Die somatoforme Schmerzstörung

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DIE ÜBERSICHT
Ulrich Tiber Egle1
Ralf Nickel1
Rainer Schwab2
Sven Olaf Hoffmann1
Die somatoforme
Schmerzstörung
ZUSAMMENFASSUNG
Psychische Störungen mit dem Leitsymptom Schmerz stellen für viele Ärzte, auch Schmerztherapeuten, eine diagnostische Restkategorie dar. Die Diagnose somatoforme
Schmerzstörung (ICD-10: F45.4) wird häufig erst nach
mehrjähriger Krankheitsdauer und multiplen diagnostischen Abklärungen, teilweise auch iatrogenen Schädigungen gestellt. Eine genauere Kenntnis des gegenwärtigen
Wissensstandes kann Chronifizierung verhindern. Es wird
ein Überblick über das klinische Erscheinungsbild und die Diagnostik
der somatoformen Schmerzstörung, der Differenzialdiagnose zu anderen chronischen Schmerzerkrankungen sowie wirksamen Therapieansätzen gegeben.
Schlüsselwörter: Somatoforme Schmerzstörung, somatoforme Störung, Kindheitsbelastungsfaktor, sexueller Missbrauch, körperliche Misshandlung
Somatoform Pain Disorders
Mental disorders with pain as a leading symptom are remnant diagnostic categories for physicians, even if they are
educated in pain treatment. Patients with somatoform
pain disorder (ICD-10: F45.4) are often diagnosed only
after several years and multiple diagnostic procedures, in
some cases after iatrogenic impairment. A more precise
knowledge of the disorder can prevent chronification. The clinical features, diagnostic procedure and differential diagnosis in somatoform pain patients as well as current psychotherapeutic approaches are
outlined.
Key words: Somatoform pain, somatoform disorder, childhood adversity, sexual abuse, physical abuse
S
chmerz ist ein unangenehmes
Sinnes- und Gefühlserlebnis,
das mit aktueller oder potenzieller Gewebsschädigung verknüpft ist
oder mit Begriffen einer solchen
Schädigung beschrieben wird. Diese
Schmerzdefinition der Internationalen Gesellschaft zum Studium des
Schmerzes (IASP) beinhaltet einige
zentrale Aspekte des heutigen
Schmerzverständnisses:
❃ Die emotionale Komponente
bei Schmerz wird gleichberechtigt neben die sensorische gestellt.
❃ Schmerz ist eine subjektive
Empfindung, der objektivierbare periphere Läsionen im Sinne einer
Reizauslösung fehlen können.
❃ Die kausale Verknüpfung von
Gewebsschädigung und Schmerzreaktion wird aufgegeben, dass heißt eine Gewebsschädigung ist weder eine
notwendige noch – so sie nachweisbar
ist – eine hinreichende Bedingung für
Schmerz.
Trotz des sich in dieser Schmerzdefinition ausdrückenden heutigen
Wissensstands über die biopsychosoziale Komplexität des Phänomens
Schmerz reduzieren die meisten Patienten und auch noch immer viele Ärzten in ihrem Denken und Handeln
den Schmerz auf seine Rolle als Warnsignal („linear-kausales Schmerzverständnis“). So ist die Auffassung ver-
SUMMARY
breitet, dass nur sensorische Reize zu
Schmerzempfindungen führen können und die Intensität des Reizes
direkt das Ausmaß der wahrgenommenen Schmerzen bedingt. Ist eine
Gewebsschädigung nicht nachweisbar, kann der Patient keine Schmerzen haben, er muss „sie sich einbilden“.
Für das Handeln des Arztes beinhaltet dieses Reiz-Reaktions-Konzept
die Gefahr, dass
❃ psychische Störungen mit dem
Leitsymptom Schmerz eine diagnostische Restkategorie darstellen, die erst
als Ultima Ratio in Betracht gezogen
wird,
❃ Normvarianten und Zufallsbefunde diagnostisch überbewertet werden,
❃ im Rahmen wiederholt durchgeführter somatischer Ausschlussdiagnostik Patienten iatrogen geschädigt
werden
❃ und aufgrund multipler Abklärungen nicht zuletzt erhebliche
Kosten entstehen.
