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Soziologie
Hartmut Esser
Soziologie
Spezielle Grundlagen
Band 1: Situationslogik und Handeln
Campus Verlag
Frankfurt/New York
Soziologie
Spezielle Grundlagen
Band 1: Situationslogik und Handeln
Band 2: Die Konstruktion der Gesellschaft
Band 3: Soziales Handeln
Band 4: Opportunitäten und Restriktionen
Band 5: Institutionen
Band 6: Sinn und Kultur
Hartmut Esser ist Professor für Soziologie und Wissenschaftslehre an der
Universität Mannheim. Er ist Autor und Herausgeber zahlreicher Veröffentlichungen. Zuletzt erschien von ihm als Buch die „Soziologie. Allgemeine
Gundlagen“(3. Aufl. 1999)
Impressum
Vorwort
Die hiermit vorgelegten insgesamt sechs Bände der „Soziologie. Spezielle
Grundlagen“ sind die Fortsetzung der im Jahre 1993 erschienenen und seitdem mehrmals neu aufgelegten „Soziologie. Allgemeine Grundlagen“. Dort
wurden die allgemeine methodologische Vorgehensweise der Soziologie, die
anthropologischen Voraussetzungen gesellschaftlicher Prozesse, einige demographische Einzelheiten, wie die Gesetze des Bevölkerungswachstums, sowie
die wichtigsten theoretischen Konzeptionen des zentralen Gegenstandes der
Soziologie, der Gesellschaft, behandelt. Nicht ausdrücklich und meist nur eher
am Rande und, vor allem, nicht systematisch genug, kamen dabei die vielen
Einzelheiten, Begriffe, Konzepte, Modelle und Erklärungen zur Sprache, die
für die soziologische Erklärung der grundlegenden sozialen Prozesse erforderlich sind, auf denen jede Vergesellschaftung beruht: soziale Ordnung, soziale
Differenzierung, soziale Ungleichheit und sozialer Wandel. Mit den
Einzelheiten zur soziologischen Erklärung aller dieser Vorgänge befassen sich
nun die sechs Bände der „Speziellen Grundlagen“ in über 50 einzelnen Kapiteln, sowie einigen Exkursen. Ausgangspunkt und Grundlage des inhaltlichen
Aufbaus der „Speziellen Grundlagen“ ist wieder das Modell der soziologischen Erklärung mit den drei charakteristischen „Logiken“: Die Logik der
Situation, die Logik der Selektion und die Logik der Aggregation. Dieses Modell wird in der Einleitung zu den „Speziellen Grundlagen“ noch einmal kurz
erläutert. Dabei wird es auch mit einigen allgemeineren theoretischen Diskussionen und Entwicklungen verbunden. Das Modell wird ferner nun auch explizit in die methodologische Perspektive des sog. Strukturtheoretischen Individualismus eingeordnet und dabei deutlich von jedem „reduktionistischen“
Psychologismus abgegrenzt, mit dem das Modell der soziologischen
Erklärung, unverständlicherweise, auch heute oft noch verwechselt wird.
Insgesamt zielt das Konzept auf die Möglichkeiten und Bedingungen von
sinnverstehenden Erklärungen gesellschaftlicher Prozesse. Diese Perspektive
ist bereits von Max Weber systematisch und nachhaltig für die Soziologie
propagiert und in seinen Gesellschaftsanalysen praktiziert worden − lange vor
den jetzt möglichen Präzisierungen und nun verfügbaren theoretischen
Instrumente der Modellierung sozialer Prozesse. Sie knüpft ferner an die von
Karl R. Popper systematisierte Methode der Situationslogik an, so wie sie
X
Vorwort
sierte Methode der Situationslogik an, so wie sie lange vorher schon, etwa,
von Alexis de Tocqueville, von Karl Marx oder von Emile Durkheim, von
William I. Thomas oder danach besonders prägnant von Robert K. Merton, in
einer speziellen Weise ohne Zweifel auch von George C. Homans und, mit einer besonderen Blickrichtung, von Peter L. Berger und Thomas Luckmann,
sicher auch von Norbert Elias, Erving Goffman oder selbst von Harold Garfinkel benutzt wurde. In neuerer Zeit sind hier vor allem die weiter präzisierenden Vorschläge von Raymond Boudon, Siegwart Lindenberg und Reinhard
Wippler zu nennen, sicher auch der von James S. Coleman, obwohl hier die
„Soziologie“ doch etwas gegenüber einer allgemeinen „Sozialtheorie“ in den
Hintergrund getreten ist. Die Methode der Situationsanalyse ist eigentlich
immer schon die grundlegende soziologische Methode gewesen, auch wenn
das, wie etwa bei Georg Simmel, nur implizit der Fall war, oder, wie bei der
Tabulierkunst von Talcott Parsons und seinen Vierfeldertafeln und bei der Fabulierkunst von Niklas Luhmann und seinen semantischen Vexierrätseln,
kaum noch erkennbar gewesen ist.
In Band 1 über „Situationslogik und Handeln“ geht es um die speziellen
Einzelheiten für die ersten beiden „Logiken“ des Modells der soziologischen
Erklärung in ihrer elementaren Form: die Logik bzw. die Definition der Situation und die Selektion des Handelns. Zunächst wird im Anschluß an das sog.
Thomas-Theorem die objektive Grundlage jeder Situationsdefinition erläutert:
die Kontrolle von mehr oder weniger interessanten Ressourcen durch die Akteure gemäß der gesellschaftlichen Definition der kulturellen Ziele und der institutionalisierten Mittel des Handelns. Hier wird das für die weitere Argumentation zentrale Konzept der sozialen Produktionsfunktionen ausführlich
erläutert. Die drei grundlegenden Bestandteile jeder Situation sind vor diesem
Hintergrund die jeweils gegebenen materiellen Opportunitäten, die geltenden
institutionellen Regeln und die symbolisch angezeigten, sozial geteilten kulturellen Bezugsrahmen, unter denen die Situation von den Akteuren gesehen
und mit einem spezifischen Sinn belegt werden. Daran anschließend werden
die wichtigsten Einzelheiten zur Selektion des Handelns besprochen. Es geht
um die allgemeine Erklärung des Handelns der Menschen und damit letztlich
um den für die soziologische Erklärung nötigen universalen nomologischen
Kern. Ausgehend von einer ausführlichen Erläuterung des „Begriffs“ des
Handelns werden als übergreifend nutzbare Theorie des Handelns die Einzelheiten der sog. Wert-Erwartungstheorie dargestellt, an einigen Beispielen erläutert und bei den dann folgenden Überlegungen immer wieder konkret angewandt. Auch wird behandelt, nach welchen Gesetzen Menschen aus Erfahrungen lernen und ihre Erwartungen und Bewertungen ändern. Dieses Lernen
wird selbst als eine Art von − mehr oder weniger: intelligentem − Handeln
Vorwort
XI
verstanden. Dieser Teil geht ausführlich auch auf die verschiedenen Einwände
und Anomalien der Wert-Erwartungstheorie ein, aber auch auf Möglichkeiten,
die stets nur „begrenzte“ Rationalität der Menschen mit dem Modell der WertErwartungstheorie selbst wieder zu erfassen und ihre Folgen zu erklären. In
den anschließenden Kapiteln wird schließlich gezeigt, wie sich aus dem situationsorientierten Handeln der Menschen eigenständige Abläufe und Folgen
ergeben und welche Bedeutung dabei die Einbettung der Akteure in soziale
Umgebungen hat. In diesem Zusammenhang werden die Poppersche Methode
der Situationslogik und deren Beziehung zum Modell der soziologischen Erklärung, die Techniken der Kontext- und Mehrebenenanalyse und, den Band 1
abschließend, das Konzept der sozialen Klasse und die Methode der „Klassenanalyse“ besprochen, die als eine spezielle Form der Situationslogik zu
verstehen ist und in der Art des Vorgehens nach wie vor weite Bereiche der
soziologischen Arbeit bestimmt.
In Band 2 geht es unter dem Titel „Die Konstruktion der Gesellschaft“ um
die Erklärung der Entstehung, der Reproduktion und des Wandels kompletter
sozialer Gebilde, insbesondere ganzer Gesellschaften. Dabei muß der dritte
Schritt des Modells der soziologischen Erklärung systematisch einbezogen
werden − die Erklärung kollektiver Effekte aus der auch schon komplexeren
Aggregation des Handelns der Akteure in typischen Situationen. Dazu werden
zunächst die Probleme der Emergenz von „Ganzheiten“ und der Transformation individueller Effekte in kollektive Sachverhalte und Zusammenhänge
aufgegriffen und deren prinzipielle Lösung im Rahmen des Modells der soziologischen Erklärung gezeigt. Daran anschließend werden verschiedene Konstellationen des Verhältnisses von Akteuren und sozialen Systemen dargestellt,
wobei insbesondere auch unterschiedliche Typen sozialer Gebilde und der
Beziehungen zwischen Akteuren und sozialen Systemen systematisiert werden. Daran anschließend werden die beiden wohl wichtigsten Aspekte gesellschaftlicher Strukturen ausführlich behandelt: die soziale Differenzierung und
die soziale Ungleichheit. Hierbei werden auch die wichtigsten soziologischen
Konzepte und Erklärungen der Entstehung und der Reproduktion von sozialer
Differenzierung und sozialer Ungleichheit vorgestellt. Danach werden die
wechselseitigen Beziehungen zwischen der sozialen Differenzierung und der
sozialen Ungleichheit unter dem Titel „Inklusion und Exklusion“ beschrieben,
auch vor dem Hintergrund der Entstehung neuer Formen der sozialen Ungleichheit in Folge der zunehmenden funktionalen Ausdifferenzierung der
modernen Gesellschaften. Ein Kapitel über die Prozesse und Bedingungen der
Integration von Gesellschaften und Akteuren in Gesellschaften und soziale
Systeme systematisiert dann die verschiedenen Aspekte, Vorgänge und Bedingungen des Zusammenhalts und der sozialen Ordnung sozialer Systeme
XII
Vorwort
allgemein. Es folgt ein Kapitel über die mit dem Modell der soziologischen
Erklärung rekonstruierbare „Logik“ des sozialen Wandels und ihrer verschiedenen Formen, wobei das gleichgewichtige Funktionieren sozialer Systeme
als eine spezielle Form dieses „Wandels“ aufgefaßt wird − als Prozeß der Reproduktion von gesellschaftlichen Strukturen nämlich. Der Band 2 schließt
mit einer systematisierenden Übersicht über die grundlegenden gesellschaftlichen Strukturen und Prozesse, einer kurzen Skizze über die historische Entwicklung der menschlichen Gesellschaft und einigen Anmerkungen zum Verhältnis von „Gemeinschaft und Gesellschaft“, zur Frage also der Beziehungen
zwischen den alltäglichen personalen Beziehungen der Menschen und den anonymen „Systemen“ der modernen Gesellschaft.
In den Bänden 1 und 2 wird die „klassische“ soziologische Methode der Situationsanalyse ausgiebig benutzt: für die Erklärung der Entstehung kollektiver Prozesse und Strukturen über die Rekonstruktion der „objektiven“ gesellschaftlichen Lage von Akteuren, dem aufgrund dieser „Lage“ zu erwartenden
Handeln und den dadurch erzeugten kollektiven Folgen. Dabei muß häufig
nicht weiter beachtet werden, daß sich die Akteure auch in sog. sozialen Situationen befinden können, in denen das Ergebnis ihres Tuns auch davon abhängt, was die jeweils anderen Akteure tun, in denen also die sog. doppelte
Kontingenz herrscht. Mit den besonderen Prozessen und Modellen des Handelns unter der Bedingung der doppelten Kontingenz befaßt sich der Band 3
der „Speziellen Grundlagen“ unter dem Titel „Soziales Handeln“. Ausgehend
von einer allgemeinen Charakterisierung der verschiedenen Formen des „sozialen“ Handelns werden die wohl deutlichste Form des sozialen Handelns unter
doppelter Kontingenz, das „strategische“ Handeln, und damit zusammenhängend dann die wichtigsten Einzelheiten der sog. Spieltheorie und drei grundlegende Typen strategischer Situationen behandelt: Koordination, DilemmaSituationen und Konflikte. Daran anschließend werden verschiedene theoretische Modelle zur Erklärung der Ordnungsbildung in sozialen Situationen besprochen, sowie solche der Organisation der gesellschaftlichen Produktion
von Gütern und des sog. kollektiven Handelns, etwa bei der Mobilisierung sozialer Bewegungen. In einem ausführlichen Kapitel wird auf verschiedene
Formen der Interaktion eingegangen: die wechselseitige gedankliche Einfühlung als Koorientierung, die symbolische Interaktion und verschiedene Formen der Kommunikation über unterschiedliche Arten von Medien, wie die
mündliche Sprache, die Schrift oder die sog. symbolisch generalisierten Medien. Den Abschluß dieses Bandes bildet ein kurzes Kapitel über soziale Beziehungen als institutionalisierte Muster sozialer Situationen, sowie eine ausführliche Behandlung der wohl wichtigsten Form des sozialen Handelns, der
Vorwort
XIII
Transaktion des Tausches, einschließlich der damit einhergehenden Macht,
die die Akteure aufeinander ausüben.
Die Bände 4, 5 und 6 gehen daran anschließend detailliert auf die drei zentralen äußeren Bestandteile der Logik der Situation ein: materielle Opportunitäten, institutionelle Regeln und die kulturellen Bezugsrahmen. Dabei werden
jeweils auch Erklärungen der Genese, der inneren Dynamik, der Stabilisierung, der Reproduktion und des Wandels dieser gesellschaftlichen Strukturen
und Situationsbestandteile behandelt. Band 4 befaßt sich, der geschilderten
Logik folgend, mit den „Opportunitäten und Restriktionen“, nach denen sich
gewisse gesellschaftliche Strukturen und Prozesse alleine schon aus dem Angebot und der Nachfrage nach interessanten Ressourcen (aller Art) ergeben.
Hierbei werden die wichtigsten Einzelheiten der (mikro-)ökonomischen Betrachtung sozialer Phänomene erklärt und insbesondere die spezielle Struktur
und Dynamik von Märkten, als einem Spezialfall des Modells der soziologischen Erklärung, besprochen. Dieser Band dient auch dazu, Studierende und
Lehrende der Soziologie mit den grundlegenden Elementen des Erklärungsmusters der Ökonomie bekanntzumachen, über die in den üblichen Lehrbüchern oder Einführungen zur Soziologie so gut wie nichts zu finden ist, mit
denen aber auch typisch „soziologische“ Phänomene schon auf eine relativ
einfache Weise verständlich werden, wie etwa der Rückgang der Geburtenraten, die Zurückhaltung der Unterschichten bei Bildungsentscheidungen oder
die Wirkung von Studiengebühren auf den Eifer der Studenten und Professoren. In diesem Zusammenhang wird auch auf die Möglichkeiten der Modellierung von Verhandlungen und anderer Formen der „interaktiven“ Entstehung
von Tauschgleichgewichten eingegangen. Ein eigenes Kapitel ist den als Opportunitäten und Restriktionen des Handelns äußerst wichtigen Strukturen von
Beziehungssystemen, den sog. sozialen Netzwerken gewidmet. Im Anschluß
daran werden dann die verschiedenen Formen des „Kapitals“ behandelt, über
das Akteure verfügen und in das sie investieren können, insbesondere auch
nicht-ökonomische Arten des Kapitals, wie das kulturelle, das institutionelle,
das politische und insbesondere das soziale Kapital. Der Band wird beschlossen mit einem Kapitel über „Die stumme Macht der Möglichkeiten“: die Darstellung einiger wichtiger Grundmodelle der Erklärung der Eigendynamik sozialer Prozesse, die alleine schon dadurch ablaufen, daß sich die Akteure in
den Möglichkeiten des Handelns wechselseitig beeinflussen, darunter die Entstehung interethnischer Beziehungen, die Herausbildung räumlicher Segregationen, die Verbreitung von Neuerungen oder das Gelingen oder Mißlingen
von Bürgerinitiativen und anderen sozialen Bewegungen.
In Band 5 werden unter dem Titel „Institutionen“ die wichtigsten Einzelheiten und Vorgänge bei der Entstehung, bei der Stabilisierung und beim
XIV
Vorwort
Wandel institutioneller Regeln vorgestellt. Ausgangspunkt ist eine Diskussion
des „Begriffs“ der Institution, einschließlich der vermuteten Funktionen von
Institutionen. Breiten Raum nimmt die Darstellung einiger nach wie vor zentraler Konzepte der Soziologie ein, wie das der sozialen Norm oder das der sozialen Rolle, jeweils auch in ihren Varianten in den verschiedenen soziologischen Schulen. Als eine Ergänzung zum Anschluß an gewisse Entwicklungen
in der kognitiven (Sozial-)Psychologie, aber auch als Verbindung zum Komplex der kulturellen Bezugsrahmen des Handelns dient ein eigenes Kapitel über die sog. sozialen Drehbücher. Hierbei werden auch Verbindungen der soziologischen Beiträge von Erving Goffman und Harold Garfinkel zum Modell
der soziologischen Erklärung verdeutlicht. Abgeschlossen wird dieser Band
mit einer ausführlichen Darstellung von Erklärungsansätzen der Entstehung,
der Etablierung und des Wandels von Institutionen, wobei insbesondere dem
Vorgang der Legitimation und der De-Legitimation von Institutionen und der
Evolution und der Revolution als den beiden grundlegenden Formen des institutionellen Wandels die Aufmerksamkeit gilt.
Der die „Speziellen Grundlagen“ abschließende Band 6 hat den Titel „Sinn
und Kultur“ und beinhaltet die Konzepte und Vorgänge der Herausbildung,
Etablierung und Änderung von symbolisch vermittelten gedanklichen Modellen der Orientierung und des Handelns, den sog. kulturellen Bezugsrahmen.
Die Grundhypothese dabei ist, daß sich kulturelle Bezugsrahmen in enger Beziehung zu den materiellen Opportunitäten und den institutionellen Regeln
herausbilden, dann aber auch eine gewisse Eigenständigkeit erlangen: als −
mehr oder weniger − fraglos geltende „Werte“ etwa, oder als in Lebenswelten
eingespielte Routinen − die Codes und Programme, die Frames der Orientierung und die Skripte des Handelns, wie sie in den verschiedenen gesellschaftlichen Sphären etabliert sind und den „sozialen“ Sinn und die „Rationalität“
des Tuns darin jeweils festlegen. Der Band 6 besteht aus zwei Teilen. Der Teil
A mit dem Titel „Orientierung und Interpretation“ stellt, nach einem eher illustrierenden Kapitel über die Vielfalt und Reichweite der „Grenzen“ des
Sinns und über den „Sinn“ von Grenzen, die die Geltung kultureller Bezugsrahmen festlegen, zunächst vier soziologische Schulen vor, die in jeweils sehr
unterschiedlicher Weise das Problem der Geltung und Wirkung kultureller
Bezugsrahmen thematisiert haben: das normative Paradigma um Talcott Parsons, das interpretative Paradigma um George H. Mead und Herbert Blumer
(u.a.), die sog. phänomenologische Soziologie nach Alfred Schütz und die
sog. Ethnomethodologie nach Harold Garfinkel. Es zeigt sich, daß alle diese
Schulen jeweils einen wichtigen, wenngleich z.T dann auch einseitigen Beitrag zur vollständigen Erfassung des Problembereichs geliefert haben. In Teil
B über die „Konstitution des Sinns“ geht es dann um die Verknüpfung der
Vorwort
XV
teilweise divergierenden, teilweise einander ergänzenden Einzelheiten dieser
Ansätze zu einem integrierenden Erklärungsmodell der „Rahmung“ von Situationen und der sozialen Konstitution solcher Rahmungen: die kulturelle Rahmung sozialer Situationen, die Entstehung der Identität des Menschen, auch
über den Prozeß der Sozialisation, die „interaktive“ Bildung von Gruppen und
Lebenswelten sowie schließlich der Vorgang der sozialen Konstitution kultureller Bezugsrahmen über symbolische Interaktionen. Den Abschluß der ganzen Arbeit bildet ein kurzer Epilog über die Bedeutung der soziologischen
Selbstbeschreibungen der Gesellschaft für die Beschreibungen und Erklärungen der Soziologie, auch im Zusammenhang des Konzepts der soziologischen
Erklärung.
Die beiden Arbeiten zu den „Allgemeinen“ und den „Speziellen Grundlagen“ der Soziologie bieten keine empirische oder theoretische „Gesellschaftsanalyse“, und auch keinen Vergleich, sagen wir, der Nationalstaaten Europas
in ihrer historischen Entwicklung. Sozialphilosophie, „Wirklichkeitswissenschaft“ und „Sozialstrukturanalyse“ sind nicht die Aufgabe von Einführungen
in die theoretischen Instrumente eines Fachs, so wie eine Einführung in die
theoretische Volkswirtschaftslehre ja auch etwas anderes ist als, etwa, ein
Buch über die Geschichte der wirtschaftlichen Entwicklung bestimmter Länder und Regionen. Gleichwohl sind die „Grundlagen“ gerade für die Analyse
realer Gesellschaften und für die Erklärung unterschiedlicher Sozialstrukturen
von hoher Bedeutung: Wer verstehen will, warum es, etwa, in den Vereinigten
Staaten keinen Sozialismus gab oder gibt, warum die Bildungsungleichheit in
Schweden geringer ist als in Großbritannien oder warum es in Jugoslawien
erst wieder nach Tito und nach der osteuropäischen Transformation zu massiven ethnischen Konflikten gekommen ist, kommt um ein Verständnis, beispielsweise, der Probleme des kollektiven Handelns, des Konzeptes der Erwartungen bei riskanten Entscheidungen oder dem des kulturellen Kapitals
bzw. des Positionsgutes nicht herum. Kurz: Eine Soziologie der historischen
„Wirklichkeit“ und des beschreibenden Vergleichs von konkreten Gesellschaften bieten die „Grundlagen“ nicht, wohl aber die methodologischen und
theoretischen Instrumente für eine (sinn-)verstehende Erklärung der beobachteten Prozesse und Zusammenhänge. Alle Konzepte und Vorgänge, die in den
„Speziellen Grundlagen“ zur Sprache kommen, werden, mehr oder weniger
explizit, über das Modell der soziologischen Erklärung rekonstruiert. Dabei
wurde großer Wert auf die, manchmal auch sehr ins Detail gehende, Darstellung einzelner Mechanismen und Theoreme gelegt, die in den üblichen Lehrbüchern oft nur als Begriff angesprochen, aber nur selten explizit dargelegt
werden. Als Beispiele seien das Thomas-Theorem, die sog. MehrebenenAnalyse, der Vorgang der Evolution der Kooperation unter „rationalen Egois-
XVI
Vorwort
ten“, das Problem des kollektiven Handelns, der Vorgang der Koorientierung
und die Prozesse der Kommunikation, das Prinzip der Reziprozität und der
Kula-Ring, die Wirkung und die Entstehung von Normen, die unterschiedlichen Formen der institutionellen Legitimation, die Erklärung von Revolutionen, das utilitarian dilemma, das Konzept der Indexikalität, das der sozialen,
personalen und persönlichen Identität, das der relativen Deprivation oder das
der Entstehung eines solidarischen Wir-Gefühls mit einer Gruppe genannt.
Selbstverständlich wurden die wichtigsten Grundkonzepte der Soziologie, wie
etwa Arbeitsteilung, Interaktion, Gruppe, Norm, Rolle, Sozialisation, Tausch,
Macht, Herrschaft, Legitimität und Legitimation, Anomie, Klasse, Stand, soziale Schichtung oder Konflikte und Kultur, aber auch einige weniger etablierte Begriffe und Theoreme, wie etwa das Coase-Theorem, die Edgeworthbox,
das Konzept des Schleiers des Nichtwissens von John H. Rawls oder das Minimal Group Design von Henri Tajfel, in ihren Einzelheiten dargestellt und in
die Grundlogik des Modells der soziologischen Erklärung eingebaut. Dabei
wurden die Konzepte und die manchmal sehr divergent scheinenden Beiträge
der verschiedenen Schulen der Soziologie und ihrer Nachbarwissenschaften
als das genommen, was sie wohl sind: Erinnerungen an zentrale, nicht einfach
zu ignorierende, aber alleine für sich auch unvollständige und unzureichende
Elemente einer angemessenen Erklärung von Prozessen der Vergesellschaftung der Menschen und der von ihnen betriebenen „Konstitution“ und „Konstruktion“ der Gesellschaft. Die etablierten Grenzziehungen der verschiedenen
soziologischen Schulen wurden dabei weniger beachtet. Das ging auch gar
nicht anders: Wenn, wie etwa beim Beispiel der Bedeutung der kulturellen
oder normativen Rahmung von Situationen, die eine Schule, wie etwa der einfache „neoklassische“ Rational-Choice-Ansatz, hier einen blinden Fleck hat,
dann war das kein Anlaß, diese Einäugigkeit mitzumachen, ebensowenig natürlich wie bei den zahllosen anderen Einseitigkeiten und Unvollständigkeiten
der meisten „Paradigmen“ der Soziologie, die sich wohl nur deshalb gegenseitig und zu den anderen Gesellschaftswissenschaften für selbstgenügsam halten
können, weil sie von ihren Umwelten nicht viel wissen oder auch nicht wissen
wollen: das normative Paradigma, das strukturtheoretische Paradigma, das interpretative Paradigma und das Paradigma des Rational-Choice-Ansatzes, um
die „Four Sociological Traditions“ zu bemühen, von denen Randall Collins
etwa spricht. Insofern ist die Darstellung auch keinem dieser einzelnen Paradigmen verpflichtet, auch nicht dem (einfachen, „neoklassischen“) RationalChoice-Ansatz, wie oberflächliche und voreilige Etikettierungen der „Grundlagen“ von „Esser“ wohl − wieder einmal − lauten dürften. Die Darstellung ist
vielmehr ein Versuch, dem Programm der Einheit der Soziologie und der Einheit der Gesellschaftswissenschaften dadurch etwas näherzukommen, daß die
Vorwort
XVII
beachtenswerten Einzelheiten der diversen Paradigmen der Soziologie und einiger Einzelheiten der Ökonomie und der (Sozial-)Psychologie in ihn integriert werden, und zwar, wie man hoffentlich erkennen kann: mühelos. Jedenfalls wäre der Autor sehr gespannt auf − originelle − Hinweise, woran ein solches Programm nun noch scheitern müßte.
Die sechs Bände der „Speziellen Grundlagen“ haben sich, wie die „Soziologie. Allgemeine Grundlagen“ nicht von alleine geschrieben, und es war auch
nicht gleichgültig, wie die Bände und Kapitel aufeinander aufbauen. Es war
ein langer, am Anfang so nicht geplanter, gelegentlich auch mühevoller, meist
jedoch sehr lehrreicher und spannender, insgesamt über mehr als zehn Jahre
andauernder Weg von der ersten Idee, ein kurzes „Skript“ zu einer Vorlesung
„Grundzüge der Soziologie“ zu schreiben, bis zum jetzt vorliegenden Ergebnis, ein Weg, der sicher nicht ohne gewisse Richtungsgaben beschritten wurde, dessen Gestalt sich jedoch erst nach und nach abzuzeichnen begann. Viele,
teilweise auch trivial oder überholt scheinende Einzelheiten und Versatzstücke
− etwa die üblichen „Grundbegriffe“ der Soziologie − mußten oft erst wieder
aus dem Original heraus und im Detail aufgearbeitet werden, bevor sie ihren
Platz in dem Konzept finden konnten. Und manchmal erschienen sie dann in
einem neuen und akzeptablen, ja außerordentlich frischen Licht, wie das etwa
bei der Rekonstruktion der soziologischen Rollentheorie in Band 5 der Fall
war. Auch das war ein Grund für die, der Verfasser weiß das durchaus, unübliche Länge der Arbeit. Der Hauptgrund aber war das Bemühen, die manchmal doch recht komplizierten Einzelheiten möglichst transparent und verständlich darzustellen und, möglichst, ohne den Geheimcode manchen Soziologenjargons auszukommen oder ihn wenigstens so umzuformulieren, daß er
Sinn macht, wie etwa die Luhmannsche Systemtheorie, der die Arbeit trotz aller methodologischer Ferne viel zu verdanken hat. Die „Soziologie“ wendet
sich in ihren insgesamt dann sieben Bänden, wie es in einer Besprechung zu
den „Allgemeinen Grundlagen“ ganz treffend hieß, an „Erst- wie Letztsemester“. Allein deshalb war eine gewisse Redundanz in der Darstellung, in
der Erläuterung auch komplizierterer Zusammenhänge, vor allem aber in der
Herstellung von Querverbindungen unumgänglich. Es ist zu hoffen, daß der
so mögliche Gewinn an Verständnis und soziologischer Aufklärung durch eine angemessene soziologische Erklärung die Mühen der Durcharbeitung eines
Textes aufwiegen, der ganz bewußt nicht im Focus-Format geschrieben wurde
und auch nicht als Instant-Produkt für den schnellen Aufguß und den hastigen
Verzehr gedacht ist.
Viele haben den Weg der Fertigstellung der beiden Arbeiten, den der „Allgemeinen Grundlagen“ zuerst und dann den der „Speziellen Grundlagen“, begleitet und unterstützt, wenngleich manche natürlich nicht über die ganze
XVIII
Vorwort
Strecke. Unterstützt haben den Fortgang der Arbeiten ohne Zweifel meine,
teilweise inzwischen: ehemaligen, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, einige
Wegbegleiter in den verschiedenen funktionalen Sphären auch außerhalb von
Lehre und Forschung und die zahlreichen Studierenden der Veranstaltung
„Grundzüge der Soziologie“ in Mannheim und anderswo, an denen die einzelnen neuen Stücke immer wieder ausprobiert wurden. Ausdrücklich nennen
möchte ich hier Claudia Diehl, Stefan Ganter, Sonja Haug, Karl Gabriel,
Frank Kalter, Johannes Kopp, Cornelia Kristen, Carol W. Hazelrigg, Hartmut
Lang, Andreas Möller, Rainer Schnell und Volker Stocké, die manchmal auch
dann geduldig die neuesten Überlegungen und Wendungen anzuhören bereit
waren, wenn sie es eigentlich schon nicht mehr hören konnten. Bei der technischen Fertigstellung haben insbesondere Michael Blohm und Thorsten Kneip
geholfen. Cornelia Schneider hat u.a. den ganzen Text Korrektur gelesen, die
Zitate überprüft, das Literaturverzeichnis und das Register erstellt. Eine Heidenarbeit. Ihrer Umsicht, Sorgfalt und Nachhaltigkeit war es insbesondere zu
verdanken, daß die Arbeit bei allem ihrem Umfang bewältigt werden konnte.
Und meine Sekretärin, Erika Eck, hat im Hintergrund auf ihre Weise dafür gesorgt, daß alles stets weitgehend reibungslos weitergehen konnte. Kurt Hammerich hat, wie schon bei den „Allgemeinen Grundlagen“, den gesamten Text
einmal durchgelesen und kommentiert. Johannes Berger, Alfred Bohnen, Paul
B. Hill, Ronald Hitzler, Frank Kalter, Johannes Kopp, Siegwart Lindenberg,
Fritz Scharpf, Uwe Schimank, Jan W. van Deth und Johannes Weyer haben
sich auf meine Bitte hin eines oder mehrere der Kapitel angesehen. Allen sei
für ihre Hinweise sehr gedankt. Erwähnen möchte ich schließlich auch die
sachkundige Mithilfe bei der Erstellung des endgültigen Konzeptes durch
Henning Mestwerdt, und vor allem die Geduld und die Bereitschaft von Adalbert Hepp vom Campus-Verlag, der mit der Weiterführung des Projektes einen langen Atem und sicher auch einen gewissen, wenngleich nach dem Erfolg der „Allgemeinen Grundlagen“ durchaus kalkulierbaren, Wagemut bewiesen hat.
Ausdrücklich sei auch wieder Hans Albert und Alphons Silbermann für ihren Rat gedankt, denen ich in regelmäßigen Abständen über die Fortschritte
der Arbeiten berichten mußte. Nicht immer war zu erkennen, was sie davon
gehalten haben, insbesondere als das Werk in seinem Umfang wuchs und
kaum ein Ende nehmen wollte. Ich hoffe, daß sie die beiden, mit ihnen auch
als Person repräsentierten Grundlagen immer noch erkennen können, die die
Konzeption der Arbeit stets geleitet haben: die Orientierung an den Vorgaben
des Kritischen Rationalismus und der Analytischen Wissenschaftstheorie einerseits und an den Besonderheiten der „alten“ Kölner Schule der Soziologie
andererseits, die ja in aller ihrer strikten methodologischen und empirischen
Vorwort
XIX
Ausrichtung nie eine einseitige, langweilige, bloß formale oder auf ein „Paradigma“ festgelegte Angelegenheit gewesen ist und die die Sache der wertneutralen und methodisch angemessenen soziologischen Erklärung stets auch mit
viel Leidenschaft vertreten hat.
Ganz besonders aber möchte ich an dieser Stelle Iris Brands für ihren ganz
eigenen Beitrag dabei danken, daß viele Dinge, nicht nur das Buch, einen guten Schluß gefunden haben und nun neue interessante Projekte begonnen werden können.
Hartmut Esser
Mannheim, im August 1999
SOZIOLOGIE
Spezielle Grundlagen
in
sechs Bänden
Soziologie
Spezielle Grundlagen
Übersicht
Band 1: Situationslogik und Handeln
Band 2: Die Konstruktion der Gesellschaft
Band 3: Soziales Handeln
Band 4: Opportunitäten und Restriktionen
Band 5: Institutionen
Band 6: Sinn und Kultur
Inhalt
IX
Vorwort
Einleitung: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit und
das Modell der soziologischen Erklärung
1.
2.
Situation und Situationsanalyse
Das Thomas-Theorem
1
29
59
Der Reiter und der Bodensee
71
3.
75
Die Objektivität der Situation
3.1
3.2
3.3
3.4
Soziale Rollen und die Identifikation mit der Situation
Handeln und Nutzenproduktion
Soziale Produktionsfunktionen
Kulturelle Ziele und institutionalisierte Mittel
77
84
91
110
Exkurs über die Ehre
115
4.
Interesse und Kontrolle
125
4.1 Interesse
4.2 Kontrolle
4.3 Kooperation und Konflikt
126
140
145
Die „Definition“ der Situation
161
5.
Exkurs über die sechs Lesarten des Thomas-Theorems
170
VI
6.
Inhalt
Handeln
177
6.1
6.2
6.3
6.4
6.5
6.6
6.7
6.8
6.9
177
190
194
201
211
215
224
230
241
Verhalten und Handeln
Handeln und „Handlung“
Subjektiver Sinn
Die Logik des Handelns
Doppelte Hermeneutik
Objektive Rationalität?
Typen des Handelns
Optimierung und Orientierung
Die „Logik der Selektion“
Exkurs über die unbegründete Furcht vor Vernunft und Eigennutz
244
7.
Die Wert-Erwartungstheorie
247
7.1 Das Grundmodell der WE-Theorie
7.2 Drei Beispiele
7.3 Spezielle Situationen
251
259
275
Die Logik der subjektiven Vernunft
295
8.1
8.2
8.3
8.4
296
301
313
340
8.
9.
Rationales Handeln
Anomalien und Paradoxien
Homo oeconomicus? Homo oeconomicus!
Subjektive Vernunft und begrenzte Rationalität
Lernen
359
9.1
9.2
9.3
9.4
359
362
370
376
Grundkonzepte der Lerntheorie
Zwei Mechanismen
Einzelheiten und Regelmäßigkeiten
Lernen und Handeln
10. Die „Logik“ der Situation
10.1 Das Konzept der Situationslogik
387
387
Inhalt
10.2 Was ist „logisch“ an einer Situation?
10.3 Soziologische Gesetze und die „Wirkung“ von Variablen
VII
391
399
Exkurs über das Verhältnis von Brückenhypothesen und Handlungstheorien
403
10.4 Die – oft verzwickte – Logik der unintendierten Folgen
405
11. Der Kontext des Handelns
11.1
11.2
11.3
11.4
11.5
11.6
Bringing Society Back In!
Kontextanalyse
Mehrebenenanalyse
Merkmale sozialer Umgebungen
Die Erklärung der Kontexteffekte
Die Bedeutung der Nahumwelt
12. Soziale Klassen
12.1 Klasse und Klassenlage
Exkurs über Typenbildung
12.2 Klassenbewußtsein und Klassenhandeln
12.3 Klassenkonflikt, Klassenkampf und die Umwälzung der
gesellschaftlichen Verhältnisse
Literatur
Register
415
415
426
435
442
446
457
463
465
475
483
490
495
507
Einleitung
Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit und das
Modell der soziologischen Erklärung
Die Soziologie ist gewiß eine ganz besondere Wissenschaft, und wohl auch
deshalb sind Soziologen meist keine gewöhnlichen Menschen. Das liegt –
woran auch sonst? – an der Eigenart ihres Gegenstandes: der menschlichen
Gesellschaft. Kaum irgendwo ist die verwickelte Dialektik des Verhältnisses
von Mensch und Gesellschaft treffender zusammengefaßt worden als von Peter L. Berger und Thomas Luckmann in ihrem großartigen Buch über die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Sie schreiben:
„Gesellschaft ist ein menschliches Produkt. Gesellschaft ist eine objektive Wirklichkeit. Der
Mensch ist ein gesellschaftliches Produkt.“1
Die Soziologie hat es danach mit drei, eng aufeinander bezogenen und sich
wechselseitig bedingenden Sachverhalten zu tun: die Produktion der Gesellschaft durch das Handeln der Menschen; die Objektivierung der Gesellschaft
als eine dem Handeln der Menschen unverrückbar und objektiv gegenüberstehende Wirklichkeit; und die Konstitution der Menschen als psycho-soziale
Wesen durch die von ihnen selbst konstruierte gesellschaftliche Wirklichkeit.
Keines der drei Elemente darf bei soziologischen Analysen ausgelassen oder
ausschließlich beachtet werden. Peter L. Berger und Thomas Luckmann haben ihrem Satz daher sofort hinzugefügt, daß „ ... eine Analyse der gesellschaftlichen Welt, welche irgendeines dieser drei Elemente außer acht ließe,
verzerrt wäre ... .“ (Ebd.; Hervorhebungen nicht im Original)
Das sind deutliche Feststellungen zu einem schwierigen Problem: Wie entsteht die Gesellschaft als objektive Wirklichkeit, obwohl alle sozialen Prozesse nichts sind als – meist unbeabsichtigte – Folgen des stets nur subjektiv motivierten Handelns von Menschen? Und wie hat man sich vorzustellen, daß
sich die Menschen nur über die gesellschaftlichen Folgen ihres Handelns als
psycho-soziale Wesen konstituieren, gleichzeitig aber selbst die gesellschaft1
Peter L. Berger und Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, 5. Aufl., Frankfurt/M. 1977 (zuerst: 1966), S.
65; Hervorhebungen so nicht im Original.
2
Einleitung
lichen Strukturen und Prozesse erzeugen, von denen ihre eigene Konstitution
ausgeht?
Der Gedanke der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit ist so alt
wie die Soziologie selbst. Adam Smith und Karl Marx gründeten beispielsweise ihre Gesellschaftstheorien darauf. Max Weber hat ihn zur Grundlage
seiner verstehend-erklärenden Soziologie gemacht. Alle neueren Theorieentwicklungen in der Soziologie drehen sich um ihn. Robert K. Merton hat ihn
mit einer hübschen Geschichte erläutert. Es geht um den unerwarteten Niedergang einer Bank irgendwo in den Vereinigten Staaten zu Beginn der 30er
Jahre dieses Jahrhunderts.2 Dem damit umschriebenen Problem hat Merton
eine berühmt gewordene Bezeichnung gegeben: Self-fulfilling Prophecy.
Die Self-fulfilling Prophecy
Die Geschichte beginnt mit einer zunächst noch ganz entspannten und erfreulichen Situation:
„It is the year 1932. The Last National Bank is a flourishing institution. A large part of its resources is liquid without being watered. Cartwright Millingville has ample reason to be proud
of the banking institution over which he presides.“ (Ebd., S. 422)
Wie an fast jedem Werktag betritt Präsident Cartwright Millingville morgens
ganz frohgemut seine Bank. Es ist der Black Wednesday, wovon Cartwright
Millingville aber noch nichts weiß:
„As he enters his bank, he notices that business is unusually brisk. A little odd, that, since the
men at the A.M.O.K. steel plant and the K.O.M.A. mattress factory are not usually paid until
Saturday. Yet here are two dozen men, obviously from the factories, queued up in front of the
tellers’ cages. As he turns into his private office, the president muses rather compassionately:
‚Hope they haven’t been laid off in midweek. They should be in the shop at this hour‘.“
(Ebd.)
Ohne größere Beunruhigung wendet sich Präsident Millingville wie gewöhnlich seinen Akten zu. Aber nicht lange:
„His precise signature is affixed to fewer than a score of papers when he is disturbed by the
absence of something familiar and the intrusion of something alien. The low discreet hum of
bank business has given way to a strange and annoying stridency of many voices.“ (Ebd.)
2
Robert K. Merton, The Self-Fulfilling Prophecy, in: Robert K. Merton, Social Theory and
Social Structure, 11. Aufl., New York und London 1967a, S. 421-436.
Einleitung
3
Das unübliche Stimmengewirr hat einen ganz handfesten Grund: Ein Gerücht,
die Bank sei insolvent, hat dazu geführt, daß eine Vielzahl von unruhig gewordenen Gläubigern ihre Einlagen zurückfordert. Es ist
„ ... the beginning of what ends as Black Wednesday – the last Wednesday, it might be noted,
of the Last National Bank.“ (Ebd.)
Und am Abend dieses denkwürdigen Tages gab es die Last National Bank
nicht mehr.
Die „Definition“ der Situation
Warum konnte diese Katastrophe eintreten, obwohl Cartwright Millingville in
der Tat ganz objektiv keinen Grund zur Beunruhigung haben mußte, als er am
Morgen des Schwarzen Mittwoch seine Bank betrat? Die Antwort ist leicht
gegeben: Keine Bank der Welt kann die Einlagen aller ihrer Gläubiger unmittelbar zurückzahlen – ganz einfach, weil alle Banken ihre Einlagen weiterverleihen und weil sie daher immer nur einen geringen Prozentsatz davon als
„Mindestreserven“ für Abhebungen vorrätig halten.
Das ist auch gar nicht anders denkbar, weil Banken ja keine Duckschen Geldspeicher sind,
sondern Umschlagsplätze für Kreditvergabe und Kreditnahme – und daraus auch ihre wirtschaftliche und gesellschaftliche Funktion beziehen. Die Stabilität der finanziellen Situation
einer Bank beruht auf einem ganzen Satz von Fiktionen und Annahmen der Akteure über die
Situation. Dazu gehören insbesondere das Vertrauen in die Funktionsfähigkeit des ökonomischen Systems insgesamt und der Glaube in die Solvenz der einzelnen Bank speziell.
Tritt nun aber das Gerücht der drohenden Insolvenz einer bestimmten Bank
auf, und glauben die Sparer tatsächlich das Gerücht, dann wird die Bank wirklich insolvent, weil die Gläubiger auf einen Schlag ihre Ersparnisse zurückhaben wollen, und weil die Mindestreserven nicht ausreichen, um alle Wünsche
nach Rückforderung der Einlagen sofort zu erfüllen. Dies geschieht auch
dann, wenn an dem Gerücht selbst nichts Wahres daran ist. Wichtig ist nur,
daß das zunächst durchaus falsche Gerücht wirklich von den Menschen für
wahr gehalten wird, und sie sich in ihrem Handeln daran orientieren. Das zunächst falsche Gerücht schafft sich so seine eigene, gesellschaftlich erzeugte
Wirklichkeit: „A situation has been defined as real.“ (Ebd.; Hervorhebung
nicht im Original) Und diese Definition der Situation setzt eine eigene „Logik“ in Gang, die dann niemand mehr aufhalten kann.
Die spezielle, durch eine bestimmte Definition der Situation in Gang gesetzte, dann aber unerbittliche Logik der Verwirklichung einer zunächst bloß
4
Einleitung
„definierten“ Situation ist es, was Robert K. Merton als Self-fulfilling Prophecy bezeichnen möchte:
„The self-fulfilling prophecy is, in the beginning, a false definition of the situation evoking a
new behavior which makes the originally false conception come true.“ (Ebd. S. 423; Hervorhebungen im Original)
Merton nennt das Beispiel des Schicksals der Last National Bank eine in vielerlei Hinsicht zu beherzigende „soziologische Parabel“:
„The parable tells us that public definitions of a situation (prophecies or predictions) become
an integral part of the situation and thus affect subsequent developments. This is peculiar to
human affairs. It is not found in the world of nature, untouched by human hands. Predictions
of the return of Halley’s comet do not influence its orbit. But the rumored insolvency of Millingville’s bank did affect the actual outcome. The prophecy of collapse led to its own fulfillment.“ (Ebd.; Hervorhebungen nicht im Original)
In der Tat liegt darin die wohl wichtigste Besonderheit der gesellschaftlichen
Prozesse gegenüber allen Vorgängen, mit denen es die Naturwissenschaften
zu tun haben: Was die Menschen über sich und über die Gesellschaft denken
und allein wie sie die Situation „definieren“, ist ein integraler Teil der „Logik“ der Situation und bestimmt darüber ihr Handeln und alle weiteren Folgen
– auch gegen ihre Absichten und Vorstellungen. Bei Uhren, Molekülen und
Cumuluswolken ist das grundsätzlich anders: Die folgen nur blind bestimmten
Kausalgesetzen. Zu einer besonderen „Definition“ der Situation sind die Objekte der unbelebten Natur nicht befähigt.
Die „Logik“ der Situation
Self-fulfilling Prophecies sind nicht die einzigen, aber ohne Zweifel besonders
beeindruckende Fälle der „definierenden“ Konstruktion einer objektiven gesellschaftlichen Wirklichkeit.
Es gibt beispielsweise auch sich selbst zerstörende Vorhersagen – wie häufig bei Warnungen
der Polizei vor Verkehrsstaus bei Ferienbeginn, die dazu führen, daß für die Zeit der vorhergesagten Staus die Autobahnen leer sind und sich dafür einen Tag später die Blechlawine ansammelt. Merton nennt sie auch „suicidal prophecies.“ (Merton 1967a, S. 423, Fußnote 1) Es
gibt ein – nicht ausnahmslos – „Ehernes Gesetz“ der Entstehung von Oligarchien in Parteien
und Verbänden. Es gibt festgefügte rituelle oder sonstwie geregelte Abläufe, vor denen es
kaum ein Entrinnen gibt: Das kaum vorauszusehende Theater eines Abendessens mit entfernten Verwandten, den nicht zu bezwingenden Terror des Karnevals wie den des Konsumrausches zu Weihnachten, Hinrichtungen und Fakultätssitzungen, den Verlauf von Liebesbeziehungen und Ehen wie die Unentrinnbarkeit des Zahlungsverkehrs zwischen Banken, Schuldnern und Gläubigern. Es gibt eine unvermeidlich scheinende Logik etwa auch des Prozesses,
über den der Vertraute eines Patienten, der in eine Heilanstalt eingewiesen werden soll, unversehens zum Verbündeten der Anstalt wird, ebenso wie eine feste Logik des Verlaufs von
Einleitung
5
Kontakten zwischen einander fremden Gruppen, bei denen es nach anfänglich wohlwollender
Freundlichkeit unweigerlich zum Konflikt und zur Abgrenzung der Gruppen kommt – wie
beim Verhältnis fremdethnischer Einwanderer zu den Einheimischen, oder wie bei den Beziehungen zwischen Ost- und Westdeutschen nach der Einigung. Und es gibt die Naturgewalten der Diffusion einer Zeitgeistströmung oder kultureller Moden – wie rollbrettfahrende Betriebswirte mit nach hinten gedrehten bunten Kappen auf dem Mensa-Gelände zum Beispiel –
, die alle über die arglosen Menschen wie ein Gewitter hereinbrechen und denen sich auch
diejenigen nicht entziehen können, die sich mit aller Macht dagegen stemmen.
Solche augenscheinlich festen Determinationen von sozialen Situationen
durch soziale Situationen, ausgelöst und getragen stets nur durch die subjektiven Vorstellungen und Ziele und das Handeln der Akteure, in den Folgen
dann aber von den Absichten und „psychischen“ Dispositionen der individuellen Menschen unabhängig, haben die Soziologen immer ganz besonders fasziniert. Ihre Eigenständigkeit hat die Soziologie bis heute mit dem Verweis
auf diese Dialektik von objektiver Unerbittlichkeit und subjektiver Konstruktion zu begründen versucht.
Der Streit um die soziologische Methode
Wie mit diesen Fragen und Problemen genau und methodisch korrekt und
vollständig verfahren werden soll, das sagen Peter L. Berger und Thomas
Luckmann und Robert K. Merton – wie die Soziologie insgesamt weitgehend
– leider nicht so deutlich. Immer hat es in der Soziologie gerade in dieser Frage viel Streit um die richtige Vorgehensweise gegeben. Und so ganz unverständlich ist das vor dem Hintergrund der Besonderheiten ihres Gegenstandes
ja auch nicht.
Der Ausgangspunkt der Fragen nach der richtigen soziologischen Methode läßt sich in aller
Kürze so zusammenfassen: Weder die klassische Makro- noch die klassische Mikrosoziologie
haben es geschafft, der Soziologie eine theoretische Grundlage zu geben, die den beschriebenen Besonderheiten ihres Gegenstandes Rechnung trägt und zu geeigneten Erklärungen bei
ihren Fragen führt: Die klassische Makrosoziologie hat – bis heute – weder die nötigen allgemeinen Gesetze für ihre Erklärungen gefunden, noch hat sie verständlich machen können
wie die Gesellschaft als „Produkt“ des sinnhaften Handelns der Menschen entsteht. Und die
klassische Mikrosoziologie hat die Objektivierung der Gesellschaft weitgehend ausblenden
müssen – und neigte deshalb mehr oder weniger fahrlässig dazu, sich in der Psychologie der
menschlichen Motive oder in der Beschreibung der kleinen Lebenswelten des Alltags zu verlieren.
Kurz: Es muß für die Lösung der Aufgaben der Soziologie – die Erklärung
sozialer Zusammenhänge und Prozesse – eine Verbindung zwischen den
Strukturen der Gesellschaft und dem Handeln der Menschen geben. Diese
6
Einleitung
Verbindung haben die klassischen Ansätze der Soziologie nicht herzustellen
vermocht.
In dieser Kritik an der Makro- und Mikrosoziologie sind sich eigentlich alle nur etwas neueren theoretischen Ansätze in der Soziologie einig: Norbert Elias mit dem Konzept der Prozeßund Figurationssoziologie; Anthony Giddens mit der Theorie der Strukturierung; Pierre
Bourdieu mit dem Begriff des Habitus als von Akteuren strukturierter und gleichzeitig ihr
Handeln strukturierender Praxis; Randall Collins mit der Forderung nach einer Mikrofundierung der Makrosoziologie; Jürgen Habermas mit der Unterscheidung von System und Lebenswelt; und Niklas Luhmann mit seiner These von der wechselseitigen Konstitution der
psychischen und der sozialen Systeme.3
Der amerikanische Neo-Funktionalist Jeffrey C. Alexander hat seine eigene
ferne Ahnung, daß jetzt die Zeit gekommen ist, so zusammengefaßt:
„Neither micro nor macro theory is satisfactory. Action and structure must now be intertwined.“4
Das ist schon richtig, und kaum jemand würde wohl widersprechen. Die Frage
ist nur: Wie soll es denn geschehen? Und darin sind sich die – auch die oben
genannten – Soziologen dann schon wieder sehr viel weniger einig. Es gibt
immer noch viel zu tun – vor allem an Aufräumarbeiten mit alten Mißverständnissen und eingefahrenen Denkgewohnheiten. Und dazu zählen einige liebgewonnene Unterscheidungen, wie die von Gesellschaft und Individuum, von System und Lebenswelt, von System- und Handlungstheorien,
psychischen und sozialen Systemen und von Makro- und Mikrosoziologie, die
– irgendwie – miteinander verbunden werden müßten, so als ob sie nicht, wie
das bei Berger und Luckmann schon gesagt wurde, eine unauflösliche Einheit
bilden würden.
Makrosoziologie
Die klassische Soziologie, beginnend mit Emile Durkheim und fortgesetzt über Talcott Parsons, war erklärtermaßen eine strikt makrosoziologische Ange3
4
Norbert Elias, Was ist Soziologie? München 1970; Anthony Giddens, Die Konstitution
der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung, Frankfurt/M. und New York 1992; Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt/M. 1982; Randall Collins, On the Microfoundations of Macrosociology,
in: American Journal of Sociology, 86, 1981, S. 984-1014; Jürgen Habermas, Theorie des
kommunikativen Handelns, 2 Bände, Frankfurt/M. 1981a,b; Niklas Luhmann, Soziale
Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/M. 1984.
Jeffrey C. Alexander, The New Theoretical Movement, in: Neil J. Smelser (Hrsg.), Handbook of Sociology, Newbury Park u.a. 1988, S. 77; Hervorhebung nicht im Original.
Einleitung
7
legenheit. Das Ziel war das Auffinden von genuin „soziologischen“ Gesetzen
für das „Verhalten“ von Kollektiven. Die Hoffnung war es, Gesetze „sui generis“ zu finden, die jenseits aller Einzelmotive und Ideosynkrasien der individuellen Akteure gelten würden. Es sollte Soziales nur durch Soziales erklärt
werden und nur eine Soziologie geben, die nichts als Soziologie ist. Diese
Richtung ist insbesondere unter der Bezeichnung Funktionalismus bzw. als
Struktur-Funktionalismus bekannt geworden. Heute lebt sie – in stark abgemilderter Form – als strukturelle bzw. als institutionell-vergleichende Soziologie weiter – etwa in den Ansätzen von Peter M. Blau, Stein Rokkan oder M.
Rainer Lepsius.
Es hat eine ganze Reihe von Vorschlägen für solche soziologischen Gesetze sui generis gegeben. Beispielsweise: das Eherne Gesetz der Oligarchie von Robert Michels, wonach Parteien
und andere Organisationen nach kurzer Zeit unabhängig von ihrer eigenen Ideologie eine
Führungsschicht ausbilden; die These eines Zusammenhangs von Kernfamilie und Industriegesellschaft nach Emile Durkheim, wonach mit der Industrialisierung die Familie auf die
Eingenerationenfamilie und somit auf ihren „Kern“ von Vater, Mutter und (zwei) Kindern
schrumpfe; die Vorstellung von Karl Marx – die in ähnlicher Weise auch von Max Weber
und von Talcott Parsons geteilt wurde –, daß die moderne kapitalistische Gesellschaft die
ständischen, ethnischen und nationalen Gemeinschaften unweigerlich zum Verschwinden
bringen würde; der sog. race-relation-cycle von Robert S. Park, daß sich die Kontakte von
einander fremden Gruppen nach einem festen Zyklus – freundlicher Kontakt, Konflikt, Akkomodation und schließliche Assimilation der Gruppen – entwickeln würden; die Hypothese
über die Entwicklung von Städten in Formen bestimmter Zonen, wie dies etwa Ernest W.
Burgess angenommen hat; Annahmen über den Prozeß der Modernisierung von Gesellschaften, der sich sukzessiv über die Stadien der Urbanisierung, der Entwicklung des Bildungssystems, der demokratischen Partizipation und der Entstehung von Massenmedien vollziehe, wie
Daniel Lerner sich dies vorgestellt hat; oder die Behauptung über einen inneren Zusammenhang von protestantischer Ethik und kapitalistisch-berechnender Lebensführung, wie ihn Max
Weber zu belegen versucht hat – und viele andere ähnliche Entwürfe mehr.5
Aber weder das Eherne Gesetz der Oligarchie, noch das vom Schrumpfen der
Familie in der Industriegesellschaft, noch das Verschwinden der ethnischen
Gemeinschaften in der Moderne, noch die These vom race-relation-cycle,
5
Robert Michels, Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie, 4. Aufl.,
Stuttgart 1970 (zuerst: 1911); Emile Durkheim, Einführung in die Soziologie der Familie,
in: Emile Durkheim, Frühe Schriften zur Begründung der Sozialwissenschaft, Darmstadt
und Neuwied 1981 (zuerst: 1888); Karl Marx und Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, in: Marx-Engels-Werke, Band 4, Berlin 1964, S. 459-493; Robert E.
Park, The Nature of Race Relations, in: Robert E. Park, Race and Culture, Glencoe, Ill.,
1950, S. 81-116; Ernest W. Burgess, The Growth of the City: An Introduction to a Research Project, in: Robert E. Park, Ernest W. Burgess und Roderick D. McKenzie (Hrsg.),
The City, Chicago und London 1925, S. 47-62; Daniel Lerner, The Passing of Traditional
Society, New York 1964; Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Band 1, 7. Aufl.,
Tübingen 1978 (zuerst: 1920), S. 17-206.
8
Einleitung
noch die Zonenmodelle der Stadt, noch die Abfolge bestimmter Stadien und
Stufen der Modernisierung, noch der Zusammenhang von protestantischer Ethik und dem Geist des Kapitalismus sind als bedingungslos geltende oder
historisch-reale Zusammenhänge belegt. Immer handelt es sich – allenfalls –
um idealtypische, das heißt: überzeichnende, Beschreibungen von sog. historischen Individuen, die es so in „allgemeiner“ Form wenigstens nicht gegeben
hat und für die es jeweils zahllose Ausnahmen gibt.
Unvollständigkeit und Sinnlosigkeit
Die Suche nach solchen soziologischen Gesetzen ist also – trotz einer recht
langen Zeit von etwa 100 Jahren der Bemühung darum – bemerkenswert erfolglos geblieben. Nicht nur das: Bis heute ist kein einziges derartiges soziologisches Gesetz gefunden worden. Dieses empirische Versagen der Makrosoziologie wird als das Problem der Unvollständigkeit der soziologischen Gesetze bezeichnet. Es hat zur Folge gehabt, daß die Makrosoziologie zwar viele
interessante Explananda beschreiben konnte, aber – leider – kein zufriedenstellendes Explanans für ihre Probleme gefunden hat.
