Psychiatrie Vor 10 Somatoforme Störungen Definition: Hauptmerkmal der somatoformen Störungen ist ein anhaltendes oder wiederholtes Auftreten von körperlichen Symptomen, für die keine ausreichenden organischen Befunde nachweisbar sind, bei denen aber in der Pathogenese seelische Belastungssituationen und Konflikte eine wesentliche Rolle spielen. Die wichtigsten Formen sind die: -Somatisierungsstörung -hypochondrische Störung -somatoforme Schmerzstörung. Jedes Organ und jede Körperfunktion kann betroffen sein. Die Folgen sind oft gravierend (z.B. umfangreiche Untersuchungen, Operationen). Eine psychiatrische Untersuchung erfolgt, wenn überhaupt, in der Regel erst nach langem Verlauf. Der Begriff der somatoformen Störung umfasst teilweise auch die Konversionsstörungen Historisches: In älteren Konzepten und Systemen wurden diese Störungen sehr unterschiedlich bezeichnet. Der Begriff der Hypochondrie leitete sich von „unter den Rippen" (Regio hypochondrica). Beziehungen bestehen auch zu Krankheitsbezeichnungen wie „psychovegetatives Syndrom", „vegetative Dystönie" oder „psychosomatischer Beschwerdekomplex". Epidemiologie: Es handelt sich um häufige Störungen, die einen nicht unerheblichen Teil der Diagnosen in der Hausarztpraxis ausmachen. -Hypochondrische Störungen treten bei 4-6% aller Menschen auf, es bestehen keine Geschlechtsunterschiede. -Die Somatisierungsstörung betrifft überwiegend Frauen, die Lebenszeitprävalenz beträgt etwa 4%. -Die somatoforme autonome Funktionsstörung ist die häufigste somatoforme Störung (febenszeitprävalenz bis 25%). -Somatoforme Schmerzstörungen sind bei Männern und Frauen etwa gleich häufig und kommen familiär gehäuft vor. Ätiopathogenese: Unterschiedliche Faktoren wirken zusammen -Nach psychoanalytischen Modellen liegt eine „Übersetzung" unbewusster Konflikte in Körpersprache zugrunde. -Aus lerntheoretischer Sicht spielt ein erlernter, sich immer wieder verstärkender Kreislauf eine entscheidende Rolle. So wird z.B. ein Patient, der seinen Herzrhythmus durch Tasten des Pulses kontrolliert, tatsächlich durch ängstliche Anspannung provozierte Extrasystolen bemerken. Das wiederholte Erleben solcher Phänomene kann die Symptome fixieren. -Auch neurobiologische Modelle werden diskutiert. Das Auftreten somatoformer Störungen wird gefördert durch: -asthenisch-selbstunsichere Persönlichkeitsstruktur -Alexithymie (mangelnde Fähigkeit zum Ausdruck von und Umgang mit Gefühlen) -zeitlichen Zusammenhang mit ausgeprägter seelischer und/oder körperlicher Überforderung (Mehrfachbelastung) -Anfälligkeit bestimmter Organe („Organminderwertigkeit") -Identifikation mit den Beschwerden nahestehender Bezugspersonen. Symptomatik und klinische Subtypen Hauptmerkmale sind nicht unter willentlicher Kontrolle stehende körperliche Symptome, für die sich keine eindeutigen pathologischen organischen Hinweise finden lassen, bei deren Genese aber seelische Belastungssituationen wahrscheinlich eine Rolle spielen Hypochondrische Störung Definition: Anhaltende übermäßige Angst oder Befürchtung, an einer schweren körperlichen Erkrankung zu leiden, obwohl für die weitgehend unspezifischen körperlichen Symptome keine organische Ursache gefunden werden kann. Wesentlich sind die übermäßige gedankliche Beschäftigung mit der vermeintlichen Organstörung und die daraus resultierenden, teilweise gravierenden Folgen im Bereich der Kommunikation Soziale Beziehungen und berufliche Leistungsfähigkeit sind oft gestört. Zu den Verhaltensmustern dieser Patienten gehört u.a. häufiger