1 Klinik für Psychosomatische Medizin und
Psychotherapie (Direktor: Prof. Dr. med. Dipl.Psych. Sven Olaf Hoffmann) der Johannes
Gutenberg-Universität, Mainz
2 Klinik für Anästhesiologie (Direktor: Prof. Dr.
Wolfgang Dick) der Johannes GutenbergUniversität, Mainz
Die häufigste psychische Störung
mit dem Leitsymptom Schmerz ist die
anhaltende somatoforme Schmerzstörung (ICD–10: F45.4), früher auch
„psychogenes Schmerzsyndrom“ genannt.
Definition
Im Vordergrund steht eine schon
mindestens sechs Monate lang anhaltende Schmerzsymptomatik (chronischer Schmerz), welche durch einen
physiologischen Prozess oder eine
körperliche Störung nicht hinreichend
erklärt werden kann. Neben dem Ausschluss einer zugrunde liegenden körperlichen Ursache muss gleichzeitig
im engen zeitlichen Zusammenhang
mit dem Beginn dieser Schmerzsymptomatik eine psychosoziale Belastungssituation (Scheidung, Pflege/
Tod eines nahen Angehörigen, Arbeitsplatzverlust) oder eine innere
Konfliktsituation nachweisbar sein.
Ein psychophysiologischer Mechanismus, beispielsweise eine funktionelle
muskuläre Verspannung, darf nach
dieser Definition dem Schmerzgeschehen nicht zugrunde liegen, da es sich
hierbei – wenngleich häufig durch das
Einwirken psychosozialer Belastungsfaktoren ausgelöst – um ein nozizeptives Schmerzgeschehen handelt.
Deutsches Ärzteblatt 97, Heft 21, 26. Mai 2000 A-1469
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DIE ÜBERSICHT
Kasuistik
Bei einer 54-jährigen Angestellten bestehen seit acht Jahren multilokuläre Schmerzen, welche in einer
rheumatologischen Klinik als primäre Fibromyalgie eingeordnet worden
waren. Sie ist seit über 25 Jahren in
kinderloser Ehe mit einem alkoholabhängigen Mann verheiratet, der
wenige Jahre zuvor wegen einer
Herzangstsymptomatik in einer psychosomatischen Fachklinik behandelt worden war.
Das Ausmaß seiner Alkoholproblematik war der Patientin zum
Beginn der Behandlung noch nicht
klar. Seit Beginn der Ehe fühlt sich
die Patientin vom Ehemann auf
Schritt und Tritt kontrolliert.
Kommt sie fünf Minuten später nach
Hause als vereinbart, muss sie Rechenschaft ablegen. Auch wie sie
sich kleidet, schminkt oder bewegt,
wird von ihm kommentiert und überwiegend bestimmt. Spricht die Patientin von sich, schildert sie vor allem
das, was ihr Ehemann sagt und
meint. Sein dominantes Verhalten
wird auch im Rahmen eines diagnostischen Paargesprächs deutlich, in
dem die Patientin trotz entsprechender Interventionen des Therapeuten
überhaupt nicht zu Wort kam. Diese
Ehe war die Patientin eingegangen,
als sie um jeden Preis aus dem Elternhaus raus wollte, wo sie sich ganz
ähnlich eingeschränkt und reglementiert gefühlt hatte.
Als Flüchtlinge war das Denken
und Handeln der Eltern immer von
dem Bemühen geprägt gewesen, in
der Kleinstadt, in die sie gekommen
waren, keinesfalls aufzufallen. Zuvor waren die Eltern sowie die Patientin und ihre beiden älteren Geschwister in der Nachkriegszeit als
Deutschstämmige im heutigen Polen
mehrere Jahre interniert und die Patientin zwischen dem fünften und
siebten Lebensjahr immer wieder
mehrere Wochen von den Eltern getrennt gewesen. So hatte sie früh gelernt, möglichst nicht aufzufallen,
sich anzupassen und eigene Wünsche und Vorstellungen zurückzustellen. Im Unterschied zu ihrer älteren Schwester, die sie darum beneidete, fehlte ihr jegliches Selbstbewusstsein. Schon die Vorstellung, ei-
gene Wünsche umzusetzen oder Gefühle zu äußern, erlebte sie als existenziell bedrohlich. Die inzwischen
über 77-jährige Mutter ergriff im
Rahmen ihrer regelmäßigen Besuche bei jedem sich auch nur andeutenden Widerspruch gegenüber dem
Ehemann für diesen Partei und unterband damit jeden Konflikt im
Keim. Dabei wünschte sich die Patientin ihr Leben lang nichts sehnlicher, als einmal bei der Mutter auf
Verständnis zu stoßen, statt einen
„Verhaltenspanzer“ umgelegt zu bekommen. Verschiedene Analgetika, auch das als Ultima Ratio eingesetzte Morphinderivat, hatten keine wesentliche Schmerzlinderung erbracht.