Außerdem wurde – vom Problem der Unvollständigkeit ganz unabhängig –
mit der Annahme soziologischer Gesetze jede Subjektivität und jeder „Sinn“
des Handelns systematisch ausgeblendet. Die Gesetze der Soziologie konnten
nur solche der objektiven Logik – sei es der sozialen Zusammenhänge, sei es
der sozialen Prozesse – sein, die ganz unabhängig von den Bedürfnissen und
Vorstellungen der menschlichen Akteure entstehen. Die Gesellschaft wurde
so nur als objektive Wirklichkeit vorstellbar, nicht aber als Produkt des
menschlichen Handelns „verständlich“. Man könnte diese systematische Ausblendung der Subjektivität des menschlichen Handelns als das Problem der
„Sinn“-losigkeit der Makrosoziologie ansehen.
Das Problem der Sinnlosigkeit wäre zwar, wenn es die soziologischen Gesetze denn wirklich
gäbe, aus theoretisch-erklärender Sicht kein sehr gravierendes, weil ja nur gut erklärt werden
soll – egal mit welchen Gesetzen. Es kommt im Zusammenhang des Problems der Unvollständigkeit aber insofern erschwerend hinzu, als der Einbezug des konstruktiven, sinnhaften
und kreativen Beitrages der Akteure schon manche Ausnahme bei den „objektiven“ soziologischen Gesetzen aufzulösen imstande war – auch bei den wenigen Beispielen soziologischer
Gesetze, die oben genannt wurden.
Die Lösung beider Probleme läge in einer sog. Tiefenerklärung der soziologischen Gesetze: dem Aufzeigen eines allgemeineren, generierenden Mechanismus, aus dem auch die Ausnahmen von der Regel des Gesetzes ableitbar
sind. Dies liefe bei einer soziologischen Erklärung notwendigerweise auf eine
nähere Analyse der Situation und auf eine Erklärung des daran orientierten
Einleitung
9
Handelns von Akteuren – und dessen Folgen – hinaus. Diesen Weg in die Tiefe einer genaueren Analyse der Situation hat sich die Makrosoziologie aber
bereits durch die Vorgaben ihres Programms verbaut: Wer die Menschen von
der Art der Theoriekonstruktion her ignoriert und so auch ihre – oft verzweifelten und deshalb kreativen, aber auch nicht immer erfolgreichen – Versuche
der Problemlösung als eigenständigen Beitrag der Vergesellschaftung nicht
ernst nimmt, kann nicht dann plötzlich mit ihnen kommen, wenn die soziologischen Gesetze versagen.
Mikrosoziologie
Die Makrosoziologie hatte ihre Blütezeit in den 50er und 60er Jahren vor allem in Gestalt der struktur-funktionalen Theorie nach Talcott Parsons. Die
Gegenreaktion auf ihre Schwächen waren zwei dezidiert mikrosoziologische
Richtungen. Beide betonten die Bedeutung des Handelns der menschlichen
Akteure für ein angemessenes Verständnis und für eine korrekte Erklärung der
sozialen Prozesse. Es waren das interpretative Paradigma einerseits und die
verhaltenstheoretische Soziologie andererseits.
Das interpretative Paradigma verwies insbesondere auf die Subjektivität eines jeden Handelns. Es geht u.a. auf Überlegungen von William I. Thomas und George Herbert Mead zurück. Danach wählen die Akteure ihr Handeln nach einer vorher stattfindenden Definition der
Situation, wobei sie die Merkmale einer Situation als „bedeutungsvolle“ Symbole interpretieren und sich eine spezielle subjektive Sichtweise der Situation zurechtlegen, die dann das
Handeln leitet. Der Ansatz lebt heute unter verschiedenen Bezeichnungen und mit unterschiedlichen Forschungsprogrammen fort: als Symbolischer Interaktionismus und als Ethnomethodologie – unter anderem. Die andere Variante der Mikrosoziologie ist mit dem Namen
George C. Homans verbunden. Homans betonte auch, daß es ohne die Einbeziehung der Akteure und ohne die Erklärung ihres Verhaltens eine angemessene soziologische Erklärung
grundsätzlich nicht geben könne, weil nur auf der Ebene des Verhaltens von Menschen die
erforderliche kausale Verbindung zwischen Situation und Handeln und kollektiven Folgen
denkbar wäre. Er bestand aber gleichzeitig – in Abgrenzung zu allen „verstehenden“ und „interpretativen“ Ansätzen – auch darauf, daß diese Erklärung über das deutende Verstehen irgendeines „Sinns“ des Handelns nicht möglich wäre. Das Handeln der Menschen müsse im
Prinzip als eine kausale „Reaktion“ auf gewisse objektiv gegebene und wirksame „Reize“ in
der Situation erklärt werden: als „Verhalten“. Daraus erklärt sich die Bezeichnung des Ansatzes als verhaltenstheoretische Soziologie.
Beide Ansätze der Mikrosoziologie sehen die Gesellschaft somit zwar – ganz
anders als die Makrosoziologie – als Produkt des Handelns der menschlichen
Akteure. Aber sie können beide nicht recht deutlich machen, wie dadurch die
Gesellschaft als objektive, den Menschen oft fremd gegenüberstehende Wirklichkeit entsteht. Die beiden Mikrosoziologien wußten – kurz gesagt – nicht,
wie sie von der Detailbeschreibung der Lernbiographien, der Reize und der
10
Einleitung
Reaktionen, der Interpretation der Symbole und des Sinns des Handelns, sowie der kleinen Lebenswelten zu den überdauernden Strukturen der Gesellschaft vorstoßen könnten, um die es in der Soziologie ja zu allererst geht. Insofern sind sie beide vor dem Hintergrund des Epigramms von Peter L. Berger
und Thomas Luckmann ebenfalls unvollständig geblieben. Anders gesagt: Es
ist viel zu wenig an Soziologie sowohl in der interpretativen wie in der verhaltenstheoretischen Soziologie gewesen.
Gesellschaftliche Differenzierung und die Regeln der soziologischen Methode
Emile Durkheim hatte der Soziologie ein Manifest mit auf den Weg gegeben,
an dem sie sich lange orientiert hat: „Die Regeln der soziologischen Methode“.6 Dort fordert er bekanntlich, die „sozialen Erscheinungen“ wie „Dinge“
zu behandeln. Sie müßten „losgelöst von den bewußten Subjekten, die sie sich
vorstellen“ (Durkheim 1976: 125), betrachtet werden. Durkheims „Regeln“
erschienen zuerst im Jahr 1895. Sie waren das Programm der klassischen Makrosoziologie. Im Jahre 1976 brachte der oben bereits erwähnte Anthony
Giddens die „New Rules of Sociological Method“ heraus.7 Von diesen „Neuen Regeln“ lautet die Regel A ONE:
„Sociology is not concerned with a ‚pre-given’ universe of objects, but with one which is
constituted or produced by the active doings of subjects.“ Und weiter die Regel A TWO:
„The production and reproduction of society thus has to be treated as a skilled performance
on the part of its members ... .“ (Ebd., S. 160)
Gewiß gelte auch, daß die Subjekte historisch lokalisiert seien und die Bedingungen ihres Handelns frei wählen könnten. Strukturen dürften aber (so Regel
B TWO) „ ... not be conceptualized as simply placing constraints upon human
agency, but as enabling.“ (Ebd., S. 161)
Die Folge für die soziologische Methode ist für Giddens danach: eine deutliche Hinwendung zur Beachtung der subjektiven Befindlichkeit der Akteure,
ihrer Fähigkeiten, Wissensstrukturen und Symbolwelten zur Analyse des Prozesses, über den die Akteure in ihrem Handeln – meist unintendiert – die sie
umgebenden Strukturen fortwährend aktiv reproduzieren und neu schaffen.
Die New Rules sind – wie das Aufkommen der Mikrosoziologien insgesamt – eine Reaktion auf das oben beschriebene Problem der Unvollständig6
7
Emile Durkheim, Die Regeln der soziologischen Methode. Herausgegeben und eingeleitet
von René König, 5. Aufl., Darmstadt und Neuwied 1976 (zuerst: 1895).
Anthony Giddens, New Rules of Sociological Method. A Positive Critique of Interpretative Sociologies, London u.a. 1976.
Einleitung
11
keit und – insbesondere – das der Sinnlosigkeit. Sie haben nicht nur eine methodologische, sondern auch eine – bei Giddens eher implizit bleibende – inhaltliche Begründung: Es haben sich die gesellschaftlichen Grundlagen geändert, vor denen die alten „Regeln“ der Makrosoziologie ihre Plausibilität
durchaus hatten – die Existenz relativ einfach geschnittener und stabiler
Strukturen der Gesellschaft.
Diese besonderen Strukturen der Gesellschaft beruhten auf zwei Gegebenheiten: auf deutlichen Interessen-Differenzierungen, die sich in eindeutigen Kategorisierungen, wie z.B. sozialen Klassen, bezeichnen ließen, und auf ebenso deutlichen Milieu-Differenzierungen, die man
z.B. in der Kategorie des Standes begrifflich zusammenfassen konnte. Der historische, aber
bis dahin als solcher unbemerkte „Glücksfall“ für die soziologische Methode Durkheims war
nun aber, daß diese Interessen- und Milieudifferenzierungen von Klasse und Stand deutlich
miteinander kovariierten. Aus dieser Kristallisation von Struktur und Kultur der Gesellschaft
ergaben sich dann eine Reihe weiterer Korrelate, die es gestatteten, die Soziologie als eine
Art von Kategorienlehre typischer gesellschaftlicher Gruppen mit typischen Interessen und
typischen Institutionen aufzubauen. Empirisch wird dann eine Soziologie der „Standarddemographie“ möglich, plausibel – und erklärungskräftig. Ein Beispiel dafür war/ist die Wahlsoziologie: Typische gesellschaftliche cleavages erzeugen typische Interessenlagen und politische Organisationen – die Parteien. Wegen der Einlagerung der betreffenden Gruppen in
stabile Milieus und auch kulturell typischer Lebenswelten ist das Wahlverhalten tatsächlich
stabil an Interessenlagen und (standard-)demographischen Variablen – sogar mit einer deutlichen, nicht unmittelbar interessenbezogenen Identifikation – gebunden. So wurde eine implizit erklärende Theorie möglich, die unbemerkt theoretisch viel weiter reichte als es diese Kategorien erlaubt hätten: Klassenverhältnisse kennzeichneten z.B. eindeutige und exklusive
Motivationen und – verstärkt durch entsprechende organisatorische und institutionelle Zuspitzungen – auch bestimmte Typen von Kognitionen, Alltagstheorien und Weltinterpretationen. Die Milieudifferenzierungen sorgten dafür, daß die Motivations- und Kognitionsdifferenzierungen, die sich aus der Interessenlage ergaben, im Alltag auch fortwährend bestärkt
wurden und damit eine durchgängige, nachhaltige und stabile Handlungsrelevanz erhielten.
Und beide zusammen bildeten dann jene unwiderstehlichen „Gußformen“ des Handelns und
Fühlens, die Emile Durkheim als die Basis der Soziologie als wissenschaftlicher Disziplin
aufgefaßt hatte. Auf diese Weise konnte sich auch für die Analyse von Industriegesellschaften eine soziologische Methode – und ein Gesellschaftsbild! – etablieren, die einmal für die
Analyse von einfachen Stammesgesellschaften entstanden war: Stand und Klasse erzeugen
deutlich unterscheidbare Segmente einer stratifikatorischen Differenzierung mit einer hohen
Prägekraft für das Handeln der Akteure als Mitgliedern dieser Segmente. Und dann muß man
„nur“ noch die Strukturen dieser Segmente kennen, um zu wissen, was geschieht.
Einer der Grundzüge der makrostrukturellen Entwicklungen in den westlichen
Industriegesellschaften nach dem 2. Weltkrieg (und bereits weit davor) war
aber die Auflösung dieser einfachen Segmentation im Zuge einer fortschreitenden funktionalen Differenzierung. Es gibt eine – wenigstens in der Tendenz
empirisch auch nachweisbare – Zunahme der „Kreuzung der socialen Kreise“.
Die Folge davon ist: die De-Kristallisation von Interessen und Milieus bzw.
von Klasse und Stand und die Zunahme komplexer Interdependenzen über eine funktionale, arbeitsteilige Verflechtung – gleichzeitig. Diese Entwicklun-
12
Einleitung
gen werden – mitunter in etwas übertrieben-dramatisierender Weise – zusammenfassend als Individualisierung etikettiert.8
Der Verfall der soziologischen Methode
Die methodologischen Konsequenzen dieses gesellschaftlichen Prozesses der
funktionalen Differenzierung sind ebenso naheliegend wie unausweichlich:
der Verfall der soziologischen Methode. Das zeigt sich an einem oft behaupteten, aber nur selten auch empirisch systematisch geprüften Sachverhalt: Die
aus den herkömmlichen Kategorisierungen abgeleiteten Prognosen für das
Handeln von Akteuren und für darauf aufruhende kollektive Prozesse können
immer weniger auf eine empirische Einlösung hoffen.9 Und was zunächst –
unbemerkt – wie ein Glücksfall für das umstandslose Funktionieren von
Strukturerklärungen ausgesehen hat, erweist sich nun als ein tiefgreifendes
Defizit: Weil es unter den Bedingungen von Stand und Klasse keinen Anlaß
für eine mikrotheoretisch fundierte soziologische Tiefenerklärung gab, traf
der Fortfall der impliziten gesellschaftlichen Geltungsbedingungen der soziologischen Methode die nur strukturtheoretisch orientierte KategorienSoziologie nahezu unvorbereitet. Die von Emile Durkheim etablierte Forderung nach einer genuin soziologischen Methode ist inzwischen – ohne größere
Ge-räuschentwicklung – tatsächlich in sich verfallen. Was aber nun?
Naheliegend wäre die folgende Suggestion: Eine individualistische Gesellschaft verlangt
dann also offenbar eine individualistische Methode – und das Ende der Soziologie. Das wäre
ein sehr voreiliger und falscher Schluß. Denn: Die mikrosoziologische Wende hin zur verhaltenstheoretischen oder zur interpretativen Soziologie war – wie wir gesehen haben – ja mitnichten ein Ausweg. Diese Ansätze nahmen zwar die Akteure und ihr Handeln ernst. Sie hatten aber die größte Mühe, den für die Soziologie nach wie vor zentralen Strukturaspekt systematisch einzubeziehen. Eine bloß „individualistische“, eine rein „subjektivistische“, eine
nur „psychologistische“ Theorie ist nicht die geeignete Antwort auf die methodologischen
Folgen der gesellschaftlichen Differenzierung und Individualisierung. Anders gesagt: Soziologische Tiefenerklärungen verlangen zwar den Einbezug der Akteure und des Handelns. Sie
gehen darüber aber auch wieder hinaus.
8
9
Vgl. dazu den programmatischen Beitrag von Ulrich Beck, Jenseits von Stand und Klasse? Soziale Ungleichheiten, gesellschaftliche Individualisierungsprozesse und die Entstehung neuer sozialer Formationen und Identitäten, in: Reinhard Kreckel (Hrsg.), Soziale
Ungleichheiten, Sonderband 2 der Sozialen Welt, Göttingen 1983, S. 35-74.
Vgl. dazu Rainer Schnell und Ulrich Kohler, Empirische Untersuchung einer Individualisierungshypothese am Beispiel der Parteipräferenz 1953-1992, in: Kölner Zeitschrift für
Soziologie und Sozialpsychologie, 47, 1995, S. 634-657.
Einleitung
13
Wie aber soll das – eine mikrotheoretisch fundierte Makrosoziologie – funktionieren? Ist das nicht ein ganz und gar widersprüchliches und allein deshalb
aussichtsloses Unterfangen? Nicht ganz zufällig ist die Soziologie schon seit
einiger Zeit etwas verzweifelt und recht ratlos auf der Suche nach Konzepten,
mit den methodologischen Konsequenzen der gesellschaftlichen Differenzierung und dem Verfall der soziologischen Methode zurechtzukommen.
Licht am Ende des Tunnels?
In der Diagnose des Problems ist inzwischen immerhin eine gewisse Einmütigkeit zu verzeichnen: Neither micro, nor macro! Klaro! Den Streit um das
richtige Vorgehen gibt es in der Soziologie jedoch immer noch. Es würde den
Soziologen zu ihrem Glück wohl etwas fehlen, wenn es anders wäre. Zum
Glück für die Soziologie sieht es aber inzwischen so aus, als ließe sich wenigstens über einige der Punkte ein Einvernehmen erzielen, die bisher den Anlaß für manche Einseitigkeit, für manches Mißverständnis und für manche –
mehr oder weniger verständliche – Hitzigkeit der Auseinandersetzung abgaben. Der Arbeit an der Sache würde dies gewiß nicht schaden. Dabei war der
Streit eigentlich schon mit der berühmten Definition von Max Weber gleich
zu Anfang von „Wirtschaft und Gesellschaft“ unnötig geworden. Danach soll
Soziologie ja jene Wissenschaft heißen,
„ ... welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen
Wirkungen ursächlich erklären will.“10
Das ist ersichtlich nichts anderes als die Aufforderung zu einem verstehenden
Erklären der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit durch handelnde Subjekte: Analyse der strukturellen Bedingungen in der Situation, Erklärung des Handelns und Ableitung der aggregierten – meist: unintendierten –
strukturellen Folgen daraus.
Allzu lange hat es gebraucht, bis sich die Soziologie nach vielen Irrwegen wieder an die einfache Regel der Weberschen Definition erinnert hat. Inzwischen sieht es aber so aus, als würde man sich wenigstens in der Hinsicht einig werden können, daß es eine systematische
Verbindung von Makro- und Mikrosoziologie geben muß. Die oben erwähnten theoretischen
Entwürfe und Orientierungshypothesen von Norbert Elias, Anthony Giddens, Pierre Bourdieu, Jeffrey C. Alexander, Randall Collins, Jürgen Habermas und Niklas Luhmann versuchen eben dies: die Auflösung des alten Gegensatzes zwischen Mensch und Gesellschaft, ein
Gegensatz, der die Soziologie eine sehr lange Zeit beherrscht – und in die Irre geführt hat.
10
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5.
Aufl., Tübingen 1972 (zuerst: 1922), S. 1.
14
Einleitung
Gestritten wird dabei vor allem darüber: Wie soll diese Verbindung zwischen
Struktur und Handeln genau hergestellt werden? Und welche Theorien des sozialen Handelns eignen sich als nomologischer Kern für die Erklärung sozialer Prozesse?
Das Modell der soziologischen Erklärung
Glücklicherweise zeichnet sich eine Lösung des Problems ab. Es gibt inzwischen eine schon gut ausgebaute, sich rasch weiterentwickelnde, zu anderen
Gesellschaftswissenschaften – Ökonomie, Geschichte, Psychologie und Sozialpsychologie, empirische Rechtswissenschaft u.a. – sehr anschlußfähige und
bereits in vielen Forschungsfeldern bewährte Methodologie der soziologischen Analyse, die den geschilderten Gesichtspunkten gerecht werden kann:
das Modell der soziologischen Erklärung. Diese Methodologie ist das Ergebnis von einigen langjährigen Diskussionen und Vorarbeiten, die u.a. Raymond
Boudon, James S. Coleman oder Siegwart Lindenberg und Reinhard Wippler
geführt und geleistet haben.11 Ihr Kern ist das Modell der soziologischen Erklärung. Den Ausgangspunkt bilden zwei Grundannahmen: der analytische
und der theoretische Primat der Soziologie.
Der analytische und der theoretische Primat der Soziologie
Die erste Annahme bezieht sich auf das Erklärungsinteresse. Es liegt in der
Soziologie ausschließlich auf der kollektiven Ebene. Mit einem Begriff, den
Reinhard Wippler und Siegwart Lindenberg eingeführt haben, kann man sagen, daß der analytische Primat der Soziologie auf der kollektiven Ebene liege
(Wippler und Lindenberg 1987, S. 137ff.). Die Soziologie ist eben keine Psychologie oder Psychoanalyse. Und sie ist auch keine bloß Geschichten über
große Taten erzählende Geschichte. Dazu gibt es eigentlich nicht viel mehr zu
sagen.
11
Raymond Boudon, Die Logik des gesellschaftlichen Handelns. Eine Einführung in die soziologische Denk- und Arbeitsweise, Neuwied und Darmstadt 1980; James S. Coleman,
Foundations of Social Theory, Cambridge, Mass., und London 1990; Siegwart Lindenberg und Reinhard Wippler, Theorienvergleich. Elemente der Rekonstruktion, in: Karl Otto Hondrich und Joachim Matthes (Hrsg.), Theorienvergleich in den Sozialwissenschaften, Darmstadt und Neuwied 1978, S. 219-231; Reinhard Wippler und Siegwart Lindenberg, Collective Phenomena and Rational Choice, in: Jeffrey C. Alexander, Bernhard Giesen, Richard Münch und Neil J. Smelser (Hrsg.), The Micro-Macro Link, Berkeley, Los
Angeles und London 1987, S. 135-152.
Einleitung
15
Will man sich nicht die Probleme der Unvollständigkeit und der Sinnlosigkeit einhandeln, muß bei der Erklärung von der kollektiven Ebene auf eine
darunter liegende Mikroebene hinabgestiegen werden. Denn welche Alternative gäbe es, wenn es keine brauchbaren Gesetze auf der kollektiven Ebene
gibt? Weil aber bei jeder „tieferen“ kollektiven Ebene erneut das Problem der
Unvollständigkeit und das der Sinnlosigkeit droht, muß die Vertiefung letztlich bis auf die Ebene der Akteure gehen. Dazu gibt es noch einen weiteren,
den eigentlich entscheidenden Grund: Erst auf dieser Ebene finden sich –
wenn überhaupt – „allgemeine“ und „kausale“ Gesetze, die ja für eine korrekte Erklärung unerläßlich sind: die Gesetze der Selektion des Handelns. Sie
gelten – so wird angenommen – für alle Exemplare des homo sapiens.
Deswegen liegt – erneut dem Diktum von Wippler und Lindenberg folgend
– der theoretische Primat einer soziologischen Erklärung auf der individuellen
Ebene. Auf diese Weise – und nur so! – kommen die Akteure und das soziale
Handeln ins Spiel. Die Forderung nach einer Tiefenerklärung der sozialen
Prozesse ist der Hintergrund dafür; nicht aber die Vorstellung, daß die individuellen Menschen das einzige Reale und das Wichtigste in der Welt seien, für
das sich die Soziologie zu interessieren hätte.
Das Grundmodell
Das Problem besteht also in der Auflösung einer Art von Scheinbeziehung:
Der zu erklärende kollektive Zusammenhang wird nicht über ein kollektives,
kausal wirkendes, allgemeines Gesetz, sondern indirekt über drei direkt miteinander verknüpfte Schritte erklärt, die die methodisch erforderliche Vertiefung leisten, und wobei an einer Stelle dieser drei Schritte ein allgemeiner
nomologischer Kern enthalten ist, der sich nicht auf die historisch variablen
gesellschaftlichen Strukturen, sondern auf die weitgehend konstante biopsychische Natur des homo sapiens bezieht.
Die drei Schritte sind in ihrer elementarsten Form: die Rekonstruktion der
sozialen Situation, in der die Akteure sich befinden; die Anwendung einer
Theorie des Handelns, um das Handeln der individuellen Akteure in dieser Situation zu erklären; und die Transformation der Folgen des individuellen
Handelns zu dem zu erklärenden kollektiven Resultat. Diese drei Schritte
werden auch als das Problem der Logik der Situation, der Logik der Selektion
und der Logik der Aggregation bezeichnet.
Der erste Schritt ist die Bestimmung der Logik der Situation. Damit ist die typisierende Beschreibung der Situation gemeint, in der sich die Akteure befinden. Diese Beschreibung erfolgt in Form der sog. Brückenhypothesen. Die Brückenhypothesen stellen die Verbindung
zwischen der objektiven Situation und den subjektiven Motiven und dem subjektiven Wissen
16
Einleitung
der Akteure her. Sie sind notwendigerweise historisch spezifisch, insofern dies die betreffenden Situationen, Motive und Wissenselemente ja auch immer sind.
Die Brückenhypothesen übersetzen die situationalen Bedingungen in die Variablen der
Logik der Selektion des Handelns, also in eine Handlungstheorie als die allgemeine und nomologische Regel über die Art der Selektion des Handelns. Dies ist der zweite Schritt. Eine
solche Handlungstheorie wird benötigt, da ansonsten der kausale Mechanismus zwischen der
Logik der Situation und dem Handeln der Akteure fehlen würde und weil es dann eine Erklärungslücke zwischen der Situation und dem soziologischen Explanandum gäbe. Anders als
die Brückenhypothesen ist die Handlungstheorie ein kausales Gesetz mit allgemeiner Geltung. Auf diese Weise kann situational-spezifisches Handeln allgemein und kausal erklärt
werden: Gegeben die historisch-spezifische Logik der Situation und eine allgemeine Logik
der Selektion läßt sich das spezifische Handeln der Akteure erklären bzw. vorhersagen.
Das mit Hilfe der Logik der Situation bzw. der Brückenhypothesen und der angewandten
Handlungstheorie erklärte Ergebnis des Handelns der Akteure wird auch als individueller Effekt bezeichnet. Ein individueller Effekt stellt – meist – noch nicht das interessierende zu erklärende kollektive Ereignis dar. Dazu wird ein dritter Schritt erforderlich: die Ableitung der
neu konstituierten kollektiven Situation als Folge der zuvor erklärten individuellen Effekte
und weiterer Randbedingungen im jeweils speziellen Fall. Dieser dritte Schritt ist die Logik
der Aggregation. Hierfür werden besondere Transformationsregeln benötigt, die angeben,
unter welchen Bedingungen bestimmte individuelle Effekte bestimmte kollektive Sachverhalte erzeugen. Zu diesen Bedingungen gehören u.a. die partielle Definition des kollektiven
Explanandums, bestimmte institutionelle Regeln oder kollektive Verteilungen und – mehr oder weniger – idealisierte Prozeßabläufe, formulierbar in formalen Modellen. Diese Bedingungen sind ein notwendiger Bestandteil der aggregierenden Transformation der individuellen Effekte in die zu erklärende – neue – soziale Situation. Sie müssen dem Argument immer
in einer eigenen – gültigen – Beschreibung hinzugefügt werden. Sie folgen aus den individuellen Effekten selbst nicht. Da Aggregationen gerade deshalb oft sehr vom Einzelfall abhängen und immer in einem historisch spezifischen institutionellen Rahmen stattfinden, beruhen
die Transformationsregeln bei der Logik der Aggregation zwingend – wie die Brückenhypothesen – auf Beschreibungen über die speziellen institutionellen und historischen Bedingungen des jeweiligen Falles. Gerade deshalb werden allgemeine soziologische Gesetze und Zusammenhänge „sui generis“ nur schwer vorstellbar. Wohl aber gibt es idealisierte Konstellationen aggregierter Folgen – wie in den Modellen der sog. Spieltheorie, in den Gleichgewichtsmodellen der Ökonomie oder in typisierten Abläufen und Sequenzen, etwa der Diffusion und der Ansteckung. Sie können – unter Umständen – als komplette Module bestimmter
Aggregationen verwandt werden – wenn die Anwendungsbedingungen dafür empirisch erfüllt sind.
In seiner Grundstruktur läßt sich das Modell der soziologischen Erklärung
damit wie in Abbildung 0.1 zusammenfassen. Das Explanandum ist ein kollektives Ereignis oder ein kollektiver Zusammenhang (Beziehung 4 im Diagramm). Die Analyse beginnt mit der sozialen Situation 1 und endet über die
drei beschriebenen Schritte (Beziehungen 1 bis 3 im Diagramm) mit der sozialen Situation 2. Die Entstehung der Situation 1 kann natürlich selbst wieder
zum Gegenstand einer soziologischen Erklärung gemacht werden, und auch
die Folgen der Situation 2 könnten ihrerseits erklärt werden – wenn man das
will. Die Methode des Vorgehens bleibt dabei die gleiche. Auf diese Weise
lassen sich auch soziale Prozesse erklären und soziale Gebilde und komplexe
17
Einleitung
Interdependenzen als Zwischenebene zwischen den Strukturen der Gesellschaft und dem Handeln der Akteure einbeziehen.
Soziale
Situation 1
4
Soziale
Situation 2
3
1
Akteure
Handeln
2
Abb. 0.1: Das Grundmodell der soziologischen Erklärung
Soziale Prozesse
Soziale Prozesse sind nichts als bestimmte Ketten des beschriebenen Grundmodells. Dabei fungieren jeweils erklärte soziale Situationen wieder als situationale Randbedingungen für die nächste Sequenz. Auf diese Weise läßt sich
eine soziologische Erklärung als „Geschichte“ der historischen Genese beliebig nach hinten und als „Prognose“ einer weiteren Entwicklung nach vorne
verlängern. Als vereinfachendes Schema haben solche Sequenzmodelle die
folgende Struktur (Abbildung 0.2).
Solche Sequenzen sind zunächst nur endogen verknüpfte Abläufe des
situationsorientierten Handelns und der Erzeugung aggregierter kollektiver
Folgen. Alles, was geschieht, kann aus der Vorgeschichte des Prozesses allein
erklärt werden. In der sozialen und historischen Wirklichkeit gibt es aber immer unvorhersehbare, zufällige externe Einflüsse, die den endogenen Gang
der Dinge jederzeit ändern können. Diese exogenen Einflüsse sind im Modell
mit D+ gekennzeichnet.
18
Einleitung
D+
D+
S(1)
S(2)
*
*
D+
D+
S(3)
*
*
S(4)
*
*
Abb. 0.2: Die soziologische Erklärung sozialer Prozesse
Zwei Spezialfälle sozialer Prozesse sind für die Soziologie von besonderem
Interesse: die funktionale Reproduktion sozialer Systeme und die historische
Evolution der gesellschaftlichen Strukturen.
Der Prozeß der funktionalen Reproduktion sozialer Systeme läßt sich über das Sequenzmodell dadurch erklären, daß gezeigt wird, wie über die kausale Verkettung der Abläufe ein –
vom Forscher als Referenzpunkt zuvor festgelegter – Gleichgewichtszustand S* immer wieder neu konstituiert bzw. nach etwaigen Abweichungen schließlich doch immer wieder erreicht wird. Etwa: S*, S*, S1, S2, S3, S*, S*, S* ... . Die Reproduktion beinhaltet daher eine
funktionale Dimension: Die Frage nach den Mechanismen und den Strukturen, die die kausale Funktion haben, daß sich die Gesellschaft immer wieder als gleichgewichtiges System mit
dem Zustand S* prozessual reproduziert. Der Prozeß der Evolution sozialer Strukturen läßt
sich dann als eine nicht endende Abfolge von Zuständen S1, S2, S3 ... Sn darstellen, für die gezeigt werden muß, daß der beobachtete Zustand Sn die zu erwartende kausale Folge der Vorgeschichte dieses Zustandes gewesen ist. Diese Art von Prozessen beinhaltet daher eine historische Dimension: Wie kam es, daß sich die Gesellschaft in einem „historischen“ Prozeß in
kausaler Verkettung so wandelte und entwickelte, wie sie es offenbar tat?
Gesellschaftliche Prozesse besitzen immer eine funktionale und eine historische Dimension gleichzeitig: Gesellschaften und alle ihre Teile sind – bis auf
die seltenen Phasen der kompletten Umwälzung – immer Systeme der Reproduktion. Sie wandeln sich aber gleichzeitig immer auch in ihren Strukturen–
meist eher unmerklich, manchmal aber auch sehr abrupt. Der Wandel kann
endogener Art sein, er kann aber auch exogene Ursachen (D+) haben. Meist
spielen endogene und exogene Vorgänge zusammen.
19
Einleitung
Soziale Einbettung
Menschliche Akteure handeln immer im Kontext einer engeren und weiteren
sozialen Umgebung. Diese Einbettung der Akteure in soziale Gebilde und Interaktionssysteme, sowie die Einbettung dieser sozialen Gebilde und Interaktionssysteme in weitere soziale Zusammenhänge kann ebenfalls leicht in die
Logik des Modells der soziologischen Erklärung integriert werden. Die verschiedenen sozialen Gebilde und Interaktionssysteme bilden dabei eine Zwischenebene zwischen der „untersten“ Mikroebene der Akteure und der Makroebene der übergreifenden sozialen Strukturen. In einem erneut stark vereinfachenden Diagramm mit nur einer Zwischenebene läßt sich diese Mehrebenen-Differenzierung so zusammenfassen (vgl. Abbildung 0.3).
S(1)
S(2)
*
*
IS(1)
IS(2)
*
*
Abb. 0.3: Die Einbettung sozialer Gebilde und das Modell der
soziologischen Erklärung
Die Abbildung skizziert die Einbettung eines Interaktionssystems von zwei Akteuren (IS) als
Zwischenebene zwischen dem Makrokontext der Gesellschaft und der Mikroebene der Akteure und des sozialen Handelns. S bezeichnet dabei die Makroebene, die den Kontext bzw.
die soziale Umwelt für IS abgibt. Die Mikroebene der Akteure und deren Handelns ist
vereinfachend mit * gekennzeichnet. Aus der Skizze soll deutlich werden, daß das
„Verhalten“ der in S eingebetteten sozialen Gebilde – die Beziehung IS1-IS2 – nur vom
Agieren der beteiligten Akteure abhängt, daß dieses Agieren aber sowohl von der
Makroebene S wie von den Strukturen des sozialen Gebildes IS beeinflußt wird.
20
Einleitung
Der weiteste denkbare Makrokontext des Verhaltens der individuellen Akteure und der sozialen Gebilde bzw. Interaktionssysteme ist die Gesellschaft. Die
ist ihrerseits eventuell in weitere, etwa supranationale Zusammenhänge anderer Gesellschaften eingebettet. Lediglich die Weltgesellschaft – als Zusammenfassung aller sozialen Systeme dieser Erde – hätte keine weitere soziale
Umgebung mehr, in die sie selbst eingebettet wäre. Die Weltgesellschaft stellt
so die oberste denkbare Grenze der Makroebene des sozialen bzw. historischen Geschehens dar. Die Interaktionssysteme bzw. sozialen Gebilde, in denen die Akteure in ihrem Alltag handeln – Familie, Verwandtschaft, Arbeitsgruppe, Freizeitgemeinschaft – , sind die für die Akteure jeweils unmittelbar
bedeutsamen sozialen Umgebungen.
Die Aufgabe der Soziologie
Die schwierigste, die wichtigste und die „eigentliche“ Aufgabe der Soziologen steckt bei allen Varianten einer soziologischen Erklärung in der Modellierung der Schritte 1 und 3: Die Beschreibung der Logik der Situation und die
Ableitung der kollektiven Folgen. Hier müssen explizite Regeln und präzise
Hypothesen angegeben werden. Dazu muß es aber auch bestimmte Variablen
und eine präzise Regel für den Schritt 2 geben. Anders gesagt: Für die Formulierung der Brückenhypothesen und für die Benennung der Transformationsregeln muß eine bestimmte Theorie des Handelns benannt werden.
Denn wie sollten sonst die Situation mit den Akteuren, die Akteure mit dem Handeln und das
Handeln mit den kollektiven Folgen „logisch“ verbunden werden können? Es reicht – bei
weitem! – nicht aus, zu sagen daß hier beispielsweise Normen oder Anreize oder Symbole
„irgendwie“ bedeutsam wären. Man muß immer auch sagen können wie diese Größen zusammenwirken und wie sie nach welcher allgemeinen Regel in unterschiedlichen Gewichtungen zu einem bestimmten Handeln führen. Und dazu muß eine Selektionsregel genannt werden, die präzise angibt, unter welchen Bedingungen der unabhängigen Variablen einer bestimmten Handlungstheorie welches Handeln auftreten wird.
Insofern ist es keineswegs gleichgültig, ob und welche Theorie des Handelns
für die Logik der Selektion gewählt wird: Von ihr hängt ab, wie und wie gut –
und sogar: ob überhaupt – die Schritte 1 bis 3 getan werden können. Und allein deshalb sind nicht alle Handlungstheorien für soziologische Erklärungen
geeignet.
Aus Gründen, die im Verlaufe dieses Bandes noch nachhaltig deutlich werden, halten wir die
Theorie des rationalen Handelns – mit gewissen Modifikationen gegenüber allzu einfachen
Versionen dieser Theorie – für die einzige, für soziologische Erklärungen taugende Handlungstheorie. Das macht sie auch dann zur Handlungstheorie der Wahl, wenn es mit ihr einige
Schwierigkeiten geben sollte. Den Grund nennt diese Theorie selbst: Wenn es keine bessere
Einleitung
21
Alternative gibt, wäre es sehr unvernünftig, eine noch schlechtere Wahl zu treffen. Die Theorie des rationalen Handelns ist – wenigstens! – das geringere Übel gegenüber den sonst noch
angebotenen Alternativen oder – gar – gegenüber der Perspektive, daß gar keine erklärende
Handlungstheorie verwandt wird.
Ansonsten hat die Soziologie zur Logik der Selektion des Handelns nicht viel
zu sagen: Soziologie ist keine Psychologie. Freilich sollte sie sich schon darüber belehren lassen, wie die Selektion des Handelns empirisch verläuft und
welche nomologischen Regeln es dabei gibt. Aber das zu untersuchen ist eigentlich nicht ihre Aufgabe. Und solange sich die Psychologen untereinander
und mit den Ökonomen nicht haben einigen können, welche Theorie des Handelns die bessere ist, kann sich die Soziologie getrost diejenige aussuchen, die
sie für ihre Zwecke für die geeignetste ansieht.
Abnehmende Abstraktion
Jede soziologische Erklärung ist ein theoretisches Modell und daher kein unmittelbares Abbild der sog. Wirklichkeit. Deshalb handelt es sich immer um
eine Vereinfachung. Es geht gar nicht anders. Diese Vereinfachung bezieht
sich auf alle drei Schritte und auf alle Ebenen der Erklärung.
Für eine erklärende Modellierung empfiehlt es sich daher sehr, die Logik der Situation zunächst möglichst typisiert und aus einer „objektiven“ Sicht heraus zu beschreiben. In der Logik der Selektion sollte immer erst die denkbar einfachste Handlungstheorie ausprobiert werden – etwa die, daß Menschen zwar alle möglichen Motive haben, aber letztlich nur das tun,
was möglich und situationsgerecht ist. Und auch bei der Logik der Aggregation sollten zunächst nur ganz einfache Annahmen gemacht werden – einfache mathematische oder statistische Transformationen oder stilisierte Modelle sozialer Prozesse beispielsweise.
Die Kunst besteht eben nicht in der Beschreibung der bunten Vielfalt der realen Welt, sondern in dem abstrahierenden Sehen einfacher und typischer
Strukturen in dieser realen Welt. Die Soziologie ist zwar eine „Wirklichkeitswissenschaft“, aber nicht in dem Sinne, daß sie die „wirkliche“ Wirklichkeit
zu erfassen hätte. Einfache Annahmen und Modelle sind aber notwendigerweise immer unrealistische und abstrakte Angelegenheiten. Wenn mit ihnen
die Erklärung gelingt, dann ist das Ziel erreicht – auch wenn man weiß, daß
die Modellierung in Teilen falsch, weil gewollt „abstrakt“ ist.
Manchmal will jedoch eine Erklärung mit den abstrakten Annahmen nicht gelingen. Und dann kann sich herausstellen, daß die Vereinfachungen zu heroisch waren, und daß – deshalb! – die Erklärung nicht gelungen ist.
Groß ist in solchen Fällen die Versuchung, die Annahmen einfach der Realität „anzupassen“,
so daß nun die Erklärung gelingt: Statt der objektiven Situation sollen nun die subjektiven
Einschätzungen erhoben werden; statt einer einfachen Theorie des situationsgerechten, ratio-
22
Einleitung
nalen Handelns werden jetzt verschiedene andere „Typen“ des Handelns – etwa das wertrationale, das affektuelle und das traditionale Handeln – angenommen und einer davon ausgesucht; statt einer analytisch-mathematischen Aggregation muß es jetzt eine ComputerSimulation zur Ableitung der „chaotischen“ aggregierten Folgen sein – und so weiter.
Das alles ist nicht verboten, wenn es denn der Wahrheitsfindung dient, wenn
die neuen Annahmen wirklich zutreffender sind und wenn jetzt die Erklärung
gelingt. Aber diese Annäherung an die „Realität“ hat einen hohen Preis: Man
erkauft sich den stärkeren Realitätsgehalt des Modells mit einer meist rasch
anwachsenden Unübersichtlichkeit der Erklärung. Gute Erklärungen sind aber
immer auch einfache Erklärungen. Kurz: Es gibt einen payoff zwischen Einfachheit und Realitätsnähe des Modells.12 Und das heißt: Der Forscher muß
immer selbst eine neue Entscheidung darüber treffen, wie tief in die Tiefe der
subjektiven Mikrosituation seine Tiefenerklärung gehen soll.
Die Strukturierung der Strukturen
So schwierig ist das Problem der vereinfachenden Modellierung bei den meisten soziologischen Erklärungen – Gott sei Dank! – dann aber auch wieder
nicht. Das Handeln der Menschen und dessen strukturelle Konsequenzen folgen ja nicht irgendwelchen ideosynkratischen und schwankenden Motiven,
sondern den objektiven Strukturen der sozialen Situation. Und die festzustellen, ist nicht gar so schwierig wie das aussichtslose Unterfangen, in die innere
Unendlichkeit der ca. sechs Milliarden Seelen lebendiger, wirklicher Menschen zu sehen. Oder, um es mit einem berühmten Satz von Karl Marx zu sagen:
„Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken,
nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.“13
Kurz: Es kommt in der soziologischen Erklärung vor allem auf die Analyse
der sozialen Strukturen an, denen sich die Akteure in der Situation gegenübersehen. Inhaltlich am präzisesten hat den Gedanken der Makro-Mikro-MakroSituationslogik als Analyse der Strukturierung von Situationen, Handlungen
und Handlungsfolgen wohl der uns bereits wohlbekannte Robert K. Merton
12
13
Vgl. insbesondere Siegwart Lindenberg, Die Methode der abnehmenden Abstraktion:
Theoriegesteuerte Analyse und empirischer Gehalt, in: Hartmut Esser und Klaus G.
Troitzsch (Hrsg.), Modellierung sozialer Prozesse, Bonn 1991a, S. 29-78.
Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: Marx-Engels-Werke, Band
8, Berlin 1960, S. 115.
Einleitung
23
formuliert. Er hat das zu einer Zeit getan, in der sich die makro- und mikrosoziologischen Ansätze noch ganz unverbunden gegenüberstanden. Sein Werk
kann als eine frühe Überwindung dieses unfruchtbaren Gegensatzes und als
eine Wiederanknüpfung an jene zeitweise vergessene Theoriekonzeption angesehen werden, die diesen Gegensatz noch nicht kannte.14
In seinem Kern besteht das Grundkonzept der strukturtheoretischen Erklärung sozialer Prozesse bei Merton – wen wird es wundern? – ebenfalls aus
drei Schritten.
Dies ist erstens die Analyse der sozialen Strukturierung der verfügbaren Alternativen, der
Motive und des Wissens der Akteure aufgrund der institutionellen Definition der Situation.
Auf diese Weise wird zweitens das Handeln der Akteure festgelegt. Es ist keine gänzlich freie
Wahl, sondern eine strukturierte Selektion aus dem Satz der bereits strukturell vorsortierten
Optionen. Und drittens sind dadurch die – oft verdeckten – Effekte des Handelns ebenfalls
strukturiert: die – meist unintendierten, latenten – strukturierten Folgen der manifest oft ganz
anderen Absichten der Menschen.
Der für unsere Zwecke wichtigste Hinweis aus den Überlegungen von Merton
ist, daß es der Soziologie in ihren Erklärungen eben nicht auf alle Ideosynkrasien einzelner Akteure ankommen kann, sondern vor allem auf die
strukturierte „Definition“ der Situation und auf die strukturierte Logik aller
weiteren Abläufe – just so, wie er das für den zwangsläufigen
Zusammenbruch der Last National Bank vorexerziert hat, bei dem es ja auch
nicht auf die Charaktere der Einzelakteure ankam. Von diesen Strukturen –
und eben nicht von den vieltausendfachen psychischen Dispositionen der
mittlerweile an die sechs Milliarden Menschen dieser Erde – geht die
Erklärung der sozialen Prozesse im Modell der soziologischen Erklärung aus.
Die Einzelmenschen, ihre psychischen Dispositionen und ihre Schicksale
interessieren die Soziologie – zumeist jedenfalls – also nicht. Einzelpersonen
werden erst dann wichtig, wenn sie aufgrund spezieller Umstände Situationen
nachhaltig und folgenträchtig strukturieren können. Das gibt es ohne Zweifel
auch. Hitler oder Gandhi, wohl auch Gorbatschow, wären Beispiele dafür. Der
soziologische Normalfall ist es nicht. Aber selbst dann ist die soziologische
Analyse gefragt: Was war an den Situationen derart strukturiert, daß diesmal
die psychischen Ideosynkrasien von Einzelmenschen so folgenreich werden
konnten? Und zwar: strukturell folgenreich!
14
Vgl. insbesondere: Robert K. Merton, Social Theory and Social Structure, 11. Aufl., New
York und London 1967; Vgl. auch die Zusammenfassung der theoretischen Überlegungen
Mertons bei Arthur L. Stinchcombe, Merton‘s Theory of Social Structure, in: Lewis A.
Coser (Hrsg.), The Idea of Social Structure. Papers in Honor of Robert K. Merton, New
York u.a. 1975, S. 11-33.
24
Einleitung
Das Konzept der Situationslogik
Die Vorstellung einer unverrückbaren Eigengesetzlichkeit des Verhaltens sozialer Systeme, entstanden aus einer inneren „Logik“ der Situation, der die
Akteure auch mit ganz unterschiedlichen psychischen Motiven folgen, wird
auch als das Konzept der Situationslogik bezeichnet. Der Ausdruck stammt
von Karl R. Popper.15 Er hat damit versucht, der Soziologie eine ihm sehr
wichtig erscheinende eigene Aufgabe zuzuteilen. Insbesondere wollte Popper
die Soziologen davor warnen, sich auf die schwankenden Motive der Menschen bei ihren Erklärungen zu stützen: Die Soziologen müßten sich davor
hüten, die sozialen Prozesse und Institutionen ausschließlich aus psychischen
Antrieben, personenbezogenen Beweggründen, bestimmten inneren Bedürfnissen oder dem bloßen Handeln der Menschen zu erklären zu suchen. Der
Rückgang auf die psychischen Motive der menschlichen Akteure sei überflüssig und sogar irreführend. Eine selbstbewußte, autonome Soziologie müsse
stattdessen die „Logik der sozialen Situation“ untersuchen.
Popper beruft sich dabei auf einen der seiner Meinung nach ersten wirklichen Soziologen, der die Strukturen der Gesellschaft ernst nahm – und eben
nicht glaubte, daß das gesellschaftliche Geschehen eine unmittelbare Folge
der Triebe oder der Motive oder des „Geistes“ der Menschen wäre: Karl
Marx. Marx hatte den interessanten Gedanken geäußert, wonach das gesellschaftliche Sein – die „Struktur“ der Gesellschaft also – das individuelle Bewußtsein bestimme – und eben nicht umgekehrt. Popper wendet sich unter
ausdrücklicher Berufung auf dieses Epigramm von Marx gegen den von ihm
so genannten Psychologismus, wonach die Gesellschaft ein Produkt der bewußten Planung der Menschen sei und wonach die gesellschaftlichen Institutionen das unmittelbare Ergebnis von „ ... Beweggründen sein müssen, die
dem Bewußtsein individueller Menschen entspringen.“ (Ebd., S. 114) Die
Gegenposition zum Psychologismus ist für Popper das Konzept der institutionellen Analyse einer von der Psychologie autonomen Soziologie. Sie wird so
begründet:
„Gegen diese These des Psychologismus können die Verteidiger einer autonomen Soziologie
institutionalistische Ansichten vorbringen. Sie können zuallererst darauf verweisen, daß sich
keine Handlung je durch Beweggründe allein erklären läßt; wenn Beweggründe (oder andere
psychologische oder behavioristische Begriffe) in einer Erklärung Verwendung finden sollen,
dann müssen sie durch eine Bezugnahme auf die allgemeine Situation, und insbesondere auf
die Umgebung, ergänzt werden. Im Falle menschlicher Handlungen ist diese Umgebung
hauptsächlich eine soziale; somit lassen sich unsere Handlungen nicht ohne Berücksichtigung
15
Karl R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Band 2: Falsche Propheten. Hegel, Marx und die Folgen, 5. Aufl., München 1977 (zuerst: 1945), S. 114.
Einleitung
25
unserer sozialen Umgebung, sozialer Institutionen und ihrer Funktionsweise erklären.“ (Ebd.;
Hervorhebung im Original)
Zur Erklärung der unentrinnbaren Eigendynamik sozialer Prozesse nimmt
Popper an, daß sich drei Elemente zu einer übergreifenden sozialen Logik zusammenschließen ließen: die institutionelle Logik der Situation, die Logik
des, wie Popper sagt, situationsgerechten Handelns unter diesen Bedingungen
und die unentrinnbare Logik der unintendierten Folgen. Die institutionelle
Definition der Situation strukturiert und steuert die Alternativen, die Interessen und die Erwartungen der Akteure. Die Selektionsregel des situationsgerechten „rationalen“ Handelns überträgt diese institutionelle Logik der Situation unmittelbar auf die Selektion des Handelns. Und die unintendierten Effekte des Handelns sorgen für die verläßliche Umsetzung der Handlungen in
gut vorhersagbare kollektive Folgen – gerade so wie das Robert K. Merton in
seiner Analyse des Zusammenbruchs der Last National Bank gezeigt hat. Und
die Einheit der drei Elemente macht für Popper das Konzept der Situationslogik aus.
Die Idee der Situationslogik befreit nach Popper die Analysen der Soziologie vom immer schwankenden Grund der menschlichen Psychen. Das
menschliche Bewußtsein und die Bedürfnisse der Menschen seien eine viel zu
unsichere Grundlage der Analyse der sozialen Prozesse:
„Anstatt soziologische Überlegungen auf die scheinbar feste Grundlage der Psychologie der
menschlichen Natur zurückzuführen, könnten wir sagen, daß der menschliche Faktor das
letztlich ungewisse und unberechenbare Element im gesellschaftlichen Leben und in allen sozialen Institutionen ist. In ihm haben wir wirklich das Element vor uns, das letztlich von den
Institutionen nicht vollkommen beherrscht werden kann.“16
Die Situationslogik ist demgegenüber ein objektiver Hintergrund der Dialektik von Mensch und Gesellschaft. Damit hat sich die Soziologie zu befassen,
nicht mit den psychischen Ideosynkrasien einzelner lebendiger Menschen. Die
Psychologen und die Psychoanalytiker müssen ja schließlich auch noch etwas
zu tun haben.
Die Autonomie der Soziologie
Die objektiv-verstehende Rekonstruktion der Logik der Situation, die Rekonstruktion der „objektiven Hermeneutik“ des Handelns der Menschen also, ist
damit das Grundinstrument der soziologischen Analyse. Daraus ergibt sich
16
Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, 4. Aufl., Tübingen 1974a (zuerst: 1960), S.
124; Hervorhebungen im Original.
26
Einleitung
die Möglichkeit, sogar die Notwendigkeit einer eigenständigen, einer autonomen Soziologie, die eben nicht versucht, die sozialen Prozesse auf eine „ ...
psychologische oder behavioristische Analyse unserer Handlungen zu reduzieren.“ (Popper 1977, S. 114) Im Gegenteil: Das individuelle Bewußtsein ist
die Folge des institutionell geprägten und von der Eigenlogik der Situation erzeugten gesellschaftlichen Seins. Daher
„ ... setzt jede solche (psychologische; HE) Analyse die Soziologie voraus, und diese kann
daher von der psychologischen Analyse nicht völlig abhängen. Die Soziologie, oder zumindest ein sehr wichtiger Teil der Soziologie, muß autonom sein.“ (Ebd.; Hervorhebungen nicht
im Original)
Es ist nicht schwer, zu sehen, daß das Konzept der Situationslogik der Grundidee und den drei Schritten des Modells der soziologischen Erklärung weitgehend entspricht. Es ist das Vorgehen, das die Soziologie immer schon gekennzeichnet hat: die Analyse der besonderen „Logik“ der Situation.
Weder Kollektivismus noch Psychologismus
Das Konzept der Situationslogik wie das Modell der soziologischen Erklärung
befassen sich mit dem Prozessieren von sozialen Systemen und Gebilden ganz
allgemein: Gesellschaften wie alle anderen darin einbeschlossenen Kollektive
und Vorgänge. Die sozialen Systeme und Gebilde entstehen, bestehen und
wandeln sich nach diesen Konzepten nur als externer Effekt der – oft sehr
kurzsichtigen – Versuche der Menschen, ihre alltäglichen Probleme zu lösen.
Gelegentlich kann es aber empirisch so scheinen, als hätten die sozialen Systeme, Gebilde und Prozesse ein Eigenleben jenseits des Handelns der Menschen – und als gäbe es irgendwelche „Gesetze“ der gesamtgesellschaftlichen
Entwicklung „oberhalb“ des Agierens menschlicher Akteure. Diese Auffassung wird auch als Kollektivismus bezeichnet. Über das Modell der soziologischen Erklärung wird klar, warum der Kollektivismus ein Fehlschluß ist:
Nicht die sozialen Gebilde „sui generis“ treiben den Prozeß voran und geben
ihm seine Dynamik, sondern die Akteure, deren Probleme und Situationssichten, das daraus folgende Handeln und die daraus entstehenden Folgen. Das
gilt jenseits der oben bereits genannten Probleme der Unvollständigkeit und
der Sinnlosigkeit aller derartiger strikt makrosoziologischer Konzepte.
Neben dem Kollektivismus gibt es die – gewissermaßen spiegelbildliche –
Annahme, wonach die – von den sozialen Situationen unabhängig gedachten
– psychischen Dispositionen der menschlichen Akteure es letztlich sind, die
die Menschen zu ihrem Handeln bringen und so die sozialen Prozesse vorantreiben. Diese Auffassung ist der eben dargestellte Psychologismus, gegen den
Einleitung
27
sich Karl R. Popper verständlicherweise so vehement wandte. Mit dem Modell der soziologischen Erklärung wird unmittelbar klar, warum auch der Psychologismus ein Fehlschluß wäre: Nicht die psychischen Dispositionen der
Akteure und das Handeln alleine – der Schritt 2 also im Modell der soziologischen Erklärung – bewirken und erklären die kollektiven Folgen, sondern erst
die Situationslogik der objektiven Bedingungen, des situationsgerechten Handelns und der unintendierten Folgen – die Schritte 1, 2 und 3 eben als Einheit
eines Erklärungsargumentes.
Kurz: Der Kollektivismus ist ungeeignet, weil es keine Gesetze auf der
kollektiven Ebene gibt, und der Psychologismus taugt nicht, weil er die Situationsgebundenheit der psychischen Dispositionen und das Aggregationsproblem ignoriert.
Strukturtheoretischer Individualismus
Trotz der Ablehnung des Psychologismus bleiben die Idee der Situationslogik
und das Modell der soziologischen Erklärung theoretisch auf das Handeln von
Individuen bezogene Konzepte. Das klingt widersprüchlich, ist aber leicht zu
verstehen: Die Modellierung der Strukturen der Situation und die Erklärung
des Handelns geschehen – wegen der Forderung nach einer Tiefenerklärung –
zwingend in der Sprache einer Theorie des Handelns von individuellen Akteuren. Ausgangspunkt und Ziel sind aber stets die Strukturen. Aber die Ableitung der kollektiven Effekte schließt notwendigerweise die individuellen Effekte des Handelns mit ein, wenngleich sie darüber auch stets hinausgeht.
Dieses Konzept der Erklärung kollektiver Sachverhalte unter Rückgriff auf
das durch Situationen strukturierte Handeln von individuellen Akteuren wird
auch als Methodologischer Individualismus bezeichnet.
Der Ausdruck Methodologischer Individualismus stammt – wie der der Situationslogik und der des Psychologismus – von Karl R. Popper. Damit meinte er – wenn nicht im Anschluß, so doch in Übereinstimmung mit Max Weber
– jene Auffassung, „ ... daß wir nie mit einer Erklärung auf Grund sogenannter ‚Kollektive’ (Staaten, Nationen, Rassen usf.) zufrieden sein dürfen.“ (Ebd.,
S. 124) Popper hat insbesondere auf den wichtigen Unterschied zwischen Methodologischem Individualismus und dem Psychologismus hingewiesen: Der
Psychologismus beachte nur die „privaten“ Motive und Kenntnisse der Menschen, während der Methodologische Individualismus die soziale Prägung
dieser Motive und Kenntnisse in den Mittelpunkt stelle, gleichwohl aber stets
davon ausgehe, daß die Dynamik des sozialen Geschehens letztlich in den
Entscheidungen individueller menschlicher Akteure verankert sei. Popper ist
28
Einleitung
– wenn man so sagen will – ein situationslogischer, ein strukturtheoretischer,
ein soziologischer, aber eben kein psychologistischer Individualist. Letzteres
würde er sich sehr verbeten haben.
