Funktionelle und somatoforme Störungen im Kindes- und Jugendalter PD Dr. Meinolf Noeker, Dipl. Psych. Zentrum für Kinderheilkunde der Universität Bonn [email protected] Übersicht Grundlagen 1. Funktionelle und somatoforme Störung - Klinisches Spektrum, Definition, Klassifikation, Differentialdiagnose, 2. Eigenes Ätiologiekonzept: 2-Phasen-Modell - Die somatoforme Anpassungsstörung an funktionelle Symptomatik 3. Prototypisches Störungsbild: Funktioneller Bauchschmerz 4. Mediatoren des Übergangs von einer einfachen funktionellen Symptomatik in eine komplexe somatoforme Störung Diagnostik und Intervention 5. Leitprinzipien der Intervention 6. Positive Diagnosestellung 7. Patientenaufklärung / Psychoedukation 8. Verhaltensmedizinische Intervention 9. Evaluation, Evidenz 10. Zusammenfassung Spektrum typischer Beschwerden ohne hinreichend erklärenden organisch-pathologischen Befund Pädiatrische Fachdisziplin Medizinisch nicht erklärbares resp. diagnostizierbares Symptom oder Syndrom Gastroenterologie Rekurrierender, funktioneller Bauchschmerz, funktionelle Diarrhö / Obstipation HNO Globusgefühl, Schluckbeschwerden, Dysphonie Neuropädiatrie Kopfschmerz, Schwindel, Lähmungen, Sensibilitätsstörungen, nicht-epileptische Anfälle Infektiologie Chronic fatigue syndrome Rheumatologie Fibromyalgie, unspezifische Gelenkschmerzen Kardiologie Schmerz und Druckgefühl im Brustbereich, Synkope Orthopädie Rückenschmerzen, Gang- und Standstörungen Pneumologie Hyperventilation Funktionelle Symptome bei Kindern: Epidemiologie Studien • • • • • niederländische Studie zu chronischen Schmerzstörungen [Perquin et al, Pain, 2006], Studie aus Ostholstein zu Schmerzsymptomen [Roth-Isenberg et al., Pediatrics, 2005], norwegische Studie zu unspezifischen Schmerzsymptomatiken [Groholt et al., Eur J Epidem, 2003], Bremer Jugendstudie mit einem Teilprojekt zu somatoformen Störungen [Essau et al., ZPPP, 2004], Leipziger Studie zu somatoformen Störungen im Jugendalter [Hessel et al., Psychotherapeut, 2003], Ergebnisse • Etwa ein Drittel der Kinder und Jugendlichen in der Allgemeinbevölkerung leidet an mindestens einer unklaren körperlichen Beschwerde. • Im Unterschied zu den polysymptomatischen, fluktuierenden Beschwerdebildern des Erwachsenenalters dominieren im Kindesalter monosymptomatische Beschwerdebilder. • Die häufigsten Beschwerden beziehen sich auf funktionelle Schmerzstörungen. Im Vordergrund stehen Kopf- und Bauchschmerzen mit einer Häufigkeit von jeweils etwa zehn Prozent. • Kinder und Jugendliche mit unklaren Schmerzen erfahren eine deutliche Beeinträchtigung von Wohlbefinden, Lebensqualität und psychosozialer Funktionsfähigkeit; diese Beeinträchtigung betrifft ebenso die Familie. • Assoziation unklarer körperlicher Beschwerden mit psychischen Störungen, insbesondere Angststörungen und Depression auf. Verschiedene Disziplinen, gleicher Patient, divergierende Terminologie Fachspezifische pädiatrische / internistische Literatur z.B. „Funktionelle gastrointestinale Störung“ Schmerzforschung „Chronisches Schmerzsyndrom“ Psychologisch-psychiatrische Literatur „Somatoforme Störung und Hypochondrie“ Identischer Patient mit unklaren funktionellen Symptomen und gesteigertem Krankheitsverhalten Somatisierung: Definition (Lipowski, 1988) Tendenz, • körperlichen Streß