Epidemiologie
Studien zur Prävalenz in der
Allgemeinbevölkerung fehlen bisher. In der Allgemeinpraxis wird von
fünf bis zehn Prozent ausgegangen,
in einer interdisziplinären Universitäts-Schmerzambulanz liegt der
Anteil bei nicht tumorbedingten
Schmerzpatienten bei 25 bis 30 Prozent (19).
Anamnese und
klinischer Befund
Als erster Indikator für eine somatoforme Schmerzstörung können
die Schmerzbeschreibungen des Patienten verwendet werden: Somatoforme Schmerzpatienten beschreiben ihre Schmerzen häufig mit affektiven Begriffen (zum Beispiel
scheußlich, grauenhaft, beängstigend) und einem hohen Wert auf einer visuellen Analogskala (VAS: 0
bis 100) zwischen 80 und 100; auffällig ist oft die dazu diskrepante geringe affektive Beteiligung bei der
Schmerzschilderung.
Der Beginn der Schmerzsymptomatik liegt üblicherweise vor
dem 35. Lebensjahr, nicht selten
schon in Kindheit und Jugend. Frauen sind im Verhältnis 2 bis 3 : 1 häufiger betroffen. Die Lokalisation variiert stark. Besonders häufig betroffen sind die Extremitäten, aber auch
Gesichtsbereich und Unterleib. Be-
A-1470 Deutsches Ärzteblatt 97, Heft 21, 26. Mai 2000
sonders auffällig ist eine Häufung im
Bereich der Unterarme (oft lange als
Symptome eines Karpaltunnel-Syndroms fehlinterpretiert) und Knie
bei jungen Frauen. Im Rahmen einer
sorgfältigen biografischen Anamnese kann herausgearbeitet werden,
dass sich diese Patientinnen in einer
subjektiv als zwiespältig erlebten
Ablösesituation vom Elternhaus befinden und die Symptomatik insofern Ausdruckscharakter hat, als sie
ihr Leben buchstäblich „in die eigene Hand nehmen“ beziehungsweise
„auf ihren eigenen Beinen stehen“
sollen.
Auch ein Teil der Patienten mit
multilokulären Schmerzen, die vom
Rheumatologen als generalisierte
Tendomyopathie oder primäre Fibromyalgie diagnostiziert werden,
können aufgrund der skizzierten biografischen Entwicklung und der fehlenden somatischen Befunde als somatoforme Schmerzstörung klassifiziert werden (ein anderer Teil als Somatisierungsstörung).
In der Vorgeschichte dieser Patienten finden sich nicht selten eine
Reihe anderer funktioneller Beschwerden, vor allem Kloß und Engegefühle, Bauchschmerzen (oft
schon in der Kindheit), Mundbrennen sowie eine insgesamt erhöhte vegetative Reaktionsbereitschaft. Bei
Exploration der Entwicklung in
Kindheit und Jugend fällt auf, dass
diese Patienten zunächst dazu neigen, pauschal eine „glückliche“, zumindest jedoch „unproblematische“
Kindheit zu vermitteln. Erst bei genauerem Nachfragen wird dann ein
erhebliches Ausmaß an emotionaler
Deprivation, körperlicher Misshandlung und auch sexueller Missbrauchserfahrungen deutlich, das jedoch
selbst dann noch oft bagatellisiert
beziehungsweise verleugnet wird.
Das Erwachsenenalter ist auf
dem Hintergrund der als Resultat
dieser Kindheitsentwicklung entstandenen
Selbstwertproblematik
von einer permanenten Suche nach
Anerkennung und einer hohen
Kränkbarkeit geprägt. Eine psychische Verursachung der Schmerzen
wird von diesen Patienten deshalb
auch aus Angst vor einer damit verbundenen Stigmatisierung meist abgelehnt.