Die Grundlagen der Soziologie
Der Methodologische Individualismus ist – in der Konkretisierung des Modells der soziologischen Erklärung – das Konzept, das die Vorstellung von der
gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit als Theorieprogramm systematisieren kann. Das Konzept beruht auf einer alten Idee, die Adam Smith
und Max Weber, sowie – wie wir gesehen haben: in Teilen wenigstens – auch
Karl Marx schon hatten. Es widerspricht nachhaltig den einseitigen Doktrinen
des Kollektivismus wie denen des Psychologismus. Der Methodologische Individualismus überwindet sie beide. Er geht von den Strukturen aus, denen
das Handeln der Akteure in strukturierter Weise folgt, und kehrt dorthin wieder zurück. Deshalb wird der Ansatz manchmal auch Strukturtheoretischer
Individualismus genannt. Wer das Konzept verstanden hat, wird die Bezeichnung nicht als irritierend oder gar als widersprüchlich empfinden. Es ist das
Programm einer autonomen, aber gleichwohl zu anderen Disziplinen der Gesellschaftswissenschaften offenen und anschlußfähigen, einer erklärenden und
gleichzeitig verstehenden Soziologie, einer, die das Tun der Akteure und die
Wirksamkeit der Strukturen gleichermaßen ernst nimmt. Das Konzept ist die
Grundlage der erklärenden Soziologie.
Kapitel 1
Situation und Situationsanalyse
Die 60er Jahre waren weltweit die Zeit der Studentenbewegung gegen das Establishment und den Muff der 1000 Jahre auch der Professoren. Dabei trat an
den amerikanischen Universitäten ein zunächst seltsam anmutendes Phänomen auf: Die Studentenproteste fanden nicht – wie wohl eigentlich zu erwarten gewesen wäre – an den schlechteren und wirklich muffigen Universitäten
statt, sondern gerade an denen mit dem besten Ruf. Die Frage lautet sofort:
Wie ließe sich diese – wenigstens auf den ersten Blick – erstaunliche Korrelation zwischen der Reputation der Universität und dem Ausmaß des studentischen Protestes erklären? Also: Warum gab es die Revolte beispielsweise in
Berkeley und nicht – sagen wir einmal – in Tallahassee?
Ad-hoc-Erklärungen für den Zusammenhang sind wohlfeil. Eine auch aus den Selbstbekundungen der Studenten damals ableitbare, am „Bewußtsein“ der Studenten anknüpfende Erklärung könnte etwa so lauten: Die Studenten an den besseren Universitäten waren auch die moralisch besseren Studenten, nämlich: ausgestattet mit einem höheren Maß an kritischem Bewußtsein, das es dann vor allem war, was die Studentenproteste an den Elitehochschulen beflügelte. Einer der Ausgangspunkte des soziologischen Denkens ist aber die Skepsis über moralische Motive – wenigstens für das Handeln der Alltagsmenschen und dann, wenn es sich
um soziale Prozesse handelt, von denen auch weitere Teile einer Bevölkerung erfaßt werden,
bei denen die Heiligen und die Verrückten noch etwas seltener werden, als sie es ohnehin
schon sind.
Die entsprechende skeptische Frage wäre dann: Warum wenden sich gerade
die Studenten aus den besseren Kreisen gegen eine der wichtigsten Institutionen, der sie selbst – kurzfristig wie langfristig – die Sicherung ihrer privilegierten Stellung verdanken? Ist der moralische Altruismus des kritischen Bewußtseins für die Massivität der Proteste nicht eine etwas schwache und – gerade mit Karl Marx, auf den sich damals viele der Studenten auch berufen haben, gedacht – nicht auch eine etwas sehr idealistische Erklärung, der eigentlich jede reale „Basis“ fehlt? Wie kommt es, daß die Bewegung auch Teile der
Studenten erfaßt hat, die ohne Zweifel weniger reflektiert und kritisch gesonnen waren als die Wortführer?
30
Situationslogik und Handeln
Mit dem Hinweis auf die überlegene Moral der Elitestudenten kommt man
also nicht recht weiter. Soziologen sollten aber auch nicht nur einfach die Frage stellen, die sich jeder Kriminalkommissar angesichts eines rätselhaften
Falles zuerst vorlegt: cui bono? Soziologen fragen anders. Nämlich: Über
welchen Prozeß der Verkettung von Handlungsabläufen und externen Effekten wird das zu erklärende Problem verständlich? Die Frage nach der Erklärung des Zusammenhangs zwischen der Reputation der Universität und dem
Ausmaß des Studentenprotestes ähnelt zunächst der, wie sie sich oft bei der
kausalen Interpretation statistischer Korrelationen zwischen einer unabhängigen und einer abhängigen Variablen durch die Annahme von intervenierenden
Variablen stellt: Welche intervenierenden kausalen Schritte stellen die Verbindung zwischen der Reputation der Universitäten und dem Protestverhalten
der Studenten her?
In einer vereinfachenden Rekonstruktion ließe sich etwa der folgende Wirkungszusammenhang annehmen:1 Die Universitäten mit der höheren Reputation (R) haben, gerade weil sie
bereits einen guten Ruf besitzen, Professoren mit einem besonderen Ansehen rekrutieren
können (A). Professoren mit höherer Reputation tendieren aber noch mehr als ihre weniger
bekannten Kollegen dazu, ihre Zeit in die Forschung zu investieren als in die Lehre. Ihr
überlokaler Ruf beruht ja darauf, daß sie exzellente Forscher sind (F). Die Konzentration auf
die Forschung erzeugt bei diesen Professoren eine eher überlokale, eine kosmopolitische
Orientierung und eine Vernachlässigung der lokalen Aktivitäten (C). Durch die damit
verbundene Vernachlässigung der lokalen, inneruniversitären Angelegenheiten und
insbesondere der Lehre im Grundstudium kam es an den besseren Universitäten zu einer
massiven Unterbetreuung und Vernachlässigung der Belange der Studenten (V). Diese
Vernachlässigung erzeugte bei den Studenten eine nachhaltige Unzufriedenheit (U), die
gerade deshalb um so stärker war, als die Erstsemester-Studenten aus den besseren Kreisen
wegen der Vernachlässigung um ihre Wettbewerbschancen und um die Sicherung ihrer
privilegierten Position fürchten mußten. Und auf der Grundlage dieses Frustrationspotentials
– und einiger spezieller Bedingungen der damaligen Zeit, sicher dann auch teilweise aufgrund
eines besonderen kritischen Bewußtseins und moralischer Empörung über andere,
weiterreichende Ungerechtigkeiten der bürgerlichen Universitäten – kam es schließlich zu
den Protesten an den besonders angesehenen Universitäten (P).
In einem vereinfachenden Diagramm läßt sich dieser Zusammenhang wie in
Abbildung 1.1 zusammenfassen.
1
Das Beispiel folgt der Analyse der institutionellen Situation der amerikanischen Universitäten durch Raymond Boudon im Anschluß an einige Ideen von Peter M. Blau. Raymond
Boudon, Die Logik des gesellschaftlichen Handelns. Eine Einführung in die soziologische
Denk- und Arbeitsweise, Neuwied und Darmstadt 1980, S. 61f.; Peter M. Blau, Structural
Constraints and Status Complements, in: Lewis A. Coser (Hrsg.), The Idea of Social
Structure. Papers in Honor of Robert K. Merton, New York u.a. 1975, S. 123ff.
31
Situation und Situationsanalyse
R
A
F
C
V
U
P
Abb. 1.1: Die Vermittlung der Beziehung zwischen der Reputation der Hochschulen
und dem Ausmaß des studentischen Protestes an den amerikanischen Universitäten
Die Zerlegung der ursprünglichen Korrelation in mehrere intervenierende
kausale Zwischenschritte ist aber noch keine erklärende Rekonstruktion der
sozialen Logik des Zusammenhanges zwischen der Reputation der Universitäten und dem Ausmaß des studentischen Protestes: Situationen „wirken“ nicht
einfach „kausal“ auf die Akteure. Alles, was geschieht, ist eine fortlaufende
Strukturierung der Bedingungen für die „sinnhafte“ Wahl eines bestimmten
Handelns der jeweiligen Akteure – das dann bestimmte „objektive“ Wirkungen erzeugt und so die Folge-Situation wieder strukturiert. Eigentlich müßte
also im Einzelnen gezeigt werden, wie in jedem der Einzelschritte die Akteure
aufgrund der jeweiligen „Logik“ der Situation ein ihnen sinnhaft vorkommendes Handeln wählen, das dann erst den nächsten Schritt – gemeinsam mit
anderen vorliegenden Bedingungen – als externen Effekt dieses Handelns
nach sich zieht.
Es müssen also mehrere Fragen hintereinander erklärend beantwortet werden: Warum gelingt
es den besseren Universitäten, die Professoren mit dem höheren Ruf anzuziehen? Warum
konzentrieren sich die bekannten Professoren ganz besonders auf die Forschung? Warum vernachlässigen die forschenden Hochschullehrer eher die lokalen Belange ihrer Universität?
Warum sind Studenten bei einer schlechten Lehre frustriert, obwohl es doch die Koryphäen
des Faches sind, bei denen sie hören können und die sicher auch so immer noch besser sind
als das, was in der Provinz geboten wird? Und warum schließlich protestieren die frustrierten
Studenten dann auch tatsächlich, obwohl ja bekanntlich keineswegs jede Frustration auch
wirklich in offenen Protest umschlägt?
Keine der Fragen ist trivial, obwohl es auf den ersten Blick bei einigen so zu
sein scheint. Immer geht es letztlich um die soziologische Frage: Welche
strukturierten Umstände in der jeweils gegebenen Situation sind es, die dazu
führen, daß die Akteure in strukturiert-typischer Weise agieren – und dadurch
strukturierte externe Effekte und darüber jeweils strukturierte neue Situationen schaffen, so daß der gesamte Zusammenhang wie ein einziges übergrei-
32
Situationslogik und Handeln
fendes und kausales „Gesetz“ erscheinen kann? Es ist die Frage nach der „Definition“ einer bestimmten „Logik“ der Situation.
Die Situationsmethode
Die Analyse der strukturellen Logik einer Situation ist die Grundlage jeder
soziologischen Erklärung. Sie wird auch als Situationsanalyse (oder
Situationsmethode) bezeichnet. Sie ist der Kern des soziologischen Denkens
immer gewesen – beispielsweise bei Adam Smith, bei Karl Marx, bei Emile
Durkheim und bei Max Weber: Nicht biologische Triebe, nicht das Klima,
nicht die Jahreszeiten oder der Vollmond, nicht die guten oder bösen
Absichten, nicht das Bewußtsein, nicht die psychischen Dispositionen, nicht
die Regungen des Unterbewußten, kein „objektiver“ Geist und auch keine
übermenschlichen Kräfte oder finstere Verschwörer bringen die sozialen
Phänomene hervor, sondern das an Situationen orientierte und – meist
unbeabsichtigt – Situationen neu schaffende und dadurch wieder strukturierte
Handeln der Menschen. Der amerikanische Soziologe William I. Thomas
(1863-1947) hat die Bedeutung der Situationsmethode ganz besonders betont.
Er kann als ihr Erfinder angesehen werden, obwohl sie – wie erwähnt – der
Kern des soziologischen Denkens immer schon gewesen ist.
Die Situationsanalyse zielt auf die Untersuchung der typischen Anpassungen der Akteure an die aktuell gegebene äußere Situation angesichts eines jeweils vorliegenden Repertoires an inneren Tendenzen und Zielen des Handelns, die der Akteur vorher kulturell erworben oder biologisch geerbt hat. Im
Prinzip ist – so William I. Thomas – das Vorgehen bei einer Situationsanalyse
nicht viel anders als das der experimentell arbeitenden Naturwissenschaften,
die ja auch die Änderung des „Verhaltens“ ihrer mit gewissen inneren Dispositionen versehenen Objekte in Abhängigkeit experimentell variierter Bedingungen untersuchen:
„Eine Untersuchung der konkreten Situationen, in welche der einzelne gerät, in die er hineingezwungen wird oder die er selbst schafft, zeigt sein Anpassungsstreben und die Vorgänge
der Anpassung. Die Situationsstudie, das Verhalten in der Situation, die Veränderungen der
Situation und die darauf beruhenden Veränderungen des Verhaltens stellen die größte Annäherung an das Experiment dar, die der Sozialwissenschaftler erreichen kann.“2
2
William I. Thomas, Das Verhältnis der Forschung zur sozialen Wirklichkeit, in: Edmund
H. Volkart (Hrsg.), William I. Thomas. Person und Sozialverhalten, Neuwied und Berlin
1965a (zuerst: 1951), S.123; Hervorhebungen nicht im Original.
Situation und Situationsanalyse
33
In seiner presidential address vor der American Sociological Society von
1927 faßt Thomas einige der damals wohl aufsehenerregenden Ergebnisse der
Situationsanalyse des sozialen Handelns zusammen.3 Vielleicht klingen diese
Ergebnisse heute etwas angestaubt und fast schon trivial. Sie beleuchten aber
die Logik der Situationsanalyse sehr deutlich, eine Methode, die für das soziologische Denken so selbstverständlich geworden ist, daß man kaum noch besonders darüber spricht. Thomas berichtet u.a. von Untersuchungen mit Kindern, die schon in frühestem Alter in ihren Reaktionen sehr deutlich von der
Situation geprägt waren, in der sie sich jeweils befanden. Er erwähnt u.a. Untersuchungen zu den sozialen Bedingungen der Entwicklung der Intelligenz:
„Wenn zwei miteinander nicht verwandte Kinder in derselben Familie aufgezogen werden,
vermindern sich die Intelligenzunterschiede, wenn aber Geschwister in verschiedenen Familien untergebracht sind, so vergrößert sich der Intelligenzunterschied.“ (Ebd., S. 93)
Hysterien und andere Psychopathologien scheinen – so Thomas – oft nichts
anderes zu sein als eine familieninterne Mode, die in der Situation der Familie
massiv auftritt, außerhalb dieser Situation aber sofort verschwindet: Hypochondrische Kinder etwa, die in eine andere Umgebung kamen, verloren ihre
Neurose und bekamen sie in dem Moment wieder, in dem sie zu ihrer Familie
zurückkehrten (ebd., S. 93f.). Thomas berichtet auch von einer gewissen Miss
Caldwell, die
„ ... hauptsächlich italienische Kinder beobachtet und die erstaunliche Feststellung gemacht
(hat), daß ein Kind daheim trotzig, zerstörungswütig und negativistisch sein kann, während es
sich im Kindergarten verhältnismäßig ordentlich benimmt.“ (Ebd., S. 92)
Den Gedanken der Situationsanalyse hat Thomas insbesondere für die Erklärung von Kriminalität und von abweichendem Verhalten allgemein angewandt. Er zitiert seine Kollegen Ernest W. Burgess und Clifford Shaw, die
festgestellt hatten, daß die Verbrechenshäufigkeit in verschiedenen Stadtvierteln von Chicago deutlich variierte. Beispielsweise fanden sie, daß in den sog.
Zwischenraum-Zonen – entlang der Eisenbahnlinien und zwischen den besseren Stadtvierteln – die männlichen Jugendlichen fast zu hundert Prozent kriminell waren, während in anderen Stadtvierteln fast überhaupt keine Kriminalität auftrat (ebd., S. 95f.). Thomas erklärt diese Unterschiede aus den über die
Stadtteile und räumlichen Zonen unterschiedlich verteilten situationellen
Möglichkeiten, ein rechtschaffenes Leben zu führen oder andere Mittel suchen zu müssen, über die dann erst die wichtigen Ziele des Lebens erreicht
3
William I. Thomas, Präsidentschaftsansprache vor der Amerikanischen Soziologischen
Gesellschaft, in: Edmund H. Volkart, William I. Thomas. Person und Sozialverhalten,
Neuwied und Berlin 1965b (zuerst: 1951), S. 88-99.
34
Situationslogik und Handeln
werden können. In ähnlicher, auf die Situation bezogener Weise, erklärt er
auch die extrem hohen Rückfallraten bei einmal straffällig gewordenen Jugendlichen: Wenn sich die grundlegende Situation, die zur Straffälligkeit geführt hat, nicht ändert, dann sorgt die Verurteilung eher noch zu einer Verschärfung des Ausschlusses von den legitimen Möglichkeiten des Handelns
und führt so erst zu jener offenbar unerbittlichen „Logik“ einer lebenslangen
kriminellen Karriere, die Hans Fallada den Stoff zu seinem Roman „Wer einmal aus dem Blechnapf fraß“ gegeben hat:
„So kann man das erste Auftreten vor Gericht nicht als den Beginn einer Besserung ansehen,
sondern es scheint für viele jugendliche Angeklagte eine Art Konfirmation oder Diplomverleihung für den Beginn eines kriminellen Lebensweges zu sein.“ (Ebd., S. 97)
Auch die Formen der Anpassung, der Assimilation und der Akkulturation von
Einwanderern in die Großstädte der Vereinigten Staaten versuchte Thomas so
zu erklären: Eben nicht als unverständliche und irrationale Pathologie, sondern als innerhalb der verbliebenen Möglichkeiten sinnhafte, intelligente und
nach neuen Wegen suchende, aber auch dauerhaft anwendbare Lösung von
Problemen der Gestaltung des Alltags.
William I. Thomas war einer der Mitbegründer der sog. Chicago-Schule der Soziologie. Die
Chicago-Schule war aus der Beschäftigung mit den Problemen der Einwanderer-Gemeinden
in den Großstädten der Vereinigten Staaten in den 20er Jahren entstanden. Das monumentale
Hauptwerk von Thomas – „The Polish Peasant in Europe and America“, das er gemeinsam
mit seinem polnischen Kollegen Florian Znaniecki (1882-1958) verfaßt hat4 – handelt
insbesondere davon. Die Hauptvertreter der Chicago-Schule waren Robert E. Park (18641944) und Ernest W. Burgess (1886-1966). Eine der Leitideen dieser Richtung der Soziologie
war das Konzept der Sozialökologie. Damit ist die Analyse von Prozessen der gegenseitigen
Anpassung von menschlichen Gemeinschaften an ihre physisch-räumliche Umwelt gemeint.
Im Konkreten wurden dabei Prozesse der Entstehung von Siedlungssystemen und der
internen Differenzierung von Städten, insbesondere aber die räumliche Verteilung gewisser
„pathologischer“ Erscheinungen, wie Kriminalität, Prostitution und Geisteskrankheiten,
sowie typische Formen der Alltagsorganisation in – zum Beispiel nach ethnischen Gruppen –
segregierten Wohngebieten untersucht. Die Chicago-Schule hat einen nachhaltigen Einfluß
auf die Entwicklung einer Reihe von Teilbereichen der Soziologie, insbesondere auf die
Stadtsoziologie, auf die Migrationssoziologie und die Soziologie der ethnischen
Minderheiten, sowie auf die Soziologie des abweichenden Verhaltens gehabt. Das Konzept
der Situationsanalyse war eine ihrer theoretischen Grundlagen.
Die Logik der Situationsanalyse kann als eine für die erklärende Soziologie
besonders typische Orientierung angesehen werden: Das Handeln der Menschen ist nicht durch genetische Programme, nicht durch innere Triebe, nicht
durch invariable Bedürfnisse und auch nicht über eine feste „Persönlichkeit”
4
William I. Thomas und Florian Znaniecki, The Polish Peasant in Europe and America, 2
Bände, 2. Aufl., New York 1927.
Situation und Situationsanalyse
35
fixiert, sondern das Ergebnis einer im Prinzip immer auswählenden, intelligenten, aktiven und kreativen Anpassung der Akteure an die vorgefundenen
Gegebenheiten. Genau darauf wollte Thomas vor allem hinweisen: Auch das
eigenartigste Handeln findet seine Erklärung in den situationalen Umständen.
Und eine Änderung des Handelns oder der gesellschaftlichen Institutionen
setzt nicht so sehr eine Änderung der „Natur“ der Menschen und ihrer grundlegenden Bedürfnisse, sondern eine Änderung der Situation voraus. William I.
Thomas und Florian Znaniecki schreiben beispielsweise in den methodologischen Vorbemerkungen zu „The Polish Peasant in Europe and America“:
„Whatever may be the aim of social practice – modification of individual attitudes or of social
institutions – in trying to attain this aim we never find the elements which we want to use or
to modify isolated and passively waiting for our activity, but always embodied in active practical situations, which have been formed independently of us and with which our activity has
to comply.“5
Kurz: Die „Situation“ gibt es immer schon vor den jeweils handelnden Akteuren. An ihr orientieren sich die Akteure. Und jeder Versuch, das Handeln der
Akteure zu ändern, sollte diese Vorgaben tunlichst beachten.
Die „Definition“ der Situation
Was aber „ist“ eine Situation? Wie so viele Begriffe in der Soziologie ist auch
der Begriff der Situation nicht sehr deutlich definiert.6 Von William I. Thomas wird die Situation beispielsweise als „die Gesamtheit der die Verhaltensreaktion bedingenden Faktoren“ (Thomas 1965a, S. 123) bezeichnet. Aha! In
den methodologischen Vorbemerkungen zum „Polish Peasant“ findet sich die
folgende, schon etwas genauere Passage:
„The situation is the set of values and attitudes with which the individual or the group has to
deal in a process of activity and with regard to which this activity is planned and its results
appreciated.“ (Thomas und Znaniecki 1927, S. 68; Hervorhebungen nicht im Original)
Die Situation besteht danach also aus gesellschaftlich verbreiteten Werten und
subjektiven Einstellungen, die die Akteure bei ihrem Tun in Rechnung stellen
5
6
William I. Thomas und Florian Znaniecki, Methodological Note, in: William I. Thomas
und Florian Znaniecki, The Polish Peasant in Europe and America, Band 1, 2. Aufl., New
York 1927a, S. 67f.; Hervorhebung im Original.
Vgl. zu verschiedenen Definitionen des Begriffs der Situation und des Begriffs der
Definition der Situation: Jürgen Markowitz, Die soziale Situation. Entwurf eines Modells
zur Analyse des Verhältnisses zwischen personalen Systemen und ihrer Umwelt,
Frankfurt/M. 1979, S. 21-58 insbesondere.
36
Situationslogik und Handeln
müssen. Ihrer immer noch recht allgemeinen Definition des Begriffes der Situation haben Thomas und Znaniecki einen bemerkenswerten Satz hinzugefügt:
„Every concrete activity is the solution of a situation.“ (Ebd.; Hervorhebung nicht im Original)
Das Handeln der Menschen ist somit der Versuch, drängende Probleme zu lösen, und zwar in Orientierung an den Vorgaben der Situation – etwa: values
and attitudes. Woraus bestehen aber diese Vorgaben genau? Letztlich unterscheidet William I. Thomas in seinen zahlreichen Umschreibungen des Begriffes der Situation immer wieder zwei grundlegende Komponenten: Dem Akteur jeweils vorgegebene äußere Bedingungen und die inneren Einstellungen,
die der Akteur in die Situation jeweils mitbringt. Beispielsweise zählt Thomas
in einer seiner Definitionen der Situation einerseits die jeweils aktuell gegebenen sozialen Beziehungen dazu, etwa die „Institutionen und Sitten – Familie, Bande, Kirche, Schule, die Presse, den Film“, sowie die „Haltungen und
Werte anderer Personen, mit denen der einzelne in Konflikt oder Zusammenarbeit steht“ (Thomas 1965a, S. 123). Aber andererseits auch das oben bereits
erwähnte
„ ... Repertoire von Einstellungen (Tendenzen zum Handeln) und Werten (Ziele, auf welche
sich die Handlung richtet), das in jedem Fall auf den biologischen Gegebenheiten einerseits
und der sozialen Formung andererseits beruht.“ (Ebd.; Hervorhebungen nicht im Original)
In den methodologischen Vorbemerkungen zum Polish Peasant hatten Thomas und Znaniecki diese Definition der Situation als Kombination von äußeren Bedingungen und inneren Einstellungen bereits sehr viel deutlicher vorgeschlagen. Danach beinhaltet eine Situation:
„(1) The objective conditions under which the individual or society has to act, that is, the totality of values – economic, social, religious, intellectual, etc. – which at the given moment affect directly or indirectly the conscious status of the individual or the group.
(2) The pre-existing attitudes of the individual or the group which at the given moment have
an actual influence upon his behavior.“ (Thomas und Znaniecki 1927, S.68; Hervorhebungen
nicht im Original)
Thomas und Znaniecki fügen diesen beiden Komponenten ein drittes Element
hinzu – die „Definition der Situation“. Zur Situation gehöre als drittes „Datum“:
(3) The definition of the situation, that is, the more or less clear conception of the conditions
and consciousness of the attitudes.“ (Ebd.; Hervorhebungen nicht im Original)
Situation und Situationsanalyse
37
Damit wird ein Vorgang angesprochen, auf den praktisch sämtliche soziologische Erklärungen des sozialen Handelns immer wieder mit besonderem Nachdruck hingewiesen haben: Daß sich aus den objektiven Bedingungen der Situation und aus den erworbenen und mitgebrachten inneren Einstellungen und
Zielen der Akteure das Handeln nicht unmittelbar, sondern erst über einen besonderen Zwischenschritt erklären läßt: Den Schritt einer eigenen – und zwar:
subjektiven – Definition der Situation durch den Akteur.
Die Situation besteht in dieser Fassung also aus den objektiv vorgegebenen Bedingungen und
den subjektiven Einstellungen, die die Akteure gleichermaßen bei ihrem Tun in Rechnung
stellen müssen. Die können – folgt man der Definition – „definiert“ werden. Das hört sich
sehr beliebig und idealistisch an! Was ist denn mit den materiellen Bedingungen und mit den
unverrückbaren Knappheiten, etwa daß gerade das Geld ausgegangen ist oder die Umwelt
zugrunde zu gehen droht? Versuchen Sie einmal einer Verkäuferin die Idee von der „Definition“ der Situation beizubringen, wenn sie nicht bezahlen können. Kurz: Was ist mit den Restriktionen des Handelns?
Thomas und Znaniecki haben in der Tat die Situation etwas einseitig aus der
gesellschaftlich-konstruierten und bloß subjektiven Sicht der Akteure gesehen.
Und genau dieses Problem wird zu klären sein: Wie verhalten sich die materiell-objektiven und die kulturell-subjektiven Elemente der Situation zueinander? Wir gehen schrittweise vor.
Das elementare System der Situation
Jedes Handeln ist – letztlich – der Versuch einer Problemlösung. Das heißt
aber nichts anderes, als daß Akteure immer danach streben, bestimmte Ressourcen unter Kontrolle zu bekommen, an denen sie interessiert sind: Ein
Steak gegen den Hunger und zwei Bier gegen den Durst; ein geregeltes Einkommen für den Lebensunterhalt; ein Verdienstorden oder die dankbaren Augen glücklicher Kinder als Balsam für die schwarze Seele – beispielsweise.
Im einfachsten Fall besteht das System einer elementaren Situation daher
aus einem Akteur, aus einer Ressource und aus den beiden damit gegebenen
Relationen des Interesses und der Kontrolle zwischen Akteur und Ressource
(vgl. Abbildung 1.2).7
7
Wir folgen in der Charakterisierung des elementaren Systems einer Situation dem Vorschlag von James S. Coleman, Foundations of Social Theory, Cambridge, Mass., und
London 1990, S. 28ff.
38
Situationslogik und Handeln
i
Interesse
Akteur
Ressource
c
Kontrolle
Abb. 1.2: Das elementare System einer Situation
„Ressourcen“ können dabei alle möglichen materiellen und immateriellen
Dinge, aber auch gewisse Ereignisse, Zustände, Eigenschaften und Leistungen
sein, an denen ein Akteur Interesse finden und die er unter Kontrolle haben
oder bekommen kann. Die Relation i beschreibt das Interesse des Akteurs an
der Ressource, die Relation c gibt den Grad der Kontrolle über die Ressource
an.
Zwei Ressourcen
Es gäbe nicht viel zu handeln, wenn alle Situationen so einfach wären. Der
Akteur hätte buchstäblich keine Wahl. „Handeln“ wird erst möglich, wenn es
verschiedene Alternativen gibt, zwischen den entschieden werden kann. Eine
erste Erweiterung des Modells der elementaren Situation besteht daher in der
Annahme einer zweiten Ressource. Auch mit dieser ist der Akteur über die
beiden Relationen des Interesses und der Kontrolle verbunden (vgl. Abbildung 1.3).
Nun lassen sich schon vier mögliche Relationen unterscheiden: i1, c1, i2, c2.
Aber immer ist damit noch nichts über das „situationsgerechte“ Handeln gesagt.
39
Situation und Situationsanalyse
i1
Interesse1
Kontrolle1
Ressource 1
c1
Akteur
i2
c2
Interesse2
Kontrolle2
Ressource 2
Abb. 1.3: Zwei Ressourcen
Ziele und Mittel
Ressourcen können nicht nur mit Akteuren, sondern auch untereinander in
Beziehung stehen. Eine Ressource X kann beispielsweise für die Produktion
einer anderen Ressource Z geeignet sein. Ein Steak vertreibt beispielsweise
den Hunger, ein Bier ein wenig den schlimmsten Durst. Wir wollen die Eignung einer Ressource X für die Produktion einer anderen Ressource Z als Produktivität oder Effizienz bezeichnen und diese Relation mit exz abkürzen.
Ein Ziel ist dann eine Ressource, an der Akteur Interesse hat, sie aber nicht
kontrolliert, und ein Mittel ist eine Ressource, die ein Akteur kontrolliert und
die für die Erreichung des Zieles effizient ist (vgl. Abbildung 1.4).
Es gebe in diesem einfachen Fall nur genau zwei Ressourcen: X und Z. Die
eine Ressource X steht unter der Kontrolle des Akteurs (cx), interessiert ihn
aber nicht (ix=0). Die andere Ressource Z stehe nicht unter seiner Kontrolle
(cz=0), interessiert jedoch (iz). Zwischen den beiden Ressourcen besteht eine
Relation der Effizienz von X zur Produktion von Z (exz).
Um die Darstellung zu vereinfachen, gehen wir davon aus, daß an einem Mittel kein eigenes
Interesse besteht. Das muß aber keineswegs so sein: Auch Mittel können durchaus mit Interessen belegt sein. Sie gehören dann als „Selbstzweck“ ihrerseits zu erstrebenswerten Zielen:
Man tut die Sache dann „um ihrer selbst willen“. Dann ist der Weg auch schon das Ziel.
40
Situationslogik und Handeln
Interessex
cx
Kontrollex
Mittel X
exz
Akteur
iz
Interessez
Kontrollez
Ziele Z
Abb. 1.4: Ziele und Mittel
Das problemlösende Handeln ist, ganz allgemein, nichts anderes als der Einsatz von bereits kontrollierten, relativ uninteressanten Mitteln zur Erreichung
nicht kontrollierter, aber interessanter Ziele. Und gleich ahnt man schon, worauf es dabei ganz allgemein ankommt: Mit den kontrollierten Ressourcen
möglichst viel an interessanten Ressourcen unter Kontrolle zu bringen, und
dabei möglich wenig aufzugeben, was selbst interessiert.
Alternative Mittel
Wenn nur ein Mittel zur Verfügung steht, ist die Angelegenheit für den Akteur leicht und übersichtlich: Er muß dieses Mittel einsetzen, um sein Ziel zu
erreichen. Dann hat er keine Alternative – außer natürlich der, daß alles so
bleibt wie es ist bzw. seinen sozialistischen Gang geht. Was tut der Akteur
aber, wenn es zwei Mittel gibt, die er zur Erreichung des Zieles einsetzen
könnte? Diese Konstellation ist in Abbildung 1.5 festgehalten.
41
Situation und Situationsanalyse
c1
Mittel X 1
e 1z
iz
Akteur
c2
Mittel X 2
Ziel Z
e 2z
Abb. 1.5: Zwei Alternativen und ein Ziel
In diesem Fall interessiert den Akteur das Ziel Z und er hat die beiden – uninteressanten – Mittel X1 und X2 unter Kontrolle. Beide Mittel sind jeweils effizient, um das Ziel Z erreichbar werden zu lassen. Anders als zuvor hat der
Akteur jetzt jedoch ein Problem. Er hat die Qual der Wahl: Welches der beiden Mittel soll er einsetzen? Sind sie eventuell beide gleichermaßen geeignet?
Kann man die Mittel auch kombinieren? Und wenn ja: In welchem Mischungsverhältnis sollte man das tun? Kurz: Der Akteur muß sich in Situationen – sofern er mehr als eine Möglichkeit an Mitteln hat und nicht beide
gleichzeitig einsetzen kann – zwischen bestimmten Alternativen des Handelns
entscheiden.
Kontrolle und Effizienz
Wovon hängt diese Entscheidung ab? Wenn es nur ein Ziel gibt, dann fällt die
Antwort schon aus einer intuitiven Alltagssicht heraus nicht schwer: Es wird
wohl das Mittel gewählt, bei dem es am wahrscheinlichsten ist, daß das interessierende Ziel auch tatsächlich erreicht wird. Nach unserer Definition von
Mitteln fallen trivialerweise zunächst alle Ressourcen aus, die vom Akteur
nicht kontrolliert werden: Er kann sie ja gar nicht einsetzen. Sie gehören zu
den unverrückbaren Bedingungen der Situation.
Von den überhaupt kontrollierten Ressourcen sind außerdem nicht alle
gleichermaßen perfekt kontrolliert. Es gibt Unterschiede im Grad der Kontrolle: Bekomme ich den Kredit bei der Bank, um damit ein Geschäft zu gründen?
Erhalte ich das Buch aus der Fernleihe pünktlich, um für das Examen zu lernen? Ist die Autobahn wieder verstopft, wenn ich zu dem wichtigen Termin
42
Situationslogik und Handeln
muß? Die Koeffizienten c1 und c2 müßten diesen Grad der Kontrolle ausdrücken.
Aber auch das reicht zur Beurteilung der Mittel noch nicht: Von den kontrollierten Mitteln sind ja nur jene geeignet, die tatsächlich für die Erzeugung
des Zieles hinreichend produktiv sind: Ein Steak ist nichts gegen den Durst,
und Bier macht eher noch hungriger. In Abbildung 1.5 haben wir diese Beziehungen der Effizienz der beiden Mittel X1 und X2 zum Ziel Z durch die Relationen e1z und e2z gekennzeichnet.
Man ahnt es jetzt schon: Ein Mittel ist dann mehr geeignet als das andere,
ein bestimmtes Ziel erreichbar werden zu lassen, wenn das Produkt von Kontrolle und Effizienz cx·exz größer ist als für ein dazu alternatives Mittel.
Zwei Ziele
Nun wollen wir die Situation noch ein klein wenig komplizierter machen: Es
gehe jetzt um zwei Ziele gleichzeitig. So wie für die Mittel läßt sich jetzt fragen, ob nicht auch das Interesse an den Zielen variiert. Und sofort stellt sich
das Problem: Wie soll ein Akteur seine Mittel auf die unterschiedlich interessierenden Ziele verteilen? Auch hier ist die Intuition des Alltags durchaus angebracht: Es wird wohl das Ziel mit dem vergleichweise höheren Interesse
den relativ größeren Einfluß auf die Mittelwahl haben. Die Konstellation von
zwei Mitteln und zwei Zielen ist in Abbildung 1.6 dargestellt.
c1
Mittel X 1
e11
i1
e12
Ziel Z1
Akteur
i2
c2
Mittel X 2
Abb. 1.6: Zwei Alternativen und zwei Ziele
Ziel Z2
e21
e 22
Situation und Situationsanalyse
43
Der Akteur steht zu den beiden Zielen in jeweils einer Relation des Interesses:
i1 und i2. Da beide von ihm kontrollierten Mittel im Prinzip geeignet sein
können, jedes der beiden Ziele zu erzeugen, gibt es jetzt bereits vier Relationen der Effizienz zwischen den beiden Mitteln und den beiden Zielen: Von
Mittel 1 auf die Ziele 1 und 2 die Relationen e11 und e12; und von Mittel 2 auf
die Ziele 1 und 2 die Relationen e21 und e22. Leicht läßt sich ausmalen wie die
Situation aussieht, wenn es m Mittel und n Ziele gibt, und wenn m und n etwas größere Zahlen sind: Es wird sehr unübersichtlich.
Wahrscheinlichkeiten
Oben hatten wir festgehalten, daß nicht alle Mittel gleichermaßen geeignet
sind, ein bestimmtes interessantes Ziel zu erreichen: Das Mittel muß vom Akteur kontrolliert werden; und es muß für die Produktion des Zieles effizient
sein. Kontrolle und Effizienz bilden als Produkt c·e die für die Eignung des
Mittels entscheidende Beziehungskette. Die darüber insgesamt vom Akteur
eingeschätzte Eignung eines Mittels i zur Erreichung eines Zieles j sei als die
Wahrscheinlichkeit pij bezeichnet, daß mit Hilfe des Mittels i das Ziel j erreicht werde.
Der Grad der Kontrolle des Akteurs über die Mittel-Ressource i sei allgemein mit ci, die Effizienz der Mittel-Ressource i zur Produktion der Ziel-Ressource j mit eij bezeichnet. Diese
Koeffizienten können Werte zwischen 0 und 1 annehmen. Die Wahrscheinlichkeit pij ist dann
das Produkt aus der Kontrolle der Ressource i und der Effizienz der Ressource i zur Erzeugung der Ressource j. Es gilt also pij = ci·eij. Ist die Kontrolle sicher und die Effizienz perfekt,
dann hat pij einen Wert von 1. Wird ein Mittel nicht kontrolliert oder ist es nicht effizient,
dann gilt pij = 0. Entsprechend variiert die Wahrscheinlichkeit, daß das Mittel i zum Ziele j
führt, pij zwischen 0 und 1 für alle denkbaren Zwischenstufen der Kontrolle und des Risikos.
Es gilt also: 0 ≥ pij ≥ 1 (vgl. dazu auch noch Kapitel 7 ausführlich).
Es kommt für die Wahrscheinlichkeiten also auf beides an: Der Akteur muß
die Mittel unter Kontrolle haben. Und die gesellschaftlichen bzw. die technischen Bedingungen müssen so gestaltet sein, daß die Mittel für die Zielerreichung produktiv und effizient sind. Über diese Bedingungen wie über den
Grad der Kontrolle sollte der Akteur schon Bescheid wissen, wenn er etwas
erreichen will oder böse Überraschungen vermeiden möchte – wie beispielsweise beim Reiter über den Bodensee, von dem noch im Anschluß an Kapitel
2 zu berichten sein wird.
44
Situationslogik und Handeln
Präferenzen
Ziele strebt ein Akteur – letztlich – nur deshalb an, weil er sich davon einen
Beitrag zur Reproduktion seines Organismus, zur Befriedigung seiner Bedürfnisse, allgemein also: zur Nutzenerzeugung, verspricht. Was sollte ihn eigentlich sonst bewegen? Ein Ziel ist deshalb einem Akteur um so wichtiger
und um so wertvoller, je größer dessen Beitrag zur Nutzenstiftung ist. Der
mögliche Beitrag eines Zieles j zur Nutzenstiftung soll als die Präferenz des
Akteurs für dieses Ziel – gegenüber anderen Zielen – bezeichnet werden. Es
ist der Nutzen Uj, den eine Ressource j bei einem Akteur erzeugt, wenn er sie
unter Kontrolle hat. Präferenzen haben ohne Zweifel eine biologische Grundlage. Sie sind aber insbesondere auch die Folge sozialer Festlegungen dessen,
was in einer Gesellschaft oder Gruppe etwas wert ist und was nicht (vgl. dazu
noch Kapitel 3 und 4 ausführlich).
Kapital, Alternativen und Opportunitäten
Die Menge aller Ressourcen, die ein Akteur aktuell unter Kontrolle hat und
die er somit als Mittel einsetzen könnte, sind das Kapital des Akteurs. Alle
zum Kapital gehörenden Ressourcen haben demnach einen Kontrollkoeffizienten c von 1, alle nicht dazu gehörigen einen solchen von 0. Mit dem Kapital ist der Satz der möglichen Alternativen des Handelns beschrieben. Nur aus
diesem sog. feasible set von Opportunitäten können die Akteure Entscheidungen über ihr Tun treffen (vgl. dazu noch Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Die Opportunitäten bilden den weitesten Rahmen dessen, was überhaupt machbar ist. Es sind die „letzten“ äußeren Bedingungen des Handelns in einer Situation.
Wissen und Werte
Die Wahrscheinlichkeiten und die Präferenzen sind zunächst „objektive“ Angelegenheiten. Subjektiv sind die Wahrscheinlichkeiten bei den Akteuren als
Erwartungen verankert, die Präferenzen als Bewertungen. Im einfachsten Fall
entsprechen sich die objektiven Wahrscheinlichkeiten und Präferenzen mit
den subjektiven Erwartungen und Bewertungen (vgl. dazu aber noch Kapitel 8
ausführlich). Die Gesamtheit der Erwartungen bilden dann das Wissen, die
Gesamtheit der Bewertungen die Werte der Akteure. Das Wissen und die
Situation und Situationsanalyse
45
Werte wiederum bilden zusammen die inneren Bedingungen des Handelns in
einer Situation.
Die Matrix des Wissens und der Vektor der Werte
In der zuletzt beschriebenen Situation von zwei Mitteln und zwei Zielen besteht das Wissen aus den vier möglichen Erwartungen über die Geeignetheit
der beiden Mittel X zur Erreichung der beiden Ziele Z: p11, p12, p21, p22. Die
Werte ergeben sich aus dem jeweils eingeschätzten Nutzen U, den die beiden
Ziele bei Verwirklichung dem Akteur produzieren würden: U1 und U2. Die
entsprechenden Erwartungen und Bewertungen lassen sich dann als ein Vektor U der Bewertungen Uj der Ziele und als Matrix P der Erwartungen pij über
die Wirksamkeit der Mittel zur Zielerreichung zusammenfassen. Das System
einer Situation kann so für unser Beispiel mit zwei Mitteln und zwei Zielen
von der etwas umständlichen graphischen Darstellung in die kompaktere
Form der Matrizenschreibweise überführt werden (vgl. Abbildung 1.7).
Wissen
Werte
P
U
=
=
p11
p12
p21
p22
U1
U2
Abb. 1.7: Die Matrix des Wissens und der Vektor der Werte
Das Wissen über die Situation und die Werte, die mit bestimmten Folgen des
Handelns verbunden sind, die Matrix P und der Vektor U also, bilden zusammen die elementare „Logik der Situation“ für die Akteure. Das Handeln besteht dann aus der „Wahl“ eines der als Alternativen verfügbaren Mittel vor
diesem Hintergrund. Was fehlt zur Erklärung des Handelns jetzt aber noch?
Genau: Eine allgemeine Regel darüber, wie diese Entscheidung getroffen
46
Situationslogik und Handeln
wird. In Kapitel 7 und 8 werden wir darauf noch ausführlich zu sprechen
kommen.
Orientierung und Rahmung: Die Definition der Situation
Im elementaren System der Situation sind die äußeren und inneren Bedingungen auf zwei sehr spezielle Aspekte beschränkt: Das Wissen über die Kontrolle und die Effizienz der Mittel und die Werte, die mit den Präferenzen für die
Ziele verbunden werden. Das ist ohne Zweifel nicht alles, was William I.
Thomas für sein Verständnis des Begriffes der Situation und mit der Idee von
der „Definition“ der Situation im Sinn hatte. Die soziologische Handlungstheorie sieht das – in allen ihren Varianten (vgl. dazu noch Band 6, „Sinn und
Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“) – genauso. Für sie ist die Selektion
des Handelns zuallererst die Folge einer besonderen Definition der Situation:
Eine vor das „eigentliche“ Handeln geschaltete Selektion einer Orientierung.
Diese Orientierung gibt der Situation einen Rahmen und stellt sie unter einen
Leitgesichtspunkt. Erst daraus ergeben sich die Ziele und die Mittel, die Kontrolle, die Effizienz und das Interesse, die Wahrscheinlichkeiten und die Präferenzen, die Erwartungen und die Bewertungen, das Wissen und die Werte
(vgl. dazu noch ausführlich das folgende Kapitel 2). Kurz: Was im elementaren System der Situation vorausgesetzt wird – die Fixierung bestimmter Relationen zwischen Akteuren und Ressourcen – ist eine variable und überaus erklärungsbedürftige Angelegenheit. Sie ist mit bloß den materiellen Bedingungen nicht erfaßbar, sondern eine Frage zuvorderst der institutionellen und kulturellen Besonderheiten der jeweiligen Gesellschaft oder Zeit.
Für die Deutung des Begriffes der Situation und für die Erklärung des Prozesses der Definition der Situation lassen sich – etwas vereinfachend gesehen – in der Soziologie zwei unterschiedliche Sichtweisen unterscheiden. Die eine Sichtweise faßt die Definition der Situation
als einen an die jeweilige, aktuell ablaufende Interaktion gebundenen und im Prinzip immer
wieder neu und grundsätzlich interaktiv vollzogenen Vorgang der Interpretation von Zeichen
und den sog. signifikanten Symbolen auf. Das ist die Position des Symbolischen Interaktionismus, dessen Grundideen auf George H. Mead zurückgehen, der sich seinerseits sehr an
William I. Thomas orientiert hat. Die andere Sichtweise erklärt die Definition der Situation
als Orientierung an den gegebenen, aktuell unverrückbaren, selbst nicht beeinflußbaren institutionellen Bedingungen des Handelns und an den vom Akteur über die Sozialisation verinnerlichten Vorgaben der institutionellen Normen und der kulturellen Werte. Das ist der Ansatz des Struktur-Funktionalismus, insbesondere in der Fassung von Talcott Parsons.
Wir wollen beide Sichtweisen zusammenfassen und dann – zusammen mit
den Überlegungen von William I. Thomas – in ein Modell der Grundkomponenten der Situation integrieren.
Situation und Situationsanalyse
47
George H. Mead:
Signifikante Symbole, generalisierte Andere und das Me
Auf George H. Mead (1863-1931) geht die Konzeption zurück, daß das Handeln der Menschen zwar immer eine Reaktion auf eine bestimmte Situation
ist, daß diese Reaktion aber kein unmittelbarer Reflex auf die Bedingungen
und objektiven „Reize“ in der Umgebung ist: Menschen sind – wie in abgeschwächter Form andere intelligente Organismen auch – zur auswählenden
Impulshemmung in der Lage. Und „was“ ein Reiz jeweils für den Akteur „bedeutet“, ist eben keine fixierte Assoziation zwischen Reiz und innerer Vorstellung, sondern eine Angelegenheit einer – mehr oder weniger – intelligenten
und reflektierten, die Situationsdaten interpretierenden, Selektion.8
An die Stelle der objektiven und mit bestimmten Reaktionen fest verkoppelten Reize tritt bei Mead also das Konzept des interpretierten und mit Bedeutung versehenen Zeichens. Dafür führt Mead den Begriff des signifikanten
Symbols ein. Signifikante Symbole sind Zeichen, die für den Akteur das Vorliegen spezifischer Einstellungen der jeweils anderen Akteure anzeigen.
Durch die Orientierung an signifikanten Symbolen wird es dem Akteur möglich, sich in die subjektive Welt der anderen Akteure gedanklich hineinzuversetzen, deren Reaktionen auf ein eventuelles Handeln innerlich vorwegzunehmen und mit der so vorgenommenen Interpretation und Definition der Situation das eigene Handeln geschickt und sinnhaft auszuwählen.
Als signifikante Symbole können alle möglichen Gesten fungieren – wie etwa eine geballte
Faust oder ein freundliches Gesicht, die mehr oder weniger willkürliche Körpersprache, kulturell konstruierte Zeichen wie Kleidung, Haartracht oder Aussehen, ebenso wie entstellende
und brandmarkende sichtbare, erworbene wie angeborene Eigenschaften und körperliche
Gebrechen, die sog. Stigmata. Insbesondere zählen dazu aber die symbolischen und flexibel
einsetzbaren Zeichen der Sprache. Auch die jeweiligen sichtbaren externen Effekte von
Handlungen haben – über ihren bloßen „materiellen“ Wirkungseffekt hinaus – meist einen
sehr wirksamen Zeichenaspekt: Handeln ist nicht nur ein monadisches Tun mit materiellen
kollektiven Folgen, sondern gleichzeitig immer auch ein Anzeichen für einen inneren Zustand
des Akteurs – seine Motive und sein Wissen zum Beispiel – und somit Teil der Bedingungen
zur Definition der Situation für die Mitakteure, wie auch für den Handelnden selbst.
Signifikante Symbole können an sehr ideosynkratische Bedeutungen gebunden sein, wie oft bei den privaten Sprachen im Familienbereich, deren Bedeu8
Vgl. zur Handlungs- und Situationstheorie von George H. Mead insbesondere: George H.
Mead, Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus, Frankfurt/M. 1973 (zuerst: 1934); Johannes Siegrist, Das Consensus-Modell. Studien zur Interaktionstheorie und zur kognitiven Sozialisation, Stuttgart 1970, Kapitel 1.2; Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Band 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Frankfurt/M. 1981b, S. 11-68.
48
Situationslogik und Handeln
tung sonst ja wirklich keiner versteht. Soziales Handeln im weiteren Kontext
setzt aber voraus, daß solche Ideosynkrasien nicht allzu speziell sind und daß
die signifikanten Symbole eine Bedeutung auslösen, die über den jeweiligen
Einzelfall hinausweisen. Diese Verallgemeinerung des Vorgangs der Definition der Situation hat Mead mit dem Konzept des generalisierten Anderen vorgenommen: Die Akteure lernen im Laufe der Sozialisation, daß es zu jedem
signifikanten Symbol – insbesondere denjenigen der jeweiligen Sprachgemeinschaft – eine Reihe von Einstellungen gibt, die einerseits je nach Kontext
in typischer Weise variieren, daß die verschiedenen Kontexte und die dazu
gehörigen Situationsdefinitionen aber jeweils auch ein durchorganisiertes
System von Einstellungen bilden, auf dessen Wirksamkeit sich der Akteur
normalerweise fraglos verlassen kann.
Der Akteur besitzt dabei einen Satz an Wissen und Erfahrungen über ganze Systeme von Situationsdeutungen. Diesen Erfahrungssatz bezeichnet Mead als Mind – als Bewußtsein also.
Es ist ein Bewußtsein von – mehr oder weniger vereinfachenden und generalisierenden – „Ideen“ über die soziale Umwelt. Es besteht aus einer Art gedanklicher Landkarte über die soziale Umwelt in der Form von Vor-„Einstellungen“, in denen typische Situationen als Ideen
organisiert und mit gut identifizierbaren Zeichen, den signifikanten Symbolen nämlich, versehen sind. Dabei sind vor allem die sprachlichen Symbole eng mit den entsprechenden Ideen
und Einstellungen verbunden (Mead 1973, S. 100ff.; Siegrist 1970, S. 30f.). Die Gesamtheit
der derart organisierten Haltungen der Akteure zu sozialen Situationen – als verinnerlichte,
symbolisch und insbesondere sprachlich organisierte Erfahrungen – bezeichnet Mead als
„generalized other“, als generalisierten Anderen. Die verschiedenen Sektoren der so „im“ Akteur repräsentierten und mit sprachlichen – und anderen – Symbolen verbundenen Antezipationen der Reaktionen der sozialen Umwelt sind dabei Teile des Selbst der Akteure. Diese auf
die Antezipationen der sozialen Umwelt bezogenen Teile des Selbst nennt Mead zusammenfassend auch Me (vgl. Mead 1973, S. 216ff.; 253ff.; Siegrist 1970, S. 34f.). Mes – und vorgestellte generalisierte Andere – gibt es daher so viele, wie es Sektoren der auf generalisierte
Andere bezogenen, sprachlich organisierten Einstellungen gibt.
Das komplette Repertoire der Mes macht das Bewußtsein des Akteurs, den
Mind also, aus. Es ist ein Teil der Identität, des Selbst des Akteurs. Dieser
Teil wird erworben, genauer gesagt: über soziale Erfahrungen gelernt. Das
Bewußtsein entsteht und besteht als Wissen aus den Reaktionen der sozialen
Umgebung auf die eigenen Handlungsversuche während des – lebenslangen –
Prozesses der Sozialisation. Eine gewisse Vielfalt und die Systematik solcher
Erfahrungen in aller Vielfalt sind die wichtigsten Bedingungen für den Erwerb eines reichhaltigen und gleichzeitig konsistenten Repertoires für eine
„richtige“ Definition von Situationen – für ein differenziertes und gleichzeitig
konsistentes Bewußtsein des Selbst des Akteurs.
Jeweils für ein bestimmtes Handeln bedeutsam ist dabei immer nur ein
Ausschnitt aus dem Repertoire der Mes. Und diesen einen, für das aktuelle
Handeln immer nur relevanten Ausschnitt des Selbst, bezeichnet Mead dann
Situation und Situationsanalyse
49
auch – nicht immer ganz deutlich – als Situation (Mead 1973, S. 274; Markowitz 1979, S. 27).
Talcott Parsons: Normative Orientierung
Der von Talcott Parsons (1902-1979) entwickelten soziologischen Handlungstheorie zufolge findet ein Handeln immer nur als Einheit eines ganzen Handlungssystems statt. Die kleinste denkbare Einheit eines solchen Handlungssystems nennt Parsons unit act. In diesem Sinne besteht ein unit act zunächst aus
zwei Elementen: Ein Handelnder (actor) und ein Ziel (end), auf das hin das
Handeln ausgerichtet ist. Das Handeln findet dann ferner grundsätzlich in einer „Situation“ statt. Handeln
„ ... must be initiated in a ‚situation‘of which the trends of development differ in one or more
important respects from the state of affairs to which the action is oriented, the end.“9
Die Situation ist nach Parsons als die Differenz zwischen dem noch nicht verwirklichten Ziel und dem aktuellen Zustand definiert, von dem das Handeln
seinen Ausgang nimmt. Sie ist nach zwei Bestandteilen hin zu untersuchen:
Solche, die der Akteur unter Kontrolle hat, und solche, die er nicht kontrolliert. Also:
„This situation is in turn analyzable into two elements: those over which the actor has no
control, that is which he cannot alter, or prevent from being altered, in conformity with his
end, and those over which he has such control. The former may be termed the ‚conditions‘ of
action, the latter the ‚means‘.“ (Ebd.; Hervorhebungen nicht im Original)
Die nicht kontrollierbaren Elemente der Situation sind die zu berücksichtigenden, aber – einstweilen – nicht zu ändernden Bedingungen, die kontrollierbaren Elemente dagegen die einsetzbaren Mittel des Handelns. Die Unterscheidung von Bedingungen und Mitteln ist im konkreten Fall nicht immer
eindeutig möglich, weil die meisten Objekte von Alltagssituationen
beeinflußbare und nicht beeinflußbare Teile enthalten. Parsons fügt in einer
Fußnote die folgende Erläuterung hinzu:
„The situation constitutes conditions of action as opposed to means in so far as it is not subject to the control of the actor. Practically all concrete things in the situation are part conditions, part means. Thus in common-sense terms an automobile is a means of transportation
from one place to another. But the ordinary person cannot make an automobile. Having, ho-
9
Talcott Parsons, The Structure of Social Action. A Study in Social Theory with Special
Reference to a Group of Recent European Writers, Band 1: Marshall, Pareto, Durkheim,
New York und London 1937, S. 44.
50
Situationslogik und Handeln
wever, the degree and kind of control over it which its mechanical features and our property
system lend, he can use it to transport himself from Cambridge to New York. Having the automobile and assuming the existence of roads, the availability of gasoline supply, etc., he has
a degree of control of where and when the automobile shall go and, hence, of his own movements. It is in this sense that an automobile constitutes a means for the analytical purposes of
the theory of action.“ (Ebd., Fußnote 2; Hervorhebung im Original)
Die Bedingungen als Teile der Situation setzen den weitesten Rahmen, aus
dem ein Handeln überhaupt selegiert werden kann. Es ist die unüberschreitbare Grenze des Raumes von Möglichkeiten, aus dem heraus die schließliche
Handlungswahl erfolgen muß und der die überhaupt nur denkbaren Alternativen des Handelns, die wählbaren Mittel also, festlegt.
So weit stimmt das Konzept von Parsons mit dem des elementaren Systems
der Situation überein. Mit der Benennung des Bedingungsrahmens, der Ziele
und der Mittel ist nach Parsons eine Erklärung der Selektion eines bestimmten
Handelns aber noch nicht möglich. Es tritt als viertes Element der Handlungseinheit die „‚normative orientation‘ of action“ (ebd.; Hervorhebung nicht im
Original) notwendigerweise hinzu. Darunter versteht Parsons „a certain mode
of relationship between these elements“. Erst über die normative Orientierung
wird eine subjektiv und sozial sinnhafte Selektion des Handelns denkbar. Der
normative Rahmen, der – wie Parsons dies auch ausgedrückt hat – „frame of
reference“ des Handelns, definiert die Situation nach einem leitenden Gesichtspunkt, nach einem typischen „pattern“ bestimmter „variables“ der Situation, ordnet so sowohl die Ziele wie die als angemessen erscheinenden Mittel
für den Akteur und ermöglicht auf diese Weise ein beim Akteur konsistentes
und sozial abgestimmtes, entlastetes und effizientes Handeln.
Talcott Parsons geht noch weiter: Ohne einen solchen normativen frame of
reference sei soziales Handeln grundsätzlich nicht möglich. Menschen seien
aufgrund ihrer Weltoffenheit prinzipiell nicht in der Lage, souverän und als
monadisch gedachte Individuen ihre Ziele zu ordnen und die auch sozial angemessenen Mittel auszuwählen. Ohne den normativen frame of reference,
der die Definition der Situation letztlich bestimmt, brächen Orientierungslosigkeit, Anomie, Chaos aus. Insofern wäre die normative Definition der Situation nicht nur eine grundlegende Bedingung für das Handeln des Akteurs,
sondern für die Entstehung von sozialer Ordnung ganz allgemein.