zu erleben und zu kommunizieren, • der nicht hinreichend durch pathologische Befunde zu erklären ist, • diesen auf körperliche Erkrankung zurückzuführen und • dazu medizinische Hilfe aufzusuchen. Typische Glaubenssätze von Patienten / Eltern mit somatoformer Schmerzstörung •„Die Ursache von Schmerz ist immer Krankheit. Negative Befunde bedeuten, dass die wirkliche Krankheitsursache noch nicht identifiziert ist. Daher muss die Diagnostik so lange weitergeführt oder wiederholt werden, bis ein pathologischer Befund vorliegt.“ •„Erst wenn eine Diagnose vorliegt, kann der Schmerz bekämpft werden und erst dann kann unser Kind wieder aktiv werden, zur Schule gehen und glücklich werden.“ •„Von der heutigen Hochleistungsmedizin dürfen wir eindeutige Ursachenklärung und Beschwerdefreiheit erwarten – erst recht bei so „banalen Problemen“ wie Bauchschmerz, Kopfschmerz, Gliederschmerz !“ Diskrepanz zwischen Krankheit, Kranksein und Krankenrolle Biopsychosoziale Ebenen Gegenstand Diagnostischer Zugang Krankheit (disease) - Biologische Ebene Keine objektivierbaren Symptome Objektiv=berurteilerunabhängig: Labor, Bildgebung, Histologie .. Kranksein (illness) - Psychische Ebene Starke subjektive Beschwerden, hoher Leidensdruck Selbstbericht - Anamnese und Exploration .. Krankenrolle (sickness) - Interaktionelle Ebene Exzessives Krankheits- und Inanspruchnahmeverhalten Fremdbericht - Verhaltensbeobachtung und Fremdanamnese .. „Störung des subjektiven Befindens ohne objektiven Befund“ „Kranksein ohne Krankheit“ ICD F40-F48 Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen F40.- Phobische Störungen F41.- Andere Angststörungen F42.- Zwangsstörung F43.- Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen F44.- Dissoziative Störungen [Konversionsstörungen] F45.- Somatoforme Störungen F48.- Andere neurotische Störungen Somatoforme Störung (ICD) • Somatisierungsstörung (F45.0) Polysymptomatische, über den Verlauf stark fluktuierende Beschwerbilder; bei Kindern und Jugendlichen selten. • Undifferenzierte Somatisierungsstörung (F45.1) Mäßige Variabilität der Beschwerden • Hypochondrische Störung (F45.2) • Somatoforme autonome Funktionsstörung (F45.3) Kardiovaskuläres, gastrointestinales, respiratorisches, urogenitales System • Anhaltende somatoforme Schmerzstörung (F45.4) Medizinisch unklare Schmerzstörungen über mindestens 6 Monate Somatoforme Störung in der Pädiatrie Koexistenz psychischer, funktioneller, organischer Befunde: Klassifikatorisches Umfeld ICD-10 1. Somatoforme Störungen F45 2. Dissoziative Störungen F44 (incl. motorische und sensorische Konversionsstörungen, nichtepileptische psychogene Anfälle) 3. Psychologische Faktoren und Verhaltensfaktoren bei andernorts klassifizierten somatischen Krankheiten (z.B. Asthma bronchiale) F54 4. Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren (z.B. Essstörungen, Schlafstörungen) F5 5. (Koinzidenzielle) Komorbidität von organischer Erkrankung und psychischer Störung 6. Entwicklung körperlicher Symptome aus psychischen Gründen (artifizielle Störung/MbpS; Simulation) F68.0 7. Spezif. Verhaltens- & emotionale Störungen mit Beginn in Kindheit & Jugend (z.B. nicht organische Enuresis, Enkopresis) F98.0 Klassifikation von isolierten Symptomen / Beschwerden Übersicht Grundlagen 1. Funktionelle und