlreichen psychologischen Variablen der Wahrnehmungsamplifikation, der kognitiven Ruminationen und Besorgnisse einhergeht . Dysfunktionen der Stresshormon-(HPA [Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden]) -Achse könnten von differenzieller Relevanz bei Somatisierungsprozessen sein . So kön nen Subgruppen von Somatisierungspatienten definiert werden, die analog zu einem erhöhten psychophysiologischen Arousal auch eine verstärkte neuroendokrine Stressreaktion mit z . B. vermehrter Basalsekretion von Kortisol zeigen, während wiederum andere Somatisierungspatienten eher ei ne erschöpfte neuroendokrine Antwort mit niedrigen Kortisolruhewerten aufweisen . Mit letztere n
Zeichen eines s „Hypokortisolismus” gehen relativ gesichert eine verstärkte allgemeine Stresswahrnehmung, ein erhöhtes Schmerzempfinden und eine verstärkte Müdigkeit einher . Auch die immunologische Reagibilität scheint eine mögliche pathogenetische Rolle zu spielen . Krankheitsgefühl
(Malaise), Müdigkeit, Verstimmungssymptome und kognitive Dysfunktionen können Ausdruck einer proinflammatorischen Aktivität des zerebralen Zytokinsystems sein . Diese Symptome können
aus akuten Infektionen resultieren . Dieses zerebrale Zytokinsystem wird möglicherweise aber bereits in frühen Entwicklungsjahren durch immunologische und nichtimmunolgische Stressoren sen -
„Somatische Sensitivierung ”
► „Hypokortisolismus”
Auch die immunologisch e
Reagibilität scheint eine möglich e
pathogenetische Rolle zu spielen
Der Nervenarzt 1 • 2008
111
sibilisiert und kann später durch unspezifische Gefahrensignale aktiviert werden . Ein „Hypokortisolismus ” wiederum und ein hierdurch in der Langzeitentwicklung angestoßener Prozess einer vermehrten Produktion von proinflammatorischen Zytokinen werden mittlerweile als bedeutsam fü r
die Pathogenese einer Reihe von stressbezogenen Störungen, somatoformen Störungen und körperlichen Erkrankungen diskutiert.
Die innige Verwobenheit von Somatisierungsstörung einerseits, zahlreichen funktionellen Syndromen wie chronisches Müdigkeitssyndrom, Colon irritabile oder Fibromyalgie andererseits mi t
depressiven und Angststörungen im klinischen Querschnitt und Krankheitsverlauf lässt auch an ei ne gemeinsame psychobiologische Vulnerabilität denken . Familiengenetische Studien legen nahe ,
einige dieser Somatisierungssyndrome innerhalb eines affektiven Störungsspektrums zu konzeptualisieren .
Therapi e
Bei klinischem Verdacht auf eine vorliegende somatoforme Störung empfiehlt es sich in einer prag matischen diagnostischen Haltung die körperlichen Beschwerden und Begleitumstände zunächs t
Somatisierungssyndroms ist für
entlang diskreter Dimensionen zu beschreiben (D Tab. 1) und erst in einem zweiten diagnostische n
die konkrete Therapieplanung von
Schritt, eine kategorialen Zuordnung zu einer bestimmten somatoformen Störung zu versuchen . Ei grundlegender Bedeutung ne dimensionale Erfassung eines Somatisierungssyndroms verschafft nicht nur eine bessere Übersicht über die Komplexität des Krankheitsgeschehens, sie ist auch für die konkrete Therapieplanun g
von grundlegender Bedeutung .
Die fachspezifische Behandlung von Patienten mit somatoformen Störungen ist nicht das Fel d
► Multimodale Verfahrensweisen
eines einzigen elitären Ansatzes . In aller Regel stützt sie sich auf ► multimodale Verfahrensweisen ,
um der besonderen therapeutischen Herausforderung durch diese Patientenklientel zu genügen . Fü r
einzelne Störungen, spezielle somatoforme Syndrome oder besondere Aspekte des Krankheitsverhaltens existiert mittlerweile eine Reihe von recht ermutigenden Therapieverfahren . Die empirisch e
Datenlage für differenzielle therapeutische Richtlinien im Sinne der „evidence based medicin e” weis t
allerdings noch erheblichen Forschungsbedarf auf . Eine Therapie von somatoformen Störungen soll > Formale Behandlungsziele
te sich an folgenden ► formalen Behandlungszielen orientieren :
Reduktion der Symptome ,
Reduktion des psychosozialen Stresses ,
Reduktion der psychosozialen Behinderung ,
Begrenzung einer inadäquaten Inanspruchnahme von medizinischen Ressourcen .