Das Grundmodell der Situation
Die „Definition“ des Begriffs der Situation bei William I. Thomas, das
Konzept des elementaren Systems einer Situation und die Erweiterungen bei
George H. Mead und Talcott Parsons gewichten die Bestandteile der Situation
Situation und Situationsanalyse
51
unterschiedlich und betonen in unterschiedlicher Weise den Vorgang der
Definition der Situation. Auf den ersten Blick scheinen sie nicht viel
gemeinsam zu haben. Gänzlich verschieden sind sie aber auch nicht. Alle
betonen erstens die Bedeutung von äußeren Bedingungen: die „Institutionen
und Sitten“ sowie die „Haltungen und Werte anderer Personen“ bei Thomas,
die Mittel und die Ziele im elementaren System der Situation, die
signifikanten Symbole des Bezugsrahmens bei Mead und die Vorgaben der
normativen Orientierung bei Parsons. In allen Konzepten werden zweitens
stets auch innere Bedingungen genannt: Die „Einstellungen und Werte“ bei
Thomas, das Wissen und die Werte im elementaren System der Situation, das
innere Repertoire der Mes bei Mead und die verinnerlichten normativen
Orientierungen der Akteure bei Parsons.
Mit der Zusammenführung der Ansätze läßt sich somit ein allgemeines und
vergleichsweise einfaches Modell der Bestandteile der Situation aufstellen. Es
besteht aus den beiden Grundelementen der Definition des Begriffs der Situation schon bei William I. Thomas: Die äußeren und die inneren Bedingungen
der Situation. Keiner der Aspekte dürfte ausgelassen werden, der in den verschiedenen Konzeptionen betont wurde: Situationen des Handelns sind immer
Kombinationen von materiellen, institutionellen und kulturellen Bedingungen,
als äußere Umstände in der Umgebung und als innere Dispositionen bei den
Akteuren.
Die äußeren Bedingungen:
Opportunitäten, institutionelle Regeln und signifikante Symbole
Die äußeren Bedingungen einer Situation bilden den „objektiven“ Rahmen
des Handelns. Sie können ihrerseits – in Zusammenfassung der besprochenen
Konzepte – in drei Unterelemente aufgeteilt werden: materielle Opportunitäten, institutionelle Regeln, kulturelle Bezugsrahmen und signifikante Symbole.
Die drei Unterelemente der äußeren Bedingungen werden vor allem in theoretischer Hinsicht
unterschieden. Empirisch können sie in vielerlei Kombinationen auftreten: institutionelle Regelungen – die Regeln des Straßenverkehrs oder eine Währungsordnung etwa – können deutliche Restriktionen bzw. wichtige Opportunitäten für das Handeln bilden. Sie sind sehr oft
mit prägnanten und gut verstehbaren signifikanten Symbolen – Ampeln, Zebrastreifen, Geldscheine oder in der Zeitung ausgedruckte Dollarkurse – versehen, über die die Situation auf
der Straße oder in der Geldtasche sehr nachhaltig „definiert“ wird.
Die drei Unterkomponenten sind in einer bestimmten theoretischen Hinsicht
geordnet, wobei die Opportunitäten und die signifikanten Symbole die beiden
52
Situationslogik und Handeln
Extrempunkte bilden: Opportunitäten beschreiben den letzten materiell möglichen Rahmen des Handelns, der sich aus objektiven Knappheitsverhältnissen
ergibt, signifikante Symbole sind dagegen praktisch ausschließlich Angelegenheiten der kulturellen Festlegung von Werten, Gefühlen und Gewohnheiten. Die institutionellen Regeln nehmen zwischen diesen beiden Polen eine
Art von Zwischenstellung ein.
Auch hier kann es Mischungen und Undeutlichkeiten geben. Etwa: Geld gehört sicher zu den
sozialen Konstruktionen, die die Menschen erfunden haben, es definiert mit seiner Geltung
dann aber sehr objektive und nachhaltig spürbare materielle Knappheiten. Es ist selbst außerdem als symbolisch generalisiertes Medium der Kommunikation ein signifikantes kulturelles
Symbol und im Rahmen der gesamten wirtschaftlichen und politischen Ordnung immer auch
ein integraler Teil der institutionellen Regeln einer Gesellschaft.
Doch nun zu den drei Komponenten der äußeren Bedingungen im Einzelnen.
Opportunitäten
Die Opportunitäten umschließen die Bestandteile einer Situation, die der Akteur als Mittel unter Kontrolle hat, und die ihm als Alternativen für sein Handeln überhaupt nur möglich sind. Die Gesamtheit der Opportunitäten werden
auch als der Möglichkeitsraum oder als der feasable set der überhaupt wählbaren Alternativen des Akteurs bezeichnet. Es ist der weiteste denkbare Rahmen des Handelns in einer Situation.
Dieser Rahmen wird insbesondere von den verschiedenen Arten von –
beileibe nicht nur ökonomischem – Einkommen und finanziellem Kapital bestimmt, über das der Akteur verfügt. Dazu gehören ein monetäres Gehalt, ein
Sparguthaben, aber auch Humankapital in Form von Bildung und Talent sowie die vielen Arten des sozialen Kapitals von „Beziehungen“ und des kulturellen Kapitals diverser geachteter Virtuositäten, aus dem ein Akteur schöpfen
und problematische Situationen meistern kann.
Viele soziale Prozesse lassen sich alleine schon mit der Untersuchung der
Opportunitätsstrukturen erklären: Als Ergebnis der Erweiterung oder Einengung der schieren Möglichkeiten des Tuns (vgl. dazu Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich).
Institutionelle Regeln
Zu den äußeren Bedingungen der Situation zählen zweitens die institutionellen Regeln, die in der Situation „gelten“ und denen der Akteur in seinem Han-
Situation und Situationsanalyse
53
deln Rechnung tragen muß, wenn er „verstanden“ werden und mit seinem
Handeln erfolgreich sein will. Institutionelle Regeln umfassen alle denkbaren
Normen – einfache Gewohnheiten, Bräuche, Sitten, informelle Usancen,
Konventionen, mehr oder weniger festgelegte Drehbücher über bestimmte Sequenzen des Handelns, soziale Rollen, das geschriebene und das ungeschriebene Recht, komplette Verfassungen und den gesamten Bereich der Regeln
einer sozialen Ordnung u.a. (vgl. dazu Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
Institutionen legen die erwünschten und unerwünschten, die angemessenen
und die weniger zu empfehlenden Arten, die sinnvollen und die sinnlosen Ziele, die erlaubten und die illegitimen Mittel und Linien des Handelns fest. Es
geht dabei um die – formellen wie die informellen – Spielregeln, deren
Beachtung in der einen Situation geradezu unumgänglich wird, deren
Befolgung aber in einer anderen Situation als ganz und gar ungewöhnlich
erscheinen müßte.
Institutionelle Regeln definieren den sozialen Sinn einer Situation. Sie zu
verletzen, bedeutet daher nicht nur, daß es bestimmte Sanktionen gibt und daß
der Akteur Nutzeneinbußen erleiden würde, sondern – fast mehr noch – daß
ein Akteur sich außerhalb einer „Sinn“-Gemeinschaft aufhält. Dies hat – wenn
es gut geht wie bei Loriot – Heiterkeit und Gelächter, wenn es weniger gut
geht dagegen Spott, Verachtung und psychische Ausgrenzung zur Folge.
Menschen, die mit dem Aufspüren des jeweils „richtigen“ sozialen Sinns in
Situationen ihre Probleme haben, fühlen sich rasch sehr nachhaltig „verlassen“. Und sie stehen immer auch schon mit mindestens einem Bein in der sozialen Entmündigung, oft genug auch in den für solche Fälle vorgesehenen
Anstalten der auch physischen Ausgrenzung aus der Gesellschaft. Allein das
macht verständlich, daß Menschen soziale Regeln nicht nur wegen der materiellen Vorteile und kühl-kalkulierend, sondern mit hohem emotionalen Engagement zu beachten suchen. Spielverderber haben es nicht leicht.
Signifikante Symbole und Bezugsrahmen
Die signifikanten Symbole bilden den dritten Bestandteil der äußeren Bedingungen von Situationen. Signifikante Symbole sind die jeweils in der Situation vorhandenen oder von anderen Akteuren „angezeigten“, kulturell definierten und von den Akteuren mit Sinn belegten und als sinnhaft identifizierbaren
Zeichen für die Geltung eines bestimmten Bezugsrahmens, unter den die Situation gestellt und durch den sie definiert ist.
54
Situationslogik und Handeln
Aus den signifikanten Symbolen ziehen die Akteure Schlüsse über weitere,
nicht unmittelbar feststellbare Eigenschaften der Situation. Sie helfen den Akteuren zu erkennen, welche Opportunitäten bzw. Restriktionen vorliegen, welche Alternativen möglich bzw. welche institutionellen Regeln vorgegeben
sind. Sie stellen vor allem aber – mehr oder weniger leicht identifizierbare –
Verbindungen zu typischen Mustern der Orientierung, der Ordnung und der
Rahmung der Situation her (vgl. dazu Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser
„Speziellen Grundlagen“).
Über signifikante Symbole können sich die Akteure relativ unaufwendig über die Situation
informieren: Die Ziffern auf dem Bankauszug, Anwesende in schwarzem Anzug, Zylinder
und mit betretenen Gesichtern oder eine Fünf in der Klausur zeigen an, womit in der gegebenen Situation zu rechnen ist, welches Handeln möglich oder angemessen wäre. Das richtige
Lesen und Deuten signifikanter Symbole und die dadurch erfolgende Identifikation des korrekten Bezugsrahmens ist der Kern der korrekten und sinnhaften Befolgung institutioneller
Regeln und auch der emotionalen Integration in eine Gemeinschaft oder ein Milieu. Der gesamte Bereich der Kunst, der Kultur und der Lebensstile kann als gigantisches, nach typischen Mustern durchorganisiertes und teilweise auch mit bestimmten institutionellen Sphären
verbundenes System signifikanter Symbole mit einer großen Macht zur Definition der jeweiligen Situation angesehen werden: Die Art der Musik, erkennbare Stile der Malerei und der
Literatur, die in Aussehen und Kleidung gezeigten Zeichen der Mode und viele andere Symbolisierungen legen fest, von welcher Situation die Akteure jetzt gerade auszugehen haben.
Es macht für die Definition der Situation schon einen gewissen Unterschied, ob ein Akteur
gerade Heino oder Stockhausen hört, einen Norwegerpullover oder einen kahlgeschorenen
Kopf trägt, einen Geldschein oder einen Liebesschwur bei einem Treffen anbietet.
Die menschliche Sprache ist das flexibelste, das effizienteste und das im Alltag gebräuchlichste System signifikanter Symbole. Sie ist das mit Abstand
wirksamste Mittel zur Definition der Situation.
Die inneren Bedingungen:
Identität
Neben den äußeren Bedingungen bilden die inneren Bedingungen den zweiten Hauptkomplex einer Situation. Es sind das Wissen und die Werte über die
Wahrscheinlichkeiten und die Präferenzen sowie der Satz an inneren Einstellungen, die ein Akteur für bestimmte Situationen gespeichert hat und an die er
sich in der Situation halten kann oder sogar „muß“. Einstellungen können dabei als Spezialfälle von Wissen und Werten aufgefaßt werden: Es ist ein Wissen darüber, daß ein bestimmter Typ der Situation „gilt“, wenn es ein bestimmtes signifikantes Symbol gibt; und es sind die Werte, die ein Akteur mit
der Geltung dieser Situation und dem darin erforderlichen Handeln verbindet.
Situation und Situationsanalyse
55
Das Wissen und die Werte sowie der Satz der inneren Einstellungen des
Akteurs seien insgesamt als die Identität des Akteurs bezeichnet.
Von besonderer Bedeutung für das Handeln, vor allem in sozialen Situationen, ist die soziale Identität des Akteurs. Das ist das gesamte organisierte
Repertoire an Wissen und an Bewertungen für sozial typisierte und in systematischer Weise mit signifikanten Symbolen ausstaffierten Situationen, über
das dort angemessene Handeln und, insbesondere, über die Art der Beziehung
des Akteurs zu seiner Umgebung – aus der vom Akteur vermuteten Sicht der
Umgebung. Die soziale Identität ist dabei kein bloßes Konglomerat der gesamten Erfahrungen und Bewertungen, die er im Laufe seiner Existenz gelernt
hat. Vielmehr ist sie das Ergebnis einer – letztlich vom Akteur selbst
vorgenommenen – vereinfachenden Zuschreibung von Eigenschaften zu sich
selbst, insbesondere seiner Beziehungen zur sozialen Umgebung. Die soziale
Identität bildet ein System eines Registers typischer Situationen und Modelle,
auf das der Akteur – meist automatisch, manchmal reflektierend – zugreift. In
der Regel spiegeln sich in ihnen die institutionalisierten, objektiv geltenden
Regeln des „richtigen“ Handelns in den verschiedenen Sphären seines Alltags
– die Sphären der Familie, des Betriebs, des Ortsvereins oder des Kölner
Milieus von Karneval und Kirche zum Beispiel.
So erklärt sich, daß die Akteure in spezifischen Situationen jeweils unterschiedlich sind – und
sich oft sehr wundern, wie verschieden sie doch im Laufe eines einzigen Tages gewesen sind.
Leicht tritt beim Wechsel zwischen den verschiedenen Sinnwelten der Me-Bereiche bzw. der
Sektoren der sozialen Identität die folgende Frage auf: Wer oder was bin ich denn eigentlich
„wirklich“, wenn die Welt und ich selbst mich einmal so und ein anderes Mal so sehen und
ich mich selbst schließlich als einen rast- und gesichtslosen Wanderer zwischen äußerst mannigfaltigen unterschiedlichen Wirklichkeiten wahrnehmen muß? Als wen oder was wird mich
wohl meine Umwelt sehen, wenn nicht auszuschließen ist, daß sie Einblick in die verschiedenen Sphären meines Selbst nehmen kann? Es ist der Versuch, nicht bloß passiv den Vorgaben
der äußeren Bedingungen und den dafür vorgesehenen sozialen Typisierungen zu folgen,
sondern eine eigene und dabei konsistente Linie zu finden, eine „Verfassung“ für sein Selbst
und sein Handeln also. Eine derartige, durch eine Verfassung des Selbst integrierte soziale
Identität wird auch als Ich-Identität bezeichnet und eine besondere Form einer derartigen
Selbst-Verfassung als moralisches Bewußtsein. Damit ist eine Verfassung des Selbst gemeint,
die es dem Akteur erlaubt, zwar flexibel und unterschiedlich, aber nach ihm einsichtigen und
für verallgemeinerbar gehaltenen Prinzipien zu handeln: Er könnte jederzeit mit verallgemeinerbaren Argumenten begründen, daß sein Handeln mit verallgemeinerbaren Interessen vereinbar ist. Nicht zu vergessen ist noch ein weiteres Element: Akteure haben immer auch Bedürfnisse und Interessen ganz jenseits ihrer sozialen Identität bzw. der Ich-Identität. Dieser
Teil des Selbst wird auch als Ich bezeichnet. Der Alltag ist voll von Kämpfen, um für das Ich
möglichst günstige Zuschreibungen sozialer Identitäten zu ergattern.
Bei der Definition einer Situation spielen alle Elemente der Identität eine Rolle: das Wissen und die Werte, die Einstellungen, die verschiedenen Sektoren
der sozialen Identität und – gegebenenfalls – die übergreifende Verfassung
56
Situationslogik und Handeln
der Ich-Identität ebenso, wie das Ich mit seinen ganz eigenen Zielen und Interessen. Für die Soziologie sind insbesondere die Strukturen des Wissens und
der Werte sowie der sozialen Identität von Bedeutung.
Eine Zusammenfassung
Die grundlegenden Komponenten einer Situation bestehen damit – so sei zusammengefaßt – aus den äußeren und den inneren Bedingungen. Die äußeren
Bedingungen lassen sich in drei Unterelemente gliedern: Opportunitäten, institutionelle Regeln und signifikante Symbole bzw. Bezugsrahmen. Die inneren Bedingungen bestehen aus der Gesamtheit des Wissens und der Werte
sowie der Einstellungen des Akteurs, organisiert zu einem strukturierten System einer sozialen Identität. Damit ist das Modell der grundlegenden Bestandteile von Situationen beschrieben, von dem wir ausgehen wollen (vgl. Abbildung 1.8):
externe Bedingungen
* Opportunitäten/Restriktionen
* institutionelle Regeln
* signifikante Symbole/Bezugsrahmen
interne Bedingungen
innere Einstellungen/
Identität
Abb. 1.8: Die grundlegenden Bestandteile der Situation
Die äußeren und die inneren Bedingungen sind nur die Variablen, aus denen
Situationen „bestehen“ und aus denen sich die Logik der Situation ableitet.
Was daran dann „logisch“ ist, welche Art der Definition der Situation sich anschließt, wie das geht und warum die Menschen in einer Situation in strukturiert-bestimmter Weise handeln, ist eine noch ganz andere Frage.
So haben wir im Beispiel des Studentenprotestes an den amerikanischen Universitäten zu Beginn dieses Kapitels zwar bestimmte äußere und innere Bedingungen bei den Professoren und
Situation und Situationsanalyse
57
den Studenten benannt – etwa daß die Professoren an den besseren Universitäten mehr
forschten und sich eher an überlokalen Aktivitäten orientierten, daß dort die Lehre sehr viel
schlechter und die Studenten deutlich mehr frustriert waren als an den weniger angesehenen
Hochschulen. Aber warum die forschenden Professoren immer unterwegs, und warum die
Studenten, deren Vorlesungen immer ausfielen, unzufrieden waren und schließlich protestierten, das ist mit dem bloßen Hinweis auf die „Situation“, auf äußere und innere Bedingungen,
natürlich nicht geklärt.
Wir wissen jetzt aber schon etwas genauer, worauf wohl zu achten sein wird.
Kapitel 2
Das Thomas-Theorem
Der amerikanische Sozialpsychologe Richard T. LaPiere bereiste Anfang der
30er Jahre mit einem jungen chinesischen Ehepaar die Vereinigten Staaten
und besuchte dabei mit ihnen 67 Hotels, Autocamps und Tourist Homes, sowie 184 Restaurants und Cafés. Dabei wurden sie in nur einem Autocamp zurückgewiesen, während in 72 der Hotels und Restaurants eine durchaus ungewöhnlich zuvorkommende Aufnahme und Bedienung registriert wurde.1
Sechs Monate später verschickte LaPiere an die besuchten Hotels, Autocamps
und Restaurants eine Anfrage, ob sie Mitglieder der chinesischen Rasse aufnehmen würden. Von den Angeschriebenen antworteten 51%. Und von denjenigen, die antworteten, lehnten 91% das Ansinnen ab, obwohl es vorher beim
tatsächlichen Besuch fast ausnahmslos keine Zurückweisung gab.
Das Experiment von LaPiere war der Ausgangspunkt für eine jahrzehntelange Serie von Untersuchungen zum Verhältnis der inneren Einstellungen
und dem tatsächlichen Verhalten der Akteure in alltäglichen Situationen. Das
dabei gewonnene Ergebnis ist allgemein das gewesen, daß es eine unmittelbare Beziehung zwischen einer privaten, in einer Umfrage geäußerten Einstellung und dem wirklichen Verhalten nicht gebe.
Die weitgehend fehlende Korrelation zwischen Einstellungen und Verhalten hat viele Sozialforscher sehr überrascht – und beunruhigt.2 Sie sind – teilweise bis heute – davon ausgegangen, daß es ausschließlich die verinnerlichten kulturellen Werte und sozialen Normen, allgemein: die als Einstellungen
(oder Attitüden) verankerten Verhaltensdispositionen sind, die die Menschen
zu einem bestimmten Handeln bringen. Man brauche dann lediglich diese inneren Einstellungen – etwa in Umfragen – valide und reliabel zu messen und
könne damit abschätzen, was die Menschen mit bestimmten Attitüden dann
1
2
Richard T. LaPiere, Attitudes vs. Actions, in: Social Forces, 13, 1934, S. 230-237.
Vgl. dazu die Übersicht bei Allan W. Wicker, Attitudes versus Actions: The Relationship
of Verbal and Overt Behavioral Responses to Attitude Objects, in: Journal of Social Issues, 25, 1969, S. 41-78.
60
Situationslogik und Handeln
überwiegend tun: Fragebogen-Rassisten – wie unsere Hotelbesitzer – verhalten sich dann eben auch im Alltag rassistisch, Fragebogen-Liberale auch gegen den politischen Gegner liberal usw. – egal was sonst in einer Situation an
Opportunitäten, institutionellen Regeln und signifikanten Symbolen vorliegen
mag. Leider – oder: zum Glück? – ist diese einfache Theorie des sozialen
Handelns empirisch nicht zutreffend.
Es stellt sich dann aber sofort die Frage, woran es lag, daß es zwischen den
inneren Einstellungen und dem tatsächlichen Verhalten im Fall des chinesischen Ehepaares praktisch keinen Zusammenhang gab? Mit dem Grundmodell der Situation aus Kapitel 1 fällt die Antwort nicht schwer: Es kommen zu
den Einstellungen als den inneren Bedingungen immer noch die äußeren Bedingungen der Situation hinzu, die der Akteur wahrnimmt und die er vor dem
Hintergrund seiner inneren Einstellungen interpretiert, bewertet und in Rechnung stellt.
Die Erklärung der Diskrepanzen zwischen Einstellungen und Verhalten wird daher auch
meist mit dem Verweis auf die Unterschiede zwischen generellen Einstellungen und den Einstellungen zur spezifischen Situation gegeben, in der sich die Akteure jeweils befunden haben. Es macht ja wohl – auch für einen „an sich“ rassistisch gesonnenen – Restaurantbesitzer
etwas aus, ob er privat für sich ein Kreuzchen in einen anonymen Fragebogen macht, wobei
er sich ziemlich sicher sein kann, daß nichts weiter folgt, oder ob er ein offenkundig zahlungskräftiges, interessant und sympathisch aussehendes junges Paar in Begleitung eines
weißen Amerikaners vor sich hat, wobei er mit der Befolgung seiner privaten rassistischen
Antipathien einen fühlbaren finanziellen Verlust erleiden und wohl auch vor dem tolerant
aussehenden weißen Begleiter schlecht dastehen würde.
Die Diskrepanz zwischen Einstellung und Verhalten entsteht aber beileibe
nicht nur wegen solcher Vorteilserwägungen für eine spezifische Situation. Es
ist nämlich keineswegs die „Berechnung“ der bloßen Vorteile oder Nachteile
aus dem einen oder dem anderen Verhalten in der spezifischen Situation eines
Kontaktes zwischen Manager und Kunden gewesen, die die Reaktion gegenüber dem chinesischen Ehepaar bestimmten. Der Bericht von Richard T. LaPiere vermittelt einen ganz anderen Eindruck. Nämlich den, daß in der aktuellen Situation des persönlichen Kontaktes die Besitzer und Manager anscheinend wirklich freundlich waren und sich keineswegs nur des Vorteils wegen
verstellten oder still kalkulierten, was jetzt zu tun wäre. Dabei spielte offenbar
die Situations-Symbolik, besonders das Aussehen, die Gestik und vor allem
das akzentfreie Englisch des chinesischen Ehepaares eine große Rolle.
„Indeed, it appeared that a genial smile was the most effective password to acceptance. My
Chinese friends were skillful smilers, which may account, in part for the fact that we received
but one rebuff in all our experience. Finally, I was impressed with the fact that even where
some tension developed due to the strangeness of the Chinese it would evaporate immediately
when they spoke in unaccented English.“ (Ebd., S. 232)
Das Thomas-Theorem
61
Aufschlußreich waren in diesem Zusammenhang auch die Umstände in dem
einen Fall der Zurückweisung des Paares. Es handelte sich um ein etwas heruntergekommenes Autocamp, das bereits stark belegt war. Der Besitzer wußte daher nicht gleich, ob noch Plätze frei wären. Außerdem war es bereits etwas dämmerig, und er hatte offenbar Schwierigkeiten, zu erkennen, wen er da
vor sich hatte. Richard T. LaPiere berichtet:
„He hesitated, wavered, said he was not sure that he had two cabins, meanwhile edging towards our car. The realization that the two occupants were Orientals turned the balance or,
more likely, gave him the excuse he was looking for. ‚No’, he said, ‚I don’t take Japs!’.“
(Ebd., S. 233)
Die generelle innere Einstellung war in diesem Fall also nur der letzte kleine
Anhaltspunkt für eine ansonsten eher indifferente Situation. Sie diente mehr
der Rationalisierung für eine schon objektiv kaum mehr anders mögliche Zurückweisung als die bruchlose Befolgung eines fremdenfeindlichen Vorurteils.
Die Rahmung der Situation
Die Besitzer und Manager waren in den jeweiligen Situationen also tatsächlich „anders“ und befanden sich jeweils subjektiv in ganz unterschiedlichen
subjektiven „Wirklichkeiten“. Und deshalb zeigten sie jeweils auch ein anderes Verhalten, und nicht weil sie irgendwie abgewogen hätten, was sie ihr
Rassismus jetzt kosten würde. Von genau dieser Hypothese ging William I.
Thomas in seinem Konzept der Situationsanalyse und mit seiner Idee von der
„Definition der Situation“ aus: Ein Handeln findet erst statt, wenn der Akteur
aufgrund der gegebenen äußeren wie der innneren Bedingungen der Situation
zu einer eigenen, selektiven und systematisierenden, dann subjektiv das Geschehen vollkommen beherrschenden Definition der Situation kommt. Gibt es
eine solche subjektive Definition der Situation einmal, dann ist der Akteur
einstweilen ganz von ihr gefangen. Sie gibt seinem Handeln bis auf weiteres
eine Linie, an die er sich selbst halten wird und an der sich seine Mitakteure
einigermaßen verläßlich orientieren können. In den methodologischen Vorbemerkungen zum „Polish Peasant“ schreiben William I. Thomas und Florian
Znaniecki dazu:
„And the definition of the situation is a necessary preliminary to any act of the will, for in given conditions and with a given set of attitudes an indefinite plurality of actions is possible,
and one definite action can appear only if these conditions are selected, interpreted, and com-
62
Situationslogik und Handeln
bined in a determined way and if a certain systematization of these attitudes is reached, so
that one of them becomes predominant and subordinates the others.“3
Die subjektive Definition der Situation bedeutet demnach eine Art von auferlegter und die gesamte Orientierung beherrschender Rahmung der Situation
unter einem leitenden Gesichtspunkt, unter einem Imperativ, unter einem als
dominant vorgestellten Modell des weiteren Ablaufs. Erst von dem so aktualisierten und alles andere dominierenden Rahmen her erfolgt dann die Selektion
des eigentlichen Handelns. Das Handeln ist dann nur noch die – mehr oder
weniger – unreflektierte und unverzügliche Anwendung habitualisierter Muster des unter dem betreffenden Rahmen üblichen und gewohnten Tuns:
„It happens, indeed, that a certain value imposes itself immediately and unreflectively and
leads at once to action, or that an attitude as soon as it appears excludes the others and expresses itself unhesitatingly in an active process.“ (Ebd.; Hervorhebungen nicht im Original)
Die Rahmung durch die subjektive Definition der Situation bringt den Akteur
in eine deutliche psychologische Bindung. Er befindet sich jetzt in einem –
wie dies Alfred Schütz einmal ausgedrückt hat – „geschlossenen Sinnbereich“. Der jeweils aktualisierte Ausschnitt, das „Sub-Universum“ aus dem
Horizont der sonst noch latent vorhandenen gedanklichen „mannigfaltigen
Wirklichkeiten“, wie Schütz weiter sagt, grenzt die Situation deutlich von anderen Bereichen ab und gibt ihr so eine ganz besondere prägende Kraft: Die
fraglose Selbstverständlichkeit und das scheinbare Fehlen jeder denkbaren Alternative. Alfred Schütz hat diesen Vorgang der psychischen Bindung an eine
einmal vorliegende subjektive Definition der Situation auch so beschrieben:
„ ... diese Wirklichkeit erscheint uns als natürlich, und wir sind nicht bereit, diese Einstellung
aufzugeben, ohne einen spezifischen Schock erlebt zu haben, der uns zwingt, die Grenzen dieses ‚geschlossenen’ Sinnbereichs zu durchbrechen und den Wirklichkeitsakzent auf einen anderen zu verlegen.“4
Die Rahmung durch die subjektive Definition der Situation hat aber nicht nur
eine bindende, sondern insbesondere auch eine entlastende Funktion: Sie vereinfacht die „indefinite plurality“ der vielen verschiedenen Aspekte der Situation aus der Sichtweise des Akteurs ganz drastisch und erlaubt ihm so, sich im
Chaos der Eindrücke und Risiken wie ganz selbstverständlich und fast schwe3
4
William I. Thomas und Florian Znaniecki, Methodological Note, in: William I. Thomas
und Florian Znaniecki, The Polish Peasant in Europe and America, Band 1, New York
1927a, S. 68; Hervorhebungen nicht im Original.
Alfred Schütz, Über die mannigfaltigen Wirklichkeiten, in: Alfred Schütz, Gesammelte
Aufsätze, Band 1: Das Problem der sozialen Wirklichkeit, Den Haag 1971a, S. 265; Hervorhebungen so nicht im Original.
Das Thomas-Theorem
63
relos zurechtzufinden. Nicht zuletzt auf diesen Vereinfachungsfiktionen der
Rahmung sozialer Situationen beruht die relative Reibungslosigkeit der zahllosen Koordinationen des Alltagshandelns: Die Akteure „überlegen“ sich eben
nicht sonderlich, was sie jetzt tun sollen, und ob der andere jeweils etwas anderes machen könnte. Man kann sich – in recht weiten Grenzen der Versuchungen und Risiken – einfach aufeinander verlassen.
„If men define situations as real ... .“
Die Idee eines besonderen innerlichen Aktes der subjektiven Definition der Situation, von dem her erst die Sicht der Situation und alle weiteren und dann
auch realen Konsequenzen des Handelns ausgehen, ist am eingängigsten im
sog. Thomas-Theorem formuliert worden. Es findet sich ursprünglich in einem
von William I. Thomas zusammen mit seiner Frau Dorothy S. Thomas verfaßten Buch und lautet im Original:
„If men define situations as real, they are real in their consequences.“5
Das Thomas-Theorem bezieht sich eigentlich nicht auf den eben beschriebenen Vorgang der Rahmung bzw. der subjektiven Definition der Situation,
sondern auf die Folgen für das „reale“ Handeln im Anschluß an eine solche
subjektive Definition der Situation. Es geht William I. und Dorothy S. Thomas in erster Linie um die wichtige und richtige Festellung, daß im Moment
des Handelns nur die subjektiven, jeweils real vorliegenden, wenngleich oft
ganz und gar falschen, Vorstellungen der Akteure bedeutsam sind – und daß
dieses Handeln dann auch reale Folgen hat. Es sind also nicht die objektiven,
zweckrational angemessenen oder die normativ geforderten Bedingungen,
nach denen sich die Akteure in der Selektion ihres Handelns richten, sondern
ihre subjektiven Ansichten und Vermutungen. Und egal, ob diese subjektiven
Ansichten und Vermutungen objektiv richtig sind oder nicht: Sie haben auf
jeden Fall objektive, reale Konsequenzen – ganz so wie dies Robert K. Merton für die unglückselige Last National Bank am Black Wednesday geschildert hat.6
5
6
William I. Thomas und Dorothy S. Thomas, The Child in America. Behavior Problems
and Programs, New York 1928, S. 572. Eine deutsche Übersetzung der betreffenden Stelle findet sich bei William I. Thomas, Das Kind in Amerika, in: Edmund H. Volkart
(Hrsg.), William I. Thomas. Person und Sozialverhalten, Neuwied und Berlin 1965c (zuerst: 1951), S. 114.
Vgl. dazu auch die Einleitung und die Bemerkungen zu den sechs Lesarten des ThomasTheorem im Anschluß an Kapitel 5.
64
Situationslogik und Handeln
Das Thomas-Theorem soll verstehen helfen, warum die Subjektivität der
Menschen für die Erklärung der objektiven sozialen Prozesse so wichtig ist.
Es wird in einem zunächst ganz anderen Zusammenhang eingeführt: Bei der
Besprechung der Brauchbarkeit der sog. introspektiven Methode und der wissenschaftlichen Nützlichkeit auch sehr subjektiver Berichte von Akteuren über ihr Denken und Handeln. Wir wollen die gesamte Passage dieser mittlerweile klassisch gewordenen Stelle zitieren, weil sie auch einige methodisch
wichtige Ausführungen zu den technischen Möglichkeiten der Situationsanalyse enthält:7
„Das Verhaltensdokument (die Einzelfallstudie, der Lebensbericht, die psychoanalytische
Beichte) stellt eine zusammenhängende Erfahrung in verschiedenen Lebenssituationen dar. In
einem guten Bericht dieser Art können wir die Verhaltensreaktionen in den verschiedenen Situationen, die Herausbildung von Persönlichkeitszügen, die Bestimmung konkreter Handlungen und das Entstehen von Leitbildern in ihrem Werden verfolgen. Die größte Bedeutung des
Verhaltensdokuments liegt vielleicht in der Möglichkeit, die Einstellungen anderer Personen
in ihrer Funktion als verhaltensformende Einflüsse zu beobachten; denn die wichtigsten Situationen in der Persönlichkeitsentwicklung stellen die Einstellungen und Werte anderer Personen dar.
Insbesondere die Vertreter des „Behaviorismus“ haben den Einwand erhoben, daß diese
introspektive Methode nicht objektiv sei. Sie meinen damit, daß diese Berichte nicht die Mechanismen des Verhaltens und den Vorgang des Bewußtwerdens aufzeigen, daß sie uns nicht
lehren, was in uns vorgeht, wenn wir denken und handeln. Dem kann durchaus zugestimmt
werden. Der einzigartige und wohl auch unbestrittene Wert des Verhaltensdokuments liegt
jedoch darin, daß es Situationen beleuchtet, die das Verhalten bedingt haben.
Hinsichtlich der Objektivität und Richtigkeit des Berichts mögen Zweifel gerechtfertigt
sein, aber sogar der in hohem Grade subjektive Bericht ist für die Verhaltensstudie wertvoll.
Ein Dokument, das von jemandem stammt, der einen Minderwertigkeitskomplex besitzt oder
an einem Verfolgungswahn leidet, ist denkbar weit von der objektiven Wirklichkeit entfernt,
aber das Bild, das sich der Betreffende von der Situation macht, ist zweifellos ein sehr wichtiger Faktor für die Interpretation. Denn sein unmittelbares Verhalten hängt eng mit seiner Situationsdefinition zusammen, die entweder der objektiven Wirklichkeit oder seiner subjektiven Vorstellung entsprechen kann.“ (Ebd., S. 113f.; Hervorhebung nicht im Original)
Also: Die subjektiven Vorstellungen, die das Handeln bestimmen, sind alles
andere als unwichtige oder zu vernachlässigende Faktoren zur Erklärung des
Handelns – auch unabhängig davon, ob diese subjektiven Vorstellungen objektiv richtig sind oder nicht. Genau dies erzeugt aber das Problem: Die gleiche objektive Situation kann von verschiedenen Akteuren – und nicht zuletzt:
von einem externen Beobachter wie dem Sozialwissenschaftler – ganz anders
gesehen und „definiert“ werden. Aber es ist immer nur die jeweilige aktuelle
und tatsächlich vorliegende Definition der Situation für die Selektion des
7
Wir übernehmen für die folgenden Zitate die deutsche Übersetzung der entsprechenden
Passagen aus „The Child in America“; vgl. Thomas 1965c, S. 113f.
Das Thomas-Theorem
65
Handelns ausschlaggebend. Wenn dies nicht beachtet wird, kann es zu groben
Fehldeutungen kommen, wie beispielsweise dieser:
„So weigerte sich z.B. ein Gefängnisaufseher, die Anordnung eines Gerichts zu befolgen,
nach welcher ein Gefängnisinsasse zu einem bestimmten Zweck nach außerhalb der Gefängnismauern zu schicken war. Er entschuldigte sich damit, daß der Mann zu gefährlich sei. Er
hatte mehrere Menschen getötet, welche die unglückliche Angewohnheit hatten, auf der
Straße mit sich selbst zu reden. Aus ihrer Lippenbewegung schloß der Mörder, daß sie ihn
beschimpften und er benahm sich so, als ob dies wahr wäre.“ (Ebd., S. 114)
Und dann folgt der oben zitierte, berühmt gewordene und als Leitmotiv für die
sog. interpretative Soziologie immer wieder betonte Satz, der dann später als
das Thomas-Theorem bezeichnet worden ist.
Subjektiver Sinn
Das Thomas-Theorem stellt einen der wichtigsten Eckpunkte des soziologischen Denkens seit Max Weber dar. Max Weber hatte gleich im Anschluß an
seine bekannte Definition der Soziologie zu Beginn von „Wirtschaft und Gesellschaft“ festgehalten: Handeln ist ein „Verhalten“, mit dem der oder die
Handelnden einen „subjektiven Sinn“ verbinden.8
Der Begriff „Sinn“ meint dabei, daß die Akteure zielgerichtet und in – aus
ihrer Sicht – verständlicher Weise an den Vorgaben der Situation orientiert
handeln. Etwas deutlicher ausgedrückt: Menschen, die absonderliche Dinge
tun, sind für Max Weber zunächst einmal keine Deppen und auch keine Marionetten, die sich von den äußeren Umständen bedingungslos mitreißen oder
kausal antreiben lassen, sondern zur Reflektion ihres Handelns fähige Subjekte, die im Prinzip schon einigermaßen wissen, worum es jeweils geht. Was die
Akteure in einer konkreten Situation tun, das ist für Max Weber – wie für das
Ehepaar William I. und Dorothy S. Thomas – allein vom subjektiven Sinn bestimmt. Max Weber betont daher, für die Erklärung des Handelns sei nicht
„etwa irgendein objektiv ‚richtiger’ oder ein metaphysisch ergründeter ‚wahrer’ Sinn“ maßgeblich, sondern immer nur der „subjektiv gemeinte Sinn.“
(Ebd., S. 1; Hervorhebung im Original). Darin liege
„ ... der Unterschied der empirischen Wissenschaften vom Handeln: der Soziologie und der
Geschichte, gegenüber allen dogmatischen: Jurisprudenz, Logik, Ethik, Aesthetik, welche an
ihren Objekten den ‚richtigen’, ‚gültigen’ Sinn erforschen wollen.“ (Ebd., S. 1f.; Hervorhebungen nicht im Original)
8
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5.
Aufl., Tübingen 1972 (zuerst: 1922), S. 1.
66
Situationslogik und Handeln
Es sind also die empirisch realen, die subjektiven, jeweils aktuell gegebenen
Sichtweisen und Interpretationen in einer Situation, die einen Akteur zu einem
bestimmten Handeln bringen – und eben nicht: die objektiv gegebene oder ethisch oder normativ geforderte Situation, um die sich die lebendigen Menschen meist sowieso nicht besonders scheren. Menschen handeln nicht objektiv, sondern immer nur subjektiv vernünftig, wobei das manchmal auch zusammenfallen mag (vgl. dazu noch Kapitel 6 und 8 ausführlich). Das Konzept
des subjektiven Sinns von Weber und das Thomas-Theorem meinen offenkundig das Gleiche.
Die „Definition“ der Situation
Die subjektive Definition der Situation bildet der Akteur vor dem Hintergrund
der äußeren und der inneren Bedingungen der Situation über einen komplexen
Prozeß verschiedener Selektionen, bei denen Kognitionen und Emotionen,
Wahrnehmungen und Gefühle, Reflexe und Reflektionen, Spontanität und Berechnung beteiligt sind. Es ist der Vorgang, über den der Akteur aus den äußeren Bedingungen und seinen inneren Einstellungen ein spezifisches Modell
der Situation auswählt, auf dessen Grundlage er alle weiteren Selektionen
vornimmt – und dann auch handelt (vgl. dazu noch Kapitel 5).
Wir müssen uns der Erklärung der subjektiven Definition der Situation vor dem Hintergrund
der objektiven Bedingungen in mehreren Schritten nähern. Es ist eines der schwierigsten
Themen der Soziologie überhaupt. Manche halten es für das wichtigste, andere für das am
ehesten entbehrliche Problem bei soziologischen Erklärungen. Die Hauptschwierigkeit in der
Darstellung und eine Unzahl von Diskussionen und Mißverständnissen ergeben sich daraus,
daß ganz verschiedene Dinge gemeint sind. Dabei ist die Sache recht einfach: Es geht bei der
subjektiven Definition der Situation um ein inneres Tun eines einzelnen Akteurs im Moment
einer gegebenen Situation, der auf der Grundlage der objektiven äußeren und inneren Bedingungen eine Selektion über eine bestimmte subjektive Sicht der Situation vornimmt. Für die
Darstellung hier ergibt dies eine gewisse Komplikation, weil für die Erklärung dieses inneren
Tuns erst die Gesetze der Logik der Selektion des Handelns allgemein bekannt sein müßten.
Aber darauf kommen wir ja erst noch in den Kapiteln 7 und 8. Andererseits können wir die
Logik der Selektion hier noch nicht behandeln, weil diese ja wiederum auf den Randbedingungen der subjektiven Definition der Situation beruht. Außerdem ist empirisch so gut wie
jede subjektive Definition der Situation ein Element eines komplexen kollektiven und
interaktiven Prozesses: die „Konstitution“ einer kollektiven Definition der Situation. Das ist
nichts anderes als die wechselseitige Bestärkung mehrerer Akteure in der „Richtigkeit“ ihrer
jeweiligen subjektiven Definition der Situation. Diese kollektive Konstitution vollzieht sich
in Gruppenprozessen und Interaktionen (vgl. dazu auch noch Kapitel 5). Also müßten
eigentlich auch diese Vorgänge erst besprochen sein. Das geht aber erst, wenn wir wissen,
wie das Handeln einzelner Akteure zustandekommt. Denn Interaktionen in Gruppen sind ja
nur „Inter“-Aktionen zwischen einzelnen Akteuren und beruhen wieder auf den Selektionen
der einzelnen Akteure. Darüber wird aber erst noch später, vor allem in Band 2, „Soziales
Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“, gesprochen werden können. Kurz: Man weiß nie,
wo man anfangen soll. Wir gehen deshalb zwar schrittweise, manchmal aber auch
Das Thomas-Theorem
67
anfangen soll. Wir gehen deshalb zwar schrittweise, manchmal aber auch vorgreifend und
wiederholend vor. Das Thema durchzieht im Grunde alle fünf Bände der „Speziellen Grundlagen“.
Wie hat man sich nun aber die subjektive Definition der Situation vorzustellen? William I. Thomas und Florian Znaniecki haben freundlicherweise selbst
ein anschauliches Beispiel dafür gebracht. Es stammt aus dem fünften Band
des „Polish Peasant“ und wird in der „Methodological Note“ zur Ausgabe des
ersten Bandes von 1927 berichtet. Dabei geht es um den Fall eines Ehemanns,
der gerade von der Untreue seiner Frau erfahren hat, und nun überlegt, ob er
sie verlassen soll. Thomas und Znaniecki unterscheiden zunächst die beiden
grundlegenden Elemente der Situation, auf die wir in Kapitel 1 hingewiesen
hatten: die äußeren Bedingungen und die inneren Einstellungen. Zuerst die
äußeren Bedingungen der Situation des gehörnten Ehemanns:
„The objective conditions were: (1) the social institution of marriage with all the rules involved; (2) the wife, the other man, the children, the neighbors, and in general all the individuals
constituting the habitual environment of the husband and, in a sense, given to him as values;
(3) certain economic conditions; (4) the fact of the wife’s infidelity.“ (Thomas und Znaniecki
1927, S. 69)
Dann seine inneren Einstellungen:
„Toward all these values the husband had certain attitudes, some of them traditional, others
recently developed.“ (Ebd.)
Das ist in der Vielfalt der Aspekte alles sehr unübersichtlich, erst recht für den
wohl etwas entnervten Ehemann. Bei dieser Komplexität bleibt es aber nicht
lange:
„Now, perhaps under the influence of the discovery of his wife’s infidelity, perhaps after having developed some new attitude toward the sexual or economic side of marriage, perhaps
simply influenced by the advice of a friend in the form of a rudimentary scheme of the situation helping him to ‚see the point’, he defines the situation for himself.“ (Ebd.; Hervorhebungen nicht im Original)
Es werden zunächst also – in einer raschen Abfolge von kurzen Denk- und
Bewertungsprozessen – alle möglichen Aspekte erwogen: die emotionale Verletzung aus der Untreue seiner Frau, die wirtschaftliche Bürde des Familienlebens, vielleicht die Verlockungen einer bis jetzt verheimlichten Geliebten,
das ironische Grinsen der Nachbarn über sein Ungemach, und so weiter.
Schließlich aber fällt eine Entscheidung über die „Definition“ der Situation:
„And in this definition some one attitude – sexual jealousy, or desire for economic freedom,
or love for the other woman, or offended desire for recognition – or a complex of these attitudes, or a new attitude (hate, disgust) subordinates to itself the others and manifests itself
chiefly in the subsequent action, which is evidently a solution of the situation, and fully de-
68
Situationslogik und Handeln
termined both in its social and in its individual components by the whole set of values, attitudes, and reflective schemes which the situation included.“ (Ebd., S. 69f.; Hervorhebungen
nicht im Original)
Das Ergebnis ist eine einfache und eindeutige, von der ursprünglichen Vieldimensionalität und Komplexität ganz bereinigte Sicht der Situation. Sie –
und nur sie – leitet das darauf folgende Handeln. Leider präzisieren Thomas
und Znaniecki nicht weiter, nach welchen Regeln eine solche bestimmte Definition der Situation eigentlich selegiert wird. Sie fügen der eben zitierten Stelle über die Definition der Situation durch den gehörnten Ehemann aber noch
einen interessanten – und für das gesamte Verständnis der auch sozialen Prozesse hin zur „Definition“ einer bestimmten Situation auch sehr wichtigen –
Satz an:
„When a situation is solved, the result of the activity becomes an element of a new situation,
and this is most clearly evidenced in cases where the activity brings a change of a social institution whose unsatisfactory functioning was the chief element of the first situation.“ (Ebd.; S.
70; Hervorhebungen nicht im Original).
Die alles andere einrahmende Definition der Situation ist also die Lösung einer zunächst als überkomplex und als problematisch empfundenen Situation.
Und das daran anschließende, mehr oder weniger unreflektiert ablaufende
Handeln schafft externe Effekte und neue äußere wie innere Bedingungen, die
für jede nachfolgende Definition der Situation und für das nachfolgende Handeln wieder bedeutsam werden.
Selektion, Vereinfachung und Zuspitzung
Die subjektive „Definition“ der Situation ist die vom Akteur selbst abgegebene einfache Antwort auf unendlich viele komplizierte Fragen. Jede subjektive
Definition der Situation ist eine Selektion aus möglichen Alternativen anderer
Festlegungen. Ihr voraus geht die Wahrnehmung und Interpretation der vielen
einzelnen „objektiven“ Objekte in der Situation. Die Selektion geschieht über
einen Vergleich der im Gedächtnis gespeicherten Modelle typischer Situationen, etwa die aus dem Repertoire der Me-Sektoren der sozialen Identität des
Akteurs, mit den erkennbaren Umständen, insbesondere mit der Wahrscheinlichkeit für die „Passung“ des Modells und mit der Präferenz für oder gegen
dieses Modell. Es ist, wie man sieht, ein inneres Tun, das den gleichen Bedingungen unterliegt und auch den gleichen Regeln folgt wie das Handeln ganz
allgemein.
Das Thomas-Theorem
69
Beispielweise: Gilt für den betrogenen Ehemann bei Thomas und Znaniecki das etwas unangenehme, aber recht naheliegende Modell „gehörnter Ehemann“ oder das etwas weniger verletzende, aber nicht so wahrscheinliche Modell „treuloses Flittchen“ für den Vorgang? Stimmen die erkennbaren Hinweise komplett mit der jeweils erwogenen Bedeutung überein, oder
sind gewisse Störungen vorhanden? Was spräche eigentlich dagegen, sich ein klein wenig
über die vorliegenden Tatsachen selbst zu betrügen, wenn das dadurch mögliche Modell etwas weniger desavouierend wäre? Wie weit kann man diesen Selbstbetrug angesichts der erkennbaren Fakten treiben? Gibt es Hinweise auf eine ganz andere Bedeutung und auf ein
ganz anderes Modell der Situation, das einem ganz aus der Patsche hilft – wie etwa der
Wechsel zur heimlichen Geliebten und der Umdeutung der Situation als ein längst beschlossener eigener Plan? Und so weiter.
Die Definition der Situation ist immer eine vereinfachende Selektion. Es ist
eine Form der Reduktion der übergroßen Komplexität, die jeder Situation ansonsten anhaftet. Die Definition der Situation ist somit immer auch eine Zuspitzung der Sichtweise auf jeweils einen maßgeblichen Gesichtspunkt, auf
ein Oberziel, auf ein Leitmotiv, auf einen Code, wie man sagen könnte. Gerade durch diese vereinfachende Zuspitzung gewinnt sie ihre rahmende und
orientierende und handlungsleitende Kraft.
Die subjektive Definition der Situation ist eine „Entscheidung“, aber eben
keine willkürliche Vereinfachung, die der Akteur auch lassen könnte. Sie ist
meist eine schiere Notwendigkeit. Die alles andere ausblendende Rahmung
der Situation ist nämlich schon wegen der grundsätzlich begrenzten Fähigkeiten des Menschen, mit komplexen Verhältnissen umzugehen, eine unumgängliche Grundlage für die Selektion des Handelns. Die vereinfachende und zuspitzende subjektive Definition der Situation ist ein Teil des klugen Umgangs
der Menschen mit seiner begrenzten Rationalität und mit der Überfülle und
Komplexität an Informationen, die jede Situation mit sich bringt, und ohne
deren drastische Verminderung ein subjektiv sinnhaftes und sozial koordiniertes Handeln überhaupt nicht denkbar wäre (vgl. dazu u.a. noch Kapitel 8).
Garfinkel, Loriot und Hildegard
Ist ein solches vereinfachendes und zuspitzendes und deshalb orientierendes,
Sicherheit und Zuversicht verleihendes Modell der Situation einmal aktiviert,
dann bekommt es – bei all seiner Subjektivität – eine außerordentlich stark
bindende, „selbst-verständliche“ und sogar objektive Kraft. Der Alltag ist –
gottlob – von einem ganzen Kranz solcher Selbstverständlichkeiten umgeben.
Diese Entlastung ist es dann aber gerade auch, die die starke emotionale,
manchmal sogar auch moralische Bindung an eine einmal vollzogene Definition der Situation erklärt: Jedes Denken an etwas anderes, erfüllt den Akteur
mit einem gewissen Horror – und er läßt es deshalb. Aus guten Gründen. Die
70
Situationslogik und Handeln
Fraglosigkeit der subjektiven Sicht gibt ihm ja erst die notwendige Sicherheit
für das Handeln in einer stets überkomplexen Welt. Stabile subjektive Welten
sind eine hart erarbeitete Errungenschaft. Oft wird einfach vergessen, wie fragil die Welt der Selbstverständlichkeiten eigentlich ist. Und deshalb irritiert
die Menschen kaum etwas mehr als der – gottlob seltene – Fall, daß gewisse
Selbstverständlichkeiten plötzlich und unerwartet nicht mehr gelten.
Der amerikanische Soziologe Harold Garfinkel, der Begründer der sog.
Ethnomethodologie, hat diese von ihm so genannten „Routine Grounds of Everyday Activities“ in einer ganzen Reihe von sog. Krisenexperimenten offengelegt.9 Der dabei angewandte Trick war immer der gleiche: Es wurde
systematisch und bewußt eine an sich ganz fraglos zu erwartende, aber wegen
der Fraglosigkeit auch nicht beachtete, Winzigkeit in einer Situation geändert.
Beispielsweise, indem jemand die freundliche Routinefrage „Wie geht es?“
mit der bohrenden Nachfrage beantwortet: „Was meinst Du eigentlich damit:
‚Wie geht es?’?“. Und sofort bricht jedesmal der ganze Schein der Sicherheit
und die bis dahin ganz unangezweifelte subjektive Definition der Situation als
harmloser Morgengruß zusammen. Ärger und Entsetzen, manchmal auch Gelächter, in schweren Fällen der Ruf nach Polizei und Nervenarzt, sind die üblichen Reaktionen darauf. Und nicht immer treten dann ein Kurt Felix oder
ein Fritz Egner hervor, die das Ganze freundlich lächelnd aufklären.
Kurz: Die subjektive Definition der Situation erzeugt zwar eine starke Sicherheit des jeweils geltenden Sinns. Aber es darf nichts geschehen, was mit
Sicherheit nicht zum definierten Modell der Situation dazugehört. Und das
können belanglos erscheinende Kleinigkeiten sein, von denen man normalerweise keine Notiz nimmt – wie etwa die Nudel an der Nase von Loriot beim
Rendezvous mit Hildegard, die dann ja auch ganz sprachlos ist.
Der Wechsel des Sinns
Der Vorgang der Rahmung einer Situation durch ihre subjektive Definition
hilft auch zu erklären, warum Menschen je nach Situation ganz andere Interessen und Erwartungen entwickeln und sogar ganz unvermittelt ihre „Natur“
von einer Situation zur anderen auszutauschen scheinen, wenn sich die „Situation“ ändert und wenn dadurch eine andere subjektive Definition der Situation
nahegelegt wird – etwa so wie dies bei den Hotelbesitzern im Beispiel von
Richard T. LaPiere geschah, die ja jeweils ganz andere Menschen zu sein
9
Vgl. Harold Garfinkel, Studies of the Routine Grounds of Everyday Activities, in: Harold
Garfinkel, Studies in Ethnomethodology, Englewood Cliffs, N.J., 1967, S. 42ff.; 58ff.;
72ff.
Das Thomas-Theorem
71
schienen, bei den italienischen Kindern der Miss Caldwell und bei den Hypochondern, von denen William I. Thomas berichtete, oder auch etwa bei den
Wendehälsen nach dem Zweiten Weltkrieg und nach dem Zusammenbruch
der DDR. Immer waren es plötzlich ganz andere Menschen – obwohl ihre generellen Einstellungen bzw. ihre Identität dabei ganz stabil geblieben sein
mögen.
Die Menschen werden mit dem Wechsel des Rahmens des jeweils „definierten“ Sinnbereichs also offenbar tatsächlich anders. Sie verstellen sich
nicht. Das wäre auch auf die Dauer viel zu anstrengend. Sie folgen vielmehr
dem Sinn aus dem jeweils aktualisierten Modell der Situation. Die Situation
sehen sie dann nur noch im Rahmen des neuen Sinns für das neue Modell –
und handeln entsprechend, wieder wie selbstverständlich, innerhalb der dafür
vorgesehen Regeln und Routinen.
Es gibt nur wenige Menschen – wie die von Robert K. Merton so genannten all-weather-liberals oder all-weather-illiberals10 –, deren innere Einstellungen von einem einzigen Prinzip ihrer unverrückbaren und alles andere
dominierenden Identität ganz durchzogen wäre. Gott sei Dank! Nur für solche
„wert“-geleiteten Menschen stellt sich das Problem einer stets neu zu erbringenden und spezifischen subjektiven Definition der Situation nicht. Sie sehen
die Welt immer nur durch die eine Brille ihrer allgemeinen Werte und generellen Einstellungen. Und sie muten damit ihrer Umgebung oft viel zu. Sie
müssen aber auch oft selbst einen hohen Preis für ihre Unbeugsamkeit und
Eigensinnigkeit bezahlen.
Der Normalfall ist – gottlob – ein anderer: die im Prinzip auch an den spezifischen Bedingungen orientierte subjektive Definition der Situation und die
kluge Orientierung an naheliegenden und zuträglichen Modellen der Situation.
Der Reiter und der Bodensee
Zum Thomas-Theorem und zur oft unerkannten Lebensgefährlichkeit des
fraglosen Alltags mit seinen zahllosen Gelegenheiten, mächtig einzubrechen,
gibt es ein etwas altertümlich-dramatisches Gedicht. Es stammt von dem
Volksdichter Gustav Schwab.11 Und das geht so:
10
11
Robert K. Merton, Discrimination and the American Creed, in: Peter I. Rose (Hrsg.), The
Study of Society. An Integrated Anthology, 2. Aufl., New York 1970, S. 452, 455.
Gustav Schwab, Der Reiter und der Bodensee, in: Ludwig Reiners (Hrsg.), Der ewige
Brunnen. Ein Hausbuch deutscher Dichtung, 2. Aufl., München 1959, S. 327-329.
72
Situationslogik und Handeln
Der Reiter reitet durchs helle Tal,
auf Schneefeld schimmert der Sonne Strahl.
Er trabet im Schweiß durch den kalten Schnee,
er will noch heut an den Bodensee;
noch heut mit dem Pferd in den sichern Kahn,
will drüben landen vor Nacht noch an.
Auf schlimmem Weg, über Dorn und Stein,
er braust auf rüstigem Roß feldein.
Aus den Bergen heraus, ins ebene Land,
da sieht er den Schnee sich dehnen wie Sand.
Weit hinter ihm schwinden Dorf und Stadt,
der Weg wird eben, die Bahn wird glatt.
In weiter Fläche kein Bühl, kein Haus,
die Bäume gingen, die Felsen aus;
so flieget er hin eine Meil’ und zwei,
er hört in den Lüften der Schneegans Schrei;
es flattert das Wasserhuhn empor,
nicht anderen Laut vernimmt sein Ohr;
keinen Wandersmann sein Auge schaut,
der ihm den rechten Pfad vertraut.
Fort geht’s, wie auf Samt, auf dem weichen Schnee,
wann rauscht das Wasser, wann glänzt der See?
Da bricht der Abend, der frühe, herein:
von Lichtern blinket ein ferner Schein.
Es hebt aus dem Nebel sich Baum an Baum,
und Hügel schließen den weiten Raum.
Er spürt auf dem Boden Stein und Dorn,
dem Rosse gibt es den scharfen Sporn.
Und Hunde bellen empor am Pferd,
und es winkt im Dorf ihm der warme Herd.
‚Willkommen am Fenster, Mägdelein,
an den See, an den See, wie weit mag’s sein?‘
Die Maid, sie staunet den Reiter an:
‚Der See liegt hinter dir und der Kahn.