somatoforme Störung - Klinisches Spektrum, Definition, Klassifikation, Differentialdiagnose, 2. Eigenes Ätiologiekonzept: 2-Phasen-Modell - Die somatoforme Anpassungsstörung an funktionelle Symptomatik 3. Prototypisches Störungsbild: Funktioneller Bauchschmerz 4. Mediatoren des Übergangs von einer einfachen funktionellen Symptomatik in eine komplexe somatoforme Störung Diagnostik und Intervention 5. Leitprinzipien der Intervention 6. Positive Diagnosestellung 7. Patientenaufklärung / Psychoedukation 8. Verhaltensmedizinische Intervention 9. Evaluation, Evidenz 10. Zusammenfassung 11. (Psychologische Exploration) Funktionelle und somatoforme Störungen: Einfaches 2-Phasen-Modell Pathogenese: Biologische, psychologische, soziale Faktoren Phase I: Manifestation Funktionelle Störung (z.B. Funktioneller Bauchschmerz, Fatigue, Gliederschmerz) Psychologische Verlaufsfaktoren Gelungene Adaptation Phase II: Manifestation Somatoforme Störung Jenseits eines psychosomatischen Dualismus: Biologische versus psychologische Störungsanteile Biologische Vulnerabilität Somatoforme kognitiv-emotionale-behaviorale (Fehl)verarbeitung Klinisches Spektrum Somatoforme Beschwerdeverarbeitung: top-down versus bottom-up Übersicht Grundlagen 1. Funktionelle und somatoforme Störung - Klinisches Spektrum, Definition, Klassifikation, Differentialdiagnose, 2. Eigenes Ätiologiekonzept: 2-Phasen-Modell - Die somatoforme Anpassungsstörung an funktionelle Symptomatik 3. Prototypisches Störungsbild: Funktioneller Bauchschmerz 4. Mediatoren des Übergangs von einer einfachen funktionellen Symptomatik in eine komplexe somatoforme Störung Diagnostik und Intervention 5. Leitprinzipien der Intervention 6. Positive Diagnosestellung 7. Patientenaufklärung / Psychoedukation 8. Verhaltensmedizinische Intervention 9. Evaluation, Evidenz 10. Zusammenfassung 11. (Psychologische Exploration) Funktionelle gastrointestinale Störungen (Rom-III-Kriterien) • Erbrechen und Aerophagie – Ruminationssyndrom – Zyklisches Erbrechen – Aerophagie • “Bauchschmerz-Störungen” (“pain related disorders”) – – – – funktionelle Dyspepsie Reizdarmsyndrom (Kleinkind: Toddlers’ diarrhoea) abdominelle Migräne funktionelle Bauchschmerzen • Obstipation und Inkontinenz – funktionelle (“idiopathische”) Obstipation – Stuhlinkontinenz ohne Obstipation Childhood Functional Gastrointestinal Disorders. Rasquin A et al. Gastroenterology 2006;130:1527 Definition funktioneller Bauchschmerz nach Rome III (Rasquin-Webber et al., Gastroenterology, 2006) 1. Episodischer oder kontinuierlicher abdomineller Schmerz 2. Nicht hinreichendes Erfüllen der Kriterien für andere funktionelle gastrointestinale Störungen 3. Kein Hinweis auf einen entzündlichen, anatomischen, metabolischen oder neoplastischen Prozess, der die Symptome hinreichend erklären kann 4. Mindestens eine Episode pro Woche über einen Zeitraum von mindestens zwei Monaten Risikofaktoren für funktionellen Bauchschmerz (Ramchandani et al., Pediatrics, 2005) •Prospektive Studie zu 8000 Kindern von Schwangerschaft bis 6. Lbj. •Punktprävalenz FAP 11,8% •Prädiktoren im 1. Lbj zur Vorhersage eines Bauchschmerzes im sechsten Lebensjahr (multivariante Regressionsanalyse): • exzitables Temperament beim Kind (Bauchkoliken im ersten Lebensjahr). • körperliche Symptome bei der Mutter (OR = 1.43) • mütterliche Angst (OR = 1.40), • Dosis-Wirkungs-Beziehung zwischen der Angstausprägung bei den Eltern und einem späteren Bauchschmerz beim Kind. Entwicklungspsychopathologie: Prognostische Faktoren beim Funktionellen Bauchschmerz 1. Je früher die Erstmanifestation, desto höher das Chronifizierungsrisiko von FAP (Moe et al., 1994) 2. FAP beim Kind erhöht signifikant das Risiko für Colon irritabile im Erwachsenenalter (Hyams et al., 1999) 3. FAP im Kindesalter erhöht das Risiko • für organische Gesundheitsprobleme im Erwachsenenalter um den Faktor 1.3 • für affektive Störung im Erwachsenenalter um den Faktor 2.7 ! (Hotopf et al., 1998) Mütter von Bauchschmerzkindern: Psychische und somatische Gesundheit (Klinische Studie von Campo et al., Arch Ped Adoles Med, 2007) •Soziodemographische Benachteiligung: jünger, alleinerziehend, seltener verheiratet •Reizdarmsyndrom: bei der Mutter 29,3 % vs. 6,7% Kontrollgruppe (p= 0,01) •Erhöhte Prävalenz von funktioneller und somatoformer Störungen: -Migräne (p=.03), -Chronic-Fatigue-Syndroms bzw. Fibromyalgie (p=.08) -sonstige somatoforme Störung (p= .001). •Psychische Störung -Depressive Störung (48%!; (p<.0001) -Angststörung (50%; p<.001; besonders generalisierte Angststörung) -Komorbiditätsrate von Reizdarmsyndrom und Angststörung bzw Depression: 93,8 % (15 aus 16) ). •Medizinische Inanspruchnahme: -hochsignifikant erhöht (p=.003) , -nicht jedoch psychiatrische Inanspruchnahme. Funktioneller Bauchschmerz und somatoforme Störung: Transmission Funktioneller Bauchschmerz als Vorläuferstörung somatoformer Störung Übersicht Grundlagen 1. Funktionelle und somatoforme Störung - Klinisches Spektrum, Definition, Klassifikation, Differentialdiagnose, 2. Eigenes Ätiologiekonzept: 2-Phasen-Modell - Die somatoforme Anpassungsstörung an funktionelle Symptomatik 3. Prototypisches Störungsbild: Funktioneller Bauchschmerz 4. Mediatoren des Übergangs von einer einfachen funktionellen Symptomatik in eine komplexe somatoforme Störung Diagnostik und Intervention 5. Leitprinzipien der Intervention 6. Positive Diagnosestellung 7. Patientenaufklärung / Psychoedukation 8. Verhaltensmedizinische Intervention 9. Evaluation, Evidenz 10. Zusammenfassung 11. (Psychologische Exploration) Mediatoren für einen Störungsübergang von funktioneller in somatoforme Störung Funktioneller Bauchschmerz Verlaufsfaktoren: Psych. Komorbidität beim Kind 1. Katastrophisierende Schmerzverarbeitung (beim Kind und/oder Eltern) 2. Dysfunktionale Eltern-Kind-Arzt-Kommunikation 3. Dysfunktionale Schmerzkommunikation zwischen Eltern und Kind Somatoforme Störung Psych. Komorbidität bei den Eltern Kognitive Schmerzverarbeitung: Katastrophisierung • Magnifikation: Dramatische, unrealistische Übersteigerung der Symptomatik • Rumination: Unproduktive Gedankenketten zu irrealen gesundheitliche Bedrohungen • Subjektive Hilflosigkeit gegenüber Beschwerdeverlauf Katastrophisierende Schmerzverarbeitung: Kognitive Verzerrungen Denkfehler Definition Beispiel Übergeneralisierung Aus den Erfahrungen einer spezifischen Situation werden weitreichende negative Schlussfolgerungen für die Zukunft gezogen. „Bei meiner Nichte wurde der Appetitmangel auch schnell als Magersucht erklärt. Und dann war es doch ein Hirntumor. Daher werden wir uns nicht zufrieden geben, bis ein pathologischer Befund gefunden ist.