Psychosomatik Fall 5 - Ahmet Gökce Özel und Felix Carl Sievers -19 jährige Patientin - Aufnahme in gynäkologischer Klinik mit mittelschweren Unterbauchbeschwerden - seit 2 Jahren Schmerzen im Mittel- und Unterbauch (diffuse Ausdehnung) - Schmerz: drückend, ziehend, andauernd vorhanden, nicht zyklusabhängig - Vor 6 Mon. Appendektomie wegen der Schmerzen - 14 d nach OP „gleicher Schmerz“ - Labor unauffällig - Hämocult – Test: negativ - Gyn: v.a. Endometriose Laparoskopie ? - latente Übelkeit - Pat. befürchtet schwere Krankheit (evt. Krebs) - b.B.: frei verkäufliche Schmerzmittel, keine Besserung - Lebenssituation: Scheidung der Eltern vor ca. 2 Jahren; Eltern sprechen nicht miteinander, Pat. befürchtet Lehre als Reisekauffrau nicht abschließen zu können, da häufige Fehlzeiten - Untersuchung: gynäkologisch keine Auffälligkeiten, Sono: o.p.B.; 1.Frage: Welche differentialdiagnostischen Überlegungen erscheinen Ihnen sinnvoll ? Somatoforme Störung vs Körperliche Störung Differentialdiagnostisch lassen sich bei der somatoformen Störung folgende psychosomatische Krankheitsbilder unterscheiden: 1.) Somatisierungsstörung: Definition: Chronisch verlaufendes, mit gravierenden Gesundheitseinschränkungen verbundenes Krankheitsbild Diagnosestellung: - mind. 2 Jahre anhaltende multiple körperliche Symptome in unterschiedlichen Organbereichen, für die keine ausreichende somatische Erklärung gefunden wird. - hartnäckige Weigerung den Rat oder die Versicherung mehrere Ärzte anzunehmen, dass für die Symptome keine körperliche Erklärung zu finden ist. - eine gewisse Beeinträchtigung familiärer und sozialer Funktionen durch die Art der Symptome und durch das daraus resultierende Verhalten. - Häufig werden die somatoformen Symptome von Depressionen und Angst begleitet 2.) Undifferenzierte Somatisierungsstörung: Die USD stellt eine mildere Verlaufsform der SD dar mit geringerer Schwere aber ansonsten gleicher Charakteristika. Die USD ist eine Art Sammelkategorie in die alle nichtspezifischen somatoformen Störungen fallen . 3.) Hypochondrische Störung: Diagnosekriterien: Mindestens 6 Monate anhaltende Überzeugung vom Vorhandensein wenigstens einer ernsthaften, vom Patienten benennbaren körperlichen Krankheit, als Ursache für vorhandene Symptome, trotz wiederholter negativer Untersuchungsergebnisse. - Ständige Weigerung, den Rat und die Versicherung mehrerer Ärzte zu akzeptieren, dass den Symptomen keine körperliche Krankheit zugrunde liegt - Das Leiden an den körperlichen Anzeigen / Beschwerden tritt dagegen in den Hintergrund - Patienten fürchten Medikamente und ihre Nebenwirkungen 4.) Somatoforme autonome Funktionsstörung: - Erkrankungen, die als nicht ausreichend begründbare Funktionsstörungen von den Patienten Organen zugeordnet werden, die vorwiegend vom autonomen Nervensytem kontrolliert werden - Vegetative Symptome wie Schweißausbrüche, Mundtrockenheit oder Zittern werden den kardiovaskulären, gastrointestinalen, respiratorischen oder dem urogenital System zugeordnet. - Die Definition ist nicht an Zeitkriterien gebunden. 5.) Anhaltende somatoforme Schmerzstörung: - Anhaltendes Klagen über schwere und quälende Schmerzen, für deren Erklärung adäquat durchgeführte somatische Untersuchungen keine ausreichenden Anhalt e ergeben. - Emotionale und psychosoziale Belastungsfaktoren müssen als ursächlich angesehen werden - Chronizität gilt, wenn die Schmerzsymptomatik länger als 6 Monate besteht Körperliche Störungen - Patienten sind nicht mehr, aber auch nicht weniger krank als Patienten ohne somatoforme Störungen - Bei plötzlich veränderten Beschwerdecharakteristika muss erneut eine organische Erkrankung ausgeschlossen werden Depressive Störung - Oft Komorbidität bei somatoformer Schmerzstörung - anamnestisch Kardinalsymptome wie Antriebsstörungen, Schlafstörungen, Unruhe, Essstörungen 2. Frage: Welche Diagnose stellen Sie anhand welcher Kriterien? Somatoforme Schmerzstörung: Hauptmerkmal: chronisches Syndrom von mehrjähriger Dauer mit vielfältigen, rezidivierenden und flukturierenden körperlichen Beschwerden und andauernden, schweren, quälenden Schmerzen, die durch einen physiologischen Prozess oder eine körperliche Störung nicht vollständig erklärt werden können. Meist besteht eine komplizierte medizinische Vorgeschichte mit vielen körperlichen Diagnosen und einer Vielzahl von behandelnden Ärzten (Doctor-Shopping). Die