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DIE ÜBERSICHT
Diagnostik
Im Folgenden werden Indikatoren für eine somatoforme Schmerzstörung erläutert.
❃ Ausschluss nozizeptiver oder
neuropathischer
Schmerzverursachung,
❃ Beginn der Symptomatik vor
dem 35. Lebensjahr,
❃ Schilderung von Schmerzmerkmalen weniger typisch (oft recht
vage) als bei organischer Schmerzursache,
❃ Angabe überwiegend hoher
Schmerzintensität ohne freie Intervalle,
❃ Charakterisierung der Schmerzen mit affektiven Adjektiven
(scheußlich, fürchterlich, schrecklich),
❃ wechselnde Angaben nach Lokalisation und Modalität,
❃ Nichteinhaltung anatomischer
Grenzen der sensiblen Versorgung
(zum Beispiel beim Gesichtsschmerz
die Mittellinie zur Gegenseite oder
die Unterkiefergrenze zum Hals),
❃ nach oft lokalem Beginn erfolgt starke Ausweitung.
Der Nachweis einer somatoformen Schmerzstörung ist nur im Rahmen einer engen interdisziplinären
Kooperation möglich, deren Grundlage ein biopsychosoziales Schmerzverständnis aller Beteiligten ist und
bei der nicht vorschnell fachspezifische (Zufalls-)Befunde und Normvarianten dem Patienten als ursächlich relevant vermittelt werden. Von
Beginn an und nicht erst als Ultima
Ratio sollte dem Patienten die Bedeutung psychosomatischer Zusammenhänge bei jedweder Form chronischer Schmerzzustände dargelegt
werden und deren Abklärung als
Routinemaßnahme mit demselben
Stellenwert wie eine neurologische
oder orthopädische Untersuchung.
Wichtigstes diagnostisches Verfahren zum Nachweis einer somatoformen Schmerzstörung ist die biografische Anamnese. Die skizzierten
biografischen Belastungsfaktoren haben eine Sensitivität und eine Spezifität von 80 bis 90 Prozent hinsichtlich
der Abgrenzung zu einem primär organisch determinierten chronischen
Schmerzsyndrom (3, 8).
Bei den häufig bestehenden
Partnerschaftskonflikten sollte wenn
möglich ein diagnostisches Paargespräch durchgeführt werden; von der
Erhebung einer Fremdanamnese ohne Beisein des Patienten ist auf dem
Hintergrund der skizzierten Psychodynamik abzuraten!
Differenzialdiagnose
Weitere psychische Störungen
mit Schmerz als vorherrschendem
Symptom sind neben den somatoformen autonomen Funktionsstörungen, die Somatisierungsstörung, die
posttraumatische Belastungsstörung,
depressive und Angststörungen, Hypochondrie und hypochondrischer
Wahn sowie die coenästhetische Psychose.
Abzugrenzen sind Patienten mit
nachweisbaren muskulären Spannungszuständen, auch wenn diese
durch psychosoziale Stresssituationen bedingt sind („funktionelle“
Schmerzzustände, ICD-10 F54). Des
Weiteren müssen Patienten mit
primär nozizeptiv oder neuropathisch determinierten Schmerzzuständen unterschieden werden, deren Strategien der Krankheitsbewältigung inadäquat sind (zum Beispiel
Katastrophisieren, fatalistisches Resignieren) oder die zusätzlich unter
einer psychischen Erkrankung leiden
(somatische und psychische Komorbidität). Bei einer Prävalenz psychischer und psychosomatischer Störungen in Deutschland von 20 bis 25 Prozent (18) ist letzteres mit statistischer
Wahrscheinlichkeit bei jedem vierten
bis fünften Schmerzpatienten mit einer primär nozizeptiv oder neuropathisch determinierten Schmerzerkrankung zu erwarten (9).
Ätiologie und
Pathogenese
Somatoforme Schmerzen laufen
auf einer rein zentralen Ebene ab,
werden vom Patienten jedoch peripher lokalisiert. Eine wesentliche Bedeutung scheint dabei der frühen intrapsychischen Verknüpfung von körperlichen Schmerzerfahrungen und
affektiven Zuständen in Kindheit und
Jugend zuzukommen. Wie bei vielen
anderen psychischen und psychoso-
matischen Erkrankungen prädisponieren eine Reihe psychosozialer Belastungsfaktoren in Kindheit und Jugend für die spätere Entwicklung einer somatoformen Schmerzstörung.