“ Selektive Wahrnehmung Überwertige Konzentration auf ein Detail unter Vernachlässigung anderer Einflussfaktoren „Unser Sohn sieht oft so blass aus, wenn er Bauchschmerzen hat. Blässe ist doch ein Symptom von Leukämie!“ Gedankenlesen Davon überzeugt sein zu wissen, was andere denken, ohne nachzufragen. „Der Klassenlehrer hat unser Kind neulich so argwöhnisch angeschaut. Der denkt sicher, dass unser Nils simuliert.“ Alles-oder-nichtsDenken Eine Situation in Form zwei dichotomer Kategorien denken und nicht als Kontinuum. „Herr Doktor, bitte geben Sie mir eine einfache Antwort: Sind die Schmerzen unseres Kindes nun organisch oder psychisch?“ „Sollte“-Aussagen Orientierung an rigiden Vorstellungen, wie die Welt beschaffen sein sollte. „Ein Kinderarzt sollte doch in der Lage sein, die Ursache für einen Bauchschmerz heraus zu bekommen, sonst hat er doch seinen Beruf verfehlt.“ Etikettieren Undifferenzierte, negative Zuschreibungen „Wenn die Ärzte nicht mehr weiter wissen, schieben sie immer alles auf die Psyche.“ Über-/Untertreibung Maximieren des Negativen, Minimieren des Positiven „Mit diesen Bauchschmerzen ist das für unser Kind und für uns Eltern kein lebenswertes Leben mehr!“ Emotional verengtes Denken Aus dem Erleben eines Gefühls auf Tatsachen schließen „Wenn ich mein Kind so leiden sehe, dann weiß ich mit Sicherheit, dass etwas Gefährliches dahinter stecken muss!“ Dysfunktionale Eltern-Kind-Interaktion (z.B. morgens vor Schulbesuch) Eltern Anzweifeln der Glaubwürdigkeit der Bauchschmerzes Demonstrative Aggravation mit dem Ziel der Gesichtswahrung Kind Mediator: Operante Verstärkung exzessiven, somatoformen Schmerzverhaltens Eltern-Arzt-Interaktion bei somatoformer Anpassungsstörung an funktionellen Bauchschmerz • Akute Beschwerdeepisode • Arztkonsultation • Ärztliche Befundmitteilung: Keine organische Grunderkrankung, ggf. „Stress“ als Erklärungskonzept • Fehlender Konsens Arzt-Eltern zu Störungsgenese und weiterem Procedere • Beiderseitige Frustration • Erneute Beschwerdeepisode • Erneutes Insistieren auf eingehendere Differentialdiagnostik, ggf. Arztwechsel Übersicht Grundlagen 1. Funktionelle und somatoforme Störung - Klinisches Spektrum, Definition, Klassifikation, Differentialdiagnose, 2. Eigenes Ätiologiekonzept: 2-Phasen-Modell - Die somatoforme Anpassungsstörung an funktionelle Symptomatik 3. Prototypisches Störungsbild: Funktioneller Bauchschmerz 4. Mediatoren des Übergangs von einer einfachen funktionellen Symptomatik in eine komplexe somatoforme Störung Diagnostik und Intervention 5. Leitprinzipien der Intervention 6. Positive Diagnosestellung 7. Patientenaufklärung / Psychoedukation 8. Verhaltensmedizinische Intervention 9. Evaluation, Evidenz 10. Zusammenfassung 11. (Psychologische Exploration) Übergeordnete Behandlungsprinzipien 1. Evidenzorientierung Rationale u. gezielte Eingrenzung der Störung 2. Gesundheitsökonomie Sparsame, gezielte apparativ-invasive Diagnostik 3. Patientenorientierung Nach Ausschlussdiagnostik Fokus legen auf subjektives Beschwerdeerleben und Einschränkungen der LQ 4. Psychoedukation Entwicklung eines konsensuellen und bio-psycho-sozialen Störungs- und Therapieverständnisses 5. Stufung der Intervention Funktioneller Bauchschmerz und somatoforme