Eine dimensionale Erfassung des
► Allgemeine
Behandlungsprinzipien
112
Der Nervenarzt 1 • 2008
Als ► allgemeine Behandlungsprinzipien können skizziert werden [8] :
— korrekte Diagnose einschließlich assoziierter somatischer/psychiatrischer Komorbidität ,
tolerante Annahme des Somatisierungsverhaltens des Patienten ,
▪ regelmäßige adäquate medizinisch-ärztliche Basisuntersuchung,
initial eher das Gesicht wahrende somatische Erklärungen für die körperlichen Beschwerde n
z . B . durch Rückgriff auf physiologische Korrelate wie Muskelverspannung, Hyperventilatio n
usw. bei zugeordneten Beschwerden ,
allmähliche Einführung von Konzepten körperlicher Reaktionen infolge psychosozialer Stresseinflüsse ,
▪ Formulierung realistischer Therapieziele ,
▪ Vermeidung der Illusion einer vollständigen Heilung,
Bestärkung von adaptiven Verhaltensweisen und Fertigkeiten ,
Einsatz von zeitlich begrenzten, nichtmedikamentösen Ansätzen wie physikalisch-medizinisch e
Maßnahmen ,
Ermutigung zur Selbstbeobachtung von körperlichen Symptomen in bestimmten psychosozialen Belastungen sowie Aussprache in regelmäßig vereinbarten Arztkontakten ,
Abraten von Alkohol und frei verkäuflichen Medikamenten zur Eigentherapie ,
Abraten von Doktor-Shopping und Polypharmazie, stattdessen Anbindung an einen hauptverantwortlichen Arzt,
▪ Überweisung an Psychiater/Psychosomatiker auf Wunsch oder zur Behandlung von gravierenden oder behandlungsresistenten psychiatrischen Problemen .
CME
Psychoedukatio n
Edukative Ansätze, bei denen Patienten in mehreren ambulanten Gruppensitzungen konzentriert
mit diesen allgemeinen Behandlungsprinzipien vertraut gemacht werden und Möglichkeit zu sozialem Austausch und gegenseitiger Unterstützung erhalten, zeigen ermutigende Resultate . Sie bereiten
auch günstig auf weiterführende psychiatrische und psychotherapeutische Therapien vor [7] .
Ambulante Gruppensitzungen mit
der Möglichkeit zu sozialem Aus tausch zeigen ermutigende Resultat e
Psychopharmakologische Ansätz e
Erkenntnisse über wichtige neurobiologische Aspekte bei somatoformen Störungen begründen ei n
theoretisches Rationale auch für eine direkte Modifikation somatoformer Beschwerden durch Psychopharmaka . Hervorzuheben ist :
Somatisierungssyndrome als häufig integrale Symptome von primären psychischen Störunge n
wie insbesondere von depressiven oder Angststörungen .
Somatisierungssyndrome innerhalb eines Spektrums von z . B . affektiven oder Angststörunge n
mit vergleichbaren Dysfunktionen in diversen Neurotransmittersystemen .
Somatisierungssyndrome ätiopathogenetisch als Resultat posttraumatischer Verarbeitungsprozesse .
▪ Somatisierungssyndrome als prominente Störungen der Schmerzverarbeitung un d
Schmerzwahrnehmung mit direkter und indirekter Assoziation mit depressiven oder Angststörungen .
▪ Somatisierungssyndrome mit hoher psychiatrischer Komorbidität im Verlauf .
In einer pragmatischen Behandlungsperspektive sollte bedacht werden, dass Patienten mit somatoformen Störungen bzw. Somatisierungssyndromen vorrangig im primären ärztlichen Versorgungssektor von Allgemeinmedizinern und Internisten gesehen werden . Unabhängig von der regional sehr
unterschiedlichen Verfügbarkeit von psychotherapeutischen Ressourcen sind rational begründete
psychopharmakologische Strategien hier wirksam im Behandlungsalltag zu implementieren [6, 25] .
Auch wenn die empirische Datenlage zur Psychopharmakotherapie somatoformer Störungen noc h
einen deutlichen Forschungsbedarf aufweist, lassen sich mittlerweile wichtige Erfahrungen zu ersten störungsbezogenen Richtlinien verdichten [11, 17] .