Schmerzen sind in einer oder mehreren anatomische Regionen lokalisiert (-> Unterbauch) Für eine Diagnosestellung wird eine Dauer der Beschwerden von mind. 6 Monaten gefordert. Relativ häufig findet sich Missbrauch von Alkohol, Schmerzmitteln oder Tranquilizer und eine familiäre Häufung. In der Pathogenese spielen kritische Lebensereignisse, seelische Belastungssituationen (-> Scheidung der Eltern; Eltern reden nicht mehr miteinander) und Konflikte eine wesentliche Rolle Es besteht eine gewisse Beeinträchtigung familiärer und sozialer Funktionen durch die Art der Symptome (häufige Fehlzeiten) Patienten, bei denen psychische Faktoren eine Rolle spielen, beschreiben: a) die Lokalisation der Schmerzen eher vage als genau lokalisiert b) diese eher mit affektiven als mit sensorischen Adjektiven c) typischerweise keine Unterschiede in der Schmerzintensität in Abhängigkeit vom Tagesverlauf und anderen be- oder entlastenden Faktoren 3. Frage: Welche zusätzlichen Informationen halten Sie für notwendig, um Ihre Diagnose zu erhärten bzw. die Problematik besser zu verstehen? Es ist hierbei wichtig, dass die Anamnese über die aktuellen organbezogenen Beschwerden erweitert wird (objektiver Befund/subjektive Krankheitsgeschichte) Die Diagnose ist hierbei eine organische (Ausschluss-) Diagnose, die geplant, nicht redundant und zeitlich gerafft erfolgen sollte. Danach folgt die psychische Diagnose, wobei der psychosoziale Hintergrund des Patienten speziell berücksichtigt werden sollte: - Wie war die Kindheit der Patientin (körperliche Misshandlung/sex. Missbrauch)? - Wie war/ist die familiäre Atmosphäre (vor/nach der Scheidung), Verarbeitung der Scheidung, Empfindungen, Akzeptanz? - Wie ist die berufliche Belastung? - Persönliche Kontakte, soziales Umfeld? - Familiäre Prädisposition hinsichtlich somatoformer Schmerzstörung? - Situation, die eine Symptomverbesserung oder –verschlechterung auslöst? - Medikamentenanamnese - Schmerzanamnese - „doctor shopping“ - Gibt es Zeichen einer früher oder gegenwärtig vorhandenen depressiven Störung, Angststörung oder Persönlichkeitsstörung (Komorbidität)? 4. Frage: Nennen Sie mögliche psychosomatische Mechanismen in der Genese der Erkrankung! Den somatoformen Störungen liegt eine „Übersetzung“ unbewusster Konflikte in Körpersprache zugrunde. Innerpsychische Konflikte werden auf der „Bühne des Körpers“ ausagiert. Dabei spielt das Auftreten von diffuser Angst, v.a. Schuldängsten, eine besondere Rolle. Durch den entstehenden primären (inneren) und sekundären (äusseren) Krankheitsgewinn kann eine Entlastung von der Konflikt- und Affektspannung erreicht werden. Dabei spielen unterschiedliche Abwehrmechanismen (Verschiebung, Rationalisierung, Somatisierung) zusammen. Aus lerntheoretischer Sicht spielt ein sich immer wieder verstärkender Kreislauf eine entscheidende Rolle bei der Entstehung. Neurobiologische Modelle werden unterstützt, da die meisten somatoformen Störungen auch bei Verwandten 1. Grades der Patienten auftreten. Schmerz – schützt vor Verletzung, ist verknüpft mit sozialen Beziehungen, als Zeichen der Schuld, als Zeichen des Verlustes. 5. Welches therapeutische Procedere wählen Sie und warum? Herstellen einer vertrauensvollen Arzt-Patienten-Beziehung Patient mitteilen, dass seine Erkrankung ernst genommen wird Ziel: Vermeidung langer, intensiver, nicht indizierter therapeutischer Massnahmen Kritische Bewertung von Befunden Angebot eines interaktiven Erklärungsmodells (z.B. Rückenschmerzen aufgrund chron. psychischer Anspannung) Aktive Unterstützung der sozialen Reintegration Begleitung bei eingetretener Chronifizierung (Verhinderung schmerzbedingter Einschränkungen seines Lebensstils, regelmässige Kontakttermine, Diskussion über Realität der Beschwerden) Verhaltenstherapeutische Massnahmen (Sensibilisierung der Körperwahrnehmung) Ggf. Motivierung zur Überweisung in die Fachpsychotherapie Pharmakotherapie zur Linderung psychischer Symptome (evt. Gabe von Antidepressiva aussichtsreich) 6. Frage: Welche Quellen haben Sie zur Beantwortung benutzt (mit Titelangabe)? AWMF online Leitlinien: Somatoforme Störungen, besonders Andauernde somatoforme Schmerzstörung Psychotherapeutische Medizin und Psychosomatik, 4. Auflage, Gerd Rudolph Psychiatrie und Psychotherapie, MLP, Duale Reihe Neurotische Störungen und Psychosomatische Medizin, 7. Auflage, Hoffmann und Hochapfel