Störung: Gestuftes Procedere (Noeker, Funktionelle und somatoforme Störungen im Kindes- und Jugendalter, 2008, Hogrefe) Störungsetappe Funktioneller Bauchschmerz Stufen der Intervention 1. Päd. Ausschlussdiagnostik 2. Positive Diagnosestellung (Rome III) Kognitiv-emotionale Anpassung an die Beschwerden Patientenaufklärung und Anleitung zur Bewältigung von Bauchschmerzepisoden Somatoforme Störung und psych. Komorbidität Verhaltenstherapie Intervention Stufe I: Positive Diagnosestellung auf der Basis Rome III – Kriterien 1. Episodischer oder kontinuierlicher abdomineller Schmerz 2. Nicht hinreichendes Erfüllen für andere funktionelle gastrointestinale Störungen 3. Kein Hinweis auf einen entzündlichen, anatomischen, metabolischen oder neoplastischen Prozess, der die Symptome hinreichend erklären kann 4. Mindestens eine Episode pro Woche über einen Zeitraum von mindestens zwei Monaten Übersicht Grundlagen 1. Funktionelle und somatoforme Störung - Klinisches Spektrum, Definition, Klassifikation, Differentialdiagnose, 2. Eigenes Ätiologiekonzept: 2-Phasen-Modell - Die somatoforme Anpassungsstörung an funktionelle Symptomatik 3. Prototypisches Störungsbild: Funktioneller Bauchschmerz 4. Mediatoren des Übergangs von einer einfachen funktionellen Symptomatik in eine komplexe somatoforme Störung Diagnostik und Intervention 5. Leitprinzipien der Intervention 6. Positive Diagnosestellung 7. Patientenaufklärung / Psychoedukation 8. Verhaltensmedizinische Intervention 9. Evaluation, Evidenz 10. Zusammenfassung 11. (Psychologische Exploration) Ärztliches Gespräch: Inkonsistenzdilemma im Erleben des Patienten Information aus dem Bauch („Ich habe was!“) passt nicht zur Information des Arztes („Ich habe nichts!“) Folgende Optionen: 1. Abwertung der Körperwahrnehmung, Übernahme der Perspektive des Arztes 2. Abwertung der Perspektive des Arztes, Insistieren auf die „Richtigkeit“ der Körperwahrnehmung 3. Königsweg: Integrieren beider Perspektiven mit Hilfe eines überformenden Störungskonzeptes, das dem Patienten eine plausible Erklärung für seine Beschwerdewahrnehmung anbietet. Therapeutische Konsequenz: Gestaltung einer Patientenaufklärung, die (a) medizinisch korrekt und (b) subjektiv für den Patienten anschlussfähig ist. Klinische Überprüfung: Ersetzt der Patient in einer erneuten Beschwerdeepisode das alte (somatoformhypochondrische) Störungskonzept durch das neue, adäquate Konzept und reagiert dann mit affektiver Entlastung? Intervention Stufe II: Patientenaufklärung Patientenorientierte Formulierungen I Konzept der Hypersensitivität und -reagibilität als Grundlage der Patientenaufklärung „Die Bauchschmerzen Ihres Kind beruhen auf sehr empfindlichen Darmfunktionen. Der Aufbau des Darms ist dabei vollkommen gesund. Daher finden sich auch normale Untersuchungswerte. Auch mit einem gesunden Darm kann Ihr Kind im Bauch starke Schmerzen empfinden. Die Schmerzen sind also echt und keinesfalls simuliert. Die Veranlagung für die besondere Empfindlichkeit des Darms kann angeboren sein oder durch frühere Entzündungen erworben sein.