Editorial Vielerorts wird die Diagnose «somato- Trotzdem wird in der klinischen Praxis der forme Schmerzstörung» als eine Art Rest- Patient weiterhin munter im peripheren kategorie chronischen Bereich traktiert, gespritzt, «genadelt» Schmerzzustände verwendet, bei denen oder anderweitig invasiv behandelt. Selbst der Untersucher nach Abklärung eine oder offiziell ernannte Schmerzspezialis- Diskrepanz zwischen seinem Befund und ten wetteifern mit immer neuen originel- dem Ausmass der Schmerzschilderung len Ideen, was sich peripher noch alles des Patienten festzustellen glaubt. Damit hinter dem Schmerzgeschehen verstecken wird die Diagnose somatoforme Schmerz- könnte. Bildgebungsbefunde werden über- störung zu einem Synonym für «psychisch interpretiert – alles, um das Schmerzge- für all jene überlagerte» Schmerzzustände, teilweise auch für Aggra- schehen doch noch auf einen peripheren Befund zurück- vation oder gar Simulation. So gibt diese Diagnose dem führen Untersucher die Möglichkeit, an einem reduktionistischen Massnahmen nicht zum erhofften Erfolg, dann ..., ja dann zu können. Führen all diese elaborierten Somatoforme Schmerzstörung – was ist das eigentlich? Schmerzparadigma festzuhalten, wie es von René Descar- bleibt nur noch die Möglichkeit, dass der Patient an einer tes im Jahre 1644 («L’Homme») postuliert wurde. Danach somatoformen Schmerzstörung leiden muss. Inzwischen ist eine periphere Gewebeschädigung Bedingung für sind durchschnittlich 7 bis 9 Jahre seit Beginn des Schmerz, und das Ausmass der Schmerzen ist eng mit dem Schmerzgeschehens vergangen (5). Der Patient ist inzwi- Ausmass der Gewebeschädigung verknüpft. schen doppelt zum Leidenden geworden: er leidet sowohl unter seinen Schmerzen als auch am Selbstverständnis des Aktuelle Erkenntnisse werden kaum klinisch umgesetzt Systems, das vorgibt, ihm diese mit immer invasiveren Das Bemühen um eine strikte Abgrenzung vom damals Methoden nehmen zu wollen. Die zahlreichen Unter- vorherrschenden Schmerzverständnis, wonach anhalten- suchungen und Behandlungen haben ihn auf eine peri- der Schmerz eine Strafe Gottes für im Leben aufgeladene phere Verursachung seiner Schmerzen fixiert. Durch die Schuld darstellt, liess wenig Raum für Schmerzen, die mit der Diagnose einer somatoformen Schmerzstörung nicht durch eine periphere Gewebeschädigung bedingt einhergehende Überweisung zum Psychiater fühlt er sich sein könnten (2). Die neurobiologische Forschung der letz- diskreditiert und geht stattdessen oft lieber zu «Heilsver- ten 10 Jahre hat jedoch verdeutlicht, dass dieses reduktio- sprechern», welche sich zwischenzeitlich zuhauf in dieser nistische Reiz-Reaktions-Konzept gerade bei chronischen Nische einrichten. Diese setzen in erster Linie auf die bei Schmerzzuständen wissenschaftlich überholt ist. Da es Schmerz ohnehin erhöhte Plazeborate, indem sie – oft erst- viele Patienten chronifiziert und nicht zuletzt auch teuer malig – über ein ausführliches Gespräch und viel Empa- für das Gesundheitswesen ist, ist es mehr als nur bedauer- thie beim Patienten eine hohe Wirkerwartung für ihre lich, dass sich diese neurobiologischen Erkenntnisse bis- Methode schaffen. Leider ist auch der Plazeboeffekt übli- her kaum im klinischen Handeln niederschlagen. Denn cherweise kein anhaltender, und die Enttäuschungsspirale selbst wenn ursprünglich eine periphere Gewebe- oder des Patienten dreht sich weiter. Nervenschädigung als Auslöser fungiert hat, spielt diese Sollte er jedoch tatsächlich irgendwann zum Psychiater im Rahmen der in erster Linie zentral in verschiedenen gelangen und dann zu einem Psychotherapeuten überwie- Hirnbereichen (ACC, Präfrontalkortex, Amygdala, Hippo- sen werden, hat er gute Chancen, dass ihm das über- campus, Insula) ablaufenden Chronifizierungsprozesse gestülpt wird, was dieser schulenspezifisch gelernt hat: keine wesentliche Rolle mehr. Das Gehirn übernimmt das der Verhaltenstherapeut macht als Pauschalangebot Drehbuch für das weitere Schmerzgeschehen! Schmerzbewältigungstraining, und da dafür eine genauere 3 Psychiatrie & Neurologie 3•2009 Editorial Differenzierung der zugrunde liegenden Pathomechanis- generieren (6). Dabei werden biografisch früh geprägte men nicht erforderlich ist, wird er sich in der Regel nicht Schmerzerfahrungen reaktiviert, die mit Gefühlen von Hilf- mit differenzialdiagnostischen Überlegungen abmühen. losigkeit und Ausgeliefertsein einhergegangen waren (1). Letzteres