Und deckt’ ihn die Rinde von Eis nicht zu,
ich spräch’, aus dem Nachen stiegest du.‘
Der Fremde schaudert, er atmet schwer:
‚Dort hinten die Ebne, die ritt ich her!‘
Da recket die Magd die Arm in die Höh:
‚Herr Gott! so rittest du über den See!
An den Schlund, an die Tiefe bodenlos,
hat gepocht des rasenden Hufes Stoß!
Und unter dir zürnten die Wasser nicht?
Nicht krachte hinunter die Rinde dicht?
Und du wardst nicht die Speise der stummen Brut?
Der hungrigen Hecht’ in der kalten Flut?‘
Sie rufet das Dorf herbei zu der Mär,
es stellen die Knaben sich um ihn her;
die Mütter, die Greise, sie sammeln sich:
Das Thomas-Theorem
73
‚Glückseliger Mann, ja, segne du dich!
Herein zum Ofen, zum dampfenden Tisch,
brich mit uns das Brot und iß vom Fisch!‘
Der Reiter erstarret auf seinem Pferd,
er hat nur das erste Wort gehört.
Es stocket sein Herz, es sträubt sich sein Haar,
dicht hinter ihm grinst noch die grause Gefahr.
Es siehet sein Blick nur den gräßlichen Schlund,
sein Geist versinkt in den schwarzen Grund.
Im Ohr ihm donnert’s, wie krachend Eis,
wie die Well’ umrieselt ihn kalter Schweiß.
Da seufzt er, da sinkt er vom Roß herab,
da ward ihm am Ufer ein trocken Grab.
Es ist nicht überliefert, wo der Reiter bei seinem Weg über den Bodensee angekommen ist und wo ihn der Schlag getroffen hat. In Konstanz vielleicht?
Kapitel 3
Die Objektivität der Situation
Das Thomas-Theorem wie das Konzept des subjektiven Sinns von Max Weber betonen gleichermaßen, daß erst die subjektive Definition der Situation die
„reale“ und für die Selektion des Handelns immer nur maßgebliche Logik der
Situation bestimme. Daran gibt es wohl auch keinen vernünftigen Zweifel.
Die Frage stellt sich dann aber gerade für eine soziologische Erklärung, die ja
eben nicht an den individuellen Ideosynkrasien der Einzelpersonen, sondern
an den objektiven sozialen Strukturen und Prozessen interessiert ist, sofort:
Wie eng sind eigentlich die Beziehungen zwischen den objektiven Merkmalen
einer Situation und den subjektiven Interpretationen dieser objektiven Vorgaben durch die Akteure?
Sind es also nicht lediglich einige wenige Verrückte oder Unerfahrene, die nicht erkennen,
welche Opportunitäten, welche institutionellen Regeln und welcher Bezugsrahmen tatsächlich gelten bzw. welche „objektive“ Bedeutung sie haben? Ist es angesichts dessen überhaupt
nötig, auf die subjektiven Interpretationen der Menschen zurückzugehen? Reicht es nicht aus,
lediglich die – wie dies Max Weber ausgedrückt hat – objektiv gegebenen „Chancen“ für bestimmte subjektive Deutungen zu erfassen und alle individuellen Ideosynkrasien zu übergehen? Ist der Hinweis auf die subjektive Definition der Situation nicht viel eher eine recht bequeme Ausrede, die von der eigentlichen soziologischen Arbeit – der typisierenden Modellierung der objektiven Situation für typische Gruppen von Akteuren – nur ablenkt?
Genau diese Gefahr sehen viele Soziologen angesichts der Leichtigkeit, mit
der sich die Formel des Thomas-Theorems aufsagen läßt. Arthur L. Stinchcombe beispielsweise lobt Robert K. Merton deshalb besonders, weil der die
an sich ja richtige und wichtige Idee des Thomas-Theorems mit einer konsequent strukturellen Perspektive verbunden und es nicht bei der bloßen Auskunft belassen habe, daß alles Handeln eben eine Frage der subjektiven Definition der Situation sei:
„The core process of choice between socially structured alternatives (der Ansatz von Merton;
HE) owes a great deal (explicitly acknowledged) to the W. I. Thomas-G. H. Mead analysis of
definitions of situations and self-conceptions. Where it differs from much contemporary work
76
Situationslogik und Handeln
derived from that tradition is in not adding to it the hopeless proposition, ‚God only knows
what definitions people will give to situations’.“1
Bei Niklas Luhmann ist der aus dieser kritischen Sicht einsichtige, wenngleich aus seiner Feder auch nicht sehr überraschende, Satz zu finden:
„Zumeist dominiert – und dies gerade nach dem Selbstverständnis des psychischen Systems!
– die Situation die Handlungsauswahl. Beobachter können das Handeln sehr oft besser auf
Grund von Situationskenntnis als auf Grund von Personkenntnis voraussehen, ... .“2
Und sogar der amerikanische Soziologe Erving Goffman (1911-1982), der
sich besonders intensiv gerade mit den Vorgängen der subjektiven Definition
von Situationen beschäftigt hat und als einer der Hauptvertreter der ThomasMead-Tradition gelten kann, wandte sich – wohl nicht ohne Grund – in einer
seiner letzten Arbeiten deutlich gegen eine allzu subjektivistische Interpretation des Thomas-Theorems:
„Diese Behauptung (des Thomas-Theorems; HE) ist ihrem Wortlaut nach richtig, wird aber
falsch aufgefaßt. Wenn eine Situation als wirklich definiert wird, so hat das gewiß Auswirkungen, doch diese beeinflussen die Vorgänge vielleicht nur sehr am Rande; manchmal fällt
nur der Schatten einer Störung einen Augenblick lang auf die Szene, wenn man nachsichtig
an diejenigen denkt, die die Situation falsch definieren wollten. Die Welt ist nicht einfach eine große Bühne ... .“3
Die Frage nach dem Verhältnis zwischen der objektiven Logik der Situation
und den subjektiven Definitionen derselben entspricht einem zentralen Problem der modellierenden soziologischen Erklärung: Wie weit kann man sich
darauf verlassen, daß die objektiven Verhältnisse auch den subjektiven Sichtweisen der Akteure entsprechen?
Bezogen auf die Brückenhypothesen zur Beschreibung der Logik der Situation stellt sich das
Problem so: Wie genau muß eigentlich die „Personkenntnis“ zur Beschreibung der Logik der
Situation bei einer soziologischen Erklärung sein? Welche typischen Aspekte der Situation
sind es, die es erlauben, auch unabhängig von Informationen über die einzelnen, konkreten
Individuen etwas über die „Logik“ der Situation zu wissen, denen sie sich ausgesetzt sehen?
Und vor allem: Kann man die Brückenhypothesen zur Beschreibung der Situation auch unabhängig von den immer etwas subjektivierenden und rationalisierenden Äußerungen der Akteure selbst, also: bereits aus der Perspektive eines externen Beobachters, formulieren – und
dennoch die subjektiven Deutungen der Akteure korrekt erfassen? Wir werden auf dieses
1
2
3
Arthur L. Stinchcombe, Merton‘s Theory of Social Structure, in: Lewis A. Coser (Hrsg.),
The Idea of Social Structure. Papers in Honor of Robert K. Merton, New York u.a. 1975,
S. 14; Hervorhebung im Original.
Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/M.
1984, S. 229.
Erving Goffman, Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen, Frankfurt/M. 1980 (zuerst: 1974), S. 9; Hervorhebung nicht im Original.
Die Objektivität der Situation
77
Problem immer wieder einmal zurückkommen, insbesondere in Kapitel 10 über die „Logik“
der Situation.
Um diese Probleme des Verhältnisses von objektiver Situation und subjektiver Definition der Situation geht es in diesem Kapitel.
Wir wollen die Frage zunächst im Zusammenhang des Konzeptes der sozialen Rolle und am
Beispiel des Studentenprotestes an den amerikanischen Universitäten aus Kapitel 1 besprechen. Speziell soll es dabei um die Frage gehen, warum bereits aus objektiven, relativ leicht
auch von einem externen Beobachter feststellbaren Gründen davon ausgegangen werden
kann, daß – normalerweise – Hochschullehrer mit einer guten Reputation sich viel weniger
um die Lehre kümmern als ihre weniger angesehenen Kollegen, und warum die angesehenen
und forschenden Professoren sehr viel weniger vor Ort zu finden sind als die weniger angesehenen und eher lehrenden Hochschullehrer. Die hier vorgenommene Vertiefung der Frage
nach der Art der Logik der Situation bezieht sich also auf die Teilbeziehung A → F → C des
Sequenzmodells in Abbildung 1.1 aus Kapitel 1. Ein Vorschlag zur erklärenden Verbindung
zwischen objektiver Situation und subjektiver Definition wird in Abschnitt 3.2 und 3.3 dargestellt: das Konzept der sozialen Produktionsfunktionen. In Abschnitt 3.4 werden die Grundaussagen dieses Konzeptes dann mit einer Unterscheidung verbunden, mit der Robert K.
Merton die grundlegenden Strukturen von Gesellschaften beschreiben wollte: Kulturelle Ziele
und institutionalisierte Mittel.
Im Kern der Überlegungen – auch für die weiteren Ausführungen in anderen
Kapiteln – steht das Konzept der sozialen Produktionsfunktion. Das Wort
klingt sehr nach Ökonomie. Und das ist auch kein Zufall, weil der Begriff der
Produktionsfunktion in der Tat aus den Wirtschaftswissenschaften stammt.
Wir werden aber gleich sehen, daß die Soziologie mit einem ihrer grundlegenden eigenen Konzepte eine ganz ähnliche, wenngleich sehr viel ungenauere, Vorstellung entwickelt hat – mit dem Konzept der sozialen Rolle.
3.1
Soziale Rollen und die Identifikation mit der Situation
Der Alltag des Menschen ist normalerweise tatsächlich wesentlich weniger
subjektiv, als es das Thomas-Theorem nahelegt: Die Menschen folgen den objektiven Vorgaben der Situation und sie sehen die Welt auch – wenigstens in
groben Zügen – entsprechend. Warum sich menschliche Akteure meist in
ganz erstaunlicher Weise in ihrem Denken, Fühlen und Handeln an objektive
situationale Vorgaben halten, wird in der Soziologie mit dem Konzept der sozialen Rolle zu erklären versucht.
Soziale Rollen sind der mit bestimmten Positionen verbundene Satz an Verhaltenserwartungen. Die Position des Oppositionsführers verlangt beispielsweise, daß der jeweilige Inhaber
der Stelle der Regierung Dampf macht. Dieser Vorgabe muß er genügen. Tut er es nicht, wird
er bald abgewählt. Soziale Rollen sind Spezialfälle institutioneller Regeln (vgl. dazu noch
Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Rollen bestehen meist aus ver-
78
Situationslogik und Handeln
schiedenen Teilrollen bzw. Rollensegmenten, zwischen denen in der Regel ein gewisser Freiheitsgrad der Gewichtung besteht. Die Teilrollen beschreiben innerhalb des Rahmens einer
bestimmten Rolle typische Alternativen des Handelns, zwischen denen ein Akteur wählen
kann. Gäbe es nur eine Rolle und gäbe es nur ein Rollensegment, dann wäre die Frage nach
der Logik der Situation recht einfach: Akteure folgen den Vorgaben der Rollenerwartungen –
wenn sie es können und wenn es keine attraktiven Versuchungen zur Abweichung von der
objektiven Definition der Situation durch die Rollenerwartungen gibt.
Nicht jedes Handeln ist zwar rollenorientiertes Handeln. Für Professoren gibt
es aber ohne Zweifel eine – zum Teil in den rechtlichen Regelungen seines
Beamtenstatus fest vorgeschriebene – soziale Rolle: die des Hochschullehrers.
Hier gibt es auch eine Wahlmöglichkeit, besser: einen Wahlzwang, zwischen
bestimmten Teilrollen: Der Professor kann bzw. muß sich – in gewissen
Grenzen – entscheiden, ob er lieber mehr der Teilrolle des Forschers oder der
des Lehrers folgen möchte. Und genau hier ist der Punkt, an dem die subjektive Definition der Situation wichtig wird: Welche subjektive Gewichtung der
beiden – erlaubten – Teilrollen soll vorgenommen werden? Wie soll die jeweilige Teilrolle, von der ja gerade bei Professoren nicht alles in den Rollen„Vorschriften“ festgelegt werden soll, mit konkretem Handeln ausgefüllt werden? Und wie frei sind die Professoren dann in der Ausfüllung der jeweiligen
Teilrolle, wenn sie sich auf eine davon eingelassen haben?
Locals and Cosmopolitans
Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist die ganz zu Beginn des Kapitels 1 beschriebene Beobachtung, daß die Professoren an den amerikanischen
Universitäten – und übrigens nicht nur dort – ihre Teilrollen in jeweils ganz
typischer Weise und ohne viel subjektive Varianz in ihren Interpretationen
ausüben: Die Professoren, die sich der Lehre verschrieben haben, verfolgen
typischerweise eher lokale Aktivitäten. Und die Professoren mit hoher Reputation konzentrieren sich auf die Teilrolle der Forschung und glänzen als Kosmopoliten regelmäßig durch Abwesenheit – getreu dem bekannten Spruch,
wonach die Harvard University und die Lufthansa eines gemeinsam haben:
ein Drittel des Personals ist immer in der Luft. Wir wollen die beiden Typen
von Hochschullehrern der Einfachheit halber als Locals und als Cosmopolitans bezeichnen.
Die Unterscheidung von Locals und Cosmopolitans geht auf eine Differenzierung zurück, die
Robert K. Merton bei kommunalen Eliten in der amerikanischen Gemeinde Rovere festgestellt hatte: „The chief criterion for distinguishing the two (types of influentials; HE) is found
in their orientation toward Rovere. The localite largely confines his interests to this
community. Rovere is essentially his world. Devoting little thought or energy to the Great
Society, he is preoccupied with local problems, to the virtual exclusion of the national and
international scene. He is, strictly speaking, parochial. Contrariwise with the cosmopolitan
Die Objektivität der Situation
79
scene. He is, strictly speaking, parochial. Contrariwise with the cosmopolitan type. He has
some interest in Rovere and must of course maintain a minimum of relations within the community since he, too, exerts influence there. But he is also oriented significantly to the world
outside Rovere, and regards himself as an integral part of that world. He resides in Rovere but
lives in the Great Society. If the local type is parochial, the cosmopolitan is ecumenical.“4
Die Frage ist dann: Warum existiert bei den Professoren eine derart feste und
offensichtlich nicht ganz frei zu wählende Beziehung zwischen Lehre und lokaler Orientierung und zwischen Forschung und kosmopolitischer Orientierung? Welche strukturellen Merkmale der Situation also bringen die Lehrer
dazu, ihr Trachten und Handeln auf den Campus, und die Forscher dieses auf
die weite Welt zu konzentrieren?
Die folgende Darstellung des Prinzips der objektiven Definition der Situation vereinfacht –
aus Gründen der Übersichtlichkeit der Darstellung – die „wirklichen“ Verhältnisse bei den
Hochschullehrern etwas. Dies bezieht sich insbesondere darauf, daß eine gute Forschung
meist auch der Lehre zustatten kommt und daß schlechte Lehrer auch meist keine besondere
Lust für die Forschung haben. Daneben gilt – hierzulande wenigstens – die beamtenrechtliche
Vorgabe, daß Hochschullehrer Forschung und Lehre – und nicht zuletzt auch die Selbstverwaltung! – miteinander zu verbinden haben.
Die Lösung des Rätsels beginnt mit der Frage, woher eine überlokale Bekanntheit im Wissenschaftsbereich überhaupt stammt. Die Antwort ist nicht
schwer zu finden: Die überlokale Bekanntheit der Professoren stammt – in aller Regel – von ihren Publikationen. Publikationen erreichen schon von den
technischen Gegebenheiten her eine größere Öffentlichkeit als mündliche
Vorträge. Publikationen sind ferner eine Angelegenheit der Qualität der Forschungsarbeiten der Hochschullehrer: Die Herausgeber von Fachzeitschriften
und Fachbüchern achten sehr auf den guten Ruf ihrer Zeitschrift bzw. ihrer
Buchreihe. Und sie trachten daher danach, nur wirklich gute und innovative
Artikel und Manuskripte zu publizieren. Das sind in aller Regel solche, die
aus aktuellen und aufwendigen Forschungsarbeiten stammen. Und wer viel
forscht, hat bereits aus Gründen der Zeitrestriktion weniger Gelegenheit, sich
auf die Besonderheiten einer mitreißenden Lehre einzustellen.
Dies ist die eine Seite. Die andere hat mit den technischen, vor allem aber
mit einigen sozialen Besonderheiten der Lehre zu tun. Daß die Studenten, die
einer großen Vorlesung folgen, den Ruhm der rhetorischen und der sonstigen
Gaben des Herrn Professors in die Eifel oder in die Pfalz weitertragen, ist erstens unwahrscheinlich und zweitens für sein Ansehen draußen im Lande verhältnismäßig unwirksam. Die Eltern und die Tanten der Studenten haben
4
Robert K. Merton, Patterns of Influence: Local and Cosmopolitan Influentials, in: Robert
K. Merton, Social Theory and Social Structure, 11. Aufl., New York und London 1967b,
S. 393; Hervorhebung im Original.
80
Situationslogik und Handeln
meist weit Besseres zu tun, als sich von der Exzellenz der Veranstaltungen in
Köln oder Mannheim zu überzeugen. Und ihr Urteil ist für das wissenschaftliche Ansehen des Professors in der Regel nicht sehr wichtig. Dazu kommt: Die
Vorbereitung einer guten Vorlesung ist zwar einer guten Forschung nicht gerade hinderlich. Sie ist aber sehr zeitaufwendig. Und diese Zeit fehlt dann, um
ganz vorne an der Forschungsfront stehen zu können. Und die Folge: Es wird
vergleichsweise wenig und nicht so herausragend publiziert. Und damit kann
auch der Bekanntheitsgrad normalerweise nicht der gleiche sein wie bei den
forschenden Kollegen.
Aus alledem ergibt sich: Über die soziale Organisation der wissenschaftlichen Publikationen und über einige bereits technisch bedingte Restriktionen
haben gute Forscher eine strukturell bedeutend höhere Chance, bekannt zu
werden, als gute Lehrer – ganz unabhängig von den individuellen Talenten
und unabhängig von der subjektiven Definition der Situation durch die einzelnen Akteure.
Diese Feststellungen haben also zunächst nichts mit irgendwelchen Annahmen darüber zu tun, ob die Lehre oder die Forschung schwieriger sind, ob
man für das eine oder das andere grundsätzlich mehr Talent und Fleiß braucht
oder wie hoch das Ausmaß sozialer Anerkennung und Wertschätzung für die
eine oder für die andere Aktivität ist. Ganz unabhängig davon ist die Lehre
eine schon strukturell lokal stark begrenzte Angelegenheit:
„Der ‚gute’ Lehrer wird von seinen Studenten geschätzt. Er ist bei der Verwaltung der Einrichtung, der er angehört, gern gesehen. Aber es gehört zur Ausnahme, daß der Bekanntheitsgrad eines Lehrers über die Mauern dieser Einrichtung hinausreicht.“5
Demgegenüber ist der gute Forscher typischerweise – als Ursache wie als
Folge seiner so vorzüglichen Forschungen – in überlokale Beziehungen eingebettet:
„A superior academic reputation means, by definition, that a person is widely acknowledged
to be capable of making significant contributions and that his or her participation in scholarly
and scientific endeavors is consequently in wide demand. Owing to the greater demand for
academics with research reputations, they are frequently drawn into scientific meetings and
scholarly conferences and sometimes consulted by government and industry, which is rarely
5
Raymond Boudon, Die Logik des gesellschaftlichen Handelns. Eine Einführung in die soziologische Denk- und Arbeitsweise, Neuwied und Darmstadt 1980, S. 62; Hervorhebungen so nicht im Original.
Die Objektivität der Situation
81
the case for teachers, whose lower visibility restricts the recognition they receive even if they
have great talents.“6
Und daraus folgt ganz objektiv und als strukturelles Merkmal der Logik der
Situation eines forschenden Hochschullehrers:
„Das System der Belohnungen für den Forscher ist ... seinem Wesen nach kosmopolitisch.“
(Boudon 1980, S. 62f.; Hervorhebung im Original)
Die Art der überlokalen Organisation der Forschung und schon die technischen Bedingungen einer guten Lehre sorgen also dafür, daß Professoren, die
sich auf die eine oder die andere Teilrolle spezialisiert haben, nun eigentlich
keine besondere Wahl mehr haben: Die einen müssen sich in überlokalen Aktivitäten engagieren, wenn sie weiter anerkannt bleiben wollen. Und die anderen müssen sich auf die lokale Szene einstellen, wenn sie ihren Einfluß am Ort
behalten wollen.
Sicherlich konnten sich die Hochschullehrer in ihrem Leben auch einmal „individuell“ entscheiden, was sie lieber machen wollten: mehr Forschung oder mehr Lehre. Bei der Entscheidung für die eine oder die andere Aktivität spielten zu Beginn der Karriere der Hochschullehrer wohl auch die verschiedenen Talente, lokalen Ressourcen und Möglichkeiten, sowie auch
Zufall und ein wenig Glück oder Pech eine Rolle. Ist die Entscheidung aber einmal gefallen –
der Aufsehen erregende Artikel wurde tatsächlich und früh genug publiziert oder es blieb nur
bei den Pflichtexemplaren einer mittelmäßigen Dissertation –, dann ist die Entscheidung über
die weitere Definition der Situation als Local oder als Cosmopolitan keine Frage der bloßen
Subjektivität mehr: Die Definition der subjektiven Wirklichkeit geschieht nicht bloß zufällig,
sondern folgt dann auch von den Interessen des jeweiligen Akteurs selbst her klugerweise
den institutionell objektivierten Bedingungen der Produktion von Belohnungen durch die eine
oder durch die andere Aktivität. Hinzu kommen häufig Selbstverstärkungsprozesse, die die
anfangs nur schwachen Unterschiede in den vielleicht sogar tatsächlich sehr subjektiven Definitionen der Situation zu einer starken objektivierten Angelegenheit machen: Forscher, die
viel forschen, werden immer besser und immer bekannter, taugen aber vielleicht für die Lehre
immer weniger und blamieren sich daher häufiger vor den Studenten. Vor allem aber haben
sie nicht viel Rückhalt in den lokalen Gremien und müssen von daher stets dafür sorgen, ihre
Verankerung in der überlokalen Gemeinschaft der Wissenschaftler zu stärken – was dann um
so mehr zur Abwesenheit vor Ort führt. Lehrer, die viel lehren, sind möglicherweise auch bei
den Studenten immer beliebter; gewiß ist das jedoch nicht. Sie verfügen vor allem aber über
immer mehr soziales Kapital aus ihren lokalen Bindungen an der Hochschule, wodurch sie
durch lokale Aktivitäten auch immer mehr erreichen können. Und nicht zuletzt: Sie haben mit
der Zeit praktisch keinerlei Chance mehr, durch ihre Forschungsarbeiten einen Fuß in die
kosmopolitische Große Welt ihrer Wissenschaft zu setzen, weil sie nur noch etwas tun, was
ein Nobelpreiskomitee weder kennt noch sonderlich beeindrucken würde. Und die Folge: Die
objektiven Bedingungen für eine lokale oder für eine kosmopolitische Orientierung verschärfen sich für eine bestimmte Kohorte von Hochschullehrern im Laufe ihrer Karriere immer
mehr – und das führt dazu, daß sie schließlich nur noch eines können bzw. sich zutrauen: for6
Peter M. Blau, Structural Constraints and Status Complements, in: Lewis A. Coser
(Hrsg.), The Idea of Social Structure. Papers in Honor of Robert K. Merton, New York
u.a. 1975, S. 124; Hervorhebungen nicht im Original.
82
Situationslogik und Handeln
schen oder lehren (vgl. dazu noch das Modell der entsprechenden „Logik der Situation“ in
Kapitel 10). Und die Rekrutierungspraxis der Universitäten hat dann die Folge, daß an den
guten Hochschulen exzellent geforscht, aber miserabel gelehrt wird, und daß an den weniger
guten Hochschulen ein kommodes Studierklima herrscht, niemand aber an der vorderen Forschungsfront aktiv ist, und von den vielen Talenten außerhalb des Provinz-Campus keiner
etwas weiß.
Die Akteure folgen – wenn sie auch nur einigermaßen die Organisation ihres
Handlungsfeldes durchschauen und ihren „objektiven“ Interessen folgen –
schon bald auch in ihren subjektiven Definitionen den objektiven Vorgaben
der Situation. Und wenn sie es nicht tun und sich davon deutlich abweichende
subjektive Definitionen der Situation leisten, dann werden sie rasch durch die
objektiv ablaufenden Vorgänge dahin gebracht: Sie fügen sich den strukturellen Vorgaben – oder scheiden aus dem ganzen System schließlich aus.
Die Übereinstimmung von objektiven Bedingungen und subjektiven Deutungen kann also
durch die subjektiven Anpassungsleistungen der Akteure an die objektiven Vorgaben der Situation – oder aber durch eine Art von evolutionärer Selektion bzw. differentieller Reproduktion erklärt werden: Die Akteure, die sich dauerhaft eine gegen die objektive Definition der
Situation gerichtete subjektive Welt leisten, überleben in der betreffenden Umwelt nicht dauerhaft. Forscher, die nicht zu Kongressen fahren, werden auf die Dauer keine gute Forschung
mehr treiben können – und dann auch nicht mehr zu den Kongressen eingeladen. Lehrer, die
nie da sind oder ständig ihre Vorlesungen ausfallen lassen, wissen nach einiger Zeit nicht
mehr, was in der Fakultät los ist und werden von ihren Kollegen und den Studenten – in jeder
Hinsicht – nicht mehr verstanden.
Und die Folge: Im Durchschnitt und mittelfristig stimmen die Akteure – mehr
oder weniger – in ihrer subjektiven Definition der Situation mit den objektiven Vorgaben überein.
Identifikation und Spontanität
Die Akteure halten sich also schon aus ihrem eigenen Interesse und aus vielen
guten Gründen der Vernunft an die objektiven Vorgaben einer strukturell definierten Situation. Deshalb folgen die Menschen bestimmten Rollenvorgaben
auch meist ohne besonderen Zwang und oft genug sogar mit deutlichen Zeichen der Identifikation und des Enthusiasmus. Besonders Neulinge in sozialen
Positionen gebärden sich oft ganz und gar dienstbeflissen, ohne daß ein
unmittelbarer Grund dafür zu sehen wäre. Neue Besen kehren nicht nur gut,
sondern oft genug auch ausgesprochen leidenschaftlich. In der bekanntesten
deutschsprachigen Fassung der Rollentheorie, dem „Homo Sociologicus“ von
Ralf Dahrendorf, findet man hingegen eine ganz andere Sichtweise des rollenkonformen Handelns:
Die Objektivität der Situation
83
„Wer seine Rolle nicht spielt, wird bestraft; wer sie spielt, wird belohnt, zumindest aber nicht
bestraft.“7
Das ist wohl nicht falsch und wird auch sicher oft genug vorkommen: die Befolgung der Rollenerwartungen aus Furcht vor Sanktionen. Die Sichtweise
von Dahrendorf erklärt aber den eigenartigen Enthusiasmus nicht, den die
Menschen im Alltag meist mit ihren Rollen verbinden: Gute Forscher sind mit
Überzeugung Cosmopolitans und verachten die lokalen Intriganten insgeheim
nicht wenig. Und die local heroes entwickeln eine starke Identifikation mit ihrer Tätigkeit, oft in affektiver Abgrenzung von den immer abwesenden Stars
der Fakultät, für die sie ja die Drecksarbeit vor Ort miterledigen müssen. Und
genau dieses Phänomen hatten wir ja auch schon am Beispiel des chinesischen Ehepaars von Richard T. LaPiere in Kapitel 2 gesehen: Die Hotelbesitzer waren in den Situationen wirklich nicht-rassistisch und sie verstellten sich
nicht bloß irgendwelcher Vorteile wegen. Nicht zu Unrecht empört sich daher
Friedrich H. Tenbruck in seiner fulminanten Kritik an Ralf Dahrendorfs
„deutscher Rezeption der Rollentheorie“:
„Wenn Sanktionen das Rollenhandeln zuletzt erklären, so setzt das voraus, daß die Rolle dem
Träger in Konkurrenz mit anderen potentiellen Verhaltensweisen und Handlungszielen gegeben ist. Der Rollenträger erscheint als ein zwischen Alternativen Wählender. Die Rolle ist für
ihn in diesem Sinn disponibel, obschon er sich in Berücksichtigung der Folgen für die
zugemutete Rolle entscheiden wird. Diese Entscheidung ist sein Verzicht auf ein anderes
Verhalten.“
Donnernd fährt Tenbruck fort:
„Mit dieser indirekten Festlegung des menschlichen Handelns auf eine bestimmte psychologische Ebene ist nun eine anthropologische Verengung ungeheueren Ausmaßes in den soziologischen Ansatz eingeführt worden. Von den reichen Möglichkeiten menschlichen Handelns, wie sie uns naiv aus der eigenen Erfahrung und doch geradezu erdrückend auch aus
der Kulturanthropologie und Soziologie bekannt sind, bleibt hier einzig ein rationales Wahlhandeln übrig, das allenfalls unterschiedliche Grade der Bewußtheit annehmen kann. Die Gesellschaft wird zu einer Zwangsanstalt, in der Menschen disponible Rollen auf Grund von
mehr oder weniger expliziten Überlegungen und Wahlvorgängen übernehmen, weil die Weigerung mit verschiedenen Formen von Sanktionen bedroht wird.“8
Wichtig ist für Tenbruck insbesondere der Verweis auf die meist überaus große Identifikation und das oft erstaunliche Engagement, mit dem Menschen in
der Regel ihre Rollen übernehmen. Dies ergebe sich gerade daraus, daß das
7
8
Ralf Dahrendorf, Homo Sociologicus. Ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik
der Kategorie der sozialen Rolle, 14. Aufl., Opladen 1974 (zuerst: 1958), S. 36.
Friedrich A. Tenbruck, Zur deutschen Rezeption der Rollentheorie, in: Kölner Zeitschrift
für Soziologie und Sozialpsychologie, 13, 1961, S. 13. Die Beispiele und die Ausdrücke
in Anführungszeichen in den nächsten fünf Absätzen entstammen Zitaten bei Tenbruck.
84
Situationslogik und Handeln
Handeln und die Wahl der Teilrollen eben nicht disponibel seien. Überdies
gebe es immer beträchtliche Spielräume in den Erwartungen, die gar nicht
ausgedrückt oder kommuniziert werden könnten – wie zum Beispiel an die
Rolle des jugendlichen Liebhabers. Eine Rolle sei außerdem immer in eine
übergreifende und den Akteuren auch so bekannte „Sinnstruktur des Handelns“ eingebettet, die nach einer interessiert-enthusiastischen und eigenaktiven Gestaltung der Rolle – schon aus dem Interesse des Akteurs heraus – geradezu verlangt. Und daher:
„Hier kommt es nur darauf an, daß in der sozialen Rolle notwendig ein Element der Spontaneität steckt; daß die Rolle deshalb dem Träger keineswegs nur oder wesentlich als fremde
Zumutung entgegentritt; daß Sanktionen deshalb nicht generell zum Motor des sozialen Handelns erklärt werden dürfen.“ (Ebd., S. 14; Hervorhebung nicht im Original)
Die objektive Eingrenzung der Wahlmöglichkeit führt also – scheinbar paradoxerweise – gleichzeitig zu einem starken Engagement und zu einer hohen
Spontaneität bei der Ausfüllung der innerhalb der Teilrollen verbleibenden
Freiräume. Viel nachgedacht und reflektiert wird über die Situation dabei aber
– so Tenbruck – nicht. Die Akteure können nämlich wechselseitig davon ausgehen
„ ... daß mit einem gewissen Verhalten als selbstverständlich gerechnet wird. Erst die Störung
dieser normalen Situation führt dazu, daß die Erwartungen reflektiert ins Bewußtsein gehoben und als Zumutungen an den anderen gerichtet werden.“ (Ebd., S. 15)
Überlegung, Reflektion, Rationalität und – so könnte man hinzufügen – besondere Variationen in der subjektiven Definition der Situation treten also erst
dann auf, wenn es Störungen der Normalsituation gibt – wie bei, um wieder
Tenbruck zu zitieren, „unscharfer“, „überhaupt fraglicher“ oder „wenig bestimmter“ Festlegung der Erwartungen. Die Frage ist dann nur: Wie kommt es
zu dieser, im Alltag ganz und gar üblichen, aber doch auch eigenartigunwahrscheinlichen Kombination von subjektiver Definition der Situation,
emotionaler Identifikation, frei-spontaner Nutzung der gegebenen Möglichkeiten, selbstverständlicher Fraglosigkeit und starker, fast schon moralisch zu
nennender, Bindung an die objektiv vorgegebenen Erwartungen ohne größere
Variationen zwischen den Akteuren, die die gleiche soziale Position innehaben?
3.2
Handeln und Nutzenproduktion
Hinter den Belehrungen, die Friedrich H. Tenbruck dem schon damals immer
etwas vorlauten, aber ja auch noch recht jungen, Ralf Dahrendorf nicht ohne
Die Objektivität der Situation
85
Grund erteilte, verbergen sich eine Reihe von weiteren soziologisch besonders
interessanten und wichtigen Fragen.
Etwa: Wie kommt es eigentlich, daß sich die Menschen je nach ihrer gesellschaftlichen Position und unter unterschiedlichen sozialen, kulturellen und historischen Bedingungen für ganz
andere Dinge interessieren und sogar begeistern? Wie kommt es, daß sie ihr Interesse und ihren Enthusiasmus oft schlagartig verlieren, auf andere, manchmal sogar ganz entgegengesetzte Objekte richten und das, was sie vorher so schätzten, nun scheuen wie der Leibhaftige das
Weihwasser und hinterher gar nicht glauben wollen, was mit ihnen einmal war. Wie kommt
es, daß den Enthusiasmus – oder ggf.: den Haß, den Neid, die Abscheu – meist ganze Gruppen und Kollektive erfaßt, auch ohne daß die Akteure sich besonders abstimmen oder in ihrer
Hysterie gegenseitig anstecken müßten? Wie kommt es, daß es dabei kaum Varianzen in der
subjektiven Definition der Situation gibt, und daß auch die Änderungen im Interesse und im
Enthusiasmus wieder für ganze Gruppen in oft beeindruckender Gleichförmigkeit zu beobachten sind? Kurz: Wie kommt es, daß die Menschen ihre subjektiven Vorlieben derart
rasch und kollektiv gleichförmig ändern und dabei in keiner Weise lange sozialisiert werden
oder erst mühselig internalisieren müssen, was sie so brennend interessiert, von ganzem Herzen begeistert oder dann auch wieder kaltläßt oder gar abstößt?
Die soziologische Rollentheorie hat diese Fragen nie so recht klären können –
im übrigen auch Friedrich H. Tenbruck mit seinem Lamento über Ralf Dahrendorf nicht – und die ökonomische Theorie des rationalen Handelns schon
gar nicht. Das lag vor allem daran, daß die Rollentheorie zwar einen wichtigen Sachverhalt treffend beschreibt, aber den Mechanismus und die Gesetzmäßigkeiten nicht angibt, über die es zu den subjektiven Festlegungen der Akteure auf die objektiven Vorgaben kommt. Hier hilft die ökonomische Theorie
des rationalen Handelns auch nicht weiter, wie Tenbruck richtig feststellt: Sie
kennt keine Festlegungen, keine Gefühle, keine Identifikation und keine Moral.
Eine einfache Lösung des Problems bietet jedoch das Konzept der sozialen
Produktionsfunktion.9 Es ist der Schlüssel für das Verständnis der eigenarti-
9
Die folgende Ausarbeitung orientiert sich an der Entwicklung des Konzepts der sozialen
Produktionsfunktion, die Siegwart Lindenberg in einer Reihe von Arbeiten vorgelegt und
verfeinert hat. Vgl. u.a. Siegwart Lindenberg, Normen und die Allokation sozialer Wertschätzung, in: Horst Todt (Hrsg.), Normengeleitetes Verhalten in den Sozialwissenschaften, Berlin 1984, S. 169-191; Siegwart Lindenberg, Social Production Functions, Deficits,
and Social Revolutions. Prerevolutionary France and Russia, in: Rationality and Society,
1, 1989, S. 51-77; Siegwart Lindenberg, Rationalität und Kultur. Die verhaltenstheoretische Basis des Einflusses von Kultur auf Transaktionen, in: Hans Haferkamp (Hrsg.), Sozialstruktur und Kultur, Frankfurt/M. 1990, S. 249-287; Siegwart Lindenberg, Social Approval, Fertility and Female Labour Market, in: Jacques J. Siegers, Jenny de JongGierveld und Evert van Imhoff (Hrsg.), Female Labour Market Behaviour and Fertility. A
Rational-Choice Approach, Berlin u.a. 1991b, S. 32-58; Siegwart Lindenberg, Cohorts,
Social Production Functions and the Problem of Self Command, in: Henk A. Becker
(Hrsg.), Dynamics of Cohort and Generations Research, Amsterdam 1992, S. 283-308;
86
Situationslogik und Handeln
gen Objektivität sozialer Situationen auch angesichts der Gültigkeit des Thomas-Theorems und der Vorstellung vom subjektiven Sinn allen Handelns.
Und es macht auch verständlich, warum die Menschen Rollen nicht nur distanziert oder durch Sanktionen gezwungen „spielen“ und den Situationen
meist eben nicht kühl-kalkulierend gegenüberstehen, sondern sich für ihre
Aufgaben meist sehr interessieren und sich oft mit großem Engagement dafür
einsetzen – und dabei in keiner Weise bloß blind den normativen Vorgaben
der Situation oder allein einer verinnerlichten Moral folgen.
Die Grundidee: Handeln als Nutzenproduktion
Die Grundidee für das Konzept der sozialen Produktionsfunktion ist bestechend einfach: Das Handeln der Menschen besteht letztendlich in nichts anderem als in dem Versuch der Sicherung der Ressourcen, Güter, Ereignisse und
Leistungen, die für die Gestaltung des Alltags erforderlich sind. Handeln ist
also kein bloßer „Konsum“, sondern eine besondere Form der Produktion eines besonderen Gutes: die – mehr oder weniger gelingende – Reproduktion
des Organismus, die der Organismus in verschiedenen Graden der Zuträglichkeit erlebt. Diese Variable – die erlebte Zuträglichkeit der Reproduktion des
Organismus – soll ganz allgemein als Nutzen bezeichnet werden. Handeln ist
demnach im Prinzip zunächst nichts weiter als die Produktion von Nutzen.10
Wie bei jeder Produktion sind auch bei der Produktion des Nutzens bestimmte objektive Bedingungen zu beachten, die nicht einfach durch Beschluß
oder durch eine beliebige subjektive Definition der Produktionsbedingungen
außer Kraft gesetzt werden können. Im Gegenteil: Je wichtiger ihre Befolgung
für die tatsächliche Nutzenproduktion ist, um so bedeutsamer wird es für den
Akteur, daß er ihnen auch in seinen subjektiven Sichtweisen folgt.
10
Siegwart Lindenberg und Bruno S. Frey, Alternatives, Frames, and Relative Prices: A
Broader View of Rational Choice Theory, in: Acta Sociologica, 36, 1993, S. 195ff.
Diese Sichtweise wird – wie so manch anderer gute, aber lange verschüttete, jetzt wieder
auftauchende Gedanke – Adam Smith zugeschrieben. In neuerer Zeit haben insbesondere
der Konsumtheoretiker Kelvin J. Lancaster und der Nobelpreisträger für Ökonomie des
Jahres 1992 Gary S. Becker diesen Ansatz vertreten und weiterentwickelt; Kelvin J. Lancaster, A New Approach to Consumer Theory, in: The Journal of Political Economy, 74,
1966, S. 132-157; Gary S. Becker, A Theory of the Allocation of Time, in: The Economic
Journal, 75, 1965, S. 493-517.
Die Objektivität der Situation
87
Produktionsfunktionen
Die technischen und vor allem die gesellschaftlichen Bedingungen der Nutzenproduktion können als Funktion beschrieben werden: in den sog. sozialen
Produktionsfunktionen. Die Grundlage dafür ist das Konzept der Produktionsfunktion allgemein. Es stammt aus der ökonomischen Produktionstheorie, mit
der das Verhalten von Unternehmern bei der Produktion von Gütern und
Dienstleistungen erklärt wird, die sie verkaufen möchten, um sich mit dem
Entgelt auch ihre privaten Wünsche erfüllen zu können.11 In der Produktionstheorie geht es um die Frage, wie ein Unternehmer es am besten anstellt, ein
bestimmtes Produkt, etwa Automobile, mit gegebenen Mitteln, wie Arbeitskraft, Maschinen, Energie, Organisation des Betriebs, möglichst kostengünstig und ertragreich herzustellen. Produziert wird der Ertrag Y. Er wird auch
output genannt. Die Mittel zur Herstellung des Produktes werden als Produktionsfaktoren X bezeichnet. Die jeweils eingesetzte Menge an Produktionsfaktoren ist der sog. input. Die Beziehung zwischen der Menge an eingesetztem
input und der Menge des damit erzeugten output wird allgemein über eine
Produktionsfunktion Y = f(X) beschrieben: Eine bestimmte Menge x an input
des Produktionsfaktors X erzeugt nach Maßgabe der Produktionsfunktion Y =
f(X) eine bestimmte Menge y des outputs des Gutes Y.
Produktionsfunktionen können in ihren Eigenschaften sehr unterschiedlich
sein.
Drei Eigenschaften sind empirisch besonders häufig zu beobachten. Die Beziehung zwischen
dem input an Produktionsfaktoren und dem Ertrag ist – erstens – oft monoton steigend: Je
mehr an input eingesetzt wird, um so höher ist der Ertrag. Meist gilt dabei – zweitens – das
sog. Gesetz vom abnehmenden Grenzertrag: Je mehr an Produktionsfaktoren eingesetzt wird,
um so geringer ist der Zuwachs an Ertrag pro eingesetzter Einheit des jeweiligen Produktionsfaktors. Dies führt zu einer stetig abnehmenden Steigung der Produktionsfunktion. Eine
dritte Eigenschaft ist besonders wichtig: die in der Produktionsfunktion beschriebene Produktivität bzw. Effizienz des Produktionsfaktors. Damit ist das Verhältnis zwischen dem eingesetzten input und dem produzierten output gemeint: Je mehr an output sich mit der gleichen
Menge an input erzeugen läßt, desto höher sind die Produktivität bzw. die Effizienz des Faktors. Die Effizienz eines Produktionsfaktors zur Erzeugung eines Ertrages entspricht der Effizienz, von der in Kapitel 1 als Beziehung zwischen Mittel und Zielen die Rede war: Die eingesetzten Produktionsfaktoren sind das Mittel, der Ertrag das Ziel der Produktion. Und je
nach Effizienz sind manche Mittel wirksamer als andere, um das Ziel der Erzeugung eines
bestimmten Ertrages zu erreichen.
11
Für eine Darstellung der Einzelheiten der ökonomischen Produktionstheorie vgl. etwa
Edwin v. Böventer, Einführung in die Mikroökonomie, 4. Aufl., München und Wien
1986, Kapitel 2 und 3; oder Kelvin Lancaster, Moderne Mikroökonomie, 3. Aufl., Frankfurt/M. und New York 1987, Kapitel 7.
88
Situationslogik und Handeln
Die geschilderten Eigenschaften sind in Abbildung 3.1 für den einfachsten
denkbaren Fall – ein Produkt Y und ein Produktionsfaktor X – dargestellt.
Eingezeichnet sind zwei verschiedene Produktionsfunktionen: Y = f(X) und
Y’= g(X). Auf der senkrechten Achse ist der output eines Produktes Y, auf
der waagerechten Achse der input eines Produktionsfaktors X abgetragen.
Y
y' = g(X)
y'max
y'
ymax
y = f(X)
y
x
x max
X
Abb. 3.1: Monoton steigende Produktionsfunktionen mit abnehmendem
Grenzertrag und unterschiedlicher Effizienz der Produktion
Die Funktion ist in beiden Fällen monoton steigend: Der Ertrag von Y wird
mit steigendem Einsatz von X niemals kleiner. Das Gesetz des abnehmenden
Grenzertrages ist durch die jeweils flacher werdende Steigung berücksichtigt.
Die beiden Produktionsfunktionen Y=f(X) und Y’=g(X) kennzeichnen die
dritte Eigenschaft – die Unterschiede in der Effizienz. Dies wird durch den
unterschiedlichen Verlauf deutlich: Die gleiche Menge x an input von X erzeugt bei Y=g(X) mehr des Produktes Y als der gleiche Einsatz x von X bei
Y’=f(X): y’ gegenüber y. Die beiden Produktionsfunktionen spiegeln damit
unterschiedlich wirksame „Technologien“ der Erzeugung von Y mit Hilfe des
Einsatzes von X wider. Ein Produzent wäre also gut beraten, die Technologie
g zu wählen, weil er mehr von Y erzeugt als bei Einsatz der Technologie f –
bei gleichem Aufwand und ohne irgendetwas einzubüßen.
Die Objektivität der Situation
89
Budget und Preise
Wie hoch bei einer gegebenen Produktionsfunktion der erzeugte Ertrag an Y
tatsächlich ist, hängt davon ab, wieviel von dem Produktionsfaktor X eingesetzt wird. Die maximale Menge dieses Einsatzes und die maximal mögliche
Menge an output hängen jeweils wiederum von zwei Faktoren ab: erstens
vom Budget, das der Produzent für die Gewinnung von X einsetzen kann und
zweitens vom Preis, den er für eine Einheit von X bezahlen muß.
Das Budget ist das Einkommen bzw. das vorhandene Kapital des Unternehmers, das er für
den Erwerb des Faktors X einsetzen kann. Der Preis ist die Menge des Budgets, das der Unternehmer für jede Einheit dieses Faktors hergeben muß: Lohn für den Faktor Arbeit, Kreditzinsen für den Faktor Maschinen, Pacht für den Faktor Ackerland – beispielsweise. Für den
Erwerb der Produktionsfaktoren gibt es Märkte, die sog. Faktormärkte, auf denen sich Preise
für die Produktionsfaktoren herausbilden und ggf. ändern: Arbeitsmärkte, Märkte für Investitionsgüter, Bodenmärkte etwa (vgl. dazu noch Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“,
dieser „Speziellen Grundlagen“).
Das Budget ist der Teil der Produktionsbedingungen, die der Produzent unter
Kontrolle hat und über dessen Verwendung der Produzent verfügen kann. Alle Kapitalien außerhalb des Budgets gehören, wie auch die Preise für die Produktionsfaktoren, dagegen zu den äußeren Bedingungen in der Situation, die
er nicht unter Kontrolle hat und an denen er sich orientieren muß, wenn er ein
bestimmtes Produkt herstellen will und dafür Produktionsfaktoren einsetzen
möchte. Die Kontrolle über ein bestimmtes Budget hat der Produzent – wenn
er kein glücklicher Erbe ist – durch gewisse Leistungen vorher erwerben müssen. Insofern unterliegt schon der Erwerb von Einkommen bzw. die Ansammlung von Kapital ebenfalls objektiven äußeren Bedingungen. Die äußeren Bedingungen zur Gewinnung eines Budgets und die aktuellen Preise auf den
Märkten der Produktionsfaktoren bilden damit den objektiven, nicht überschreitbaren Rahmen der Möglichkeiten für die produktive Tätigkeit eines
Unternehmers.
Die maximal mögliche Menge des Einsatzes eines Produktionsfaktors
steigt – bei gegebenen Preisen – mit dem Ausmaß an Kontrolle über ein bestimmtes Budget. Im einfachsten Fall – ein zu produzierendes Gut Y, ein Produktionsfaktor X – würde ein vernünftiger Produzent sein gesamtes verfügbares Budget zum Einsatz des Faktors X und darüber zur Produktion von Y einsetzen – sofern er damit nichts Besseres vorhat. Die maximal mögliche Menge
an input von X ist in Abbildung 3.1 mit xmax bezeichnet. Die Produktionsfunktionen g und f beschreiben, wieviel Ertrag damit maximal zu erreichen ist: y
max bzw. y’max.
90
Situationslogik und Handeln
Die Erweiterung der Produktion
Will ein Produzent mehr produzieren, dann hat er – wieder bei gegebenen
Preisen – im Prinzip zwei Möglichkeiten. Er kann erstens versuchen, sein
Budget auszuweiten und so die Menge von xmax zu erhöhen. Er könnte aber
auch zweitens daran gehen, eine bessere Technologie zu finden und so die Effizienz der Produktionsfaktoren zu erhöhen, die er bereits kontrolliert. Bei einer so veränderten Produktionsfunktion läßt sich die Produktion ausweiten,
ohne daß sich an seinem Budget etwas ändern müßte – so wie das an dem Unterschied zwischen den beiden Produktionsfunktionen f und g und den jeweils
maximalen output-Mengen ymax und y’max bei gleichem xmax in Abbildung 3.1
zu sehen ist.
Technischer Fortschritt und Innovation
Eine Erhöhung der Produktion ist also durch eine Erweiterung der Kontrolle
über bestimmte Ressourcen bei gegebener Technologie möglich – oder aber
durch die Verbesserung der Effizienz bei gegebener Kontrolle. Effizienzverbesserungen für die Produktion von physischen Gütern werden als technischer
Fortschritt bezeichnet. Innovationen können ganz allgemein so verstanden
werden: als Verbesserungen der Effizienz für die Erzeugung von Ressourcen,
Gütern, Ereignissen und Leistungen aller Art.
Solche Innovationen können sich natürlich auch auf soziale Produktionsfunktionen und auf
soziale und institutionelle Erfindungen richten (siehe dazu gleich unten Abschnitt 3.3.) – wie
etwa die Erfindung der Verkehrsampel zur effizienteren Abstimmung von Verkehrsflüssen,
oder die Einrichtung der Demokratie als geeigneterer politischer Entscheidungsmechanismus
in arbeitsteilig verflochtenen Gesellschaften, als das etwa die absolute Monarchie dafür ist.
Meist ist es erheblich leichter, die Kontrolle über die Produktionsfaktoren
auszuweiten, als die Effizienz der Produktionsfunktion insgesamt zu verbessern. Die Effizienz von Produktionsfunktionen bzw. der technische Fortschritt
müssen – wie im übrigen auch die Preise – meist als unverrückbares Datum
hingenommen werden. Wenn sich aber die Chance bietet, eine effizientere
Produktionsfunktion zu finden, dann wäre der Wechsel auf die bessere Technologie allemal ratsamer als das immer etwas mühselige und kleckerweise
Erweitern des Budgets: Dann verbessert sich – bei gleichem Einsatz – die
Produktion ja schlagartig, während bei konstanter Technologie nicht zuletzt
das Gesetz des abnehmenden Grenzertrages den Mehreinsatz an Faktoren zunehmend uninteressanter macht.
Die Objektivität der Situation
91
Wohl genau deshalb sind alle Verbesserungen der Effizienz von Produktionsfunktionen letztlich so unwiderstehlich: Das, was die Menschen interessiert, können sie dann ohne Mehraufwand leichter bekommen, ohne daß im
Vergleich zu vorher jemand etwas abgeben müßte. Die Evolution des Lebens
ist nicht zuletzt über diesen Mechanismus der Verbesserung der Effizienz der
Reproduktion des Lebens abgelaufen. Es ist eine Art der Emanzipation von
den Knappheiten der Natur und von der steten Gefährdung der Reproduktion
gewesen. Aus dem gleichen Grund sträuben sich die Menschen – wie alle lebenden Organismen – gegen eine Verschlechterung der einmal erreichten
Produktionsbedingungen deutlich stärker, leidenschaftlicher und mit allen Fasern ihres Herzens als gegen eine bloße Verminderung ihres Budgets: Wenn
es um den Verlust der in den Produktionsfunktionen beschriebenen einmal
gewonnenen Lebensgrundlage geht, dann droht ja wiederum schlagartig eine
Verschlechterung der (Nutzen-)Produktion. Wenn es um mehr oder weniger
Lohn oder Subvention geht, ist das eine vergleichsweise erträglichere Sache,
als wenn es um den Bergbau oder die Landwirtschaft insgesamt geht. Dann
stehen eben nicht mehr bloß etwas mehr oder etwas weniger an output durch
die Tätigkeit als Bergmann oder Landwirt auf dem Spiel, sondern die Effizienz des ganzen und des einzigen Kapitals, das ein Bergmann oder Landwirt
hat und zum Erwerb seines Lebensunterhaltes einsetzen kann.
Mord und Krieg, Haß und Begeisterung, Panik und Revolten gibt es vor allem dann, wenn es um die Effizienz und um die (sozialen) Produktionsfunktionen insgesamt geht – und nicht so sehr beim Kampf um die Menge der Produktionsfaktoren. Die Leidenschaften, die die Menschen – wie alle Lebewesen wiederum – dabei entwickeln, haben also durchaus einen guten und verständlichen Grund.
3.3
Soziale Produktionsfunktionen
Der letzte Bezugspunkt aller Aktivitäten lebender Organismen ist ihre beständige Reproduktion. Auch das Handeln der Menschen ist letztlich durch nichts
anderes motiviert. Von den allgemeinen internen Funktionsbedingungen des
Organismus bis hin zum sinnhaften Handeln in gesellschaftlich spezifisch definierten Situationen ist es aber ein verschlungener Weg. Schon im einfachsten Fall ist es eine Kette von drei verschiedenen Arten der Produktion und von
drei unterschiedlichen Produktionsfunktionen. Wir gehen sie, wie üblich,
schrittweise durch.
92
Situationslogik und Handeln
3.3.1 Die erste Produktionsfunktion:
Die innere Produktion des Nutzens
Das erste Glied in der Kette der Nutzenproduktion bezieht sich auf einen Vorgang im Innern des Organismus: die Erzeugung jenes Erlebnisses eines Gefühls der Zuträglichkeit, um dessen Maximierung, so sei angenommen, es im
Grundsatz allen Menschen, wie allen lebenden Organismen, geht.
Nutzen
Das Erlebnis des zuträglichen inneren Funktionierens des Organismus durch
den Organismus selbst sei als Nutzen bezeichnet. Der Nutzen ist das oberste
Gut, um das es den Menschen letztlich und ganz allgemein geht. Etwas anderes ist gar nicht denkbar: „Leben“ besteht aus dem Funktionieren der Organismen – egal freilich zunächst, worauf speziell dieses Funktionieren beruht.
Bedürfnisse
Die Herstellung des Erlebnisses der Nutzenerzeugung ist von der Erfüllung
der Funktionserfordernisse des Organismus abhängig – und daher allein durch
Beschluß kaum und nur begrenzt durch Phantasien herstellbar. Diese Funktionserfordernisse der Nutzenproduktion sollen als Bedürfnisse bezeichnet werden. Die Bedienung der Bedürfnisse ist dann das Mittel, das zur Erzeugung
des Nutzens führt. Wenn man das so ausdrücken will: Der Grad der Befriedigung der Bedürfnisse ist der input mit der Erzeugung des Nutzens als output.
Zwei allgemeine Bedürfnisse:
Soziale Wertschätzung und physisches Wohlbefinden
Bedürfnisse und der Drang nach ihrer Erfüllung sind ebenfalls allgemeine
Merkmale aller lebenden Organismen. Für menschliche Organismen lassen
sich – ganz allgemein – im Prinzip zwei grundlegende allgemeine Bedürfnisse
benennen, von deren Bedienung die Nutzenproduktion abhängig ist: die Gewinnung von sozialer Wertschätzung und die Sicherung des physischen Wohlbefindens. Sie sind die allgemeinen Bedingungen für die Reproduktion
menschlicher Organismen. Von ihrem „Einsatz“ hängt es ab, ob und in welchem Maße das Gefühl der Zuträglichkeit entsteht.
Die Objektivität der Situation
93
Es ist immer ein etwas waghalsiges Unterfangen, solche Listen von Bedürfnissen anzugeben.
Lang ist die Reihe der Vorschläge, das eine und letzte Grundmotiv des menschlichen Daseins
zu benennen: Machttrieb, Geltungsstreben, das Geld und die Liebe, die Sexualität und deren
Verdrängung, die Furcht vor oder die Sehnsucht nach dem Tode zum Beispiel. Leicht gerät
man auch an sehr lange Aufzählungen mit allen möglichen und den absonderlichsten Vorlieben für die verschiedensten Situationen. Aussichtslos wäre das Unterfangen, die Debatten um
diese Listen mit einem neuen Postulat beenden zu wollen. Hier ist nur eine Frage wichtig:
Von welchen inneren Bedingungen hängt die Produktion des Nutzens ab? Zwei Kriterien
müssen erfüllt sein: Es muß sich um allgemeine Bedingungen des Funktionierens menschlicher Organismen handeln. Und sie müssen für das Funktionieren des menschlichen Organismus notwendig, in der Aufzählung dann aber auch hinreichend sein. Kurz: Die Liste muß
vollständig, soll aber auch möglichst kurz sein.
Vor dem Kriterium der Allgemeinheit scheiden schon einmal die allermeisten
der zahllosen empirisch vorfindbaren Vorlieben und Präferenzen der Menschen aus: Selbstverwirklichung ist – nach allem was man weiß – beispielsweise den Mitgliedern einfacher Stammesgesellschaften als Bedürfnis unbekannt. Das Streben nach Macht und Geld ist von sehr speziellen gesellschaftlichen Bedingungen abhängig und alles andere als ein „allgemeines“ Bedürfnis. Und eine Vorliebe für Schalke 04 oder für einen Nordseeurlaub haben
bekanntlich auch keineswegs alle Menschen; es sind – mehr oder weniger –
soziologisch belanglose individuelle Ideosynkrasien oder Besonderheiten, die
in speziellen gesellschaftlichen Milieus gepflegt werden.