“ Patientenaufklärung II Interaktion ZNS-ENS „Im Darm sind besonders viele Nervenzellen, die bei Ihrem Kind schon auf kleinste Reizungen wie z.B. normale Darmbewegungen mit Schmerzen reagieren können. Diese hoch empfindsamen Nervenzellen des Darms stehen in enger Verbindung zum Gehirn und können daher mitreagieren, wenn Ihr Kind sich aufregt oder Sorgen hat. Dies gilt besonders bei Kummer, den Ihr Kind nicht mit Worten ausdrücken kann. Manche Kinder oder Eltern verwechseln dann Anzeichen seelischer Aufregung mit körperlicher Krankheit.“ Patientenaufklärung III Zentrale Hypersensitivität „Mittlerweile hat Ihr Kind vielleicht schon sehr feine Antennen dafür entwickelt, wenn sich die Bauchschmerzen wieder ankündigen. Diese erworbene Empfindsamkeit für seinen Bauchraum kann die Wahrnehmung und das Leiden an den Schmerzen zusätzlich steigern.“ Patientenaufklärung IV Schlussfolgerung: Akzeptanz der Disposition „Die Veranlagung zur Empfindsamkeit der Darmfunktionen können wir ärztlich leider kaum beeinflussen. Wir müssen diese Empfindsamkeit daher im Grunde akzeptieren und mit ihr leben lernen. In vielen Fällen wächst sie sich spontan wieder aus.“ Patientenaufklärung V Schlussfolgerung: Kontrolle der Auslöser und Folgebeeinträchtigungen „Was wir beeinflussen können, sind Auslöser für die Bauchschmerzen und der Umgang mit ihnen. Ein Bauchschmerzprotokoll kann typische Auslösesituationen erkennen und kontrollieren helfen.“ „Mindestens ebenso wichtig ist es, negative Auswirkungen der wiederkehrenden Bauchschmerzen auf die normale Entwicklung des Kindes in Familie, Schule und Freundeskreis in Grenzen zu halten. Dazu kann begleitend zur ärztlichen Behandlung auch eine psychologische Beratung hilfreich sein.“ Konsens zu Störungskonzept und Procedere „Ist dieses Erklärungsmodell für Sie plausibel und passt es zu Ihren bisherigen Erfahrungen mit dem Bauchschmerz ?“ Intervention Stufe II: Patientenaufklärung für das ängstlich-hypochondrische Kind: Anknüpfen an vertraute funktionelle Körperreaktionen ohne Krankheitswert Funktionelle Anpassungsreaktionen des Körpers • Schwindel, Übelkeit, Erbrechen (Karrussel fahren) • „Seitenstiche“, „Muskelkater“, Puls (bei sportlicher Belastung) • Schwitzen (Hitze), Gänsehaut, Zittern (Kälte) Psychophysiologische Reaktionen • Rot werden bei Scham, Blass werden bei Schreck, Zittern vor Angst • Flaues Gefühl im Bauch bei Klassenarbeit (Nervosität) Übersicht Grundlagen 1. Funktionelle und somatoforme Störung - Klinisches Spektrum, Definition, Klassifikation, Differentialdiagnose, 2. Eigenes Ätiologiekonzept: 2-Phasen-Modell - Die somatoforme Anpassungsstörung an funktionelle Symptomatik 3. Prototypisches Störungsbild: Funktioneller Bauchschmerz 4. Mediatoren des Übergangs von einer einfachen funktionellen Symptomatik in eine komplexe somatoforme Störung Diagnostik und Intervention 5. Leitprinzipien der Intervention 6. Positive Diagnosestellung 7. Patientenaufklärung / Psychoedukation 8. Verhaltensmedizinische Intervention 9. Evaluation, Evidenz 10. Zusammenfassung 11. (Psychologische Exploration) Diagnostik zur psych. Indikation: Einfacher Fragebogen mit 3 Items Indikation zur Verhaltenstherapie 1. 2. 3. 4. 