Besonders bedeutsam erscheint dabei
die Kombination einer früh gestörten
Mutter/Eltern-Kind-Beziehung (das
heißt dem primären Bindungsbedürfnis des Säuglings/Kleinkindes wird
von der Hauptbezugsperson – sei es in
Form eines emotionalen Desinteresses, sei es im Sinne einer überzogenen
Einengung seiner Neugier – nicht adäquat begegnet) sowie ausgeprägter
körperlicher oder schwerer sexueller
Misshandlung (2, 3, 20, 8).
In der Grafik werden die bei somatoformen Schmerzpatienten heute
empirisch gut belegten psychosozialen Belastungsfaktoren (7) zu einem
pathogenetischen Modell integriert:
Chronische Disharmonie, Trennung
und Scheidung ebenso wie körperliche Misshandlungen können als Symptome eines unter ausgeprägtem
Druck stehenden Familiensystems
verstanden werden (22), in dem diese
Patienten aufwuchsen. Sozialer Stress
– oft eine starke berufliche Beanspruchung der Eltern von klein auf oder
auch eine chronische körperliche beziehungsweise psychische Erkrankung bei einem Elternteil, einem Geschwister oder einem anderem Familienmitglied – erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass bei entsprechend disponierten Eltern Alkoholabusus ebenso
wie familiäre Gewalt und emotionale
Vernachlässigung des Kindes zum
Ventil für eine körperliche wie psychische Überforderung werden. Die
darin enthaltene emotionale Zurückweisung als Kind ist das primäre
Trauma dieser Patienten. Ein daraus
resultierendes unsicheres Bindungsverhalten und die damit einhergehende Selbstwertproblematik werden
durch Überaktivität und Leistungsorientierung zu kompensieren versucht. Diese Neigung zu erhöhter Aktivität (Action Proneness) (12) prägte die Lebensgestaltung in der Primärfamilie ebenso wie – zumindest
bis zum Einsetzen der Schmerzen –
das Erwachsenenleben der späteren
somatoformen Schmerzpatienten.
Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung in Kindheit und Jugend stehen zur Bewältigung äußerer Bela-
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stungs- und innerer Konfliktsituationen im Erwachsenenalter nur unreife
Konfliktbewältigungsstrategien (zum
Beispiel Wendung gegen das Selbst,
Projektion) zur Verfügung (6). Überfordernde Belastungssituationen sind
dann meist der Auslöser für das
Schmerzgeschehen.
Dabei greift der Patient nicht selten bei der Lokalisation seiner
Schmerzsymptomatik unbewusst auf
Schmerzmodelle in der Primärfamilie
zurück. Neben einem Krankheitsmodell kann die Lokalisation jedoch auch,
wenngleich sehr viel seltener, über den
symbolhaften Ausdrucksgehalt der
Symptomatik determiniert sein.
Dieses pathogenetische Modell
integriert entwicklungspsychologisch
heute gut belegte Risikofaktoren und
frühe Lernerfahrungen. Wie sehr
frühe Schmerzerfahrungen von Kleinkindern deren späteres Schmerzerleben und -verhalten prägen, konnte in einer jüngst erschienen Studie
über die Auswirkungen von Beschneidungen mit und ohne Narkose
eindrucksvoll belegt werden (21). Scarinci et al. (17) konnten experimentell
zeigen, dass die Schmerzschwelle bei
in der Kindheit psychisch traumatisierten Frauen mit verschiedenen gastrointestinalen Störungsbildern im
Vergleich zu nicht traumatisierten
deutlich herabgesetzt ist.
mit den Schmerzen verknüpft werden. Dieser Circulus vitiosus zwischen Arzt und Patient leistet der
Chronifizierung Vorschub und führt
nicht selten zu sekundären iatrogenen körperlichen Schädigungen
(zum Beispiel Extraktion von Zähnen, „Verwachsungen“ nach Laparaskopien und Laparatomien, Karpaltunnel- oder Bandscheibenoperationen und so weiter). Bei somatoformen Schmerzpatienten werden im
Vergleich zu solchen mit nozizeptiv
beziehungsweise neuropathisch determinierten Schmerzzuständen invasive Eingriffe deutlich häufiger
durchgeführt; einen Analgetikaabusus entwickeln nach unseren klinischen Beobachtungen circa 30 Prozent.