Es muss bedacht werden, dass Pati enten mit somatoformen Störunge n
bzw. Somatisierungssyndromen vor rangig von Allgemeinmedizinern un d
Internisten gesehen werde n
Kognitiv-behaviorale Ansätz e
Die überzeugendsten Ergebnisse für eine Besserung somatoformer Syndrome durch psychotherapeutische Verfahren liegen für die kognitive Verhaltenstherapie vor . Sie besitzt in der klinischen
Akutversorgung den Vorteil, dass mit dem Patienten ein klar strukturiertes Therapierationale erarbeitet und einzelne Behandlungsschritte präzise und verständlich begründet werden können. Wichtige Elemente eines solchen Vorgehens sind u . a. die Bearbeitung von zentralen kognitiven Überzeugungen hinsichtlich der somatischen Symptombildung, eine Sensibilisierung gegenüber den Effekten von Aufmerksamkeit und Körperwahrnehmung, eine direkte Ansprache belastender persönlicher Probleme, eine Reduktion von vermeidendem Coping sowie ein Aufbau alternativer, erfolg reicheren Lösungsstrategien, eine physische Aktivierung und die Bestärkung von „Normalverhalte n”.
Wichtige Kontaktpersonen müssen in den Therapieprozess miteinbezogen werden, um speziell di e
zahlreichen sozialen Verstärker zu erfassen und zu kontrollieren, die aus dem Krankheitsverhalten
des Patienten resultieren und dieses wiederum aufrechterhalten . Gute Wirkbelege existieren sowohl
für einen ambulanten als auch einen stationären Behandlungskontext [21, 26, 33] .
Die überzeugendsten Ergebniss e
für eine Besserung somatoforme r
Syndrome durch psychotherapeu tische Verfahren liegen für die kogni tive Verhaltenstherapie vo r
Wichtige Kontaktpersonen müsse n
in den Therapieprozess miteinbezo gen werde n
Psychodynamische Ansätz e
Psychodynamische Verfahren vermögen nicht nur ein differenziertes Verständnis von Somatisierung im Kontext von Traumaerfahrung und -verarbeitung, von fortgesetzter Affektabwehr und Stabilisierung eines fragilen Selbsterlebens, von konfliktbestimmter Konversionsbildung zu vermitteln .
Gerade die fast gesetzmäßig über kurz oder lang aufscheinende feindselige Komponente in den Interaktionen zwischen Patient und Arzt, die unreflektiert häufig zu Abbrüchen der therapeutische n
Beziehung führen oder aber über eine projektive Identifizierung den Arzt zu immer invasiveren dia -
Psychodynamische Verfahren vermitteln ein differenziertes Verständnis von Somatisierung im Kontext vo n
Traumaerfahrung und -verarbeitung
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113
► Biographische Themen
gnostischen und zu potenziell schädigenden Therapiemaßnahmen induzieren kann, muss als Übertragungs-/Gegenübertragungsprozess erkannt werden .
In der ärztlichen psychotherapeutischen Führung kann es nicht erstes Ziel sein, eine detailliert e
Aufarbeitung der Lebensgeschichte anzustreben . Wichtige ► biographische Themen wie z. B . frühe Verluste von Elternfiguren, sexuelle und physische Traumatisierungen, beeinträchtigende Erfahrungen mit schwerwiegenden eigenen Erkrankungen oder denen von Familienangehörigen können
aber von entscheidender Orientierung für die therapeutische Gesprächsführung sein . Speziell tie f
verankerte Schuldgefühle und Bestrafungswünsche, aber auch die unbewusste Sehnsucht nach Wie dergutmachung und Heilung für narzisstische Wunden, die ausschließlich über ein somatisiertes Beschwerdeangebot ausgedrückt werden können, sind hierbei zu beachten .
Moderne psychodynamische Ansätze bei Somatisierungspatienten weisen einen hohen Strukturierungsgrad in mehreren Therapieabschnitten auf [2] und nähern sich in der strategischen Planun g
ihrer Einzelschritte verhaltenstherapeutischen Verfahren an . Studienbelege für eine Therapieeffizienz sind ermutigend [8, 22], können sich aber im Vergleich zu kognitiv-behavioralen Ansätzen der zeit noch nicht auf eine breite empirische Basis stützen .