5. Katastrophisierung, Hypochondrie Somatoformes Krankheits- und Inanspruchnahmeverhalten Extremer Leidensdruck Schulabsentismus, Schuphobie Psychopathologische Komorbidität (Angst, Depression) Störungsübergang bei psychopathologischer Komorbidität Funktioneller Bauchschmerz •Angststörung •Depression •Zwang Katastrophisierendes, verzerrtes Denken •Persönlichkeitsstörungen Somatoformes Krankheitsverhalten Störungsübergang bei psychopathologischer Komorbidität Funktioneller Bauchschmerz •Angststörung •Trennungsangst •Depression •Zwang Katastrophisierendes, verzerrtes Denken Operante Verstärkung •Persönlichkeitsstörungen •Bindungsstörung •Geschwisterrivalität •Schulphobie Somatoformes Krankheitsverhalten Intervention Stufe III: Verhaltensmedizinische Intervention 1. Sensorisch-aversive Missempfindung – Aufmerksamkeitssteuerung: Ablenkung vs. Fokussieren Intervention Stufe III: Verhaltensmedizinische Intervention 1. Sensorisch-aversive Missempfindung – Aufmerksamkeitssteuerung: Ablenkung vs. Fokussieren – Entspannung & Imagination Intervention Stufe III: Verhaltensmedizinische Intervention 1. Sensorisch-aversive Missempfindung – Aufmerksamkeitssteuerung: Ablenkung vs. Fokussieren – Entspannung & Imagination – Kognitive Techniken: Hilfreiche Sätze zur Schmerzbewertung 2. Signal für Gesundheitsbedrohung (hypochondrische Sorge) – Aufklärung zu funktioneller Genese & benigner Prognose (Senkung der Vigilanzreaktion auf den Bauschschmerz) – Training in Reattribution bei neuer Beschwerdeepisode – Verlaufsargument nutzen – Vereinbarungen zum Untersuchungsgang treffen Intervention Stufe III: Verhaltensmedizinische Intervention 3. 4. 5. Psychophysiologische Stressreaktion – Identifikation von Belastungsauslösern („Stimuluskontrolle“); Versuch der „kausalen“ Behandlung – Utilisieren als Botschaft des Körpers Indirekter Kommunikationsstil – Implizite Schmerzbotschaften explizit machen, direkten Ausdruck fördern Operant verstärktes Schmerzverhalten – Sekundäre Bekräftigung zurücknehmen – Regeln zwischen Eltern & Kind vereinbaren zum Zielverhalten bei der nächsten Schmerzepisode („lösungsorientiertes Vorgehen“) – Gestufter Plan zum Schulbesuch Behandlung des Funktionellen Bauchschmerzes: Empirische Evidenz Quelle Ergebnis Weydert et al. (Pediatrics, 2003) Diätmaßnahmen: widersprüchliche Befunde Pfefferminzöl: positive Wirkung (Linderung der Schmerzstärke bei 71% vs. 43%; Kline et al., J Ped. 2001) Huerlas-Ceballo et al., (2003) keine Effektivität medikamentöser Intervention Campo (J. Ped, 2005) Effektivität pharmakologischer Therapie bei FAP pessimistisch, Effektivität von SSRI: nach anfänglicher Euphorie, jetzt Ernüchterung; noch nicht abschließend zu beurteilen Sanders (1989, 1994) Robins (2005) Kognitiv.behaviorale Therapie (Familienintervention vs. SMC): gute Effektivität Signifikante Besserung bei Schmerzstärke und Schulbesuch (stabiler Therapieerfolg nach 1 Jahr) AAP/NASPGHA N (Pediatrics, 2005) CBT viel versprechend, aber bisher geringe empirische Fundierung durch RCT´s; neu: Levy et al., (2010)! Levy et al. (2010): Interventionsbausteine 1. 2. 3. Entspannungstraining Veränderung der familiären Reaktionen auf Bauchschmerzäußerungen Modifikation ungünstiger Gedanken zum Bauchschmerz Therapeutische Kernbotschaft Biologische Vulnerabilität Akzeptanz! Aktives Coping! Somatoforme kognitiv-emotionale-behaviorale (Fehl)verarbeitung Funktionelle Störung mit guter Adaptation Aggravation Polysymptomatische Somatisierungsstörung Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit PD Dr. Meinolf Noeker, Dipl. Psych. Zentrum für Kinderheilkunde der Universität Bonn [email protected]