Der Beweis kann auch hier nicht erbracht werden, aber die Hypothese sei
erlaubt: Die Inspektion der vielen Motiv- und Bedürfnislisten ergibt immer
wieder, daß es außer den beiden Bedürfnissen nach sozialer Wertschätzung
und nach physischem Wohlbefinden kein weiteres wirklich „allgemeines“
Bedürfnis der menschlichen Organismen gibt. Sind die beiden Bedürfnisse
aber auch hinreichend und notwendig?
Auch das kann angenommen werden. Sie ergeben sich nämlich unmittelbar
aus der conditio humana und aus den biologischen und psycho-sozialen Bedingungen der Reproduktion des menschlichen Organismus. Das Bedürfnis
nach physischem Wohlbefinden leitet sich aus den Bedingungen zur Sicherung der biologischen Reproduktion des menschlichen Organismus ab. Dieses
Bedürfnis teilt der Mensch mit allen anderen Lebewesen. Dazu muß der Akteur, wie alle anderen Lebenwesen, etwas tun: Er muß sich beispielsweise um
seine Gesundheit und um seinen Körper kümmern. Adam Smith (1723-1790)
hat die Erhaltung und die Pflege des Körpers als „objects“ bezeichnet, um die
sich die Menschen von „Natur“ aus zu allererst zu sorgen hätten:
94
Situationslogik und Handeln
„The preservation and healthful state of the body seem to be the objects which Nature first
recommends to the care of every individual.“12
Die Reaktionen seines Körpers auf eine gute oder unzureichende Versorgung
empfindet der Mensch als Vergnügen oder als Pein, je nachdem:
„The appetites of hunger and thirst, the agreeable or disagreeable sensations of pleasure and
pain, of heat and cold, etc. may be considered as lessons delivered by the voice of Nature herself, directing him what he ought to chuse, and what he ought to avoid, for this purpose.“
(Ebd.; Hervorhebung nicht im Original)
Pleasure und die Vermeidung von pain sind nur andere Ausdrücke für das Gefühl der Zuträglichkeit, das wir oben als das oberste Gut des Nutzens bezeichnet haben. Die damit verbundenen sensations – wie Hunger und Durst – dienen dem Organismus als von der Natur geschenkte Anhaltspunkte dafür, daß
jetzt etwas geschehen muß. Kurz: Das physische Wohlbefinden ist ein „natürliches“ Bedürfnis. Und der Mensch muß für die objects sorgen, daß es je nach
den sensations, die er verspürt, alsbald erfüllt wird. Darüber ist wohl nicht viel
weiter zu sagen: Ohne eine funktionierende physische Reproduktion gibt es
das Gefühl der Zuträglichkeit nicht. Das gilt für alle lebenden Organismen,
und deshalb „natürlich“ auch für den Menschen. Und von den Spezialproblemen, etwa der Drogensucht, wollen wir in diesem allgemeinen Zusammenhang bewußt nicht weiter sprechen.
Auch das Bedürfnis nach sozialer Wertschätzung ist ein allgemeines: Der
Mensch lebt nicht vom Brot allein. In seiner Schärfe gerade für den homo sapiens entsteht es aus einer speziellen anthropologischen Besonderheit: Aus
der Weltoffenheit des Menschen. Alle Menschen bedürfen dringend und ununterbrochen der Gewinnung von sozial vermittelter Handlungssicherheit, weil
es eine genetische Steuerung seines Handelns und seiner Orientierungen in
ausreichendem Maße nicht gibt.13
Eigentlich ist es aber noch ein anderes Bedürfnis, das hinter dem Streben nach sozialer Wertschätzung steht: das Bedürfnis zum Erhalt eines positiven Selbstbildes. Die Soziologie ist –
sofern sie sich auf menschliche Akteure explizit bezieht – voll von Hinweisen darauf. Und
auch in den älteren wie den neueren Lehrbüchern der Sozialpsychologie wird immer wieder
versichert, daß es den Menschen, sobald sie nur das nackte Existenzminimum gesichert ha12
13
Adam Smith, The Theory of Moral Sentiments, Oxford 1976 (zuerst: 1759), S. 212;
Hervorhebungen nicht im Original.
Immer noch ist zum Beleg für diese Gegebenheit ein Blick in die soziologische Anthropologie von großem Nutzen. Vgl. dazu insbesondere die Arbeiten von Arnold Gehlen und –
daran anschließend – von Dieter Claessens. Arnold Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und
seine Stellung in der Welt, 5. Aufl., Bonn 1955 (zuerst: 1940); Dieter Claessens, Das
Konkrete und das Abstrakte. Soziologische Skizzen zur Anthropologie, Frankfurt/M.
1980.
Die Objektivität der Situation
95
ben, um ihren Selbstwert, um ihr Prestige, um ihr Ansehen in den Augen der anderen geht
(vgl. dazu noch Abschnitt 4.1 im folgenden Kapitel 4). Die soziale Wertschätzung ist das effektivste Mittel zur Gewinnung und Sicherung eines positiven Selbstbildes. Nur in sehr engen
Grenzen kann das Bedürfnis nach einem positiven Selbstbild nämlich in Eigenleistung erfüllt
werden, etwa durch Omnipotenzphantasien. Surrogate wie Orden oder Titel oder über die Orientierung an eine verehrte Macht sind nur Behelfe. Nichts kann die persönliche Verehrung
und die persönliche Umsorgung ersetzen (vgl. dazu auch noch den Exkurs über die Ehre im
Anschluß an dieses Kapitel). Und deshalb läßt sich das Bedürfnis nach einem positiven
Selbstbild und das nach unmittelbar dargebrachter sozialer Wertschätzung in unserem ohnehin sehr vereinfachenden Modell gleichsetzen.
Adam Smith war es ebenfalls, der auf die Bedeutung der sozialen Wertschätzung als allgemeine Antriebskraft für das Handeln der Menschen hingewiesen
hat. Das Bedürfnis nach sozialer Anerkennung ist für ihn der Motor für die
Entstehung der moralischen Gefühle, ohne die – wie man heute weiß – eine
soziale Ordnung unter den Menschen nur schwer vorstellbar ist. Adam Smith
nahm an, daß der Mensch auch dieses Bedürfnis von „Natur“ aus hat, es nicht
erst mühsam erlernen muß und auf soziale Anerkennung auch ganz unabhängig von irgendwelchen äußeren Folgen aus ist:
„Nature, when she formed man for society, endowed him with an original desire to please,
and an original aversion to offend his brethren. She taught him to feel pleasure in their favourable, and pain in their unfavourable regard. She rendered their approbation most flattering
and most agreeable to him for its own sake; and their disapprobation most mortifying and
most offensive.“ (Smith 1976, S. 116; Hervorhebungen nicht im Original)
Zusammengefaßt: Soziale Wertschätzung und physisches Wohlbefinden bezeichnen zwei allgemeine Funktionsbedingungen des menschlichen Organismus als psycho-biologisches System. Beide Bedürfnisse müssen ununterbrochen und fortwährend erfüllt werden. Daher treten sie als zu lösendes Problem
immer wieder neu auf: Das sinngebende und orientierende Gefühl der Handlungssicherheit verfällt rasch, wenn die soziale Wertschätzung ausbleibt –
auch dann, wenn es sie zuvor im Übermaß gegeben hat. Und die biologischen
Mechanismen der Reproduktion des Organismus sorgen zuverlässig dafür,
daß für die physiologische Seite des Nutzens immer wieder neu gesorgt werden muß.
Der Verlauf der Funktion
Im Innern des Organismus wird Nutzen durch die Bedienung der Bedürfnisse
nach physischem Wohlbefinden und sozialer Wertschätzung erzeugt. Die Produktionsfunktion für den Nutzen ist deshalb eine Nutzenfunktion. Sie ist in ihrem Verlauf – so lautet die oben begründete Annahme – im Prinzip für alle
96
Situationslogik und Handeln
Menschen gleich. Wie sie genau aussieht, weiß niemand. Aber es ist wohl
plausibel, für alle menschlichen Organismen die gleiche Effizienz und damit
eine einheitliche Produktionsfunktion anzunehmen. Eventuelle individuelle
Abweichungen wären nur zufällige Variationen um diesen allgemeinen Verlauf – und daher soziologisch verhältnismäßig bedeutungslos.
Plausibel und vielfach empirisch bestätigt ist weiterhin, einen abnehmenden Grenzertrag anzunehmen. Es ist das sog. Gesetz der Sättigung: Je mehr
ein Bedürfnis schon erfüllt ist, um so weniger an Nutzen erzeugt jede weitere
Einheit der Bedürfnisbefriedigung.
Drittens müßte auch ein negativer Bereich der Bedürfnisbefriedigung und
der Nutzenproduktion vorgesehen werden: Es gibt auch Entbehrungen bei den
beiden Bedürfnissen nach sozialer Wertschätzung und physischem Wohlbefinden: soziale Mißachtung und physisches Mißbehagen. Und das erzeugt entsprechend einen „negativen“ Nutzen – disutility oder Schaden. Es geht eben
um pleasure and pain. Für den negativen Bereich der Nutzenproduktion sollen
entsprechend die gleichen Annahmen gelten: eine Produktionsfunktion für alle Exemplare des homo sapiens und ein abnehmender Grenzschaden.
Keine weiteren Annahmen wollen wir über das Zusammenspiel der beiden Grundbedürfnisse
bei der Nutzenproduktion machen. Darüber ist – bisher – nicht genügend bekannt; es ist aber
für die Idee der sozialen Produktionsfunktionen auch nicht sonderlich wichtig. Es gibt zwar
einige Hinweise darauf, daß die Erfüllung beider Bedürfnisse möglichst simultan erfolgen
müsse: Gesundheit ist gewiß nicht alles, aber alles ist nichts ohne Gesundheit. Und ein Mangel an sozialer Wertschätzung und ein negatives Selbstbild sind – wie man mittlerweile auch
in Medizinerkreisen weiß – dem physischen Wohlbefinden sehr abträglich. Die These, daß
die Bedürfnisse, die gerade nicht befriedigt sind, sich in den aktuellen Wünschen der Menschen nach vorne drängen und alle anderen Wünsche solange dominieren, bis dieser Mangel
beseitigt ist, wurde u.a von Abraham H. Maslow in einer sehr einflußreich gewordenen Theorie über die menschlichen Bedürfnisse formuliert.14 Hinreichend geklärt sind diese Dinge bisher leider nicht.
Mit diesen Annahmen kann die erste Produktionsfunktion – als Nutzenproduktionsfunktion sozusagen – präzisiert werden. Es geht um die Erzeugung
von möglichst viel des obersten Gutes: Nutzen. Dazu dient die Befriedigung
der beiden grundlegenden und allgemeinen Bedürfnisse des menschlichen Organismus: denen nach sozialer Wertschätzung und nach physischem Wohlbefinden. Der Nutzen sei mit U, der Grad der Versorgung mit sozialer Wertschätzung mit SW und der mit physischem Wohlbefinden mit PW bezeichnet.
Alle diese Variablen haben einen Neutralpunkt und einen positiven wie einen
negativen Bereich. Dann lautet die erste Funktion zur Beschreibung der ob-
14
Abraham H. Maslow, Motivation and Personality, New York, Evanston und London
1954, S. 83ff.; vgl. dazu auch noch Abschnitt 4.1.
97
Die Objektivität der Situation
jektiven Bedingungen der Nutzenerzeugung in einer gegebenen Situation allgemein: U = f(SW,PW). Der angenommene Verlauf ist in Abbildung 3.2 skizziert.
U
+
+
-
SW, PW
-
Abb. 3.2: Die Produktion des Nutzens durch die Bedienung der Bedürfnisse nach sozialer Wertschätzung und nach physischem Wohlbefinden
Über diese erste Produktionsfunktion sind die inneren Funktionsbedingungen
des Organismus beschrieben. Sie gilt, es sei noch einmal wiederholt, für alle
Exemplare des homo sapiens.
3.3.2 Die zweite Produktionsfunktion:
Primäre Zwischengüter und die gesellschaftlich bestimmte
Erfüllung der Bedürfnisse
Soziale Wertschätzung und physisches Wohlbefinden erlangen Menschen nur,
wenn sie über Eigenschaften, Ressourcen, Objekte, Güter oder Leistungen
verfügen, die andere Menschen dazu bringen, ihre Anerkennung auszudrücken, oder die für eine befriedigende biologische Reproduktion wichtig sind.
Darauf hatte Adam Smith schon hingewiesen. Zwar hat er dafür viel Schelte
98
Situationslogik und Handeln
bekommen, weil das die vielen guten Menschen unter uns nicht wahrhaben
wollten. Aber das ändert nichts daran: Wertschätzung und Wohlbefinden erhält man nur für Leistungen und Eigenschaften, die andere für interessant und
anerkennenswert halten und die dem eigenen Körper gut tun. Und alle diese
Eigenschaften, Ressourcen, Objekte, Güter oder Leistungen müssen – meist –
immer erst noch selbst produziert werden.
Soziale Wertschätzung gibt es etwa für körperliche Schönheit, für einen seltenen und ehrenvollen Orden, für einen Beruf mit hohem Prestige oder für 41 Bundesligatore in einer Saison,
manchmal – scheinbar – unmotiviert und kostenfrei wie beim Zaubergeschenk der hingebungsvollen Liebe. Meist steckt aber viel Mühe dahinter. Selbst – oder: gerade! – die Liebe
gibt es nicht bedingungsfrei. Sie richtet sich ja nicht auf jeden, sondern ist durchaus auch an
Eigenschaften geknüpft, die für den/die Liebende(n) wohl doch etwas mit seinen Bedürfnissen zu tun hat. Daß es soziale Wertschätzung nicht bedingungslos gibt, gilt sogar für Babies,
die ja – in aller Regel jedenfalls – wie Babies aussehen müssen – und nicht wie Monster –,
wenn sie geliebt werden sollen. Und das physische Wohlbefinden ist bekanntlich auch nur
begrenzt über Luft und Liebe allein herzustellen: Gegen den Hunger und den Durst müssen
Speisen und Getränke besorgt, und für das Unterkommen eine Wohnung vorhanden sein, von
den vielen anderen – oftmals teuren – Voraussetzungen eines tierisch guten physischen
Wohlbefindens einmal ganz zu schweigen.
Kurz: Für die Erlangung von sozialer Wertschätzung und für das physische
Wohlbefinden ihres Organismus müssen die Menschen meist etwas tun. Was
sie dafür tun müssen, liegt nicht für alle gleich fest, sondern ist stets speziell
begrenzt und geregelt. Und zwar insbesondere in der gesellschaftlichen „Definition“ von Eigenschaften, Ressourcen, Objekten, Gütern, Ereignissen und
Leistungen, die zu sozialer Wertschätzung und physischem Wohlbefinden
führen. Hier ist die Grenze des Organismus erreicht, an der er sich im Interesse der Nutzenproduktion an seiner natürlichen und sozialen Umwelt orientieren muß. Und hier setzen das zweite Element in der Produktionskette und der
gesellschaftlich konstruierte Schritt hin zu den sozialen Produktionsfunktionen ein.
Primäre Zwischengüter
Die dem Organismus externen Produktionsfaktoren, die jeweils geeignet sind,
für physisches Wohlbefinden und für soziale Wertschätzung zu sorgen, seien
allgemein als Zwischengüter bezeichnet. „Zwischen“-Güter heißen sie, weil
sie zwischen den Bedingungen der Situation und dem obersten Gut, um das es
letztlich geht, dem Nutzen, vermitteln. Diejenigen Ressourcen, Objekte, Ereignisse und Leistungen, die unmittelbar und ohne jeden weiteren Umweg für
die Produktion von sozialer Wertschätzung und physischem Wohlbefinden
Die Objektivität der Situation
99
geeignet sind, wollen wir dann als primäre Zwischengüter bezeichnen. Sie
werden mit der Abkürzung Z versehen.
Am Beispiel der Hochschullehrer sind diese intuitiven Ideen leicht nachzuvollziehen: Auf soziale Wertschätzung wird ein Professor, der gar nichts tut, kaum hoffen können. Das physische Wohlbefinden der Professoren wollen wir der Einfachheit halber erst einmal außer Acht
lassen, weil dafür ja die Verbeamtung (hierzulande) oder die tenure (in den USA) in gewisser
Weise sorgen. Ob es physisches Wohlbefinden ganz ohne soziale Wertschätzung geben kann,
darf wohl bezweifelt werden. Aber das holt sich unser fauler Professor wahrscheinlich bei
seiner Geliebten in der Toscana beim gemeinsamen Töpferkurs. Soziale Wertschätzung in
seinen Fachkreisen kann er jedoch sicher nur erlangen, wenn gewisse Leistungen erbracht
werden. Dies sind keine beliebigen Leistungen, sondern genau die, die innerhalb des institutionellen Rahmens des Wissenschaftssystems hoch bewertet werden. Eine gute Lehre und eine exzellente Forschung sind die dort über die Rolle des Hochschullehrers institutionell definierten „primären“ Zwischengüter, die unbedingt benötigt werden, um im Rahmen des Wissenschaftssystems zu Wertschätzung zu kommen: Von einem Professor wird an erster Stelle
erwartet, daß er engagiert lehrt und vorzüglich forscht – und sehr viel weniger, daß er etwa
eine diamantenbehangene Gattin sein eigen nennt. Verfügt ein Hochschullehrer über die entsprechenden primären Zwischengüter – gute Forschungsarbeiten oder die Gabe einer mitreißenden Vorlesung –, dann kann er ohne besonderes eigenes Dazutun das erlangen, was ihn
„eigentlich“ nur interessiert: soziale Wertschätzung. Verfügt er über die primären Zwischengüter nicht, dann fehlt ihm etwas, was er dringend für sein soziales und physisches Leben
braucht. Und er kann tun, was er will: Er erhält die soziale Wertschätzung gerade dann nicht,
wenn er noch so sehr darauf aus ist, aber sich um die Produktion des jeweils wichtigen primären Zwischengutes nicht kümmert. Demnach wird ein Hochschullehrer ein institutionell definiertes und damit sehr spezielles, aber auch nachhaltiges und ganz und gar „objektives“ Interesse an guter Forschung oder an guter Lehre entwickeln. Und daher strebt er auch in aller
Regel danach – und eben nicht etwa nach einem Rekord im Hochsprung.
Nun ist die Bedienung der Bedürfnisse das Produkt, und die primären Zwischengüter sind die Produktionsfaktoren dafür. Für die Produktion von sozialer Wertschätzung SW und physischem Wohlbefinden PW über die primären
Zwischengüter Z gibt es demnach auch eine Produktionsfunktion. Sie lautet
für die beiden Bedürfnisse in Abhängigkeit von Z: SW=g1(Z) und PW=g2(Z).
Diese Produktionsfunktion ist das zweite der drei Glieder in der Kette zwischen dem Nutzen des Organismus und dem Handeln in einer objektiv „definierten“ Situation.
Die „Definition“ der Effizienz
Die wohl wichtigste Besonderheit bei den primären Zwischengütern ist die,
daß sie sich je nach Situation in ihrer Effizienz deutlich unterscheiden. Das
hat damit zu tun, daß nun die Grenze von den allgemeinen Funktionserfordernissen des Organismus zu den immer speziellen Bedingungen der Umwelt des
Organismus überschritten wird. Die Produktion der Bedürfnisbefriedigung ist
100
Situationslogik und Handeln
daher notwendigerweise eine Angelegenheit der speziellen natürlichen, materiellen, vor allem aber der unendlich vielfältigen institutionellen und kulturellen Umstände, unter denen sie stattfindet.
Wir haben diese Variationen in der Effizienz verschiedener primärer Zwischengüter Z in Abbildung 3.3. durch die Produktionsfunktionen a, b und c
gekennzeichnet. Es gehe, der Einfachheit halber, nur um die soziale Wertschätzung SW.
SW
+
SWa
a
SWb
b
z
Z
c
SWc
Abb. 3.3: Primäre Zwischengüter mit unterschiedlicher Effizienz zur
Erzeugung von sozialer Wertschätzung
Wir sehen uns erst die beiden Produktionsfunktionen a und b an. Mit dem
Einsatz der Menge z des primären Zwischengutes Z werden zwei verschiedene Mengen des outputs an sozialer Wertschätzung erzeugt: SWa und SWb. Bei
Geltung der Produktionsfunktion a gibt es für z mehr an Wertschätzung als
bei Geltung der Produktionsfunktion b.
Zwei Konstellationen für die unterschiedliche Effizienz eines primären Zwischengutes können unterschieden werden: unterschiedlich „passende“ primäre Zwischengüter für eine bestimmte Situation und unterschiedlich „passende“ Situationen für ein bestimmtes primäres
Die Objektivität der Situation
101
Zwischengut. Der erste Fall beträfe etwa den Versuch eines Hochschullehrers, soziale Wertschätzung in der weiteren scientific community durch die Konzentration auf die Lehre (b) zu
erlangen. Das ist zwar auch möglich, aber sehr viel schwerer als durch die kosmopolitische
Konzentration auf die Forschung (a). Den zweiten Fall kennt jeder Hochschullehrer, egal ob
Local oder Cosmopolitan, ganz genau: Was in der Universität goutiert und verlangt oder auf
einem Kongreß gar gefeiert wird (a), stößt zu Hause oder im Urlaub auf nur wenig Gegenliebe (b) – das Reden in Fachchinesisch oder die vergeistigte Abwesenheit zum Beispiel.
Das Problem ist stets das gleiche: „Paßt“ die Situation mit dem jeweiligen
primären Zwischengut zusammen oder nicht? Und je nach Passung wird mehr
oder weniger an Bedürfnisbefriedigung erzeugt – und darüber dann ein unterschiedliches Ausmaß an Nutzen.
Der Herr Professor aber, der auch zu Hause zu dozieren beginnt oder im
Urlaub seine Fachliteratur zu lesen versucht, stößt meist nicht nur auf wenig
Verständnis, sondern muß mit etwas ganz anderem rechnen: Mißbilligung und
Ärger. Das zeigt, daß immer auch der negative Bereich der Nutzenproduktion
beachtet werden muß, und daß „falsche“ primäre Zwischengüter durchaus
stark negativ bewertete Folgen erzeugen können: Soziale Mißachtung
und/oder physisches Mißbehagen – mit der Folge der Erzeugung eines negativen Nutzens. Das ist mit der Produktionsfunktion c angezeigt: Bestimmte
primäre Zwischengüter sind in einer bestimmten Situation nicht nur weniger
effizient als andere, sondern – wiederum: mehr oder weniger – verpönt. Und
die Akteure werden, wenn sie nicht gänzlich abgetreten sind, es bald zu vermeiden wissen, immer wieder in das gleiche Fettnäpfchen zu treten.
Soziale Regeln, sozialer Sinn und die „richtige“ subjektive Definition der Situation
Das gleiche primäre Zwischengut erzeugt also unter Umständen entweder
Anerkennung und Behagen oder aber Verachtung, Erstaunen und Ärger – je
nachdem welches primäre Zwischengut, welches Oberziel, welches Leitmotiv
gerade „angesagt“ ist: Bei Begräbnissen muß wirklich getrauert werden, und
es darf am offenen Grab nicht gelacht werden – wohl jedoch beim Leichenkaffee wieder. Und in der Lachenden Sporthalle muß jeder fröhlich sein und
den Narren spielen, und wer es nicht tut, bekommt bald zu spüren, eine wie
ernste Angelegenheit der Kölner Karneval ist. Alles kommt also darauf an,
das Richtige zum richtigen Zeitpunkt zu tun. Was wann „richtig“ ist, bestimmen die sozialen Regeln, die in der jeweiligen Gesellschaft oder Gruppe jeweils gelten. Sie steuern die situationsspezifische Effizienz der sozialen Produktionsfunktionen. Ein Akteur sollte sie gut kennen, vor allem wenn er soziale Wertschätzung und die Mittel für das physische Wohlbefinden erlangen
102
Situationslogik und Handeln
will. Die peinliche Beachtung der sozialen Regeln wird somit eine Angelegenheit, die in seinem eigenen Interesse liegt. Die sozial korrekte Deutung einer Situation – etwa: gilt nun a oder b oder gar c? – und die darauf erfolgende
Befolgung sozialer Regeln werden damit zu dem zentralen Element des sinnhaften und erfolgreichen sozialen Handelns. Es ist das Problem des Findens
des jeweils „richtigen“ sozialen Sinns in einer Situation: die korrekte Anwendung der sozial konstruierten und von den Akteuren für bestimmte Situationen
als „geltend“ angenommenen sozialen Regeln.
Genau das ist das Problem der subjektiven Definition der Situation: Es gibt eine „objektive“,
sozial „gültige“ Definition der Situation über die jeweils „richtigen“ primären Zwischengüter.
Aber manchmal greifen die Menschen einfach daneben – aus Unwissen, Zerstreutheit oder
auch dem Wunsch, daß die Welt anders sein möge. Meist ist es freilich für den Akteur nicht
übermäßig schwer, der sozialen Regel zu folgen und den richtigen sozialen Sinn zu treffen;
das heißt: herauszufinden, in welcher Art von Situation er sich gerade befindet und wie die
Situation jetzt von ihm subjektiv definiert werden müßte. Für die korrekte Identifikation des
gerade „relevanten“ sozialen Sinns, für die richtige subjektive Definition der Situation, sorgen nämlich die signifikanten Symbole in den äußeren Bedingungen der Situation, die meist
ganz verläßlich anzeigen, ob man sich etwa auf einer Beerdigung oder in einer Karnevalssitzung befindet. Und je nachdem sind andere primäre Zwischengüter relevant und jeweils andere Handlungen und Bekundungen angemessen: Tränen der Trauer und ein schwarzer Zylinder hier, eine Pappnase und betrunkenes Schunkeln dort. Manchmal sind aber die Situationen nicht so deutlich markiert. Gelingt es dem Akteur dann nicht, sich „richtig“ zu orientieren, dann handelt er in ganz objektiver Weise „sinnlos“, unverständlich und – nicht zuletzt –
sehr ineffizient oder gar gegen seine eigenen Interessen. Neuankömmlingen und Fremden
geht dies meist so. Sie wissen einfach nicht welche Dinge gerade wirklich „relevant“ und
„primär“ sind. Sie kennen, wie Alfred Schütz gesagt hat, die Relevanzstruktur ihrer neuen sozialen Umgebung noch nicht. Genau deshalb fühlen sie sich oft so verloren. Und allein wegen
der drohenden Ineffizienz oder gar Schädlichkeit ihres Tuns unter Unsicherheit haben Akteure meist ein ganz massives, eigenständiges Interesse daran, sich die „richtige“ Relevanzstruktur alsbald anzueignen.
Der gesamte Alltag besteht im Grunde aus einer ständig mitlaufenden Vergewisserung, daß alles in diesem Sinne seine Ordnung und seinen Sinn hat. Die
sprachliche Konversation ist das wichtigste, wenngleich unmerkliche, Mittel
der Sinnvergewisserung – gerade bei in ihrem sozialen Sinn undeutlich definierten Situationen.
Mentale Modelle und kollektive Repräsentationen
Mit der Definition der primären Zwischengüter ist mehr festgelegt als nur eine
materielle Ressource oder Leistung, um die sich jetzt alles dreht. Es geht
vielmehr um die Festlegung und Abgrenzung typischer Modelle der Situation,
in denen die primären Zwischengüter den Kern bilden. Solche Modelle sind
gedankliche „Prototypen“, die die Akteure miteinander teilen und individuell
Die Objektivität der Situation
103
in ihrem Gedächtnis, in ihren Einstellungen, in ihrer Identität gespeichert haben. Diese mentalen Modelle werden, wenn die Situation „da“ ist, über gewisse „signifikante“ Symbole spontan abgerufen oder – mehr oder weniger mühsam – (re-)identifiziert. Es gibt sie für alle wichtigen Sphären und Bereiche
des Lebens: für den beruflichen und den privaten Alltag, für Begräbnisse und
Trauerfeiern oder für den Karneval zum Beispiel. In der Soziologie werden
solche mentalen Modelle für typische Situationen, wenn sie sozial verbreitet
und institutionalisiert, also: verbindlich geworden sind, auch als kollektive
Repräsentationen bezeichnet. Ihre Gesamtheit macht, so kann man ohne Übertreibung sagen, die Kultur einer Gesellschaft aus.
Code und Programm
Die für die soziale Definition der Situation wirksamen mentalen Modelle der
kollektiven Repräsentationen enthalten zwei grundlegende Elemente: den Code für die Rahmung des „primären“ Sinns der Situation und das Programm
für das darin „primär“ als angemessen oder gar als notwendig angesehene
Handeln. Der Code ist durch die jeweiligen Oberziele der primären Zwischengüter bestimmt, das Programm durch das daran gedanklich, emotional
und institutionell gebundene Handeln, meist in Form ganzer Komplexe von an
dem Oberziel orientierten Handlungssequenzen und sog. sozialer Drehbücher.
Soziale Rollen, etwa, sind Spezialfälle für derartige mentale Modelle der Situation bzw. kollektive Repräsentationen für die soziale Definition einer Situation über einen Code des Sinns und ein Programm des Handelns darin. Aber
sie sind beileibe nicht die einzigen Formen der objektiven sozialen Definition
der Situation (vgl. dazu noch die Bände 5, „Institutionen“, und 6, „Sinn und
Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
„Verfassung“ und „Tiefenstruktur“
Die Grundlage für die Geltung und die Effizienz ganz bestimmter primärer
Zwischengüter und kollektiver Repräsentationen bzw. mentaler Modelle der
Situation sind – ganz allgemein gesehen – die Institutionen der Gesellschaft
und der damit jeweils verbundene kulturelle Bezugsrahmen des Handelns. Ob
Forschung und ein Artikel im American Journal of Sociology soziale Wertschätzung erzeugt oder nicht, hängt von der Einrichtung eines eigenen Bereiches der Wissenschaft – und hier speziell der Soziologie – ab. Andere für andere institutionelle und kulturelle Bereiche bedeutsame primäre Zwischengü-
104
Situationslogik und Handeln
ter wären: Wählerstimmen in der Politik, Geldgewinne in der Wirtschaft, Beifall und gute Kritiken im Theater, Zitationen in der Wissenschaft, Tore in der
Bundesliga, Einschaltquoten im Fernsehen, Mutproben in Jugendgruppen. Innerhalb des jeweiligen Bereiches geht es nur um sie, außerhalb wäre das Bemühen darum fehl am Platze, ineffizient, unnütz oder – meist sogar – schädlich.
Es gibt so viele und so unterschiedliche primäre Zwischengüter, wie es
Möglichkeiten der Institutionalisierung gesellschaftlicher Bereiche gibt. Im
Prinzip also unendlich viele. Die wichtigsten sind um die soziale Differenzierung der Gesellschaft herum organisiert (vgl. dazu noch Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich).
Kurz: Die gesellschaftliche Definition der primären Zwischengüter und der
mentalen Modelle bzw. der kollektiven Repräsenationen folgt der institutionellen Struktur einer Gesellschaft.
Zwei Formen der sozialen Definition der Produktionsfunktion bestimmter
primärer Zwischengüter sind besonders wichtig: Recht und Prestige (vgl. dazu
auch noch Abschnitt 3.4). Über das Recht wird formell festgelegt, welche
Zwischengüter relevant und welche verpönt bzw. verboten sind. Das Prestige
bestimmt informell – über die Verteilung von „Ehre“ und damit nicht weniger
objektiv als das Recht! –, für welche Leistungen und Objekte es soziale Wertschätzung und physisches Wohlbefinden geben kann. Recht und Prestige
strukturieren die grundlegende – formelle wie informelle – „Verfassung“ einer Gesellschaft, indem sie festlegen, worum es dort – allgemein und in den
verschiedenen Unterbereichen – letztlich geht, und welche primären Zwischengüter Wertschätzung, Wohlbefinden und Nutzen erzeugen – und welche
eben nicht.
Mit den Strukturen des Rechts und denen des Prestiges ist die institutionelle und kulturelle Tiefenstruktur einer Gesellschaft – oder eines seiner Untergebilde – festgelegt. Das Handeln der Menschen muß unverständlich bleiben,
wenn man diese Tiefenstruktur, ihre Codes und Programme, die spezifischen
primären Zwischengüter also, nicht kennt: Man würde übersehen, was den
Menschen in einer bestimmten Gesellschaft, in einem bestimmten Teilbereich
oder Milieu oder allgemein in einer bestimmten Situation eigentlich wichtig
ist und wonach sie jeweils ihr Streben richten. Man würde buchstäblich nicht
verstehen, was vor sich geht. Die Analyse der institutionellen und kulturellen
Tiefenstrukturen und relevanten Codes und Programme, die Identifizierung
der primären Zwischengüter also, ist daher stets der erste – und wohl auch der
wichtigste – Schritt in der Analyse der Logik der Situation bei einer jeden soziologischen Erklärung.
Die Objektivität der Situation
105
3.3.3 Die dritte Produktionsfunktion:
Die Produktion der primären Zwischengüter
Die Kette zwischen der objektiven Situation und der Produktion des Nutzens
ist mit der Verbindung der Bedürfnisse zu den primären Zwischengütern noch
nicht geschlossen. Bis auf einige wenige Ausnahmen glücklicher Umstände,
wie die Himmelsgeschenke körperlicher Attraktivität, einer Erbschaft oder eines Adelstitels, stehen den Akteuren nämlich die für die Produktion des Nutzens so enorm wichtigen primären Zwischengüter noch nicht unmittelbar zur
Verfügung. Sie müssen meist erst noch produziert werden. Gute Vorlesungen
– als primäre Zwischengüter der Erzeugung sozialer Wertschätzung für einen
Hochschullehrer zum Beispiel – müssen bekanntlich mit viel Zeitaufwand
vorbereitet werden. Spitzenforschung setzt in ähnlicher Weise langjährige
mühsame Investitionen in ein zunächst immer ungewisses Projekt voraus.
Und die so überaus begehrten, weil besonders effizienten Insignien und Symbole sozialer Wertschätzung und das kulturelle Kapital der Ehrenhaftigkeit
bekommt man auch nicht ohne weiteres geschenkt. Dies führt zu einer dritten
Produktionsfunktion: Die primären Zwischengüter müssen unter Einsatz von
Talent, Zeit und einer Reihe vieler anderer nicht-primärer Zwischengüter, die
teilweise erst noch auf verschiedenen Märkten erworben werden müssen, produziert werden.
Indirekte Zwischengüter
Wir wollen die Mittel zur Erzeugung der primären Zwischengüter als indirekte Zwischengüter bezeichnen. Es sind die Produktionsfaktoren für die Herstellung der primären Zwischengüter. Sie seien mit X bezeichnet. „Indirekt“ (und
nicht: „sekundär“) sollen diese Zwischengüter heißen, weil in ihnen ganze
Ketten von weiteren Schritten der „Vorproduktion“ enthalten sein können. Alle möglichen Ressourcen, Objekte, Ereignisse und Leistungen können zu indirekten Zwischengütern werden. Ein besonderes und grundsätzlich knappes
Gut gehört stets dazu: die Zeit t, die notwendigerweise erforderlich ist, um irgendein primäres Zwischengut zu erzeugen.
Die dritte Produktionsfunktion für die objektive soziale Definition der Situation lautet dann allgemein Z= h(X,t). Für sie können die gleichen Annahmen gemacht werden wie für die zweite: monoton steigend oder fallend, abnehmender Grenzertrag, Unterschiede in der Effizienz und auch negative Erträge.
106
Situationslogik und Handeln
Knappheiten und relative Preise
Auch diese Beziehung ist eine soziale Produktionsfunktion: Was für die Herstellung eines primären Zwischengutes geeignet oder erlaubt ist, liegt nicht im
Belieben des einzelnen Akteurs. Wer etwa einen wissenschaftlichen Artikel
publiziert, muß vorher viel tun und eine Unzahl von Regeln beachten. Viele
Dinge werden gebraucht, die teuer sind und erst besorgt werden müssen: das
Geld für die Forschung und den eigenen Lebensunterhalt beispielsweise. Und
dann die Zeit! Immer wieder die Zeit!
Spätestens hier wird deutlich, daß die Erzeugung von sozialer Wertschätzung und von physischem Wohlbefinden nicht nur etwas mit sozialen bzw.
mit institutionellen Festlegungen oder kulturellen Konventionen, mit kostenfreien mentalen Modellen und kollektiven Repräsentationen, sondern darüber
hinaus auch etwas mit objektiven Knappheiten zu tun hat, die über Vereinbarungen und „Definitionen“ alleine nicht einfach auszuräumen oder zu ändern
sind. Bei der dritten Produktionsfunktion kommt ins Spiel, was die „Objektivität“ jeder sozialen Situation gegenüber den subjektiven Definitionen letztlich ausmacht und wo die für alle Subjektivitäten unverrückbaren Grenzen
liegen: Die Produktionsfunktionen sind nicht zuletzt aus technischen Gründen
deutlich unterschiedlich in der Effizienz der eingesetzten indirekten Zwischengüter. Und die indirekten Zwischengüter, die „Mittel“ für die primären
Zwischengüter als „Ziele“, sind grundsätzlich knapp – auch wenn die damit
produzierten primären Zwischengüter auf konventionellen oder kulturellen
und damit in gewisser Weise kostenlosen Konstruktionen und Definitionen
beruhen. Über diese relativen Knappheiten der erforderlichen indirekten Zwischengüter steuert sich dann – teils unmittelbar, teils über Umwege – auch das
Handeln der Menschen, das diese knappen Mittel ja so einsetzt bzw. einsetzen
muß, daß die Nutzenproduktion und die Reproduktion des Organismus gelingt.
Zur Struktur einer Gesellschaft oder eines sozialen Gebildes und zur Erklärung des Handelns der Menschen gehört damit nicht nur die institutionelle
Struktur – so wichtig sie auch immer ist –, sondern auch die materielle InfraStruktur und darüber die auch technisch bedingten relativen Preise für die
Mittel, die benötigt werden, um die primären Zwischengüter zu erzeugen.
Freilich sind auch die relativen Preise der indirekten Zwischengüter zu einem
großen Teil institutionell festgelegt – etwa dadurch, daß einige als erlaubt, andere als illegitim gelten (vgl. dazu noch Abschnitt 3.4). Aber im Hintergrund
stehen immer auch technische Machbarkeiten und unverrückbare Knappheiten
an Ressourcen, die bestimmte institutionelle Strukturen erst möglich machen:
Die Objektivität der Situation
107
Die Handmühle ergibt eine Gesellschaft mit Feudalherren, die Dampfmühle
eine Gesellschaft mit industriellen Kapitalisten.
Eine von den gesellschaftlichen Einrichtungen unabhängige und ganz und gar unverrückbare
Knappheit ist die grundsätzlich begrenzte – reale – Zeit, die die Menschen haben, um sich die
Mittel für die Produktion ihres Nutzens zu beschaffen. Aus deren Knappheit führen erst recht
keine gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit und keine als unendlich definierte, zirkuläre „soziale Zeit“ heraus. Eine solche zirkuläre Zeit gibt es, etwa als kulturelle Vorstellung
der Menschen, nur dort, wo noch so viel an Zeit nicht viel nützt, und die Zeit eben kein Geld
ist.
Das alles hat eine wichtige objektive Folge: Mit der Änderung der technischen
bzw. der materiellen Produktionsbedingungen, mit der Änderung der Art und
der damit verbundenen Kosten für die indirekten Zwischengüter ändern sich
auch die Bestrebungen der Menschen: Sie interessieren sich jetzt für andere
indirekte Zwischengüter als vorher, auch wenn die Wünsche nach bestimmten
primären Zwischengütern und – natürlich – die Bedürfnisse der Menschen
ganz und gar gleich bleiben. Und wenn mit den Knappheiten auch die Produktion bestimmter primärer Zwischengüter – relativ – immer kostspieliger wird,
ändern die Menschen auch ihr Interesse an diesen. Kurz: Mit Knappheiten
und mit den relativen Preisen der indirekten und der primären Zwischengüter
ändern sich die Interessen und die Präferenzen der Menschen.
Die Präferenzen, Interessen und Bestrebungen müssen sich damit sogar ändern, weil aufgrund der objektiven Knappheiten nun manche primären Zwischengüter nicht mehr zu erzeugen sind. Und ehe ein Organismus auf seine
Reproduktion ganz verzichtet, greift er – wenn es gar nicht anders geht – auf
andere, vielleicht nicht so attraktive, aber wenigstens herstellbare, primäre
Zwischengüter oder auf indirekte Zwischengüter zurück, die jetzt relativ billiger geworden sind. Daraus kann man einen ganz radikalen, für viele Soziologen unerhört klingenden, Schluß ziehen: „...that all changes in behavior are
explained by changes in prices and incomes.“15
Anders gesagt: Es sind – mindestens auch! – die objektiven, die nichtkonventionellen und nicht-konstruierten, die technischen wie die natürlichen
Bedingungen, die Knappheiten aller Art und die relativen Preise, die die Logik der Situation bestimmen und dem Handeln der Menschen eine unhintergehbare Vorgabe auferlegen. Die Präferenzen für die primären und die indirekten Zwischengüter folgen letztlich den technischen Bedingungen ihrer
Produktion und den materiellen Knappheiten – den Opportunitäten also. Das
Sein bestimmt das Bewußtsein und das Handeln der Menschen.
15
George J. Stigler und Gary S. Becker, De Gustibus Non Est Disputandum, in: The American Economic Review, 67, 1977, S. 89; Hervorhebungen so nicht im Original.
108
Situationslogik und Handeln
Eine kurze Zusammenfassung
Das Ziel eines jeden Handelns ist letztlich die Produktion des Nutzens U. Dazu werden unter Einsatz von Zeit die indirekten Zwischengüter X beschafft,
die zur Erzeugung der primären Zwischengüter Z dienen, die wiederum für
die Erfüllung der beiden Bedürfnisse SW und PW sorgen, aus denen sich der
Nutzen ergibt. Die Kette der Produktion des Nutzens wird damit in ihrer einfachsten Form über drei Produktionsfunktionen beschrieben. Sie vermittelt
zwischen der Welt der Knappheiten und Opportunitäten, der Welt der institutionellen Regeln und der symbolisch vermittelten Bezugsrahmen und dem
inneren Funktionieren des individuellen Organismus, zwischen X und U also:
U = f(SW, PW)
SW=g1(Z), PW=g2(Z)
Z = h(X,t)
Die drei Produktionsfunktionen verbinden vier verschiedene Typen von Variablen, die füreinander in besonderer Weise Produktionsfaktor, Zwischenprodukt und Produkt sind, zusammen die Einheit der psychisch-biologischen Organismen der Menschen und der sozialen Systeme der Gesellschaft konstituieren und sich wechselseitig stützen, ermöglichen, anregen und – gelegentlich –
bedrohen (vgl. Abbildung 3.4): Nutzen, Bedürfnisse, primäre und indirekte
Zwischengüter.
X
Z = h(X,t)
Gesellschaft
Z
SW = g1 (Z)
PW = g 2 (Z)
Zone der
Interpenetration
Abb. 3.4: Die soziale Produktion des Nutzens
SW, PW
U = f(SW, PW)
Organismus
U
Die Objektivität der Situation
109
Die Interpenetration von Mensch und Gesellschaft
Die beiden rechts angeordneten Variablen SW, PW und U und die Produktionsfunktion U = f(SW, PW) beschreiben die inneren Funktionsbedingungen
des menschlichen Organismus über eine „Nutzen“-Produktionsfunktion. Sie
sind eine allgemeine, das heißt: für alle Exemplare des homo sapiens, wo immer sie uns zuschauen, geltende Vorgabe der Nutzenproduktion und des Handelns. Sie spiegelt die grundlegenden biologisch-psychischen Bedingungen
der Reproduktion des menschlichen Organismus wider.
Die beiden links angeordneten Variablen X und Z und die Produktionsfunktion Z = h(X,t) beziehen sich auf die materiellen, die technischen, die organisatorischen, die institutionellen und die kulturellen Bedingungen der Nutzenproduktion über die Erzeugung der primären Zwischengüter. Die dafür
wichtigen Produktionsfaktoren wie die Produktionsfunktionen sind grundsätzlich – historisch, sozial, kulturell – spezifischer Art. Sie sind materiell, technisch, institutionell und kulturell „definiert“ – durchaus im wörtlichen Sinne
dieses Ausdrucks – als Festlegung.
Die indirekten Zwischengüter X umfassen insbesondere die materiellen
und die technischen Aspekte der objektiven Knappheiten der Nutzenproduktion, die primären Zwischengüter Z vor allem die institutionelle und die kulturelle Definition der gesellschaftlichen Umstände der Nutzenproduktion. An
den objektiven materiellen und technischen Begrenzungen und an den ebenso
objektiven institutionellen und kulturellen Definitionen der Situation hätte
sich ein Handeln gleichermaßen zu orientieren, das situationsgerecht, also effizient und sinnhaft, sein soll.
In der Produktionsfunktion SW=g1(Z) bzw. PW=g2(Z) wird die „Grenze“
zwischen dem menschlichen Organismus als biologisch-psychischem System
und den Opportunitäten, den institutionellen Regeln und den Symbolen bzw.
den Bezugsrahmen der jeweiligen sozialen Umgebung überbrückt. An dieser
Grenze findet der unmittelbare „Austausch“ der menschlichen Organismen
mit der Natur und mit der sozialen Umgebung statt, ohne den ihre Reproduktion nicht möglich ist. Es ist – in einem Ausdruck von Talcott Parsons – die
Zone der Interpenetration von Mensch und Gesellschaft, von personalen und
sozialen Systemen. Die Produktion der primären Zwischengüter Z ist wegen
dieser unmittelbaren Überschneidung für die Akteure immer ganz besonders
„interessant“, lebenswichtig, aufregend und von allerlei Emotionen begleitet.
Wegen dieser Nähe zu den vitalen inneren Funktionsbedingungen wird es immer besonders
nachhaltige Bestrebungen geben, die primären Zwischengüter zu sichern und zu mehren –
egal wie diese Zwischengüter inhaltlich aussehen. Von dieser Schnittstelle zwischen Organismus und Umwelt gehen die emotional-somatischen Phänomene der Begeisterung, des Protestes, der Trauer und des leidenschaftlichen Kampfes um die wichtigen Dinge des Lebens
110
Situationslogik und Handeln
aus. Anders wäre die Evolution des Lebens in einer meist ganz und gar unfreundlichen Umwelt wohl nicht möglich gewesen. Und von hierher wird verständlich, wie zentral wichtig die
„Lebenswelten“ und die „Liebhaberstücke“ für die Menschen und für ihr Wohlbefinden immer sind – und warum sie alles tun, um sie zu bekommen und um sie zu behalten, wenn man
sie ihnen nehmen will.
Von rechts nach links kann in Abbildung 3.4 die Kette der Produktionsfunktionen als Strom eines inputs an Energie gelesen werden, der hinter dem problemlösenden Streben nach den primären Zwischengütern Z und hinter dem
Einsatz der indirekten Zwischengüter X steht: Es geht letztlich immer um die
Bedienung der Bedürfnisse bzw. um die Erzeugung des Nutzens. Und von
links nach rechts läßt sich die Kette als input einer Steuerung dieses Energieund Motivationsstromes sehen: Wie die Bedürfnisse bedient und wie der Nutzen produziert wird, das ist eine Frage der materiellen, technischen und organisatorischen Möglichkeiten der Produktion von Z durch X und der institutionellen und kulturellen Definition der primären Zwischengüter Z zur Produktion von SW und PW. Nicht nur entfernt kann man sich an die kybernetische
Kontrollhierarchie der allgemeinen Handlungstheorie von Talcott Parsons erinnert fühlen.
Mit dem Konzept der sozialen Produktionsfunktion wird leicht erklärbar,
warum sich die Akteure ohne größere Abweichungen an den objektiven Eigenschaften der Situation orientieren und warum sie diesen Vorgaben – meist,
wenngleich nicht immer – mit einem gewissen Enthusiasmus und mit eigenem
Dazutun folgen: Sie wissen in aller Regel ganz genau, worum es in einer Gesellschaft, in einer Gruppe oder einer Situation „primär“ geht. Und sie wissen
meist ebenso gut, welche Mittel, Alternativen, Möglichkeiten sie haben, um
diese Dinge zu erzeugen. Und sie definieren daher auch subjektiv ihre Situation so, wie es die objektiven Vorgaben verlangen – wenn sie diese objektiven
Vorgaben erkennen können und wenn eine „falsche“ Definition der Situation
fatale Folgen hätte.
3.4
Kulturelle Ziele und institutionalisierte Mittel
Die Idee der objektiven gesellschaftlichen Definition der Situation über die
Festlegung bestimmter Ressourcen, Objekte, Ereignisse und Leistungen als
„primär“ interessante Sachverhalte, um die sich alle Interessen, Präferenzen
und Bestrebungen drehen, ist keineswegs neu in der Soziologie. Ihr entspricht
eine Unterscheidung, die Robert K. Merton vorgeschlagen und zur Grundlage
seiner Erklärung der objektiven gesellschaftlichen Strukturierung von Situationen und Handlungsbereitschaften gemacht hat: die Unterscheidung der in ei-
Die Objektivität der Situation
111
ner Gesellschaft geltenden kulturellen Ziele und der für die Erreichung dieser
Ziele institutionalisierten Mittel.
Kulturelle Ziele
Kulturelle Ziele sind für Merton solche Objekte, Zustände und Ressourcen,
die für alle Mitglieder einer Gesellschaft von primärem Interesse sind. Die
kulturellen Ziele nennt Merton auch Werte. Sie beinhalten, wonach es sich in
dieser Gesellschaft überhaupt zu streben lohnt. Kulturelle Ziele definieren
„ ... a frame of aspirational reference. They are the things ‚worth striving for’. They are a basic, though not the exclusive, component of what Linton has called ‚designs for group living’.
And though some, not all, of these cultural goals are directly related to biological drives of
man, they are not determined by them.“16
Die kulturellen Ziele bilden also den primären Rahmen, um den sich alle spezifischen Interessen der Menschen in einer bestimmten Gesellschaft drehen.
Sie erzeugen ein systematisches Streben nach gewissen, in einer Gesellschaft
allgemein geschätzten Ressourcen, Eigenschaften und Leistungen. Und weil
sie so geschätzt werden, entsteht um diese Leistungen, Eigenschaften und
Ressourcen ein Bewertungssystem, das in der Gesellschaft von allen geteilt
wird – auch von denjenigen, die diese Ressourcen und Leistungen nicht oder
nur erschwert besitzen oder erbringen können. Die kulturellen Ziele sind der
Kern der Bewertungs-Struktur der Gesellschaft und des Prestiges der Akteure,
die diese Ressourcen kontrollieren. In den kulturellen Zielen ist – in der Sprache des Konzeptes der sozialen Produktionsfunktionen – der allgemein akzeptierte und somit sozial verbindliche Satz der als „relevant“ angesehenen primären Zwischengüter niedergelegt. Aus dem letzten Teil des Zitates von Merton wird auch die Verbindung der kulturellen Ziele zu den biologischen und
den anthropologischen Existenzbedingungen des Menschen, zu seinen individuellen organismischen Bedürfnissen also, deutlich.
Merton betont, daß die kulturellen Ziele sozial definierte, also in ihrer Effizienz gesellschaftlich festgelegte – und damit im Prinzip spezifische und änderbare – Werte sind. Er nimmt dabei auch an, daß die kulturellen Ziele in einer bestimmten Gesellschaft von allen Mitgliedern dieser Gesellschaft geteilt
werden. Insofern bilden die Mitglieder einer Gesellschaft für Merton eine
Gemeinschaft mit einem bestimmten Interesse, eine Interessengemeinschaft
16
Robert K. Merton, Social Structure and Anomie, in: Robert K. Merton, Social Theory and
Social Structure, 11. Aufl., New York und London 1967c, S. 132f.; Hervorhebungen nicht
im Original.
112
Situationslogik und Handeln
also: Sie eint das Streben nach den kulturellen Zielen. Für den Fall der amerikanischen Gesellschaft war das für Merton der American Dream: das Streben
nach materiellem Wohlstand als alle Akteure übergreifender und einender
kultureller Wert.
Institutionalisierte Mittel
Merton nennt aber auch gleich das trennende Element. Die kulturellen Ziele
sind nur zu erreichen, wenn dazu bestimmte Mittel eingesetzt werden. Um die
primären Zwischengüter der kulturellen Ziele zu erzeugen, müssen also, in der
Sprache des Konzeptes der sozialen Produktionsfunktionen, indirekte Zwischengüter als Mittel eingesetzt werden. Nicht alle Mittel sind aber für die
Akteure bei der Produktion der primären Zwischengüter brauchbar. Einige
sind schon technisch und organisatorisch ineffizient: Als Feuerschlucker
kommt man nur selten zu Wohlstand und Ansehen, und verbrennt sich wohl
auch gelegentlich den Mund. Noch wichtiger als die technische Leistungsfähigkeit ist für Merton die institutionelle Definition der Effizienz der Mittel:
Nicht alle Mittel sind erlaubt. Die Mittel werden – so Merton – institutionell
in legitime und in nicht-legitime Mittel getrennt. Die zur Verwirklichung der
kulturellen Ziele institutionell erlaubten Mittel nennt Merton institutionalisierte Mittel. Die Einteilung in legitime und nicht-legitime Mittel „ ... defines,
regulates and controls the acceptable modes of reaching out for these goals.“
(Ebd., S. 133; Hervorhebungen nicht im Original)
Von den technisch und organisatorisch effizienten Mitteln sind damit einige als nicht-legitim institutionalisiert – und scheiden daher zunächst für die
Erlangung der kulturellen Ziele aus: Steuerhinterziehung ist zwar effizient für
die Erzeugung von Wohlstand, aber verboten und riskant. Die legitimen Mittel sind daher oft keineswegs die technisch oder organisatorisch effizientesten
– wie das mühselige Erwerben eines Diploms in Soziologie oder in theoretischer Physik. Allein dies schafft institutionell eingeführte Versuchungen zur
Umgehung der Legitimitätsvorgaben für die Mittel. Und wenn es keine andere
effiziente Möglichkeit gibt, um an die kulturellen Ziele heranzukommen, dann
wird ein Akteur auch nicht immer der Versuchung standhalten, ein effizientes,
aber leider nicht-legitimes Mittel anzuwenden.
Das ist der Kern der Überlegungen Mertons zur strukturellen Erklärung bestimmter Formen
der „Anpassung“ an gesellschaftlich fest definierte Situationen: Wenn eine Gruppe zwar –
wie alle anderen Gruppen in einer Gesellschaft – das kulturelle Ziel des Wohlstandes hat, aber von den als legitim definierten institutionalisierten Mitteln ausgeschlossen ist, dann muß
sie nach neuen Wegen suchen, um dennoch das primäre Zwischengut des kulturellen Zieles
zu erlangen. Zwei Varianten sind jetzt denkbar: neue Wege, die zwar bisher noch nicht be-
Die Objektivität der Situation
113
kannt, aber auch nicht verboten waren und neue Wege, die aber als nicht-legitim gelten. Beides sind Formen der „Abweichung“ von den institutionalisierten Mitteln und insofern eine
Art von „Innovation“. Eine davon ist erlaubt, die andere nicht. Besonders für Unterschichten,
und hier vor allem für gerade angekommene Einwanderergruppen, nahm Merton diese Konstellation an: Sie teilen mit allen Bürgern des Einwanderungslandes das kulturelle Ziel des
Wohlstandes, aber kontrollieren nicht im gleichen Maße die dafür erlaubten institutionalisierten Mittel. Merton wollte damit die besondere Neigung dieser Gruppen zu kriminellen Innovationen einerseits und zu legitimem Erfindungsreichtum andererseits erklären. Kurz: Al Capone und Thomas A. Edison entstammen dem gleichen strukturellen Hintergrund. Ihre Reaktionen waren beides Versuche der innovativen „Anpassung“ an das Mißverhältnis einer Orientierung an kulturellen Zielen und der Kontrolle über institutionalisierte Mittel. Und jeder tat
das auf die Weise, die ihm nach Talent, Tradition und sozialer Umgebung am ehesten möglich war – der eine mit legitimen, der andere mit nicht-legitimen innovativen Mitteln.
Die institutionelle Regelung der Legitimität der Mittel erfolgt unmittelbar und
formell sanktioniert über die Erteilung von Rechten bzw. bestimmter Privilegien. Das System des Rechts einer Gesellschaft ist die Grundlage für das
Ausmaß der Kontrolle bestimmter Gruppen von Personen über die indirekten
Zwischengüter, die benötigt werden, um an die primären Zwischengüter der
kulturellen Ziele heranzukommen.
Strukturelle Spannungen
Die Kontrolle über als legitim definierte Mittel ist die Basis der strukturellen
Verteilung der sozialen Chancen der Akteure in bestimmten Kollektiven oder
Gruppen der betreffenden Gesellschaft. Von solchen Unterschieden in der
Kontrolle der legitimen Mittel geht eine nie ganz stillzustellende Tendenz zu
einer Umdefinition der rechtlichen Grundlagen aus, aus der sich ja erst der
Mangel an Kontrolle bei einer bestimmten Gruppe ergibt. Das ist der Grund
dafür, warum Gesellschaften mit sehr unterschiedlichen Rechten und Chancen
bei typischen Teilgruppen der Bevölkerung immer nur durch viel staatliche
Gewalt – wie in Südafrika zu den Zeiten der Apartheid – oder durch besonders geschickte ideologische Täuschungen – wie bei den Kasten in Indien –
bestehen können.