Folgende Prinzipien sollten bei
der Gestaltung der Arzt-Patient-Beziehung berücksichtigt werden:
❃ Im Umgang mit diesen Patienten ist wichtig, dass ihnen ihre
Schmerzen genauso „geglaubt“ werden wie jenen, bei denen eine organische Ursache nachweisbar ist. Die
Patienten spüren aufgrund ihrer hohen Sensibilität für Zurückweisung
sehr schnell, ob sie mit ihren Beschwerden ernst genommen werden.
Grafik 1
Arzt-Patient-Beziehung
Patienten mit anhaltender somatoformer Schmerzstörung sind meist
von einer körperlichen Ursache ihrer
Schmerzen überzeugt („ich hab es in
den Armen und nicht im Kopf“) und
verlangen nicht selten von sich aus
diagnostisch wie therapeutisch invasive Interventionen. Bringen sie
nicht die erhoffte körperliche Erklärung für die Schmerzen beziehungsweise deren Linderung, so
zweifeln die Patienten an der Qualität des betreffenden Arztes und suchen einen anderen auf („doctor
hopping“). Da auch viele Ärzte bis
heute von der Vorstellung ausgehen,
dass jeder Schmerz eine körperliche
Ursache hat (Reduktion des Schmerzes auf seine Funktion als Warnsignal), können somatische Zufallsbefunde leicht überbewertet und kausal
Pathogenetisches Modell der somatoformen Schmerzstörung
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❃ Eine vertrauensvolle Arzt-Patient-Beziehung ist deshalb die wesentliche Voraussetzung für die Motivierbarkeit dieser Patienten zu einer Psychotherapie.
❃ Eine Wiederholung der Muster
der Eltern-Kind-Beziehung in der
Arzt-Patient-Beziehung (zum Beispiel iatrogene „körperliche Misshandlung“ in Form sehr breit gestellter Operationsindikationen) sind zu
vermeiden.
❃ Auch nach dem Beginn einer
Psychotherapie sollte eine kontinuierliche somatische Betreuung bei einem
in der Schmerztherapie erfahrenen
Arzt gewährleistet sein, um in dieser
Zeit eine erneute diagnostische Odyssee beziehungsweise therapeutische
Polypragmasie zu verhindern.
Medikamentöse Therapie
Für Analgetika besteht keine Indikation! Dies gilt ganz besonders für
die bei dieser Patientengruppe in
letzter Zeit immer häufiger eingesetzten Morphinderivate. Antidepressiva, vor allem Amitryptilin und
Clomipramin, sind nur indiziert,
wenn zusätzlich die Kriterien einer
depressiven Störung erfüllt sind.
Psychotherapeutische
Behandlung
Aus psychodynamischer Sicht
sind vor allem die aus der belasteten
Kindheit resultierenden Bindungsund Beziehungsstörungen bei der
Behandlung von Patienten mit somatoformen Störungen zu berücksichtigen. Im Mittelpunkt der Behandlung steht die bei diesen Patienten fehlende Differenzierung von
Schmerz und Affekt. Der Prozess
der Somatisierung und Mangel an
Symbolisierungsfähigkeit ist Ausdruck einer gestörten (disconnected)
Kommunikation, der eine fehlende
Kohärenz im Selbsterleben zugrunde liegt (11, 14). In der Therapie
wird die Aufmerksamkeit deshalb
auf den kommunikativen Aspekt des
Symptoms, das heißt auf die Art der
Schilderung und des Umgangs damit
gerichtet, um darüber seine interpersonelle Bedeutung und Funktion zu
erschließen und einen Zugang zur
Innenwelt des Patienten zu erhalten
(10). Im Rahmen einer speziellen
Form von Gruppenpsychotherapie
(5, 16) sollten plastische Bilder und
Narrative eingesetzt und später auch
Episoden der gemeinsamen Gruppengeschichte (Kohärenz) wiederholt werden. Das Fokussieren auf
die Kommunikation ist ein notwendiger Schritt, um Gefühle verbalisieren und später zwischen Körpersymptom und Affekt differenzieren zu
können. Über die Erkennung und
Bearbeitung früherer Beziehungserfahrungen werden überholte unsichere Bindungsmuster durch sichere
ersetzt. Dies führt zu einem besseren
Selbstwertgefühl und darüber zur
Reduktion von Leeregefühlen. Die
eigene Leistungsfähigkeit, welcher
bei diesen Patienten eine große Bedeutung zukommt, wird realistischer
eingeschätzt.