Rehabilitative Ansätze
► Activity
Participation
Die rehabilitative Perspektive bei Somatisierungspatienten verbindet Elemente der medizinischen, beruflichen
und psychologischen Rehabilitation
> Erhöhung der Lebensqualität
Während sich therapeutische Bemühungen innerhalb eines kurativen Modells auf Diagnostik un d
Behandlung zugrunde liegender pathophysiologischer Prozesse einer definierten Erkrankung im jeweiligen Krankheitsabschnitt konzentrieren, besteht bei einem rehabilitativen Modell eine auffällige
Schwerpunktverlagerung . Auch hier bilden Symptome und Beschwerden den Ausgang für therapeutische Interventionen . Es sind aber vor allem deren Auswirkungen auf die individuelle Lebenswirklichkeit und psychosoziale Umwelt, die in den Mittelpunkt rücken . Das revidierte Krankheitsfolgenmodell der WHO [35] betont sehr stark eine Ressourcenorientierung, bei der persönliches Copin g
und unterstützende bzw. kompensierende Umwelteinflüsse den Spielraum möglicher Handlungswei sen eines betroffenen Individuums ( ► „activity ” ) sowie dessen Teilnahme an psychosozialen und ge sellschaftlichen Rollenerwartungen ( ► „participation”) bestimmen .
In diesem modernen Rehabilitationsmodell lassen sich gerade Patienten mit somatoformen Störungen bzw. Somatisierungssyndromen in ihren typischen Verlaufsmerkmalen von Chronizität un d
Komplexität vorteilhaft erfassen [13] . Die rehabilitative Perspektive bei Somatisierungspatienten verbindet Elemente der medizinischen, beruflichen und psychologischen Rehabilitation . Rehabilitatio n
ist multiprofessionell strukturiert und beruht auf vielfältigen therapeutischen Strategien . Sie ist wesentlich aktiv, übend und problemlösend . Sie zielt auf eine Ausweitung des individuellen Aktivitäts spielraums und der sozialen Teilnahme . Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit, Verhinderung einer vorzeitigen Berentung, ► Erhöhung der Lebensqualität von betroffenen Patienten und involvierten Angehörigen sind zentrale Kriterien einer Erfolgsmessung bei einer jeden Rehabilitationsmaßnahme [1] .
Management in der primärärztlichen Versorgun g
Ein besseres Verständnis von Bedingungs- und Verlaufsfaktoren bei somatoformen Störungen un d
Somatisierungssyndromen hat in den letzten Jahrzehnten zur Entwicklung prinzipiell wirksame r
psychotherapeutischer, psychopharmakologischer und rehabilitativer Ansätze geführt, die vor alle m
Der„somatisierende" Patient ist vor
in spezialisierten stationären Behandlungskontexten erprobt worden sind [12] . Hierüber darf nicht
allem eine Herausforderung in der
übersehen werden, dass der „somatisierende” Patient vor allem eine Herausforderung in der primär primärärztlichen Versorgung ärztlichen Versorgung ist . Behandlungsoptionen hier sind durch die Rahmenbedingungen der ärztlichen Routineversorgung sehr viel enger und von vielen Problemen bestimmt [30] . Eine Verbesserung des Managements ist jedoch möglich . Dies kann durch eine systematische Schulung der Primärärzte in diagnostischen, kommunikativen und therapeutischen Skills im Umgang mit dem „somatisierenden” Patienten angestrebt [6] oder aber in kollaborativen Modellen zwischen Allgemeinärzten und psychiatrisch-psychotherapeutischen Experten günstiger bewältigt werden [29, 31, 34] .
Auch eine Darstellung der innerhalb der somatisch-medizinischen Disziplinen selbst entwickelte n
internistisch-pharmakologischen Behandlungsversuche, deren kritische Analyse und Überprüfun g
auf empirische Evidenz sowie deren Vergleich mit psychiatrischen, psychotherapeutischen und psy -
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Der Nervenarzt 1 •2008
CM E
chosomatischen Therapieansätzen ist von großer Bedeutung für eine solche interdisziplinäre Vorgehensweise [9] .
Korrespondenzadress e
Prof. Dr. med . Dr. phil . H .P. Kapfhamme r
Klinik für Psychiatrie, Medizinische Universität Gra z
Auenbruggerplatz 31, 8036 Gra z
Österreic h
[email protected]
Interessenkonflikt . Der korrespondierende Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
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