© Die Südostschweiz; 05.04.2013; Seite 10 Ausgabe Graubünden Kultur Region Um dem Leiden zu entfliehen, schrecken sie vor nichts zurück Im Theater Klibühni in Chur hat am Mittwoch Jean Genets Stück «Die Zofen» in der Regie von Ursina Hartmann Premiere gefeiert. Der Blick in seelische Abgründe hinterliess einen bleibenden Eindruck. Von Valerio Gerstlauer Chur. – Es sind die Qualen von Angestellten, wie sie heutzutage in Europa beinahe verschwunden sind und die erst vor einigen Jahrzehnten aus ihrer Stellung als Quasi-Leibeigene befreit wurden. Bedienstete, Zofen, Hausdiener nannte man sie, und ihre Leiden verwandelte der französische Autor Jean Genet (1910–1986) im Jahr 1947 in einen weltweit nachhallenden Schmerzensschrei, indem er das Theaterstück «Die Zofen» verfasste. Wir Nachgeborenen erhalten eine Ahnung von der Schutzlosigkeit insbesondere weiblicher Hausangestellter durch Berichte aus Saudi-Arabien. Völlig ausgeliefert sind dort ihren Arbeitgebern rund 1,5 Millionen ausländische Frauen, weil sie unter anderem nicht unter das Arbeitsgesetz fallen. Infolgedessen werden sie ihrer Freiheit beraubt, erhalten nicht ausreichend zu essen, werden verprügelt, gefoltert und fallen sexuellen und seelischen Missbräuchen zum Opfer. Vor allen Dingen von seelischen Missbräuchen und Missständen erzählt Genets Werk «Die Zofen», das Regisseurin Ursina Hartmann am Mittwoch im Theater Klibühni in Chur zur Aufführung brachte. Genets Text entfaltete dank ausserordentlicher schauspielerischer Leistungen eine Kraft, die den Abend in ein fesselndes Kammerspiel münden liess. Eine kluge Wahl Bei der Inszenierung orientierte sich Hartmann an einer Übersetzung des Stücks, aber auch am französischen Originaltext. Von der sonst üblichen Rollenbesetzung wich die Bündner Regisseurin allerdings ab, indem sie die Zofen von zwei Männern spielen lässt: Oliver Krättli verkörpert Solange, Kurt Grünenfelder ihre Schwester Claire. Hartmann folgte damit einer Forderung Genets, der stets lieber zwei Männer als Darsteller der Zofen gesehen hätte. Und ihr Entscheid erwies sich als vollkommen richtig. Nicht nur, dass dadurch zwei her vorragende Schauspieler verpflichtet werden konnten, Hartmann wurde damit auch dem Inhalt des Textes gerecht, der pausenlos oszilliert zwischen weiblicher Zartheit sowie ausgeprägter männlicher Obszönität und Brutalität. Die Besetzung verdeutlicht ausserdem sinnfällig, dass Solange und Claire als Gefangene dahinvegetieren, gefangen sind im falschen Körper, gefangen in einer falschen, verhassten Rolle. Rollenspiele als Ventil Darum, wie sehr die beiden Zofen ihr Leben hassen, dreht sich bis auf den Mittelteil das gesamte Stück. Ihr ganzes Sinnen und Streben gilt der eigenen Befreiung aus den Fängen der gnädigen Frau (Leonie Bandli) und ihres wohlhabenden Ehegatten. Letzteren haben sie bereits mittels anonymer Briefe an die Polizei hinter Gitter gebracht. Nun steht den Zofen nur noch die Herrin im Weg – sie soll gewaltsam aus dem Leben scheiden. Denn sie ist es, die den Zofen das Leben wahrlich zur Hölle macht. Ihrer Kontrolle entgeht nichts, sie bestimmt jedes Detail im Leben der Zofen, und sie herrscht mit einer Mischung aus herablassender Güte und willkürlicher Boshaftigkeit. Welche Schäden diese Behandlung anrichtet, zeigt sich in sadomasochistischen Rollenspielen, denen sich Solange und Claire hingeben, sobald sie alleine im Haus sind. Wenn die eine von ihnen die gnädige Frau mimt und die andere in ihrer unterwürfigen Rolle als Zofe verbleibt, gelingt es ihnen doch noch, Freude und Lust zu empfinden. Dieses Ventil erlaubt ihnen sogar, sexuelle Fantasien auszuleben – ein weiterer Aspekt ihres Daseins, den sie normalerweise unterdrücken müssen. Als Kontrast zu diesen abgründigen Szenen erschien der Auftritt von Leonie Bandli als gnädige Frau im Mittelteil des Stücks. Mit ihrer exaltierten Art brachte sie eine gewisse Leichtigkeit ins Spiel und sorgte für viele Lacher im Publikum. Eine willkommene Abwechslung. «Die Zofen». Weitere Vorstellungen: heute Freitag, 5. April, sowie 6., 9., 10., 11., 12. und 13. April, jeweils 20.30 Uhr. Theater Klibühni, Chur.