Arztwechsel („doctor-shopping) Bei der körperdysmorphen Störung (Dysmorphophobie) besteht eine übermäßige Beschäftigung mit einem nicht vorhandenen Mangel in der körperlichen Erscheinung, besonders bezogen auf das Gesicht Somatisierungsstörung Definition: Kennzeichen dieser Störung sind multiple, meist viele Jahre bestehende Körpersymptome, die umfangreiche diagnostische und therapeutische Maßnahmen bewirken, obwohl keine ausreichende körperliche Erklärung gefunden wird. Jedes Körperteil oder Organsystem kann betroffen sein.Das meist mehrere Jahre anhaltende Beschwerdebild führt in der Regel zur Beeinträchtigung verschiedener Lebensbereiche. Eine undifferenzierte Somatisierungsstörung wird diagnostiziert, wenn nicht das vollständige klinische Bild der Somatisierungsstörung vorliegt, sondern nur einzelne Symptome bestehen. Funktionsstörungen vegetativ innervierter Organsysteme werden nach ICD-10 unter der somatoformen autonomen Funktionsstörung klassifiziert. Vegetative Beteiligung mit subjektiven Beschwerden und hartnäckigem Beharren auf einem Organ bestimmen das klinische Bild. Somatoforme Schmerzstörung Definition: Es handelt sich um ein chronisches Syndrom von mehrjähriger Dauer mit vielfältigen, rezidivierenden und fluktuierenden körperlichen Beschwerden und andauernden, schweren, quälenden Schmerzen, die durch einen physiologischen Prozess oder eine körperliche Störung nicht vollständig erklärt werden können. Meist besteht eine komplizierte medizinische Vorgeschichte mit vielen körperlichen Diagnosen und einer Vielzahl von behandelnden Ärzten. Die Beschwerdeschilderung hat meist appellativen Charakter, die Lokalisation wechselt rasch. Für die Diagnosestellung wird eine Dauer der Beschwerden von mindestens 6 Monaten gefordert. Relativ häufig findet sich Missbrauch von Alkohol, Schmerzmitteln oder Tranquilizern) Diagnostik und Differenzialdiagnose Diagnostik: Für die Diagnose der somatoformen Störungen ist das Auftreten multipler unterschiedlicher körperlicher Symptome über einen längeren Zeitraum bedeutsam. Psychovegetative Allgemeinerscheinungen finden sich vereinzelt oder vorübergehend auch bei gesunden Personen (z. B. Schlafstörungen, Nervosität). Oft fällt eine wenig adäquate Beschwerdeschilderung auf. Es bestehen meist „psychische Randsymptome" wie z. B. innere Unruhe, depressive Verstimmung, Angst und Schlafstörungen Die Patienten weigern sich oft hartnäckig zu akzeptieren, dass den Beschwerden keine körperliche Ursache zugrunde liegt. Wenn somatische Störungen einen Teil der Störungen erklären können, lassen Ausmaß, subjektives Leiden und innere Beteiligung eine Mitbeteiligung psychogener Faktoren vermuten. Differenzialdiagnose: Am wichtigsten ist die Abgrenzung von organischen Störungen. Eine gründliche körperliche Untersuchung ist deshalb unerlässlich. Berücksichtigt werden müssen körperliche Erkrankungen, die mit vorübergehenden und unspezifischen Beeinträchtigungen einhergehen (z. B. Porphyrie). Gegenüber dissoziativen Störungen und Konversionsstörungen grenzen sich somatoforme Störungen durch weitgehende Stabilität und Persistenz der Symptomatik sowie durch den meist fehlenden zeitlichen Zusammenhang zu traumatisierenden Erlebnissen ab Unspezifische körperliche Symptome können auch Ausdruck einer depressiven Störung sein. Häufig findet sich eine Komorbidität von somatoformen Störungen mit affektiven Erkrankungen. Überschneidungen bestehen auch mit Angststörungen, z. B. im Rahmen von Panikattacken. Auch im Rahmen psychotischer Störungen können