Durch eine Operationalisierung
in Form eines Manuals ist heute eine
erfolgreiche ambulante psychotherapeutische Behandlung durch 40 Gruppensitzungen über einen Zeitraum von
sechs Monaten möglich (16). Insofern
leistet dieses Therapiekonzept auch einen wesentlichen Beitrag zu einer Kostenreduktion im Gesundheitswesen,
da dadurch dem regelhaften Arztwechsel dieser Patienten mit zahllosen
technisch-apparativen Abklärungen
entgegengewirkt werden kann.
Eine Einzeltherapie ist vor allem
bei nicht gruppenfähigen Patienten indiziert, was häufiger auf männliche Patienten mit diesem Störungsbild zutrifft, die nicht selten zusätzlich noch
unter einer Persönlichkeitsstörung
leiden. Entspannungsverfahren und
Schmerzbewältigungsprogramme sind
primär nicht indiziert, da sie im Hinblick auf die zugrunde liegende Beziehungsstörung zu kurz greifen (13).
Ausnahmen bilden der Einsatz von
Entspannungsverfahren im Rahmen
eines multimodalen stationären Therapieprogramms oder die vorgeschaltete Durchführung von Schmerzbewältigungsprogrammen bei einer ausgeprägten Chronifizierung mit iatrogener Schädigung (rehabilitative Zielsetzung).
Die stationäre Aufnahme in einer psychosomatischen Klinik ist indiziert, wenn:
❃ ein Missbrauch von Analgetika
oder anderen Medikamenten besteht,
❃ es zu Arbeitsunfähigkeit beziehungsweise häufigen Arbeitsfehlzeiten gekommen ist,
❃ eine ausgeprägte häusliche Konfliktsituation besteht,
❃ mit dem Patienten Zusammenhänge zwischen seiner Schmerzsymptomatik und psychischen Problemen nicht erarbeitet werden können
und damit seine Vermittelbarkeit zu
einer ambulanten Psychotherapie
nicht aussichtsreich erscheint.
Bei der Indikationsstellung sollte
hierbei zwischen einer kurativen Zielsetzung in einer psychosomatischen
Akutabteilung (Therapieziel: Schmerzfreiheit) und einer rehabilitativen
Zielsetzung in einer entsprechend ausgerichteten psychosomatischen Fachklinik (Therapieziel: adäquater Umgang mit dem Schmerz) differenziert
werden. Letzteres ist vor allem dann
indiziert, wenn es im Rahmen des
Chronifizierungsprozesses zu iatrogenen körperlichen Schädigungen gekommen ist. Die Motivierung der betroffenen Patienten zur Psychotherapie ist dann besonders schwierig, wenn
die Diagnose erst als Ultima Ratio in
Betracht gezogen wird und der Patient
sich damit in eine „Psycho-Ecke“ abgeschoben fühlt. Aufgrund der Häufigkeit der Erkrankung und des durch
diese Übersicht vermittelten Wissens
sollte bei jedem Patienten, der länger
als drei bis sechs Monate unter
Schmerzen leidet, vom betreuenden
Allgemeinarzt oder Orthopäden dieses Störungsbild differenzialdiagnostisch in Betracht gezogen werden.
Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 2000; 97: A-1469–1473
[Heft 21]
Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf
das Literaturverzeichnis, das über den Sonderdruck beim Verfasser und über das Internet
(www.aerzteblatt.de) erhältlich ist.
Anschrift für die Verfasser
Prof. Dr. med. Ulrich Tiber Egle
Klinik für Psychosomatische Medizin
und Psychotherapie
Universitätsklinikum Mainz
Johannes Gutenberg-Universität
Untere Zahlbacherstraße 8
55131 Mainz
Deutsches Ärzteblatt 97, Heft 21, 26. Mai 2000 A-1473
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