In manchen – wie z.B. in den feudalen – Gesellschaften unterscheiden sich die Gruppen auch
in den formellen Rechten. Diese Unterschiede sind dort aber durch ein von allen wieder geteiltes Wertesystem, meist mit starken religiösen Elementen der legitimierenden Sinnstiftung,
abgesichert. Allein daraus ergeben sich institutionell erzeugte Unterschiede in den legitimen
Mitteln zur Erreichung bestimmter kultureller Ziele, die aber nicht zu besonderen strukturellen Spannungen führen – solange die Legitimität der Ungleichheit funktioniert und plausibel
bleibt. In modernen Gesellschaften teilen aber alle Bürger gewisse „Bürger“-Rechte. Dies
114
Situationslogik und Handeln
macht einen wichtigen Teil der modernen Gesellschaft gerade aus.17 Aus dieser Gleichheit
vor dem Recht folgt eine starke Entlastung der Gesellschaft von solchen latenten strukturellen
Spannungen. Ohne diese Entlastung von einer formell definierten Ungleichheit sind komplexe, arbeitsteilig organisierte Gesellschaften kaum denkbar, weil zu ihren Grundlagen gehört,
daß Ungleichheiten nur über „Leistung“, nicht aber über ungleich verteilte Rechte entstehen
dürfen. Die Gleichheit der Rechte garantiert aber auch in modernen Gesellschaften in keiner
Weise die faktische Gleichheit in der Kontrolle der institutionalisierten Mittel: Das Recht auf
Bildung ist hierzulande beispielsweise für Akademikerkinder – immer noch – viel effizienter
in der Produktion von Wohlstand als für Kinder türkischer Einwanderer. Dies hat viele Gründe, die hier nicht weiter zu besprechen sind. Aber es hat eine wichtige Folge: Eine weiterhin
höchst ungleiche empirische Verteilung in den sozialen Chancen zur Nutzung der institutionellen Mittel, um an die interessanten kulturellen Ziele heranzukommen (vgl. dazu auch noch
Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich).
Damit ist das strukturelle Problem skizziert, auf das Robert K. Merton hinaus
will. Das Streben der Menschen ist in einer Gesellschaft über deren – formelle
wie informelle – Verfassung und die geltende institutionelle und kulturelle
Tiefenstruktur festgelegt: über das Prestige in Bezug auf die kulturellen Ziele;
und über die formellen Rechte bzw. die empirisch gegebenen sozialen Chancen in Bezug auf die institutionalisierten Mittel. Das übergreifende System
des gesellschaftlichen Prestiges eint die Menschen in den Zielen ihres Strebens, gleiche Rechte einen sie auch in den Möglichkeiten, diese Ziele zu erreichen. Subkulturell unterschiedliche Werte, ungleiche Rechte und die –
auch: dadurch – unterschiedlich verteilten sozialen Chancen trennen sie jedoch darin – und zwar gleichzeitig.
Das alles erzeugt deutliche Spannungen und Konfliktlinien zwischen den
Gruppen, die zwar unter Umständen das gleiche Interesse an den kulturellen
Zielen, aber eine sehr unterschiedliche Kontrolle über die legitimen Mittel haben. Die auf diese Weise strukturell erzeugten Spannungen schaffen für typische Gruppen von Akteuren objektive Anreize für ein typisches Anpassungsverhalten zur Schließung der Diskrepanz zwischen dem Interesse an den kulturellen Zielen und der Kontrolle über die institutionalisierten Mittel, die es
erlauben, diese Ziele zu verfolgen.
Gleichermaßen angestrebte kulturelle Ziele und verschiedene Grade der
Kontrolle über legitime Mittel erzeugen nicht nur ein typisches Anpassungsverhalten, sondern auch typische Linien unterschiedlicher Interessen und
Möglichkeiten und damit: typische Linien von latenten Konflikten zwischen
den verschiedenen Gruppen einer Gesellschaft (vgl. zum Konzept des Konfliktes noch Abschnitt 4.3). Solche strukturell erzeugten Konfliktlinien werden auch als cleavages bezeichnet. Die Grundlage dieser strukturellen Spal17
Vgl. Thomas H. Marshall, Staatsbürgerrechte und soziale Klassen, in: Thomas H. Marshall, Bürgerrechte und soziale Klassen. Zur Soziologie des Wohlfahrtsstaates, Frankfurt/M. und New York 1992, S. 53ff.
Die Objektivität der Situation
115
tungen ist die gesellschaftliche Definition der sozialen Produktionsfunktionen,
insbesondere über das Recht, über das Prestige und über die lange Geschichte
der Reproduktion sozialer Ungleichheit zwischen den Gruppen einer Gesellschaft. Die cleavages sind die wichtigste Quelle für die grundlegenden Spannungen, die politische Organisation und – allgemein – für den sozialen Wandel in einer Gesellschaft.
Cleavages sind zunächst nur Linien latenter Konflikte. Anders als in Feudalgesellschaften
gibt es in modernen Gesellschaften mit solchen cleavages kein legitimierendes Wertsystem
und keine formelle Ungleichheit. Das Fehlen formeller Benachteiligungen entschärft den latenten Konflikt zwar, die Delegitimation der Ungleichheit heizt ihn aber gleichzeitig erst an.
So wird verständlich, daß in modernen Gesellschaften mit einer weiterhin stabilen Ungleichverteilung sozialer Chancen auch bei relativ geringen Graden der Ungleichheit und mit blasser werdenden cleavages, gleichwohl die Auseinandersetzung zwischen den Gruppen zunehmen. Revolutionen werden aber kaum ausbrechen, weil die Menschen noch eine weitere Erfindung gemacht haben: Konflikte werden über ein weit verzweigtes System intermediärer
Instanzen, etwa über die Parteien, über Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände oder über
den ADAC und den Bund der Steuerzahler, ausgetragen. Fast mehr noch als die Bürgerrechte
ist eine solche vielfach gekreuzte korporative Struktur eines der Grundmerkmale moderner
Gesellschaften. Es hilft, die strukturellen Spannungen zu neutralisieren und anders als durch
offene Konflikte auszutragen: durch formelle Verfahren der Konfliktregelung (vgl. dazu auch
noch Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
Wegen des nicht auszuräumenden Mißverhältnisses zwischen gemeinsam angestrebten Zielen und den Knappheiten in der Verteilung der Mittel für die
Erreichung dieser Ziele sind strukturelle Spannungen grundsätzlich unvermeidlich. Sie sind durch Legitimationen, durch „Verständigung“, durch
Bürgerrechte, durch die korporative Struktur von Interessenvertretungen und
durch formelle Verfahren der Konfliktregelung vielleicht abzumildern, aber
letztlich nie zu beseitigen. Eine Änderung der gesellschaftlichen Definition
der Situation würde nur eine Änderung in der Art der strukturellen Spannungen bedeuten. Aus der Welt zu schaffen sind sie solange nicht, wie die Mittel
knapp und wichtige Ziele der Menschen die gleichen sind. Also eigentlich:
niemals.
Exkurs über die Ehre
Ehre ist der Grad von gesicherter Wertschätzung, den eine Person oder eine
Gruppe öffentlich genießt. Sie ist eine Gegenleistung für hochgeschätzte
Dienste. Ehre bedeutet für den Geehrten ein hochwirksames Kapital, mit dem
ganz besondere Gegenleistungen erwirkt werden können: Wer einen guten
Ruf hat, dem wird Vertrauen entgegengebracht. Dies macht ihm Dinge möglich, die anderen ganz verschlossen sind. Wer hingegen seinen Ruf verspielt
116
Situationslogik und Handeln
hat, lebt vielleicht ganz ungeniert, kann aber auch ansonsten machen, was er
will. Deshalb ist der Erwerb eines guten Rufes auch für solche Leute interessant, denen die Meinung anderer eigentlich egal ist. Wohl nur der als hinreichend sonderbar bekannte Marquis de Sade konnte daher wohl meinen: „Der
Ruf ist ein wertloses Gut, – er entschädigt uns niemals für die Opfer, die wir
ihm bringen!“ Adam Smith hat den Drang nach sozialer Wertschätzung gerade auf den Fall der Sicherung und Kapitalisierung der Wertschätzung gemünzt
– und sogar zu einer „natürlichen“ Neigung erhoben: Mehr noch als nur geliebt und bewundert zu werden, wünschen sich die Menschen, als liebenswert
und als bewundernswert zu gelten. Und mehr noch als gehaßt und verachtet
zu werden, möchten sie um keinen Preis als hassenswert und als verachtenswert erscheinen:
„Man naturally desires, not only to be loved, but to be lovely; or to be that thing which is the
natural and proper object of love. He naturally dreads, not only to be hated, but to be hateful;
or to be that thing which is the natural and proper object of hatred.“ (Smith 1976, S. 113f.;
Hervorhebung nicht im Original)
Ehre und Reputation sind Hinweise für andere Akteure, daß der Betreffende
vertrauenswürdige Eigenschaften hat, mit denen auch in Zukunft mit hoher
Sicherheit gerechnet werden kann. Auf diese Weise lassen sie sich mit ihm
auf Aktionen ein, die sie mit anderen unterlassen hätten. Beispielsweise eine
riskante gemeinsame Investition, deren Gelingen davon abhängig ist, daß alle
mitmachen, bei der sich die Akteure gegenseitig Unterstützung versprechen
und das auch wechselseitig glauben müssen. Auf diese Weise können alle zusammen Dinge erreichen, die ansonsten gänzlich unmöglich wären. Ehre und
Reputation ermöglichen so die Durchführung von an sich ganz unwahrscheinlichen kollektiven Unternehmungen. Sie gehören zu den wichtigsten Mechanismen für die spontane Entstehung von Kooperation und sozialer Ordnung
(vgl. dazu noch Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
Weil das Gelingen der eigentlich riskanten Kooperationen wiederum allen
nützt, und weil alle das auch wissen, verdient sich derjenige, der dieses Risiko
in selbstloser Pflichterfüllung zuerst und in voller Ungewißheit des Ergebnisses auf sich genommen hat, zu Recht das Lob der Allgemeinheit. Und die lobt
gerne, weil – und solange! – das Lob nicht viel kostet, aber der kollektive,
jetzt jedermann zugängliche Nutzen, beträchtlich ist. Dieses Lob ermutigt
dann vielleicht neue Wohltäter – bis sich alle in den Versuchen überbieten,
der mutigste Held oder der hingebungsvollste Altruist zu sein, und zum
Schluß oft gar nicht mehr wissen, wofür eigentlich.
Die Objektivität der Situation
117
Statussymbole
Zeichen, die in einer sozialen Gruppe fest mit bestimmten Vorstellungen, Haltungen, Gefühlen oder Handlungsbereitschaften assoziiert sind, werden allgemein als Symbole bezeichnet. Wenn Symbole einen besonderen Status seines Trägers anzeigen, für den es eine fest definierte soziale Wertschätzung
oder Ehre oder Reputation gibt, haben wir es mit Statussymbolen zu tun. Ein
Symbol, das seinen Träger dagegen diskreditiert, ist ein Stigma. Es ist ein negatives Statussymbol.
Statussymbole sind immer gesellschaftliche Konstruktionen. Einige sind
ausdrücklich als Zeichen der Ehre definiert, Orden und Ehrenmedaillen etwa.
Es können aber auch bestimmte Leistungen und Eigenschaften, die eigentlich
nur eine „instrumentelle“ Bedeutung haben, unbeabsichtigt selbst zu Symbolen der Wertschätzung – oder der Diskreditierung – mutieren: ein Doktor med.
oder ein Doktor päd., ein Mercedes oder ein Lada, die Adresse Am Ruhrstein
in Essen-Bredeney oder Am Grauen Stein in Köln-Poll – zum Beispiel. So
werden zuvor eher neutrale Dinge zu einer eigenen Sorte von primären Zwischengütern, deren schierer Besitz für die Erzeugung von Wertschätzung oder
Diskreditierung effizient ist, und nach denen die Menschen nicht mehr nur aus
instrumentellen Gründen begierig streben oder sie zu verbergen versuchen –
je nachdem.
Soziale Wertschätzung und wissenschaftliche Reputation und Ehre beispielsweise sind über
exzellente Forschung in der stillen Kammer unmittelbar kaum zu erlangen – außer im engen
Fachkollegenkreis vor Ort vielleicht. Für eine effizientere Produktion von Wertschätzung bedarf es fast immer eines eigenen Symbols der Exzellenz der Arbeiten, von dem jeder sicher
weiß, daß es nur erworben werden kann, wenn das „eigentliche“ primäre Zwischengut produziert worden ist. Etwa: ein Artikel im American Journal of Sociology oder eine gute Besprechung von einem anerkannten Kollegen, die beide sehr zuverlässig für eine gute Reputation
sorgen. Dies sind dann sehr wirksame Symbole für den Status, das Prestige, den Ruf, die Reputation des Akteurs: daß er Ressourcen kontrolliert und Eigenschaften hat, die Anerkennung
verdienen und Vertrauen rechtfertigen. Für ein Stigma gilt das Umgekehrte. Wer es trägt –
etwa die „falsche“ Hautfarbe oder das „falsche“ Geschlecht, eine körperliche Behinderung,
ein schlechtes Zeugnis oder eine Vorstrafe –, der kann machen was er will: Soziale Wertschätzung und Vertrauen ist nun nur unter sehr erschwerten Bedingungen zu erlangen.
Der Drang nach Symbolen der Wertschätzung ist vor diesem Hintergrund
leicht zu verstehen: Sie können das Bedürfnis nach sozialer Wertschätzung
unmittelbar befriedigen. Sie sind darin äußerst wirksam, weil sie öffentlich
sichtbar und anerkannt sind. Und sie erzeugen die Wertschätzung auf eine besonders zuverlässige Weise – gerade auch dann, wenn wirklich nicht viel dahinter steht. Wer das Symbol der Wertschätzung hat, kann sich beruhigt zurücklehnen. Er hat geschafft, was sonst fast unmöglich ist: die unwiderrufliche
Sicherung eines positiven Selbstbildes – auch ohne weitere Anstrengung und
118
Situationslogik und Handeln
ohne Sorge um seinen Zerfall. Außerdem scheißt, wie man so sagt, derTeufel
besonders bei der Ehre immer auf den dicksten Haufen. Es ist ein Fall des sog.
Matthäus-Effektes: wer da hat, dem wird auch noch gegeben. Deshalb sind
die Oscars, die Nobelpreise, die Leibnizpreise und die Ehrendoktortitel so begehrt – und nicht wegen der Statue oder der paar Mark, die es dafür gibt. Und
deshalb ist die Empörung zu Recht auch groß, wenn den Preis oder den Titel
jemand bekommt, von dem alle wissen, daß er oder sie es nicht verdient haben.
Innere Prämien
Ehre muß verdient werden. Wer sichtbar nach ihr aus ist, hat sie schon verloren. Ein nicht verdientes Lob nützt dem so Gepriesenen nichts. Das wissen die
Menschen – wie wohl nicht nur Adam Smith meint – ganz genau:
„If we are conscious that we do not deserve to be so favourably thought of, and that if the
truth were known, we should be regarded with very different sentiments, our satisfaction is
far from being complete.“ (Smith 1976, S. 114f.)
Um verdiente Anerkennung zu erreichen, müssen sich die Menschen also
wirklich füreinander verdient machen und tatsächlich umeinander kümmern
und etwas tun, was die Anerkennung der anderen verdient. Oder sie müssen
wenigstens so gut „als ob“ handeln, daß niemand, auch sie selbst nicht, für ihr
eigenes Tun das „als ob“ bemerkt. Das ist in der Technik der sozialen Produktionsfunktion für die Produktion von Ehre so angelegt. Erst wenn jemand
wirklich uneigennützig handelt – oder perfekt so tut –, kann er überhaupt erreichen, was ihm am nützlichsten ist: ein positives Bild von sich selbst in den
Augen der anderen. Gute Taten reichen für die Ehre aber keineswegs immer
aus. Was ist, wenn ich ehrenwert gehandelt habe, aber niemand hat davon erfahren? Oder niemand findet sich zur Ehrerbietung bereit? Der wirkliche Ehrenmann hat sich von derlei Äußerlichkeiten ganz frei gemacht. Gut fühlen
kann sich – so Adam Smith weiter – vor allem derjenige, der sich nicht am
äußeren Erfolg orientiert:
„We are pleased, not only with praise, but with having done what is praise-worthy. ... The
man who is conscious to himself that he has exactly observed those measures of conduct
which experience informs him are generally agreeable, reflects with satisfaction on the propriety of his own behaviour.“ (Ebd., S. 115f.)
Ehre gibt es, wenn überhaupt, nur für die ganz selbstlose – oder wenigstens:
glaubhaft so erscheinende – Erfüllung von wichtigen Aufgaben, die der Gemeinschaft nutzen. Wenn es aber die Gemeinschaft nicht tut, weil sie die gute
Die Objektivität der Situation
119
Tat nicht mitbekommen oder dem wahren Urheber nicht zugeschrieben hat,
dann ehrt sich der Akteur eben innerlich selbst. Diese innere Prämie ist vielen
der Ehre schon genug, um ganz still und unverdrossen und ohne viel Aufhebens ihre Pflicht zu tun. Es ist der innere Wert, den die Sache für den Akteur
hat, ein Wert, der, wie der Freiherr von Knigge geschrieben hat, „wie ein
Schatz unter der Erde immer, auch verborgen, Gold bleibt“. Auch die Tugend
bedarf der Belohnung. Und deshalb tut ein jeder, der unverzagt tugendhaft
sein will, gut daran, sich auch dann über seine guten Taten zu freuen, wenn
die äußeren Ehrungen ausbleiben. Dazu hat er vielleicht sogar bald einen äußeren Grund: Die innerlich belohnte Pflichterfüllung kann andere dazu bringen, etwas auf die Beine zu stellen, was ohne die Opferbereitschaft des Einen
nicht denkbar gewesen wäre. Und unser unsichtbarer Held wird jetzt nicht nur
im Stillen und nicht nur innerlich belohnt. Er kann sich über wirkliche Früchte
seiner Tugend freuen, weil es durch seinen selbstlosen Beginn nunmehr bereitwillige und jedermann zuträgliche Kooperation gibt, wo vorher nur mißtrauischer Egoismus zum Schaden aller herrschte.
Ehre, Recht und Sittlichkeit
Georg Simmel (1858-1918) hat in seinem Beitrag über „Die Selbsterhaltung
der sozialen Gruppe“ die Ehre als eine von drei grundlegenden Arten der
Normierung sozialer Beziehungen dargestellt: Die Sittlichkeit dient der inneren Selbsterhaltung des Individuums und regelt das individuelle Handeln
durch die Anwendung der inneren Kontrollen aus dem – wie wir auch sagen
können – moralischen Bewußtsein des Akteurs. Das Recht beruht auf der Anwendung äußerer Kontrollen durch externe Sanktionsmittel. Die Sittlichkeit
bezieht sich also auf das Individuum, das Recht auf den weiteren gesellschaftlichen Kontext. Die Ehre ist nach Georg Simmel nun jene Normierungsart,
bei der die innere Kontrolle des Akteurs und die äußere Kontrolle der sozialen
Umgebung miteinander verbunden sind:
„Bringt man diese Normierungsarten auf ihren ganz spezifischen Ausdruck, ... so erwirkt das
Recht äußere Zwecke durch äußere Mittel, die Sittlichkeit innere Zwecke durch innere Mittel,
die Ehre äußere Zwecke durch innere Mittel.“18
Das entspricht genau der Funktion der Reputation bei der Entstehung von Kooperation: Die Reputation verweist auf verläßliche innere Eigenschaften des
18
Georg Simmel, Die Selbsterhaltung der sozialen Gruppe, in: Georg Simmel, Soziologie,
Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, 5. Aufl., Berlin 1968a (zuerst:
1908), S. 403.
120
Situationslogik und Handeln
Akteurs, die erst den äußeren Zweck der Kooperation ermöglichen. Die Sittlichkeit bleibt eine bloß innerlich bleibende Angelegenheit. Das Recht erzwingt etwas allein durch äußerliche Maßnahmen. Mit der Ehre erst durchdringen sich die inneren Motive der Akteure und die äußeren Folgen eines
Handelns. Ehre macht durch diese Verschränkung von inneren Motiven und
äußerem Handeln Kooperation gerade da möglich, wo sie besonders schwierig
zu bewerkstelligen wäre. Und zwar über das Vertrauen, das die Ehrenleute
genießen und über die inneren Prämien, die sie mit ihren Taten ganz unabhängig von der äußeren Ehrerbietung einheimsen.
Ehre und Gesellschaft
Max Weber hat die Ehre zu dem entscheidenden Merkmal der Kategorie des
Standes gezählt. Im Unterschied zur rein formal und ökonomisch definierten
„Klassenlage“ ist die „ständische Lage“
„ ... jede typische Komponente des Lebensschicksals von Menschen, welche durch eine spezifische, positive oder negative, soziale Einschätzung der ‚Ehre’ bedingt ist, die sich an
irgendeine gemeinsame Eigenschaft vieler knüpft.“19
Die Ehre ist auch die Grundlage der Vergesellschaftung in der sog. ständischen Gesellschaft: Das ist – nach Georg Simmel – jene spezielle Form einer
Gesellschaft, die durch relativ schwache Grade der formal-rechtlichen Regulierung, durch deutliche Gruppenunterschiede und durch einen relativ hohen
Interaktionsgrad innerhalb der Gruppen gekennzeichnet sind. Die Symbole
der Ehre – die Statussymbole – sind hier von ganz besonderer Bedeutung: Sie
definieren nicht nur den „Stand“ der Akteure, sondern „definitiv“ auch die
ganze Situation des Handelns, wenn sich die Mitglieder der verschiedenen
Stände begegnen (vgl. auch Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
Zu den Stand und Situation definierenden Symbolen zählen dort natürlich
spezielle Insignien etwa der Macht oder des Berufes. Bundesadler und weiße
Kittel zeugen von ständischen Verhältnissen noch in unserer Zeit. Dazu gehören aber vor allem besondere Arten der „‚Stilisierung’ des Lebens“ (Weber
1972, S. 537), etwa in der Bekleidung, auch das Wissen etwa um die „richtige“ Plazierung des Verhaltens, das souveräne Beherrschen von allen möglichen, nur scheinbar unbedeutenden kleinen Tricks, etwa solche der Rhetorik,
oder bestimmter Regeln und Rituale, etwa die gewisser Tischsitten oder Fest19
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5.
Aufl., Tübingen 1972 (zuerst: 1922), S. 534; Hervorhebung im Original.
Die Objektivität der Situation
121
ansprachen. Alles das fungiert als ein für die Akteure enorm produktives Kapital, dessen Erwerb in solchen Gesellschaften oft interessanter und wichtiger
ist als der der „eigentlichen“ Zwischengüter.
Moderne, nicht-feudale Gesellschaften werden nicht mehr derart durch die
Ehre und deren Symbole zusammengehalten. Sie beziehen ihre Integration aus
anderen Vorkehrungen. Die wichtigsten davon sind die vielen indirekten Interdependenzen der Akteure in einem unübersehbaren Geflecht arbeitsteiliger
Abhängigkeiten. Daß diese Interdependenzen bestehen und auch wirklich
funktionieren, erfahren die Menschen zwar auch durch bestimmte Symbole.
Aber das sind keine Statussymbole, sondern sog. symbolisch generalisierte
Medien, die den Akteuren sicher anzeigen, was gerade wichtig ist und worauf
sie sich verlassen können – ganz unabhängig von den Eigenschaften der Personen und ihrer Ehre.
Das Geld gehört zu solchen symbolisch generalisierten Medien. Es signalisiert den Menschen
in der entsprechenden Situation, etwa im Supermarkt, daß sie selbst keine besondere Reputation brauchen, um einen anderen zur verläßlichen Kooperation zu bewegen. Sondern nur eines: einen nicht gefälschten Geldschein oder einen noch nicht ausgeschöpften Kreditrahmen.
Andere derartige Medien sind die Macht für den Bereich der Politik oder die Wahrheit für die
Wissenschaft. Es sind die Bezugsrahmen, die Codes und Programme, nach denen sich die
Akteure jeweils richten müssen, wenn sie in der jeweiligen Sphäre verstanden werden und
etwas bewirken wollen.
In den kleinen Lebenswelten auch der modernsten Gesellschaften geht es aber
gleichwohl – und eher: vor allem – weiterhin um Ehre und Reputation. Das
wird sich nie ändern, weil die soziale Wertschätzung eines der beiden allgemeinen Bedürfnisse der Menschen ist, das nie zu stillen sein wird. Im Gegenteil: Gerade wenn die Ehre als gesellschaftliches Gut immer unwichtiger wird
und auf der Ebene der formalen Beziehungen und indirekten Interdependenzen kaum mehr hergestellt werden kann, werden die kleinen Lebenswelten der
persönlichen Vermittlung von Ehre für die Erzeugung sozialer Wertschätzung
um so bedeutsamer. Und wenn sie nicht mehr produziert wird, dann schaffen
sich die Menschen – in oft verzweifelten Anstrengungen – die Orte dafür, wo
und wie immer das geht. Jugendsekten, Töpfergruppen, linksradikale Szenen
und rechtsradikale Bündnisse sind solche Orte der gegenseitigen Erzeugung
von Wertschätzung.
Die Feinen Leute und die Feinen Unterschiede
Ehre muß – so haben wir oben schon gesehen – „verdient“ sein. Das ist ein
schwieriges und riskantes Unternehmen: Tue Gutes, sorge aber auch dafür,
daß darüber geredet wird. Ehrenvolle Taten, von denen niemand etwas weiß,
122
Situationslogik und Handeln
nutzen dem Akteur nichts. Leider darf niemand merken, daß der Held eventuell es selbst war, der geredet hat. Nichts ist empfindlicher als die Erzeugung
der Ehre durch offensichtlich gewollte Anstrengung. Ehre ist typischerweise
ein Nebenprodukt, das absichtsvoll fast nicht erworben werden kann. Sie verfällt außerdem rasch mit dem Alltag und mit der intimen Kenntnis der Umstände der Ehrenverdienste. Der Alltag ist der Tod nicht nur der Glut der Liebe, sondern auch der Ehrfurcht und der Verehrung und des Charisma. Allein
deshalb gilt der Prophet im eigenen Lande nicht viel. Um so wichtiger wird
dann der Erwerb jener Zeichen, die den anderen auch verläßlich und verfallsgeschützt anzeigen, daß der ersehnte Ruf tatsächlich verdient ist, obwohl das
vielleicht gerade die Frage ist. Thorstein Veblen (1857-1929) hat auf dieser
Grundlage seine „Theorie der feinen Leute“ und Pierre Bourdieu seine Ideen
über die „feinen Unterschiede“ entwickelt.20
Der Kern der Überlegungen von Thorstein Veblen war, daß das, was man
Geschmack oder Stil bzw. demonstrativen Konsum nennt, keineswegs eine irrationale Verschwendung, sondern ein besonders geschickter und effizienter
Versuch der Statussicherung durch die Demonstration von „Verdienst“ ist.
Veblen spricht vom „spezialisierten Güterkonsum als Zeugnis finanzieller
Macht“ (Veblen 1987, S. 79; Hervorhebung nicht im Original), ein Zeugnis
das für den Erhalt der sozialen Wertschätzung – und langfristig für alles andere auch – dann besonders wichtig wird, wenn die finanzielle Macht – das „eigentlich“ interessierende primäre Zwischengut – schon gebrochen ist. Wichtig
werden Symbole der Wertschätzung in der Tat besonders dann, wenn die
Menschen Probleme haben, die „eigentlichen“ Zwischengüter unter Kontrolle
zu bringen oder zu halten. Jeder, der einen Kredit braucht, weiß, daß er im
feinen Zwirn und mit dem Mercedes zur Bank fahren muß – und eben nicht:
in Jeans und mit dem Fahrrad. Die Statussymbole funktionieren ja wenigstens
eine zeitlang auch dann, wenn eigentlich nichts dahinter steckt. Das ist einer
der Gründe für die Sucht nach Titeln und Ehrenmitgliedschaften wie auch für
den demonstrativen Konsum, der ja zu nichts anderem dient als der Umwelt
anzuzeigen, daß man doch über Dinge verfügt, die für alle von Interesse sind
und daher zu sozialer Wertschätzung veranlassen und einen besonderen Vertrauensvorschuß rechtfertigen. Die Akteure wissen nämlich ganz genau: Mit
dem Verlust der Symbole gehen die Wertschätzung und die Vertrauenswürdigkeit auch dann verloren, wenn die Kontrolle über die „eigentlichen“ Zwischengüter durchaus noch besteht. Und interessanterweise ist es oft sogar sehr
schwer, bei einem Verlust des Symbols oder seines Wertes, auch die
20
Thorstein Veblen, Theorie der feinen Leute. Eine ökonomische Untersuchung der Institutionen, Frankfurt/M. 1986 (zuerst: 1899); Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt/M. 1982.
Die Objektivität der Situation
123
Kontrolle über die „eigentlichen“ Zwischengüter zu behalten. Auch dieser
Sachverhalt erklärt leicht die unglaublichen Aufgeregtheiten der Menschen,
wenn es um ihre Ehre geht: Es steht immer sehr viel mehr auf dem Spiel als
bloß der Ruf.
Pierre Bourdieu hat einen ähnlichen Gedanken entwickelt. Titel, Ehrenzeichen oder bestimmte, von Parvenüs nicht mehr erwerbbare Besonderheiten
des Habitus, sind keine leeren Hülsen des Gebarens, sondern eine enorm bedeutsame Art von Kapital, das von anderen Akteuren nicht erworben werden
kann. Pierre Bourdieu nennt es das kulturelle Kapital. Es dient weniger als
unmittelbar nutzbare Ressource, sondern ist ein Mittel im Statuskampf der
Gruppen. Pierre Bourdieu sieht in der über die demonstrative Nutzung von
kulturellem Kapital symbolisch vollzogenen Abgrenzung der Gruppen voneinander – in der Distinktion – eine wirksame Strategie zur Statussicherung –
vor allem natürlich der oberen Schichten gegen die lästigen Eindringlinge von
unten:
„Die im objektiven wie im subjektiven Sinn ästhetischen Positionen, die ebenso in Kosmetik,
Kleidung oder Wohnungsausstattung zum Ausdruck kommen, beweisen und bekräftigen den
eigenen Rang und die Distanz zu anderen im sozialen Raum.“ (Bourdieu 1982, S. 107; Hervorhebungen nicht im Original)
Die feinen Unterschiede und der gute Geschmack sind ganz offenkundig alles
andere als zwar teure, aber ansonsten unschuldige Marotten der Feinen Leute.
Der Kampf um die Ehre
Die Grundlage der Ehre in einem Kollektiv ist das jeweils geltende Wertsystem der Einschätzung der entsprechenden Symbole. Dieses Wertsystem ist
das, was oben als Prestige bezeichnet wurde.
Mit dem Wertsystem des Prestiges ist in einem Kollektiv festgelegt, woran sich höchste soziale Wertschätzung oder tiefste Verachtung – manchmal in einer Form des „Alles oder Nichts“
– knüpfen: Die Virginität unverheirateter Mädchen und die Virilität der jungen Männer in
Süditalien beispielsweise. Zeichen dafür – wie die Zurückhaltung der Mädchen bei Werbungsversuchen oder die mannhafte Vergeltung von Beleidigungen bei den jungen Männern
– sind ein Ehrensymbol, wenn die Regeln jeweils genau eingehalten wurden. Oder ein tief
diskreditierendes Stigma, wenn das nicht geschieht. Das Vorzeigen des Bettlakens am Morgen nach der Hochzeitsnacht vor aller Öffentlichkeit ist der Test für die Einhaltung der Regeln – bei beiden. Weil von diesen Tests der Ehrenhaftigkeit manchmal buchstäblich das Leben abhängt, etwa weil es keinen leichten Ausweg zu anderen Orten der Nutzenproduktion
gibt, wird um sie mit allen Fasern der Leidenschaft gefochten. Von außen oder aus der Warte
der eigenen Kultur kann man sich nur wundern, warum die Menschen derartigen Verrücktheiten nachhängen. Aber mit dem Wissen um die Definition der sozialen Produktionsfunktionen
in der betreffenden Gemeinschaft und darum, daß das unstillbare Bedürfnis nach einem posi-
124
Situationslogik und Handeln
tiven Selbstbild von der sozialen Anerkennung durch unersetzbare, spezifische, höchst „signifikante“ Andere abhängt, ist nichts Verrücktes mehr daran.
Ändert sich das Wertsystem des Prestiges, dann werden die gleichen Symbole
und Eigenschaften ganz anders „produktiv“. Besonders folgenreich sind deshalb Umdefinitionen der Prestigeordnung für diejenigen, die über bestimmte,
bisher sehr verläßliche Symbole der Ehre verfügen, das nicht ändern können
und/oder viel darin investiert haben, sie zu erlangen. Bestimmte Titel, eine
bestimmte Hautfarbe oder ein bestimmtes Geschlecht sind – unter Umständen
– plötzlich nichts mehr wert – oder gelten jetzt gar als ehrabschneidendes
Stigma. Es dreht sich bei der Definition des Prestiges meist um alles. Und
deshalb geht es bei solchen „Wert“-Konflikten oft noch leidenschaftlicher zu
als beim alltäglichen Wettlauf um die Ehre im Rahmen einer bestehenden
Wertordnung (vgl. dazu auch noch Abschnitt 4.3).
Symbole der Ehre sind – wie jetzt vor dem Hintergrund der sozialen Produktionsfunktionen leicht einsehbar wird – also viel mehr als materiell eigentlich belanglose Zeichen. Sie verweisen auf den Kern der objektiven Definition
von Situationen. Und das heißt: Ihr Wert ist von der gesellschaftlichen Festlegung der sozialen Produktionsfunktion abhängig, bei der das Symbol der input und die Wertschätzung der output sind. Im Hintergrund steht ein bestimmtes objektiv gültiges, durch subjektive Interpretationen nicht einfach veränderbares, System der Verteilung von Rechten und von Prestige – und darüber
des Wertes, den ein bestimmtes kulturelles Kapital, das ein Akteur oder eine
Gruppe kontrolliert, jeweils hat. Weil dieses Kapital aber oft das einzige
Pfand der Akteure zur Produktion der Mittel ist, die für die Bedienung ihrer
Bedürfnisse nach sozialer Wertschätzung und nach physischem Wohlbefinden
notwendig sind, ist der Kampf um die Symbole und um deren Bewertung eine
oft lebenswichtige Investition in diese Produktion. Es ist nichts Unverständliches daran, wenn der Kampf um die Ehre und um die Symbole dafür besonders leidenschaftlich und blutig und oft genug bis auf Leben oder Tod geführt
wird.
Kapitel 4
Interesse und Kontrolle
Zwei grundlegende Bedürfnisse haben die Menschen: soziale Wertschätzung
und physisches Wohlbefinden. Darin sind sie sich alle gleich. Sie unterscheiden sich aber sehr in ihren Präferenzen und Bestrebungen nach den Dingen
der Welt.
Die einen wollen mehr Lohn, die anderen höhere Gewinne, 42 Tore in der Bundesliga diese
und die blaue Mauritius jene. Ein in der Kabinettsrunde ungeschmälertes Budget seines Ressorts ist der Stolz jedes Ministers, und der Beifall ist das Brot des Künstlers. Eine Politesse
freut sich über zahlreiche Anzeigen, ein Anwalt über einen gewonnenen Prozeß und ein Richter über die Korrektheit des Verfahrens. Schriftsteller sind beglückt nach hohen Auflagen und
lobenden Besprechungen und deprimiert nach einem Flop im Verkauf und einem Verriß im
Literarischen Quartett. Wissenschaftler suchen nach der Wahrheit und sehnen sich nach dem
Nobelpreis; und sie neiden ihn dem stets weniger bedeutenden Kollegen, der ihn denn bekommt. Der Rektor einer Universität wünscht sich nichts mehr als die Einrichtung eines Sonderforschungsbereiches – egal, was dort geforscht wird. Eine Stasi-Medaille vor der Wende
ehrt selbst einen Gottesmann, danach weit weniger – und so weiter.
Man kann nicht gut sagen, daß es „allgemeine“ Bedürfnisse nach Bundesligatoren, nach der blauen Mauritius oder nach einem Sonderforschungsbereich
gibt. Aber daß es – unter Umständen – deutliche Präferenzen dafür gibt, daran
kann auch kein Zweifel sein. Die Antwort auf dieses Rätsel gibt das Konzept
der sozialen Produktionsfunktionen, das wir im letzten Kapitel kennengelernt
haben: Durch die „Verfassung“ der sozialen Produktionsfunktionen werden an
sich ganz neutrale Dinge zu primären und zu indirekten Zwischengütern, zu
kulturellen Zielen und institutionalisierten Mitteln, zum Code des Sinns und
zum Programm des Handelns in einer Situation. Die Menschen bleiben zwar,
was ihre Bedürfnisse angeht, im Prinzip stets die Gleichen. Aber je nach der
gesellschaftlichen Definition der Situation streben sie nach etwas anderem
und tun – oft genug mit entschiedener Leidenschaft – Dinge, die sie unter anderen Bedingungen gelassen oder sogar mit aller Bestimmtheit vermieden und
abgewehrt hätten.
Die Definition der primären und der indirekten Zwischengüter begründet
das Interesse der Menschen an bestimmten Ressourcen, Objekten, Ereignissen
126
Situationslogik und Handeln
und Leistungen. Um eine Ressource zur Nutzenproduktion einsetzen zu können, muß der Akteur auf sie einen verläßlichen Zugriff haben. Ohne diesen
Zugriff hätte er von der interessantesten Ressource nichts. Dies begründet die
zweite grundlegende Beziehung des Akteurs zu den Ressourcen in seiner
Umgebung: den Grad der Kontrolle, den er über die Ressource ausübt. Interesse und Kontrolle beschreiben, wie wir in Kapitel 1 schon gelernt haben, die
beiden grundlegenden Relationen zwischen Akteuren und Ressourcen. Situationen sind nichts weiter als Kombinationen dieser beiden grundlegenden Relationen. Mit ihrer systematischen Verteilung ist strukturell bestimmt, wie die
Menschen zueinander stehen. Unter anderem: Ob sie sich in einem Konflikt
gegeneinander befinden oder Interesse an einer Kooperation miteinander haben.
4.1
Interesse
Das Interesse eines Akteurs an einer Ressource ergibt sich aus der Effizienz
der Ressource für die Bedienung der beiden allgemeinen Bedürfnisse: Je mehr
Nutzen sie durch die Erzeugung von sozialer Wertschätzung und physischem
Wohlbefinden produzieren kann, um so höher ist das Interesse des Akteurs an
ihr.
Bedürfnisse und Interessen
Die Interessen der Menschen sind damit zwar nicht mit den Bedürfnissen
nach sozialer Wertschätzung und physischem Wohlbefinden identisch, hängen
aber mit ihnen – mehr oder weniger eng – zusammen. Sie beziehen sich auf
die sehr variablen Verhältnisse in der äußeren Umgebung des Akteurs, die
Bedürfnisse demgegenüber auf die relativ stabilen inneren Funktionsbedingungen seines Organismus. Daraus folgt eine wichtige Feststellung: Interessen können – ganz anders als die beiden allgemeinen Bedürfnisse – nicht allgemein sein, sondern sind immer nur gesellschaftlich und historisch spezifisch. Mit der Änderung der „Verfassung“ und der Tiefenstruktur einer Gesellschaft, mit der Änderung der Definition der sozialen Produktionsfunktionen und mit der Änderung der materiellen und institutionell definierten Restriktionen müssen sich somit auch die Interessen der Menschen an bestimmten Ressourcen, ihre Präferenzen, unmittelbar ändern – auch wenn die Bedürfnisse und das Streben nach Nutzenmaximierung gleich bleiben.
Interesse und Kontrolle
127
Die Interessen der Menschen sind daher kulturell wie historisch nicht nur
unterschiedlich, sondern ändern sich, da sich die „Verfassungen“ der Gesellschaften und die sozialen Produktionsfunktionen wandeln, auch fortwährend
und entstehen immer wieder neu. Nach außen sieht es dann oft so aus, als
würden Menschen neue „Bedürfnisse“ entwickeln und sich mit dem Wandel
der Gesellschaft in ihrer „Natur“ ändern. Das ist aber nicht der Fall: Die
grundlegenden Bedürfnisse bleiben immer gleich. Was sich ändert und zu einer Änderung in den „Motiven“ und inneren Bestrebungen der Menschen
führt, sind nur die äußeren Bedingungen, unter denen die Bedürfnisse gesellschaftlich erfüllt werden können.
Die Intensität der Interessen
Das Interesse an bestimmten Ressourcen kann unterschiedlich intensiv sein.
An den indirekten Zwischengütern, an den institutionalisierten Mitteln, sind
die Menschen beispielsweise nur indirekt und nur insoweit interessiert, wie
sie helfen, ihre „eigentlichen“ Ziele zu erreichen: die primären Zwischengüter, die Erfüllung der Bedürfnisse und – letztlich – die Erzeugung des Nutzens. Aber wenn die Mittel der indirekten Zwischengüter sehr wichtig und effizient sind, dann können sie auch ein sehr starkes Interesse erzeugen – insbesondere dann, wenn es sich um Symbole handelt, die ganz unmittelbar zu sozialer Wertschätzung und physischem Wohlbefinden führen – obwohl man die
Symbole weder essen noch von ihnen geliebt werden kann. Über das Konzept
der sozialen Produktionsfunktionen wird leicht erklärbar, warum sich die
Menschen für so unterschiedliche Dinge und in so unterschiedlich intensivem
Maße interessieren, engagieren und emotionalisieren. Geliebte Lebenspartner
und Haustiere, alle möglichen Lebensgewohnheiten, die vertraute Umgebung,
der Beruf oder eine religiöse oder politische Überzeugung u.a. werden im
Laufe des Lebens oft zu unersetzlichen primären Zwischengütern mit sehr direktem Zugang zur Erzeugung von Wertschätzung und Wohlbefinden. Revolutionen, Mord, Trauer und Verzweiflung brechen vorzugsweise dann aus,
wenn es an solche unersetzlichen primären Zwischengüter und an die Effizienz der entsprechenden sozialen Produktionsfunktion geht. Und das tiefste
Glück überkommt die Menschen dann, wenn ihnen unerwarteterweise ein
höchst effizientes primäres Zwischengut geschenkt wird, mit dem sie nicht
mehr gerechnet hatten.
Glück und Trauer, Mord und Totschlag gibt es wegen der indirekten Zwischengüter weit weniger. Sie sind, weil es immer nur „Mittel“ sind, weitaus
eher substituierbar. Aber auch darüber kann es zu Streit, Neid und gnadenlo-
128
Situationslogik und Handeln
ser Konkurrenz kommen. Und zwar vor allem wegen jener indirekten Zwischengüter, mit denen man sich in fast beliebiger Weise mit primären Zwischengütern versorgen kann. Ein solches, höchst effizientes Mittel zur Produktion sehr vieler – wenngleich nicht: aller – primären Zwischengüter ist das
Geld. Wohl nicht aus purem Zufall drehen sich Krieg und Revolution, Mord
und Selbstmord, Intrige und Streit meist um die beiden effizientesten Zwischengüter für die Produktion des Lebens ganz allgemein: um die Liebe und
um das Geld.
Die Hierarchie der Bedürfnisse
Von Abraham H. Maslow stammt eine einflußreich gewordene Vorstellung
über die Struktur der menschlichen Bedürfnisse. Danach gibt es eine Hierarchie von Bedürfnissen derart, daß zuerst bestimmte Basic Needs erfüllt sein
müßten, bevor an andere, an „höhere“ Bedürfnisse überhaupt zu denken sei.1
An erster Stelle sei den Menschen die Erfüllung der sog. Physiological Needs
wichtig. Maslow begründet deren Vordringlichkeit mit den biologischen
Funktionsbedingungen des menschlichen Organismus. Daran ist sicher auch
etwas sehr Wahres. Für den Zahnschmerz hat Wilhelm Busch am Beispiel des
verhinderten Dichters Balduin Bählamm die Vordringlichkeit der Physiologie
vor allem anderen so beschrieben:
„Kaum wird der erste Stich verspürt,
Kaum fühlt man das bekannte Bohren,
Das Rucken, Zucken und Rumoren –
Und aus ist’s mit der Weltgeschichte,
Vergessen sind die Kursberichte,
Die Steuern und das Einmaleins.
Kurz, jede Form gewohnten Seins,
Die sonst real erscheint und wichtig,
Wird plötzlich wesenlos und nichtig.
Ja, selbst die alte Liebe rostet –
Man weiß nicht, was die Butter kostet –
Denn einzig in der engen Höhle
Des Backenzahnes weilt die Seele, ... .“2
1
2
Abraham H. Maslow, Motivation and Personality, New York, Evanston und London
1954, S. 83ff.
Wilhelm Busch, Balduin Bählamm, der verhinderte Dichter, in: Wilhelm Busch,
Humoristischer Hausschatz, München 1973, S. 254.
Interesse und Kontrolle
129
Bei Maslow ist dieser resignativ-spöttische Tonfall über die physiologischen
Grenzen erhabener Gedanken und eitler Wünsche ebenfalls deutlich zu spüren:
„The urge to write poetry, the desire to acquire an automobile, the interest in American history, the desire for a new pair of shoes are, in the extreme case, forgotten or become of secondary importance.“ (Maslow 1954, S. 82)
Bei starken physischen Entbehrungen wie Hunger oder Durst lebt der Mensch
also tatsächlich nur vom Brot – bzw. von acht Glas Veltins – allein. Erst wenn
dieses Problem gelöst ist, kann an andere und an „höhere“ Bedürfnisse gedacht werden. In der Reihenfolge der Bedürfnishierarchie von Maslow sind
das: Safety Needs, Belongingness and Love Needs, Esteem Needs und –
schließlich – The Need for Self-Actualization (ebd., S. 84-92).
Maslow unterscheidet in seiner Hierarchie zwei grundlegende Pole: Am
einen Ende die physiologischen Bedürfnisse, am anderen das Bedürfnis nach
Selbstverwirklichung. Dazwischen sind die anderen Bedürfnisse in der beschriebenen Reihenfolge angeordnet. Die Pole der Hierarchie lassen sich –
leicht erkennbar – auf das physische Wohlbefinden einerseits und auf die soziale Wertschätzung bzw. das positive Selbstbild andererseits beziehen.
Das war jedenfalls das Ergebnis einer Reihe von Untersuchungen von Ronald Inglehart zur
Verteilung der Werte des sog. Materialismus und des sog. Postmaterialismus in verschiedenen Ländern und im Wandel der Zeit. Der Wert des Materialismus bezeichnet dabei eine primäre Orientierung an den Bedürfnissen in der Dimension des physischen Wohlbefindens, der
Wert des Postmaterialismus in der Dimension der sozialen Wertschätzung, insbesondere aber
den Grad der Selbstverwirklichung.3
Bis auf den Extremfall der kompletten Unterbedienung der physiologischen
Bedürfnisse geht Maslow dann aber nicht mehr von der Annahme einer Hierarchie der Bedürfnisse aus, sondern von der bereits in Kapitel 3 angenommenen Simultan-Bedingung: Es ist immer das Bedürfnis besonders drängend,
das gerade relativ am wenigsten erfüllt ist. Die Ökonomen nennen dies das
Gesetz vom Ausgleich der Grenzproduktivitäten. Anders gesagt: Es gibt zwar
eine Hierarchie der Bedürfnisse derart, daß zuerst die physiologischen Funktionsbedingungen erfüllt werden müssen. Wenn die physische Versorgung
und Absicherung aber nur einigermaßen gesichert ist, dann müssen die Bedürfnisse möglichst simultan bedient werden.
Inglehart weicht in seiner Begründung für den Wertewandel vom Materialismus zum Postmaterialismus mit zunehmendem Wohlstand deshalb auch von Maslow insofern ab, als er be-
3
Ronald Inglehart, The Silent Revolution. Changing Values and Political Styles Among
Western Publics, Princeton, N.J., 1977, S. 41ff.
130
Situationslogik und Handeln
hauptet, daß immer, wenn die physischen Bedürfnisse zuverlässig erfüllt sind, sich die sozialen Bedürfnisse vordringlich bemerkbar machen (Inglehart 1977, S. 22f.). Daraus erklärt
Inglehart, daß sich mit steigendem Wohlstand die Werte der Selbstverwirklichung nach vorne
gedrängt hätten, und daß die physiologischen Bedürfnisse wegen ihrer weitgehenden Absättigung in den Wohlstandsgesellschaften für die Ausbildung übergreifender Wertorientierungen
nur noch eine untergeordnete Rolle spielen würden. Maslow sagt – übrigens im Einklang mit
allem, was man bislang über das innere Funktionieren menschlicher Organismen weiß – etwas anderes: Es kommt, wenn nur die schlimmsten Gefährdungen der physischen Existenz
gebannt sind, auf die relative Unterversorgung an, welches Bedürfnis sich vordrängt. Und das
kann – wenn es etwa die Selbstverwirklichung in hohem Maße schon gibt – dann durchaus
auch wieder das physische Wohlbefinden sein. Warum joggen denn alle die selbstverwirklichten Postmaterialisten eigentlich so viel?
Deutlich ist bei derartigen Überlegungen über die Anordnung und die Intensität von Bedürfnissen zu unterscheiden, was an den postulierten „Bedürfnissen“ allgemeine Eigenschaft der menschlichen Natur, und was das Ergebnis
spezifischer gesellschaftlicher Konstruktionen von Interessen ist. Das Streben
nach einem positiven Selbstbild über die Erlangung sozialer Wertschätzung
ist ein allgemeines Bedürfnis. Es muß aber keineswegs mit Selbstverwirklichung verbunden sein. Diese scheint vielmehr ein ganz besonders spezifisches
Interesse zu sein, das eng mit einem bestimmten Typus von Gesellschaften
verbunden ist. Es ist ein Interesse aus dem Geiste des Individualismus, der
Moderne und der protestantischen Ethik. In immer noch den meisten Teilen
der Welt ist es jedenfalls unbekannt.
Das Konzept der Bedürfnishierarchie von Maslow ist ein weiterer Beleg
für die Annahme, daß es nur zwei allgemeine Bedürfnisse gibt. Eine „Hierarchie“ wird daraus erst durch spezifische Interessen, die nur in ganz bestimmten Gesellschaften als plausibel und vordringlich gelten.
Die Idee des Interesses
Die Idee des Interesses ist selbst ein Produkt der modernen Gesellschaft. Sie
hat eine lange philosophische Geschichte. Als Ausdruck geht das Wort auf einen Euphemismus des Mittelalters zurück. Damals galt das Zinsverbot, und
man begann die für geliehenes Geld erhobenen, ökonomisch mehr und mehr
unvermeidlich werdenden Zinsen etwas beschönigend als „Interesse“ zu bezeichnen.4 Später – im Westeuropa des ausgehenden 16. Jahrhunderts – erhielt
der Begriff die Bedeutung von „Anteilnahme, Streben, Vorteil“ (ebd.), jedoch
in einem noch sehr weiten Sinn, nicht eingeschränkt auf die heute eher geläu4
Albert O. Hirschman, Leidenschaften und Interessen. Politische Begründungen des Kapitalismus vor seinem Sieg, Frankfurt/M. 1987, S. 41.
Interesse und Kontrolle
131
fige Bedeutung ausschließlich ökonomischer Vorteile. Der Begriff „ ... umfaßte vielmehr die Gesamtheit menschlichen Strebens“ und enthielt auch
„ ... ein Element der Reflexion und Kalkulation hinsichtlich der Art, wie diesem Streben nachzukommen war.“ (Ebd.)
Dabei wurde das Konzept des Interesses bewußt den dunklen und nur
schwer bezähmbar scheinenden „Leidenschaften“ der Menschen gegenübergestellt. Das Interesse ist in dieser Sicht ein Mittel zur Kontrolle der Leidenschaften, letztlich aber wieder selbst im „Interesse“ der Bedienung der verborgenen Leidenschaften, der Bedürfnisse der Menschen also.
In den früheren Bedeutungen des Begriffs des Interesses war auch die Doppelfunktion der – primären wie der indirekten – Zwischengüter enthalten: Die
Produktion nicht nur von Gütern, die dem physischen Wohlbefinden dienen
sollen, sondern auch der Sicherung und Mehrung der sozialen Wertschätzung.
Albert O. Hirschman zitiert den Schriftsteller François La Rochefoucauld
(1613-1680), der in seinem „Rat an den Leser“ in der zweiten Auflage seiner
„Betrachtungen oder Moral, Sentenzen und Maximen“ von 1665 schreibt:
„Unter dem Wort Interesse verstehe ich nicht ausschließlich das Interesse an Gütern (un intérêt de bien), sondern oft eines, das der Ehre oder dem Ruhm gilt.“5
In diesen frühen Fassungen des Begriffs des Interesses schwingt durchaus
schon die Idee der sozialen Produktionsfunktionen mit – die Vorstellung von
der sozial sinnhaften, an den geltenden institutionellen Regeln orientierten
Produktion der Mittel für die Bedienung der individuellen Leidenschaften.
Gerade diese institutionell begründete Systematisierung der Neigungen erzeugt – gegenüber den vielen schwankenden Leidenschaften der Menschen –
eine ganz eigene Verläßlichkeit: „Interest Will Not Lie“. Es ist eine in England im 17. Jahrhundert sehr verbreitete Maxime. Sie war die „ ... Aufforderung, allen eigenen Neigungen auf geordnete und vernünftige Art und Weise
nachzugehen; ... .“ (Hirschman 1987, S. 49; Hervorhebungen so nicht im Original) Damit aber
„ ... wurde die Einführung eines Elements kalkulierender Effizienz wie auch kluger Vorsicht
in das menschliche Verhalten empfohlen, gleichgültig von welchen Leidenschaften dieses ursprünglich motiviert sein mochte.“ (Ebd.)
Also: Was auch immer die Menschen in ihren privaten Leidenschaften umtreiben mag – es wäre für sie von Vorteil, sich an den tatsächlichen Umständen zu orientieren, gerade um diese Leidenschaften zu ihrem Recht kommen
5
François La Rochefoucauld, Oeuvres, Band 1, Paris 1923, S. 30; zitiert nach der Übersetzung bei Hirschman 1977, S. 47; Hervorhebungen nicht im Original.
132
Situationslogik und Handeln
zu lassen. Das Interesse ist also eine abgeleitete Leidenschaft, die die „eigentlichen“ Leidenschaften kontrollieren und dem Handeln der Menschen eine
gewisse Berechenbarkeit verleihen kann. Wir werden gleich sehen, daß es
durchaus auch Interessen geben kann, die den Menschen unmittelbar zur Leidenschaft werden.
Internalisierung
Die Leidenschaften und Bedürfnisse können die Menschen mit ihrem Handeln
nicht unmittelbar befriedigen. Stets müssen sie dazu erst „Zwischen“-Güter
herstellen oder beschaffen, die sie eigentlich gar nicht interessieren. Oft lassen
sich die Menschen bei ihrem Handeln auch von Normen und Werten leiten,
deren Befolgung aufwendig ist und den Verzicht auf Reizvolles nach sich
zieht. Die Beachtung von Normen und Werten zählt zunächst also auch nur
zum indirekten input bei der Produktion von Wohlbefinden, Wertschätzung
und Nutzen allgemein. Und es fällt sicher auch schwer, bestimmte Normen
und Werte als anthropologisch verallgemeinerbare Bedürfnisse der Menschen
zu interpretieren. Gleichwohl werden gelegentlich bestimmte Handlungen,
Normen und Werte von den Menschen zu Teilen ihrer inneren Identität gezählt, an denen sie oft genug sogar mit all seiner Leidenschaft festhalten. Was
zuvor bloß ein „Zwischen“-Gut war, hat nun – wie es scheint – die Eigenschaft eines veritablen und eigenständigen Bedürfnisses angenommen: Die
Zumutung des Sollens der Norm ist zum innersten und leidenschaftlichen
Wollen geworden. Die Norm ist in das System der inneren Bedürfnisse übernommen, sie ist internalisiert worden.
Im Modell der drei sozialen Produktionsfunktionen kann die Internalisierung von Normen leicht als Spezialfall des Übergangs zwischen Organismus
und Gesellschaft bzw. sozialer Umgebung dargestellt werden (vgl. Abbildung
4.1).
133
Interesse und Kontrolle
X
Z
SW, PW
U
soziale
menschlicher
Umgebung Internalisierung Organismus
Abb. 4.1: Internalisierung als Überlappung von Zwischengütern und Bedürfnissen
Die Internalisierung einer Norm (bzw. eines Wertes) läßt sich als Überlappung der Zwischengüter und der beiden allgemeinen Bedürfnisse darstellen,
um die es bei der Befolgung der Norm geht: Die Befolgung etwa der Norm
„Du sollst nicht unnötig mit dem Auto fahren“ ist dann nicht mehr nur ein
primäres Zwischengut, das angestrebt wird, um damit etwa Mißbilligung
durch andere zu vermeiden, sondern erzeugt unmittelbar mit dem Akt des
Verzichtes auf das Auto intern erlebtes physisches Wohlbefinden und eine innere Hochachtung vor dem eigenen Selbst: ein gutes Gewissen. Es ist eine Art
von Kurzschluß in der Interpenetration von menschlichem Organismus und
sozialer Umgebung.
Im Modell wurde nur eine Überlappung der primären Zwischengüter mit den beiden allgemeinen Bedürfnissen angenommen. Möglich ist freilich auch, daß ganze Komplexe von Vorprodukten und instrumentellen Handlungen – indirekte Zwischengüter also – internalisiert
werden. Je weiter weg vom Organismus diese Vorprodukte sind, um so schwieriger und um
so unwahrscheinlicher wird es jedoch in der Regel, daß sie in die Bedürfnisse der Menschen
eingehen: Ihr „intrinsischer“ Belohnungswert wird dann immer kleiner. Die Lustbesetzung
indirekter Zwischengüter gibt es jedoch durchaus auch: Mancher Leichtathlet findet das an
sich sehr mühselige Training super, ohne an die Medaillen zu denken; und Onkel Dagobert
empfindet Lust schon beim bloßen Anblick von Geld. Wenn die Menschen sich nur für sehr
indirekte Zwischengüter und Mittel, ganz fern von den kulturellen Zielen begeistern, dann ist
das normalerweise aber schon etwas merkwürdig. Robert K. Merton hat dies als Ritualismus
bezeichnet (vgl. dazu noch Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen
Grundlagen“): Die Befolgung der institutionalisierten Mittel alleine ist schon das innerlich
nutzenstiftende Ziel der Bestrebungen.