zönästhetische Symptome bzw. wahnhafte Krankheitsüberzeugungen auftreten Therapie Es gibt keine spezifische Therapie. Die Strategie muss auf den Einzelfall ausgerichtet sein. Ziel ist es, dem Patienten beim Verständnis der psychischen Ursachen zu helfen und die privaten und sozialen Folgen gering zu halten. Weitere Ziele sind z. B. die Verminderung von Medikamenteneinnahme und die verringerte Inanspruchnahme medizinischer Einrichtungen. Die Therapie sollte von einer festen Bezugsperson begleitet werden. Der sekundäre Krankheitsgewinn muss beachtet werden. Verhaltenstherapie ist bei somatoformen Störungen gut untersucht. Wichtige Aspekte dabei sind z.B. die Bearbeitung von kognitiven Schemata und Überzeugungen hinsichtlich der somatischen Symptome oder die Sensibilisierung gegenüber den kognitiven Effekten von Aufmerksamkeit und Körperwahrnehmung Psychoanalytische Verfahren fokussieren besonders auf die Bearbeitung früherer Traumatisierungen, eigener Krankheitserfahrungen und evtl. vorhandener Schuld- und Bestrafungsgefühle. Bei depressiver Symptomatik und bei Schmerzsyndromen können Antidepressiva und niedrig dosierte Neuroleptika erwogen werden. Die medikamentöse Behandlung mit Benzodiazepinen darf wegen der Gefahr der Abhängigkeitsentwicklung nur kurzfristig durchgeführt werden. Verlauf In der Regel ist mit einem längerfristigen Krankheitsverlauf zu rechnen. Die Prognose der hypochondrischen Störung ist unterschiedlich, häufig verläuft sie chronisch. Bei einigen Patienten kann die Symptomatik jedoch spontan abklingen. Komorbide Störungen (z. B. Depressivität, Sucht) müssen frühzeitig erkannt und behandelt werden. Die Somatisierungsstörung und die somatoforme Schmerzstörung sind meist chronisch verlaufende Beschwerdebilder mit fluktuierender Symptomatik. Abhängigkeit oder Missbrauch von Medikamenten werden häufig beobachtet. Komorbidität Am häufigsten besteht eine Verbindung mit depressiven Erkrankungen, sowie mit Angststörungen und Persönlichkeitsstörungen. Weitere Formen Die Neurasthenie ist ein Zustand der anhaltenden übersteigerten Erschöpfung schon nach geringen Belastungen mit seelischen und körperlichen Symptomen. Das Fibromyalgie-Syndrom ist gekennzeichnet durch Schmerzen in verschiedenen Körperregionen, verbunden mit unspezifischen körperlichen Symptomen und psychischen Auffälligkeiten. Das chronische Müdigkeitssyndrom (CFS) soll vorwiegend nach körperlichen Erkrankungen auftreten und mehr als 6 Monate anhalten. Die Neurasthenie und das chronische Müdigkeitssyndrom sind keine abgrenzbaren psychiatrischen Krankheitsbilder, sondern sind weitgehend unspezifisch. In empirischen Studien fanden sich bei 50-80% der Patienten mit CFS frühere oder aktuelle psychische Störungen. Ätiologisch ist ein komplexes Zusammenwirken biologischer, psychischer und sozialer Faktoren anzunehmen. Auch das „chemische Hypersensitivitätssyndrom„ ist kein einheitliches Krankheitsbild. Ähnlich umstritten ist das sog.”Sick-Building-Syndrome". Das Burn-out-Syndrom (Erschöpfungssyndrom) Menschen, mit helfenden Berufen sind von der Burn-out-Symptomatik bedroht. Typisch sind psychische Symptome wie z. B. Hoffnungslosigkeit, Hilflosigkeit, Schuldgefühle, aggressive Impulse und körperliche Symptome (z. B. Erschöpfung, Kopfschmerzen, Schlafstörungen, Herzbeschwerden, sexuelle Probleme). Konsequenzen im Verhalten, in sozialen Beziehungen und auf Einstellungen und Haltungen des Betroffenen. In der Therapie müssen Stressoren identifiziert und neue Bewältigungsstrategien entwickelt werden.