gilt auch für den Psychoanalytiker. Dieser geht Diese sprechen nur auf einen sehr spezifischen psychothe- pauschal von einem Konversionskonzept aus – war dieses rapeutischen Ansatz an und können durch einen solchen doch von Freud gerade an einer Patientin mit chronischen vollständig und anhaltend zum Verschwinden gebracht Schmerzen entwickelt worden – und versucht über ein (oft werden (3, 4). Auch für andere unter dem diagnostischen nur durch seine eigene Phantasiefähigkeit begrenztes) Omnibus «somatoforme Schmerzstörung» subsumierten Verständnis der Ausdruckshaltigkeit des Symptoms früh- Pathomechanismen trifft dies zu: Patienten mit körper- kindlich entstandene intrapsychische Konflikte zu kons- licher und psychischer Komorbidität brauchen – gut auf- truieren, die mit Schuld und Bestrafung einhergehen. einander abgestimmt – Schmerztherapie, Psychotherapie und Psychopharmakotherapie. Bei Patienten mit durch Inflationäre Diagnosestellung Muskelverspannung bedingten Schmerzzuständen sollten So bietet die somatoforme Schmerzstörung für jeden et- unbedingt Biofeedback oder andere Entspannungsverfah- was: sei es, das Versagen des fachspezifisch somatischen ren, gegebenenfalls auch Angstbewältigungstraining (für Therapieansatzes im Nachhinein zu begründen, sei es dem die hier häufig übersehenen Angsterkrankungen!) durch- Patienten einen schulenspezifischen Psychotherapieansatz geführt werden (3). All dies wird – wenn es bereits früh anzudienen. Ist alles ausgeschöpft, kann die Diagnose eingesetzt wird – nicht nur ganz erheblich die Kosten, son- dann sogar noch die Frühinvalidität begründen. Ist es da dern auch die Zahl schwer chronifizierter und iatrogen noch überraschend, dass die Diagnose sich in den letzten geschädigter Schmerzpatienten reduzieren. Psychiatrie, Jahren vergleichbar einer Pandemie ausbreitete? In Psychosomatik und Psychotherapie können dazu Wesentli- Deutschland wurde dies zusätzlich dadurch beschleunigt, ches beitragen! Ein erster Schritt wäre eine kritische Über- dass durch eine solche «F-Diagnose» auch noch das DRG- prüfung der Einheitsdiagnose somatoforme Schmerz- Pauschalsystem ausgebremst werden kann und damit wie- störung. ◆ der ein «ordentlicher» Tagessatz Grundlage der Abrechnung stationärer und teilstationärer Leistungen ist. Prof. Dr. Ulrich T. Egle Dass Diagnosen eigentlich dazu dienen, eine möglichst ge- Ärztlicher Direktor zielte Therapieplanung durchzuführen, und dass zu Dia- Psychosomatische Fachklinik Gengenbach gnosen deshalb auch differenzialdiagnostische Überlegun- Wolfsweg 12 gen gehören, wird durch all die skizzierten Vorteile D-77723 Gengenbach überlagert. Eine möglichst gezielte und ökonomisch effiziente Behandlung vieler chronischer Schmerzpatienten Literatur: entsprechend den dem Schmerzgeschehen zugrunde- 1. Egle UT, Nickel R: Somatoforme Schmerzstörung. Deutsches Ärzteblatt liegenden Mechanismen unterbleibt! (im Druck). 2. Egloff N, Egle UT, von Känel R: Weder Descartes noch Freud? Aktuelle Wir hätten effiziente therapeutische Möglichkeiten! Dabei wissen wir heute über die neurobiologischen Zusammenhänge bei der Schmerzentstehung und -verarbeitung hinreichend Bescheid und haben für eine wirksame Behandlung der beteiligten Pathomechanismen auch genügend Methoden in den Bereichen Psychotherapie, Psychosomatik, Physiotherapie und Sporttherapie zur Verfügung! Dies gilt gerade auch für die somatoforme Schmerzstörung im engeren Sinne, bei der keinerlei peri- Schmerzmodelle in der Psychosomatik. Praxis 2008; 97: 549–557. 3. Egloff N, Egle UT, von Känel R: Therapie zentralisierter Schmerzstörungen. Praxis 2009; 98: 271–283. 4. Nickel R, Egle UT: Manualisierte psychodynamisch-interaktionelle Gruppentherapie. Therapiemanual zur Behandlung somatoformer Schmerzstörungen. Psychotherapeut 2001; 46:11–19. 5. Nickel R, Hardt J, Kappis B, Schwab R, Egle UT: Somatoforme Störungen mit Leitsymptom Schmerz. Ergebnisse zur Differenzierung einer häufigen Krankheitsgruppe. Schmerz (im Druck, DOI 10.1007/ s00482-009-0805-6). 6. Stoeter P, Bauermann T, Nickel R, Corluka L, Gawehn J, Vucurevic G, pherer Input als Schmerzursache besteht, sondern zen- Vossel G, Egle UT: Cerebral activation in patients with somatoform pain trale Vorgänge im Gehirn durch Wechselwirkungen von disorder exposed to pain and stress: An fMRI study. NeuroImage Schmerz- und Stressverarbeitungssystem die Schmerzen 2007; 36: 418–430. 4 Psychiatrie & Neurologie 3•2009