134
Situationslogik und Handeln
Die internalisierten Zwischengüter erzeugen den Nutzen also ganz unmittelbar und so, als ob es sich um richtige Bedürfnisse handeln würde. Das kann
sogar so weit gehen, daß massive Entbehrungen aus dem betreffenden Handeln gerne getragen, und daß auch auf die nur von außen erlebte soziale Wertschätzung verzichtet werden kann, weil das Selbstbild mit der Internalisierung
ja eine ganz andere, eine lustvoll-moralische, Grundlage hat. Der
gesellschaftliche Effekt der Internalisierung wird leicht einsehbar: Die sozial
definierten und deshalb stets speziellen und zunächst indirekten Interessen
und die allgemeinen und für den Organismus unmittelbar wichtigen
Bedürfnisse werden deckungsgleich: Das äußere gesellschaftlich bestimmte
Interesse wird mit der Internalisierung zu einem inneren Bedürfnis des
individuellen Akteurs.
Die Internalisierung ist die Folge von Lernprozessen, insbesondere in der frühkindlichen Sozialisation (vgl. dazu noch das Kapitel 9). Der Mechanismus der Internalisierung funktioniert
auch bei vielen nicht-menschlichen Organismen: Wenn ein an sich ganz neutrales Objekt
immer mit einem Erlebnis der Bedürfnisbefriedigung zusammen auftritt, dann übernimmt
nach einiger Zeit dieses Objekt die Eigenschaft des Bedürfnisses selbst. So werden die Entstehung und die Änderung aller möglichen kulturellen Vorlieben und Abneigungen, die Entstehung und Änderungen von Präferenzen also, erklärbar: nach Tee und nach Nieselregen in
England, nach Kaffee und nach l’amour toujours in Frankreich zum Beispiel. Das Prinzip
wird das der sekundären Verstärkung genannt. Menschen kommen über dieses Prinzip auf die
gleiche Weise dazu, einer gewissen Moral fraglos um ihrer selbst willen zu folgen, wie der
Speichelfluß den Pawlowschen Hund ganz unwiderstehlich anfällt, wenn er das Glöcklein
wieder hört, das früher einmal immer ertönte, wenn es ein Kotelett gab, das von Natur aus
seinen Bedürfnissen sehr nahe steht.
Der Effekt der Konditionierung ist bei Hunden und Menschen der gleiche:
Das Handeln und das Streben nach Zwischengütern ist in diesem Fall unabhängig vom Erfolg. Der Weg ist dann schon das Ziel. Die Nutzenproduktion
erfolgt im Handeln unmittelbar. Abraham H. Maslow hat diesen Gedanken in
seiner Theorie der Verbindung von Motivation und Handeln so ausgedrückt:
„An act is psychologically important if it contributes directly to satisfaction of basic needs.
The less directly it so contributes, or the weaker this contribution is, the less important this act
must be conceived to be ... .“ (Maslow 1954, S. 93; Hervorhebung nicht im Original)
Wie weit allerdings diese Folgen der Internalisierung gegenüber den aktuellen
Versuchungen und Kosten der jeweiligen Moral wirklich tragen, ist eine offene Frage. Es gibt immer eine Grenze des moralischen Handelns. Keine Norm
und kein Wert gilt bedingungslos. Die Grenzen der Moral liegen im Aufwand
für den Akteur einerseits und in der Produktivität der stets lockenden nichtmoralischen Alternativen andererseits. Eine brauchbare Theorie des Handelns
muß angeben können, wann dieser Schwellenwert zwischen moralischem und
unmoralischem Handeln überschritten ist und wann nicht. Wir ahnen es jetzt
Interesse und Kontrolle
135
vielleicht schon, was diesen Schwellenwert ausmacht: Alles ist nur eine Frage
des Preises und der Höhe der Versuchung.
Werte
Die Interessen sind es, die die Leidenschaften der Menschen in strukturierte
Bahnen lenken. Und die Moral ist es, die die unter Umständen sehr zahlreichen und widersprüchlichen Interessen der Menschen bändigt und in eine überschaubare Ordnung bringt. Sie gibt dem Fühlen und Handeln gegenüber
den vielen Versuchungen und widerstreitenden Interessen jene Stabilität und
Widerständigkeit, aus der erst eine einigermaßen funktionierende Orientierung und ein verläßliches soziales Handeln möglich werden. Die Moral ist eine Art der Antwort auf die wohl grundlegendste Frage der Soziologie: Wie ist
eine Integration der verschiedenen Interessen zu einem stabilen System der
individuellen Orientierung und der sozialen Ordnung möglich?
Das gedankliche und emotionale System der moralischen Ordnung und
Organisation der Interessen und des daran gebundenen Handelns wird auch
als Wertsystem bezeichnet. Ein Wert ist ein „allgemeiner Standard“ des Wünschenswerten. Er wird – von den Akteuren im Akt der Orientierung in einer
Situation – „über“ die Ebene der speziellen Interessen als Bewertungsmaßstab
gelegt und macht es so möglich, die verschiedenen Interessen nach ihrer „Relevanz“ zu ordnen. Werte sind somit besondere Formen eines gesellschaftlich
verbreiteten mentalen Modells, der kollektiven Repräsentation und damit: der
gemeinsamen „Einstellung“ der Menschen auf eine Situation. Sie sind ein Teil
seiner sozialen Identität. Sie sind – relativ – konstant in der Zeit und – relativ
– unempfindlich gegen Änderungen in ihrer Umgebung. In einer berühmt gewordenen Passage haben der Anthropologe Clyde Kluckhohn „and others“
den Begriff des Wertes so definiert:
„A value is a conception, explicit or implicit, distinctive of an individual or characteristic of a
group, of the desirable which influences the selection from available modes, means, and ends
of action.“6
6
Clyde Kluckhohn u.a., Values and Value-Orientations in the Theory of Action. An Exploration in Definition and Classification, in: Talcott Parsons und Edward H. Shils
(Hrsg.), Toward a General Theory of Action, Cambridge, Mass., 1954, S. 395; Hervorhebung so nicht im Original. Zum Konzept des Wertes insgesamt vgl. die Übersicht bei:
Jan W. van Deth, Introduction: The Impact of Values, in: Jan W. van Deth und Elinor
Scarbrough (Hrsg.), The Impact of Values, Oxford u.a. 1995, S. 1-18.
136
Situationslogik und Handeln
Der Unterschied zwischen Werten und Interessen wird in einer auf den amerikanischen Philosophen John Dewey (1859-1951) zurückgehenden Wendung
gut umschrieben: Interessen definieren „the desired“, Werte dagegen „the desirable“. Es ist der gleiche Unterschied, den Adam Smith wohl vor Augen hatte, als er davon sprach, daß die Menschen nicht nur aktuell geliebt werden,
sondern vielmehr als liebenswert gelten wollen.
Die Grenze zwischen den Werten und den Bedürfnissen ist auch leicht zu
ziehen: Werte beruhen – wie die Interessen – auf gesellschaftlichen Definitionen und sind deshalb nicht allgemein, sondern immer auch nur spezifischer
Art. Sie können aber – wie manches Interesse ja auch – zu einer Art von „Bedürfnis“ werden: Wenn die Menschen individuell internalisiert haben, was als
gesellschaftlich wünschenswert gilt (vgl. dazu die Bemerkungen zur Internalisierung oben).
Die Werte übergreifen also die spezifischen Interessen der Akteure und
Gruppen, damit auch die kulturellen Ziele und die institutionalisierten Mittel.
Sie bringen sie in eine orientierende, hierarchische Ordnung der Wünschbarkeit nach einem moralischen Prinzip. Diese Eindimensionalität macht die orientierende Kraft der Werte aus. Man kann nur einem Werte jeweils dienen.
Manchmal wird ein Interesse bzw. ein kulturelles Ziel zu dem alleine geltenden Wert in einer Gesellschaft – wie laut Robert K. Merton der American
Dream für die amerikanische Gesellschaft.
Die Organisation der Interessen
Gesellschaften bestehen aus zahllosen arbeitsteilig ausdifferenzierten funktionalen Sphären und kulturell verschiedenen Milieus gewisser Lebensstile und
darüber aus einer Vielzahl von ganz unterschiedlichen Gruppen der Bevölkerung. Alle diese Bereiche und Gruppen haben jeweils ihre eigenen „Werte“ –
unterhalb der übergreifenden Ebene der Werte der Gesellschaft. Es sind die
das Handeln dort jeweils organisierenden Oberziele und Codes mit den dazu
gehörenden Programmen. Es sind die kulturellen Ziele der Untergruppen, die
funktionalen Imperative in den funktionalen Sphären und die speziellen kulturellen Fokalobjekte der Milieus und Lebensstile (vgl. dazu noch ausführlich
Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Die kulturellen Ziele, die funktionalen Imperative und die Fokalobjekte
der Milieus definieren die spezifischen Interessen der Menschen in den jeweiligen Unterbereichen. Innerhalb der Unterbereiche wirken diese Interessen
aber wiederum „wie“ Werte: Sie „rahmen“ dort den Sinn des Handelns in jeweils besonderer, aber für den Bereich dann auch maßgeblicher Weise nach
Interesse und Kontrolle
137
dem, was dort jeweils als wünschenswert, ja als moralisch gefordert, gilt. Das
können entsprechend ganz unterschiedliche Orientierungen sein – vorzugsweise die an den primären Zwischengütern, um die es dort jeweils speziell
geht: Den Schweinezüchter hat der Schweinespeck, den Ausländerbeauftragten die Nöte der Asylbewerber und den Innenminister die Schlagkräftigkeit
des Bundesgrenzschutzes zu interessieren. Und alles andere nur an nachrangiger Stelle. Jedes der verschiedenen Interessen erzeugt also nach seinem Code
und Programm innerhalb „seines“ Bereiches eine ganz eigene und zwingende
Situationslogik, der sich die Akteure in diesem Bereich nicht entziehen können, wenn sie Wertschätzung erlangen und sich physisch wohl fühlen wollen:
Schweinezüchter, die etwa für die Verteuerung der Schweinezucht eintreten,
fremdenfeindliche Ausländerbeauftragte oder multikulturelle Innenminister
bekommen bald zu spüren, was mit den Begriffen des Codes und des Programms und der „Logik der Situation“ gemeint ist.
Gleichwohl kann es bei der bloßen Situationslogik der Unterbereiche einer
Gesellschaft ja nicht bleiben. Sie „müssen“ zu einer abgestimmten Ordnung,
zu einer Integration finden, die die zentrifugalen Kräfte der situationsspezifischen Eigenlogik der Interessen begrenzt. Eine der Antworten der Soziologie
auf das Problem der Integration war die Annahme, daß diese Abstimmung über moralische Werte ermöglicht wird, die über alle Teilbereiche hinweg gelten und das Handeln der Akteure in ihrer speziellen Situationslogik eingrenzen und auf das „Ganze“ hin ausrichten. Integriert werden die verschiedenen
Unterbereiche und Subsphären mit ihren ganz unterschiedlichen inneren
Wertrahmen gemäß dieser Konzeption dann also wieder durch gesellschaftlich übergreifende Werte. Das ist für kleine und übersichtliche Gesellschaften
auch gut vorstellbar. Evident ist aber auch, daß in sehr komplexen und daher
zwingend innerlich widersprüchlichen Gesellschaften dieser übergreifende
Wertrahmen nur noch recht abstrakt sein kann (vgl. dazu auch noch Band 2,
„Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Letztlich kann er dort nur noch bestimmte allgemeine Prinzipien des richtigen
Handelns – wie etwa den kategorischen Imperativ – enthalten, nicht aber mehr
konkrete Anweisungen. Aber damit ist den Menschen bei ihrem Tun nicht viel
geholfen. Die Folge ist nicht schwer abzusehen: Wertediffusion, ja Werteverfall und die Integration der Gesellschaften über ganz andere Mechanismen als
durch übergreifende Werte und Moral.
138
Situationslogik und Handeln
Die „Verfassung“ des Selbst
Clyde Kluckhohn bezog die Werte in seiner Definition ausdrücklich auf
Gruppen und auf Individuen. Die Funktion der Werte für ein Individuum kann
ganz analog zu der für Gruppen oder ganze Gesellschaften angesehen werden:
Mit der Anzahl und mit der Vielfalt der Bereiche, in denen sich ein Akteur
aufhält, wird er mit den Widersprüchlichkeiten seiner eigenen Interessen konfrontiert.
Das war das Problem, das in Kapitel 1 im Zusammenhang mit der Identität
der Akteure bei sehr vielen und widersprüchlichen Me-Bereichen erwähnt
wurde. Die Lösung wurde dort ebenfalls bereits angedeutet: Die Akteure geben sich – im Interesse ihrer Handlungsfähigkeit – eine besondere „Verfassung“: Die Ich-Identität, beispielsweise in der Form eines besonderen Prinzips
oder Oberziels, dem der Akteur jetzt folgen und sein Leben weihen will. Diese „Verfassung“ des Selbst ist aber nichts anderes als ebenfalls ein Wertsystem. Es ist auch ein Standard des Wünschenswerten. Er fungiert als der Rahmen, der die Interessen des Akteurs zu einer handlungsfähigen Einheit – zu
einer „Person“ – integriert (vgl. dazu auch noch Band 6, „Sinn und Kultur“,
dieser „Speziellen Grundlagen“).
Werte sind besondere Formen der „Einstellung“ der Akteure auf die Situation. Sie finden ihren „Sitz“ daher immer nur bei den individuellen Akteuren.
Wo sonst? Zu „gesellschaftlichen“ Werten werden sie erst durch ihre Verbreitung in einem Kollektiv individueller Akteure. Ob es zu einer solchen
Verbreitung und „Überlappung“ von „Individuum und Gesellschaft“ wirklich
kommt, ist stets eine offene Frage: Die individuellen (Ich)-Identitäten der Akteure als „Personen“ und die geteilten gesellschaftlichen Werte „müssen“ sich
in keiner Weise entsprechen. Manchmal tun sie es, manchmal nicht. Für einfach strukturierte Gesellschaften mit einer hohen Ähnlichkeit der Akteure und
einer starken Sichtbarkeit ihres Tuns kann davon ausgegangen werden, für
moderne, komplexe, innerlich widersprüchliche Gesellschaften sehr viel weniger – wenn überhaupt.
Wertewandel und Werteverfall
Die Werte, Interessen und Bedürfnisse bilden gelegentlich eine gleichgewichtige, sich reproduzierende Einheit. Manchmal gerät diese Einheit aus dem
Gleichgewicht. Das sind die Zeiten des Wandels der Tiefenstrukturen einer
Gesellschaft und der Änderung der sozialen Produktionsfunktionen. Erst ein
neues Gleichgewicht der Einheit von Bedürfnissen, Interessen und Werten –
Interesse und Kontrolle
139
auf der Grundlage einer neuen Definition der sozialen Produktionsfunktionen
– beendet diesen Prozeß, der stets von starken Spannungen zwischen gesellschaftlichen und individuellen Werten begleitet ist.
Das Bild von der stabilen Einheit der Werte, Interessen und Bedürfnisse ist
eher auf recht einfach gebaute Gesellschaften zugeschnitten. Für moderne, also komplexe und von ihrem Aufbau her widersprüchliche Gesellschaften ist
die Einheit der Bedürfnisse, der Interessen und der Werte und deren Gleichgewicht entschieden zuviel verlangt. Warum das so ist, hat einen einfachen
Grund: Letztlich sind die Werte ja auch nur Vorkehrungen und Mechanismen
der Reproduktion der Menschen. Sie bilden keineswegs eine unhinterfragbare
und eigenstabile „letzte Realität“, sondern sind von den Umständen abhängig,
unter denen die Menschen die Mittel erzeugen, mit denen sie ihre Bedürfnisse
befriedigen. Wenn die Werte mit den sie begründenden Interessen und mit der
Nutzenproduktion in Widersprüche geraten – etwa weil sich die gesellschaftliche Definition der sozialen Produktionsfunktionen geändert hat –, dann werden sie den Menschen unplausibel und sogar lästig – und schließlich, sei es
durch ein mehr oder weniger bewußt-strategisches inneres Tun, sei es als Ergebnis der Schließung von Kompromissen oder einfach evolutionär durch das
Aussterben der Anhänger der nicht mehr „passenden“ Werte, geändert.7
Genau das war der Kern der Idee vom Wertewandel bei Ronald Inglehart:
Wenn das Interesse etwa an materiellem Wohlstand gesättigt ist, dann verfällt
auch der Wert des Materialismus, der diesem – in Nachkriegszeiten besonders
vordringlichen – Interesse seine übergreifende Plausibilität verlieh. Und nun
gibt es Platz für einen Wert, der die neu entstandenen bzw. jetzt erst denkbaren Interessen legitimiert: Der Wert des Postmaterialismus ist die plausibel erscheinende Legitimation für das Interesse an Selbstverwirklichung, das ja keineswegs bloß ein lange verschüttetes Bedürfnis ist, das jetzt endlich nach vorne drängen kann, sondern eine allzu oft sogar als bedrückend empfundene
Anforderung an viele Menschen in bestimmten Sphären der modernen Gesellschaft.
Besonders in den modernen Gesellschaften ändern sich die sozialen Produktionsfunktionen fortwährend, differenzieren sich in unzählige Unterbereiche, die alle miteinander lose gekoppelt sind, und lassen sich eigentlich durch
keinen übergreifenden Standard des Wünschbaren mehr ordnen. Wenn die
Werte aber zu abstrakt sind oder mit allen Interessen schon strukturell ständig
in Widerspruch stehen oder dauerhaft für die Integration der Gruppen und der
7
Vgl. zu dieser Sicht etwa: Ann Swidler, Culture in Action: Symbols and Strategies, in:
American Sociological Review, 51, 1986, S. 275ff.; Andreas Wimmer, Kultur. Zur Reformulierung eines sozialanthropologischen Grundbegriffs, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 48, 1996, S. 407ff.
140
Situationslogik und Handeln
Akteure nicht benötigt werden, dann verfallen sie bald ganz, und zwar durchaus auch ersatzlos. In den modernen Gesellschaften geschieht die Integration
der Interessen daher auch ganz anders als über die steuernde Kraft eines einzigen Standards des Wünschbaren: über die anonyme Macht des Geldes, über
die indirekten Verflechtungen der Arbeitsteiligkeit, über Märkte und – nicht
zuletzt – über die Neutralisierung der Interessen gerade dadurch, daß sie so
widersprüchlich und unübersichtlich sind. Die Komplexität, nicht die Vereinheitlichung der Interessen über gemeinsame Werte ist die Grundlage der Integration moderner Gesellschaften.
Das Geld, die Märkte und die Kreuzung der Interessen haben die Werte als
Mechanismus der Integration in den modernen Gesellschaften nahezu überflüssig gemacht (vgl. dazu auch noch Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Der Verfall der Moral ist vielleicht
beklagenswert, aber nur eine direkte Folge der besonderen Konstruktion der
modernen Gesellschaft zur Bedienung der Bedürfnisse der Menschen. Gerade
in der „unmoralisch“ besorgten Sicherung der physischen Existenz und in der
Mehrung der Chancen auf Selbstentfaltung ist sie ja unerreicht erfolgreich
gewesen. Auch das ist ein Grund, warum die Menschen so an ihr hängen, ohne sie über geteilte Werte emphatisch und leidenschaftlich zu unterstützen. Es
reicht den meisten Menschen für die Unterstützung der Gesellschaft, in der sie
leben, vollkommen, daß ihre speziellen Interessen nicht systematisch verletzt
und ihre allgemeinen Bedürfnisse einigermaßen bedient werden.
4.2
Kontrolle
Die Kontrolle über eine Ressource ist der Grad der Verfügbarkeit darüber im
Moment des Handelns. Die unter Kontrolle stehenden Ressourcen sind das
Budget, das Einkommen bzw. das Kapital des Akteurs, das er für die Nutzenproduktion (vgl. dazu bereits Kapitel 1) einsetzen kann.
Die Kontrolle über eine Ressource ist zunächst eine Angelegenheit des Akteurs, eine Frage seiner Möglichkeiten, seiner physischen Kräfte, seiner psycho-sozialen Künste und aller seiner Mittel, die ihm zur Verstärkung der körperlichen und psycho-sozialen Möglichkeiten zur Verfügung stehen, eine
schlagkräftige Faust oder Fachwissen zum Beispiel. Es ist aber auch eine Angelegenheit, bei der die Umgebung mitspielen muß: Ob jemand zum Beispiel
ein Stück Land als Ressource unter Kontrolle bekommen und dann nutzen
kann, hängt von der Einrichtung von sog. Eigentumsrechten ab. Und das ist
eine Frage, die in der Verfassung der jeweiligen Gesellschaft geregelt ist.
Interesse und Kontrolle
141
Erworbene und askriptive Eigenschaften
Zu den Ressourcen eines Akteurs gehören auch seine Eigenschaften, Talente
und Fähigkeiten. Die können erworben („achieved“) oder zugeschrieben
(„ascribed“) sein. Man spricht auch von erworbenen und von askriptiven Eigenschaften. „Erwerb“ meint, daß erst gewisse Leistungen zur Kontrolle über
die Eigenschaft führen: Wissen wird – beispielsweise – durch die Leistung
des Lernens erworben. Der Akteur kann dabei also selbst etwas für die Kontrolle der Eigenschaft tun. „Zuschreibung“ heißt: Der Akteur hat es nicht
selbst in der Hand, ob er die Kontrolle übernimmt oder nicht, ob er sie abgeben kann oder nicht. Bei geschätzten Eigenschaften, wie bei körperlicher
Schönheit oder einem geerbten Adelstitel, ist das nicht weiter tragisch. Das ist
anders bei unerwünschten oder diskreditierenden Eigenschaften – wie bei einer Nasenwarze oder einem Großvater, der in der Waffen-SS war. Manchmal
werden erworbene Eigenschaften zu askriptiven Merkmalen: Eine StasiMedaille ist ohne Zweifel durch gewisse Leistungen verdient worden; wenn
sie einmal verliehen ist, dann läßt sich diese Ehrung aber nicht mehr ungeschehen machen. Einige zugeschriebene Merkmale können, wenngleich meist
nur unter großen Anstrengungen, geändert werden, wie etwa die Hautfarbe
oder sogar das Geschlecht. Andere lassen sich nur verbergen, wie eine zweifelhafte Herkunft, Schwerhörigkeit oder ein nach der Wende unangenehm
gewordener Orden.
Technik, Wissenschaft und Institutionen
Nichts hat die Menschen erfinderischer gemacht als die Suche nach Mitteln
zur Vermehrung und zur Manipulation der Kontrolle von Ressourcen. Technische und wissenschaftliche Erfindungen und Entdeckungen sind die eine Seite
der Erfindungen zur besseren Kontrolle von Ressourcen gewesen: Faustkeile,
Pfeil und Bogen, Gartenbau und Landwirtschaft, die Domestizierung von Tieren, die Erfindung des Rades und der Dampfmaschine, die Soziologie und die
Gentechnologie zum Beispiel. Soziale Erfindungen waren die andere Seite: Es
ist eine Frage der institutionellen Regelungen, die festlegen, wer wann unter
welchen Umständen welche Ressourcen zur Verfügung hat. Die beiden wichtigsten sozialen Erfindungen zur Verbesserung der Kontrollausübung sind die
Organisation der Kontrollausübung als Herrschaft und – damit meist verbunden – die Verteilung von Rechten. Herrschaft und Rechte sind vor allem in
solchen Fällen wichtig, in denen die Kontrolle über eine Ressource nicht vom
142
Situationslogik und Handeln
isolierten Handeln eines Akteurs allein, sondern von den kollektiven Handlungen einer Mehrzahl von Akteuren abhängig ist.
Macht und Herrschaft
Die sozial bestimmte Kontrolle von Ressourcen hängt ganz allgemein davon
ab, inwieweit ein Akteur Macht über andere Akteure ausüben kann, die ihm
diese Kontrolle bestreiten. Dabei ist es zunächst ganz gleichgültig, welche
Grundlage die Macht jeweils hat. Und wieder stammt die einschlägige Stelle
dazu von Max Weber:
„Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch
gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.“8
Eine besonders verläßliche Form der Sicherung von Kontrolle durch die Ausübung von Macht über andere Akteure ist die Organisation der Kontrollausübung als Herrschaft. Herrschaft ist – vereinfacht gesagt – die Ausübung von
institutionalisierter Macht (vgl. dazu noch Band 5, „Institutionen“, dieser
„Speziellen Grundlagen“). Sie zeigt sich darin, daß andere Akteure die Weisungen des Herrschers ohne große Widerrede befolgen:
„Herrschaft soll heißen die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden.“ (Weber 1972, S. 28; Hervorhebungen so nicht im Original)
Herrschaft ist also, anders als die Macht, eine spezifische Beziehung zwischen
Akteuren: Für bestimmte Zwecke tun angebbare Personen etwas. Damit sie
das auch verläßlich tun, muß die Herrschaft durch Zwangsmittel im Hintergrund unterstützt sein. Die Einrichtung und die effiziente Ausübung von Herrschaft besteht daher insbesondere in der Schaffung und Unterhaltung eines –
wie Max Weber es nennt – Erzwingungsstabes zur Durchsetzung von Kontrollansprüchen, wenn es doch Schwierigkeiten mit dem Gehorsam gibt: einen
Gerichtsvollzieher, eine dahinter stehende Verwaltung, die Polizei und – letztlich – eine schlagkräftige Armee, kurz: einen Staat.
Die Einrichtung eines Staates ist eine sehr voraussetzungsreiche Angelegenheit. Sie macht es
notwendig, daß die gesellschaftliche Produktion bereits einen gewissen Surplus erbringt.
Mächtigere herrschaftliche Organisationen zur Kontrollausübung – unterstützt durch eine eigentlich ja ganz unproduktive Armee – gibt es daher in kleinen, segmentär differenzierten
Stammesgesellschaften nicht. Die stratifikatorisch differenzierten Staatsgesellschaften des
Feudalismus waren die ersten Formen einer größer angelegten Organisation der Kontrolle
8
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5.
Aufl., Tübingen 1972 (zuerst: 1922), S. 28; Hervorhebungen so nicht im Original.
Interesse und Kontrolle
143
von Ressourcen. Moderne Gesellschaften verlassen sich auf die – mehr oder weniger – rationale Bürokratie und Verwaltung (vgl. dazu auch noch Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
Zwang und Angst vor dem langen Arm des Herrschers reichen für eine hinreichend verläßliche Ausübung von Herrschaft nicht aus. Die Herrschaft muß bei
den betroffenen Personen auch als legitim gelten. Die Legitimität der Herrschaft kann auf unterschiedlichen Grundlagen beruhen – sei es etwa, daß der
Herrscher eine außergewöhnlich überzeugende, eine charismatische Figur ist,
sei es, daß aus Gewohnheit und Tradition gehorcht wird, oder sei es, daß die
Befolgung der Anweisungen zu den formal geregelten Dienstpflichten – eines
Beamten etwa – gehört. Max Weber unterscheidet entsprechend die charismatische, die traditionale und die rationale Herrschaft.
Die „Dialektik“ der Herrschaft
Jede Herrschaft legt mit ihrer übergreifenden und oft staatlich abgesicherten
Kraft mehr oder weniger unverrückbar fest, welche Eigenschaften und Ressourcen etwas wert sind, welche weniger oder gar nichts, und wer darüber
rechtmäßige Kontrolle beanspruchen kann, und wer nicht. Sie ist die Grundlage der Geltung einer bestimmten Verfassung und definiert und sichert so das
jeweilige System der sozialen Produktionsfunktionen. Die Herrschaft ist daher
die mit Abstand interessanteste Ressource, weil sie die gesellschaftliche Definition der sozialen Produktionsfunktionen erlaubt, und weil sie es damit möglich macht, daß jeweils das eigene Kapital der herrschenden Gruppe besonders effizient in der Nutzenstiftung wird.
Das erzeugt zwingend systematische Unterschiede zwischen den Gruppen
in einer Gesellschaft, insbesondere zwischen denen, die dem Zentrum der
Herrschaft nahestehen, und denen, die das nicht tun. Die Einrichtung einer jeden bestimmten Herrschaft erzeugt somit notwendigerweise einen Konflikt. Es
ist der Konflikt darüber, welche primären Zwischengüter überhaupt etwas
wert und welche indirekten Zwischengüter legitim sind. Es ist ein Konflikt
über die Vorrangigkeit der Interessen bestimmter Gruppen in einer Gesellschaft und der Nachrangigkeit der Interessen der anderen Gruppen. Es ist ein
Interessenkonflikt (vgl. dazu noch Abschnitt 4.3). Der Interessenkonflikt über
die Herrschaft muß nicht unbedingt zum offenen Kampf und zum Untergang
der jeweils herrschenden Verhältnisse führen, wie das noch Karl Marx gemeint hatte. Er zieht aber, weil er sich aus der „Verfassung“ ableitet, die
grundlegenden strukturellen Grenzen in einer Gesellschaft.
144
Situationslogik und Handeln
Rechte
Bei der Einrichtung einer Herrschaft geht es insbesondere um die Zuteilung
von Rechten. Rechte sind – allgemein – von anderen Akteuren zugestandene
oder formal institutionalisierte Ansprüche auf die Kontrolle bestimmter Ressourcen. Zu solchen Rechten gehören beispielsweise die oben bereits genannten Eigentumsrechte, das gegen Lohnzahlung überlassene Recht auf eine
zeitweise Überlassung der Verfügung über Arbeitskraft und Zeit, das gegen
Liebesdienste überlassene Recht auf einen eigenen Willen oder die sog.
Grund- oder Menschenrechte, die qua Verfassung jedermann – bis auf wenige
Ausnahmen – zustehen und die insoweit auch „unveräußerlich“ sind.
Ein Recht besteht dann, wenn ein Akteur die Kontrolle über eine Ressource ausübt, ohne daß jemand anderes legitimerweise diese Kontrolle bestreitet.9
Rechte sind meist auf bestimmte Handlungen, Orte und Zeitpunkte begrenzt:
Ein Chef kann von einer Sekretärin eben nicht alles verlangen – aber alles,
was vereinbart wurde, wenn die entsprechenden Bedingungen erfüllt sind.
Es gibt erworbene und zugeschriebene, übertragbare und unveräußerliche Rechte. Rechte
gibt es für ganz unterschiedliche Arten der Kontrolle: Für den Besitz und Verbrauch einer
Ressource, für deren Nutzung oder für ihre Weitergabe. Es gibt auch Rechte an Rechten: Jemand kann etwa ein Patent, das ja nichts anderes als ein Recht ist, an einen Konzern zur eigenen Nutzung verkaufen und ihm so das Recht an dem Recht des Patentes übertragen. Und es
gibt – nicht zuletzt – Rechte über das Handeln anderer Personen. Rechte, welcher Art auch
immer, können verändert, zugeteilt, entzogen und aberkannt und getauscht werden. Und alles
das freiwillig oder auch unfreiwillig.
Rechte haben zwei verschiedene Grundlagen: erstens einen Konsens der jeweiligen Akteure, daß das Recht „zu Recht“ besteht. An dem Zustandekommen des Konsenses ist der Akteur dann selbst beteiligt – wie bei der Wahl eines Tagungsleiters für eine Konferenz. Und zweitens eine Verfassung, die
formell bestimmt, wer wann welches Recht gegen wen hat. Diese Verfassung
existiert meist schon, ohne daß der betreffende Akteur an ihrer Konstitution
beteiligt gewesen wäre – wie beim Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland für alle, die erst danach wahlberechtigt waren. Rechte, die über Konsens
bestehen, heißen auch zugestandene Rechte, Rechte, die in einer Verfassung
verankert sind, institutionalisierte Rechte.
Zugestandene Rechte sind also alleine davon abhängig, ob die anderen Akteure mit der Kontrolle der Ressource durch den Akteur einverstanden sind. Sie setzen demnach einen lückenlosen Konsens voraus. In gewissem Sinn ist das Wertesystem, aus dem sich das Prestige bestimmter Akteure oder Gruppen und die damit zugestandenen Privilegien ableiten, nichts an9
Vgl. dazu James S. Coleman, Foundations of Social Theory, Cambridge, Mass., und London 1990, S. 67ff.
Interesse und Kontrolle
145
deres als ein solcher übergreifender Konsens über das Zugestehen von Rechten. Institutionalisierte Rechte sind dagegen Rechte, die über Herrschaft bzw. über ein Dekret eingeführt oder
– wenn einmal über Konsens oder Evolution entstanden – durch Herrschaft abgesichert sind.
Über Herrschaft abgesicherte Rechte sind von dem Konsens der Akteure unabhängiger als solche, die das nicht sind und „nur“ auf Konsens beruhen. Solange
die Institutionalisierung gilt, können sie also auch gegen die Zustimmung der
Akteure in Anspruch genommen werden. Dabei ist aber ein – wenngleich nicht
vollständiger – Konsens auf einer anderen Ebene erforderlich: der Konsens über
die Legitimität der betreffenden Herrschaft, von der oben schon die Rede war.
Mit dem Schwund des Konsenses über die Legitimität würde das Funktionieren
der bürokratischen und der militärischen Absicherungen der rechtlichen Kontrolle von Ressourcen immer wichtiger – eventuell bis zu dem Punkt, an dem
die unzufriedenen Akteure sich auch dieser „letzten“ Kontrollmittel bemächtigen wollen, um das als unerträglich angesehene gesellschaftliche System der
Verteilung der Kontrolle von Ressourcen zu beseitigen und gegen ein neues zu
ersetzen.
4.3
Kooperation und Konflikt
Viele interessante Ressourcen sind unteilbar und nicht beliebig vermehrbar, wie
ein ungestörter Urlaub auf einer bis dahin einsamen Insel, die jetzt von anderen
Touristen überschwemmt wird. Aber ganz alleine macht es auch keinen Spaß.
Viele ebenso interessante Ressourcen lassen sich nur in gemeinsamer Anstrengung erzeugen. Aber dieser Anstrengung möchte man möglichst aus dem Wege
gehen. Und wenn es die Ressourcen gibt, dann möchte jeder möglichst viel davon abbekommen, auch wenn man sie den anderen dafür entwinden muß. Diese
„Dialektik“ durchzieht alle Situationen des Handelns.
Interdependenzen und antagonistische Kooperation
Die angesprochene Dialektik hat ihre Grundlage in den wechselseitigen Abhängigkeiten in denen sich die Akteure befinden. Solche „Interdependenzen“ ergeben sich aus typischen Verteilungen von Kontrolle und Interesse.
Interdependenzen entstehen daraus, daß die Akteure nicht vollständig alle die Ressourcen kontrollieren, für die sie sich interessieren. Das ist eigentlich der überwiegende Normalfall und der
Motor für das gesamte „interaktive“ Geschehen in einer Gesellschaft. Zum Beispiel: Der Bäcker
möchte auch gerne einmal ein Steak essen und der Metzger ein frisches Brot. Und schon sind sie
146
Situationslogik und Handeln
gegenseitig voneinander abhängig – „interdependent“. Denn der Bäcker ist mit seinem Interesse
an den Steaks, die der Metzger kontrolliert, von dem Metzger abhängig. Und der Metzger ist mit
seinem Interesse an dem Brot, das der Bäcker kontrolliert, vom Bäcker wiederum abhängig. Abhängigkeit ist die logische „andere“ Seite der Macht: Der Bäcker hat Macht über den Metzger,
weil er mit dem Brot eine Ressource kontrolliert, die den Metzger interessiert, und der Metzger
hat Macht über den Bäcker, weil er mit den Steaks eine Ressource kontrolliert, die den Bäcker
interessiert. Aus der Art der gegenseitigen Abhängigkeiten entstehen dann typische Arten von
sozialen Interessen, etwa, Brot gegen Steaks zu tauschen, und darüber dann auch wiederum typische Arten von sozialen Konflikten, etwa das antagonistische Interesse, daß der Bäcker nicht
selbst Steaks herstelle und der Metzger keine Brötchen backe.
Aus der Art der Interdependenzen ergeben sich also typische Arten der strukturellen Verbundenheit zwischen den Akteuren und damit zusammenhängenden
sozialen Situationen. Sie haben zwei Pole: Konflikt auf der einen, Kooperation
auf der anderen Seite.
Konflikte entstehen, wenn die Akteure um Ressourcen konkurrieren, die sie
alle interessieren, die aber nur einer von ihnen kontrollieren kann. Konflikte erzeugen auf diese Weise Spaltungen zwischen typischen Gruppen von Akteuren.
Sie sind am stärksten, wenn die Ressourcen, die die Akteure interessieren, nur
soweit kontrolliert werden können, wie andere die Kontrolle darüber aufgeben.
Ressourcen mit dieser speziellen Art der Kontrolle über sie werden auch als Positionsgüter, die entsprechenden Konflikte als Konstantsummenkonflikte bezeichnet, weil das, was der eine gewinnen kann, immer nur auf Kosten des anderen geht und die „Summe“ dessen, was verteilt werden kann, stets gleich
bleibt. Die Herrschaft in einem Land ist ein solches Positionsgut. Und der Konflikt um die Herrschaft ist daher – tendenziell wenigstens – ein solcher Konstantsummenkonflikt, oft sogar ein sog. Nullsummenkonflikt insofern, als die
Summe in der Aufteilung nur null ergibt.
Die Grundlage der Kooperation ist demgegenüber, daß die Akteure an einer
Ressource interessiert sind, die sie nur durch eine gemeinsame Anstrengung erzeugen können. Dieses Interesse führt, wenn es keine sonstigen Hindernisse und
Risiken gibt, die Akteure auch ohne weitere Verständigung und Regelung zusammen. Die Gemeinsamkeit des Interesses bewirkt nicht nur, daß die Akteure
ihre Ressourcen für ein gemeinsames Projekt bündeln, sondern erzeugt auch eine Integration ihrer Orientierungen, ihres Handelns und schließlich des gesamten sozialen Systems, in das sie eingebettet sind. Die daraus entstehende soziale
Situation könnte man die Konvergenz der Interessen nennen: Alle wollen nur
das Eine – und zwar gemeinsam.
Konflikt und Kooperation, Spaltung und Integration kommen nur selten in
ihrer reinen Form vor. Meist sind die Beziehungen der Menschen durch eine
Mixtur der beiden Komponenten gekennzeichnet: Spaltungen werden häufig
von Bestrebungen zur Integration überlagert. Und an sich übergreifend integrierte Gemeinschaften zerfallen gelegentlich in sich befehdende Gruppen. Es ist
Interesse und Kontrolle
147
das Problem der antagonistischen Kooperation, das ganz offensichtlich in der
Natur des Menschen angelegt und ein Grundzug jeder Art von Vergesellschaftung ist. In welcher Weise es sich zeigt, hat nichts mit dem „Charakter“ der
Menschen zu tun: Es ist nur die Art der angestrebten Ressourcen und Güter, die
Verfassung der Gesellschaft und die Verteilung des Interesses und der Kontrolle, die bestimmen, ob die Beziehung mehr antagonistisch oder mehr kooperativ
ist. Die einzelnen Menschen selbst können nicht viel dafür. Sie folgen stets nur
der Logik der Situation, in der sie sich befinden.
Kontrollinteresse und konstitutionelles Interesse
Das zunächst eher „private“ Interesse der Akteure an der Kontrolle von Ressourcen, die für ihre Nutzenproduktion wichtig sind, erzeugen zwei Arten von
sozialen Interessen: Das Kontrollinteresse und das konstitutionelle Interesse.
Das Kontrollinteresse ist das Interesse am Erhalt der bisher kontrollierten interessanten Ressourcen, an der Abgabe der uninteressanten oder gar abwertenden Ressourcen und an der Kontrolle von anderen, bisher nicht kontrollierten
interessanten Ressourcen. Es ist das Interesse der Arbeitnehmer etwa an einem
Inflationsausgleich beim Einkommen oder das der ehemaligen Stasi-Mitarbeiter
an einer Auflösung der Gauck-Behörde.
Zwei, für das soziale Geschehen äußerst wichtige, Spezialfälle des Kontrollinteresses können
unterschieden werden: das Kooperationsinteresse und das Transaktionsinteresse. Das Kooperationsinteresse ist das Interesse daran, mit anderen Akteuren gemeinsame gewinnbringende
Projekte durchzuführen, wozu insbesondere die gemeinsame Produktion von Gütern gehört.
Und das Transaktionsinteresse ist das Interesse an einer möglichst günstigen Verteilung der
vorhandenen Güter, speziell dann an einem gewinnbringenden Tausch von bereits produzierten
oder kontrollierten Gütern.
Das Kontrollinteresse bleibt im Rahmen der jeweils gegebenen institutionellen Ordnung einer Gesellschaft oder Gruppe. Das konstitutionelle Interesse ist
demgegenüber das Interesse an der Geltung oder Durchsetzung einer bestimmten Verfassung der Gesellschaft bzw. bestimmter sozialer Produktionsfunktionen. Es ist das Interesse am Erhalt oder an einem Ausbau einer möglichst hohen Bewertung der bisher kontrollierten Ressourcen, an einer Umwertung der bisher kontrollierten, aber eher uninteressanten oder gar schadenden Ressourcen, sowie auch das Interesse daran, daß die Verfassung sich ändere, damit die jeweils kontrollierten Ressourcen eine bessere Bewertung erfahren. Es ist das Interesse etwa an der Höherbewertung der „Rolle der Frau“,
das an der Beendigung einer rassischen, ethnischen oder religiösen Diskriminierung oder das an der Erhöhung der Bedeutung der Einwerbung von Dritt-
148
Situationslogik und Handeln
mitteln für Ansehen und Auskommen der Hochschullehrer. Daraus ergibt sich
eine wichtige Folge: Wenn es im Zuge der politischen Transformation ganzer
Gesellschaften – wie nach dem Zweiten Weltkrieg, bei der Entkolonialisierung der Dritten Welt in den 60er Jahren oder beim Zerfall des Sozialismus
Anfang der 90er Jahre – um den Aufbau der Institutionalisierung einer gänzlich neuen Ordnung geht, die den neuen, militärisch und bürokratisch abgesicherten Rahmen für bestimmte Rechte bilden soll, dann ist das konstitutionelle Interesse besonders ausgeprägt.
Zur Durchsetzung dieses Interesses werden – insbesondere in den Zeiten
des gesellschaftlichen Wandels, in denen die Karten für die nächsten 1000
Jahre neu gemischt werden – dann letztlich alle Mittel mobilisiert, weil ja der
gesamte Wert des Kapitals, das die Akteure gerade unter Kontrolle haben, davon abhängt, wie die konstitutionelle Definition der gesellschaftlichen Situation schließlich ausgeht. Konflikte über die Festlegung des institutionellen
Rahmens, der über die Verteilung von Rechten bestimmt, Konflikte also über
jene Mittel, die diese Festlegung möglich machen, sind deshalb meist ganz
besonders gnadenlos.
Technische, wissenschaftliche und soziale Erfindungen zur Verbesserung
der Kontrolle von Ressourcen erfolgten wohl nicht aus Zufall meist im Zusammenhang von Beutezügen, Eroberungen, Revolutionen und anderen „konstitutionellen“ Versuchen der Herrschaftssicherung. Der Krieg ist zwar sicher
nicht der Vater aller Dinge, wohl aber der der Technik, der Wissenschaft und
des Staates gewesen. Und seine Mutter ist der Wunsch nach der Kontrolle der
Ressourcen, die es erlauben, den Wert von Ressourcen im eigenen Interesse
zu definieren und die Kontrolle darüber institutionell zu sichern.
Zwei Arten von Konflikten
Bei den Konflikten können zwei Arten unterschieden werden: Interessen- und
Kontrollkonflikte. Sie unterscheiden sich in ihrer Heftigkeit und in der Wahrscheinlichkeit einer gütlichen Einigung. Beide beruhen auf der Struktur der
sozialen Produktionsfunktionen.
Interessenkonflikte
Bei den Interessenkonflikten geht es um die kulturellen Ziele in einer Gesellschaft: Welche primären Zwischengüter taugen für die Nutzenproduktion und
welche nicht? Interessenkonflikte entstehen, wenn über die „Verfassung“ ei-
Interesse und Kontrolle
149
ner Gesellschaft entschieden wird, bestimmte Personen oder Gruppen aber
Ressourcen kontrollieren, die nur unter einer bestimmten Verfassung Wert
haben. Es ist wieder die Frage der „richtigen“ Passung, diesmal der von einer
Person oder Gruppe schon kontrollierten Ressourcen mit der Definition ihrer
Effizienz (vgl. Abschnitt 3.3.2): Was sollte – beispielsweise – Giovane Elber
wohl mit seinem Talent am Ball in einem soziologischen Institut in Bielefeld
anfangen? Und was würde aus Niklas Luhmann im Fritz-Walter-Stadion geworden sein, wenn er etwa von Andy Möller nicht mit einem systemtheoretischen Filigranargument, sondern lediglich mit einem tödlichen Paß in den
freien Raum bedient worden wäre? Jeweils in ihrer „richtigen“ Umgebung
wären beide vom Beifall umrauscht, so aber: Unverständnis und Gelächter.
Interessenkonflikte sind also Auseinandersetzungen über die Geltung bestimmter Verfassungen, die den Wert bereits kontrollierter Ressourcen
bestimmen. Es geht dabei nicht um etwas mehr oder etwas weniger an Kontrolle, sondern um die Effizienz der Ressource insgesamt. Besonders verschärft sind Interessenkonflikte dann, wenn es bei der gesellschaftlichen Definition dieses Wertes um den Wechsel von einer positiven in eine negative
Bewertung geht (und vice versa).
In Abbildung 4.2 sind die sozialen Produktionsfunktionen für zwei verschiedene Gesellschaften skizziert: Rechts für die Gesellschaft 1, in der aktuell die Verfassung 1 gilt, links für die Gesellschaft 2 mit der aktuellen Verfassung 2. Jeweils sind es unterschiedliche primäre Zwischengüter, die Wertschätzung und Wohlbefinden und darüber den Nutzen U erzeugen: das primäre Zwischengut Z1 in der Gesellschaft 1, das primäre Zwischengut Z2 in der
Gesellschaft 2. Der Einfachheit halber sehen wir gleich auf die Produktion des
Nutzens damit.
Der obere Bereich des Diagramms beschreibt über die Funktionen u =
f(z1)1 bzw. u = f(z2)2 die Umstände der Nutzenproduktion unter den „geltenden“ und darauf „passenden“ gesellschaftlichen Verhältnissen. Wer mehr von
dem betreffenden primären Zwischengut kontrolliert, dem geht es in dieser
Gesellschaft besser: Für den Einsatz der Menge z1 des primären Zwischengutes Z1 bekommt ein Akteur in der Gesellschaft 1 einen Nutzen in Höhe von
u11, und entsprechend den Nutzenertrag von u22 mit dem Einsatz der Menge z2
von Z2 in der Gesellschaft 2.
Alles hängt aber davon ab, daß nicht die jeweils andere Verfassung zur
Geltung kommt. Das ist mit dem unteren Bereich des Diagramms und über die
Funktionen u = f(z1)2 bzw. u = f(z2)1 skizziert: Das gleiche primäre Zwischengut, das bisher Wertschätzung, Wohlbefinden und Nutzen erzeugte, führt dann
zu Diskreditierung, Mißbehagen und disutility: Die Menge z1 des primären
Zwischengutes Z1 erzeugt unter den Bedingungen der Verfassung 2 eine disu-
150
Situationslogik und Handeln
tility in Höhe von -u12, und die Menge z2 des primären Zwischengutes Z2 unter denen der Verfassung 1 eine in Höhe von -u21.
U
Gesellschaft 2/
Verfassung 2
Gesellschaft 1/
Verfassung 1
+
u = f(z2)2
u = f(z1) 1
u11
u22
u = g(zg)
z1
z2
Z2
Zg
u = g(zg)
Z1
Zg
-u21
u = f(z2)1
Gesellschaft 2/
Verfassung 1
-u12
-
u = f(z1) 2
Gesellschaft 1/
Verfassung 2
Abb. 4.2: Interessenkonflikte
Beispiele für eine solche Konstellation finden sich vor allem unter den askriptiven Merkmalen, deren positive oder negative Bewertung von der jeweiligen sozialen Umgebung bestimmt
ist, und die nicht einfach abgelegt, geändert oder verborgen werden können. Etwa: Hautfarbe,
Geschlecht, Dialekt, soziale Herkunft, kulturelle Gewohnheiten und biographisch geprägte
Identitäten, religiöse, politische und wissenschaftliche Überzeugungen, auch kulturelle Vorlieben, Freizeitinteressen und Stilpräferenzen, sogar: sexuelle Obsessionen. Dazu gehören
auch bestimmte Verläufe von Karrieren im Statussystem der jeweiligen Gesellschaft, die dabei angesammelten Kenntnisse und Verdienste, insbesondere die sichtbaren oder in Personalakten auffindbaren Symbolisierungen derselben, etwa in Form von Dienstgraden, Auszeichnungen und Orden, etwa in der Waffen-SS oder der NVA, jeweils vor und nach 1945 bzw.
der sog. Wende.
Alles kommt also für die Mitglieder der beiden Gesellschaften darauf an, daß
die „richtige“ Verfassung ihre Geltung behält. Es geht jeweils um sehr viel:
Droht der Gesellschaft 1 eine „Revolution“ hin zu Verfassung 2, dann müssen
die Mitglieder der Gesellschaft 1 einen Verlust von -(u11+u12) befürchten.
Interesse und Kontrolle
151
Ähnliches gilt für die Mitglieder der Gesellschaft 2, wenn der „Anschluß“ an
die Verfassung 1 vor der Tür steht. Hier geht es um den Verlust -(u22+u21).
Leicht läßt sich ausmalen, was mit den Interessen der Akteure in den beiden
Gesellschaften ist: Die Mitglieder der Gesellschaft 1 sind dringend am Erhalt
der Geltung der Verfassung 1 interessiert, und die Mitglieder der Gesellschaft
2 an der der Verfassung 2. Sie tun, wenn sie können, jeweils alles, um die Revolution der Gesellschaft zu verhindern.
Die Höhe der drohenden Verluste bestimmt also das Ausmaß des konstitutionellen Interesses an der jeweils geltenden Verfassung und die Intensität des
Konfliktes zwischen den Akteuren der beiden Gesellschaften, sofern sie sich
das Recht auf die Kontrolle der Verfassung streitig machen. Das Beispiel ist
so gewählt, daß die Interessen an der Durchsetzung einer bestimmten Verfassung nicht gleich sind: Für den Akteur der Gesellschaft 1 steht mit seinem
„Einsatz“ von z1 mehr auf dem Spiel als für den aus der Gesellschaft 2 mit
seinem Einsatz in Höhe von z2. Beispielsweise: Der eine ist General des
Staatssicherheitsdienstes der Gesellschaft 1 und Träger des Großen Vaterländischen Verdienstordens, der andere nur ein informeller Mitarbeiter in seinem
Geheimdienst mit einer mickrigen Verdienstmedaille aus Blech. Leicht ist
auch hier vorherzusagen, wer sich wohl heftiger für den Erhalt „seiner“ Verfassung einsetzen wird.
Spezifisches und generalisiertes Kapital
Es geht bei dem konstitutionellen Interesse um die „Passung“ von Verfassungen zu den von einer Gruppe bereits kontrollierten Ressourcen. Wegen der
Höhe der mit einem Mismatch drohenden Verluste sind das immer besonders
gnadenlose Auseinandersetzungen. Ein Ausweg aus der Unerbittlichkeit des
Alles oder Nichts der Interessenkonflikte liegt in der Kontrolle von Ressourcen, die ihren Wert unabhängig von den Verfassungen behalten. Das hätte zur
Folge, daß für die Akteure der drohende Verlust bei Änderung der Verfassung
verringert wird. Im Diagramm ist es über die Funktion u = g(zg) und die Variable Zg eingetragen. Die Besonderheit des generalisierten Kapitals wird daraus deutlich: Wer es kontrolliert, erzeugt einen gewissen Nutzen – unter allen
Bedingungen. Diese allgemeinen und sozusagen „verfassungsfrei“ wirksamen
Ressourcen wollen wir als generalisiertes Kapital bezeichnen – im Unterschied zu dem spezifischen Kapital an solchen Ressourcen, deren Wert, wie
im Beispiel, ausschließlich von der Geltung einer ganz bestimmten Verfassung abhängt, wie die Merkmale und Ressourcen, die wir bisher mit Z1 und Z2
betrachtet haben.
152
Situationslogik und Handeln
Zum generalisierten Kapital gehören also alle Eigenschaften und Ressourcen, die für viele
verschiedene Zwecke nützlich und anwendbar sind und auf das Interesse anderer Akteure stoßen, wo immer man sie findet: Intelligenz, Organisationstalent, allgemeine Bildung und
Lernfähigkeit, auch: eine gewisse Fügsamkeit unter beliebige Regimes beispielsweise. Vor
allem aber das Geld, insbesondere in einer allseits begehrten Währung. Schließlich gehören
zum generalisierten Kapital auch bestimmte Rechte, die jemand eben nicht verliert, wenn sich
die Verfassung ändert: „unveräußerliche“ Grundrechte beispielsweise, oder auch Pensionsansprüche, die dem ehemaligen Stasi-Mitarbeiter oder BND-Agenten auch dann zustünden,
wenn die Geschichte leider die für sie jeweils falsche „Wende“ genommen hat.
Allgemein kann daher angenommen werden, daß mit dem Anteil des spezifischen Kapitals am gesamten Kapital der Akteure in einer bestimmten Gesellschaft – alles andere gleichbleibend – die Interessenkonflikte und das damit
verbundene konstitutionelle Interesse am Erhalt der bestehenden Verhältnisse
zunehmen: Wer sonst nichts hat als das verfassungsabhängige spezifische Kapital, etwa einer Hautfarbe, eines Geschlechts oder einer Karriere im jeweiligen Regime, der tut alles dafür, daß sich die Verhältnisse nicht ändern. Wer
dagegen weiß, daß er unter allen Umständen gebraucht wird, sieht der Sache
sehr viel gelassener zu. Das alleine erklärt, warum die ethnischen und die religiösen Konflikte, und auch die um die Paradigmen in der Soziologie, stets
besonders heftig und unter Mobilisierung aller Emotionen geführt werden: Es
geht dabei um den Wert eines bis dahin sehr ertragreichen, mit dem Wechsel
der dominierenden Verfassung aber nutzlosen oder gar schädlichen, spezifischen Kapitals; und es ist, weil man außer der ethnischen Identität, der religiösen Überzeugung und dem einmal gelernten Paradigma nichts hat und nichts
kann, wenig an generalisiertem Kapital da, das den Interessenkonflikt zwischen den Gruppen und Paradigmen und das konstitutionelle Interesse am Erhalt der jeweiligen Verfassung entschärfen würde.
Kontrollkonflikte
Kontrollkonflikte sind demgegenüber Auseinandersetzungen um die Kontrolle
der Mittel zur Erreichung der unumstritten als wertvoll festliegenden Ressourcen. Nun geht es nicht mehr um eine Abwertung, sondern „nur“ noch um
„mehr oder weniger“ an Nutzenproduktion. Der schlimmste Fall ist der Verlust der Kontrolle; in den „negativen“ Bereich kann die Nutzenproduktion
nicht geraten. Deshalb sind die Kontrollkonflikte schon strukturell nicht so
heftig und erzeugen grundsätzlich nicht so tiefe Spaltungen wie die Interessenkonflikte. Die Struktur der Kontrollkonflikte läßt sich ebenfalls an einem
einfachen Schema verdeutlichen (Abbildung 4.3).
153
Interesse und Kontrolle
Akteur B
Akteur A
Z
z = f(x) B
z = f(x) A
z1A
z 2B z2A
z1B
X
x2B
0
x 1B
x2A
x 1A
X
Abb. 4.3: Kontrollkonflikte
Jetzt gehe es um die Produktion eines primären Zwischengutes Z, an dem
zwei Akteure das gleiche Interesse haben, und dessen Wert nicht von einer
Verfassungsänderung bedroht ist. Nun sind die Mittel zu seiner Erzeugung
umstritten: Es gibt nur ein nicht-vermehrbares Budget des indirekten Zwischengutes X, mit dem das primäre Zwischengut Z erzeugt werden kann. Weil
das Budget nicht zu vergrößern ist, muß jeweils ein Akteur auf das verzichten,
was der jeweils andere Akteur kontrolliert und für seine Zwecke einsetzen
kann.
Im Diagramm ist die geltende soziale Produktionsfunktion Z=f(X) rechts
für den Akteur A, links für den Akteur B skizziert. Sie ist – als soziale Produktionsfunktion – für beide Akteure natürlich identisch. Zwei Situationen
seien unterschieden. In der Situation 1 kontrolliere A das gesamte Budget: A
kann die Menge x1A einsetzen. Das ist das gesamte Kapital an X, über das beide Akteure zusammen überhaupt verfügen können. Deshalb kontrolliert B
jetzt nichts von X: x1B=0. Mit x1A kann A die Menge z1A des primären Zwischengutes erzeugen, während B mit z1B leer ausgeht. Jede Verteilung in der
Kontrolle von X hin zu B würde auf Kosten der Kontrolle durch A gehen. In
der Situation 2 ist eine solche Änderung der Kontrolle dargestellt. Nun verfügt A über die Menge x2A, und B über die Menge x2B. Die beiden Mengen
ergeben wieder genau das gesamte Kapital an X: Was A aufgegeben hat, hat
B gewonnen; deshalb sind die Differenzen zwischen den Mengen an X, die
154
Situationslogik und Handeln
die beiden Akteure kontrollieren, jeweils gleich. Es ist ein Konstantsummenspiel. Nur die Lage auf der waagerechten Achse verschiebt sich. Für die Situation 2 sind wir davon ausgegangen, daß jeder der beiden Akteure gleich viel
vom Budget der Ressource X kontrolliert: x2A ist gleich x2B.
Natürlich würde der Akteur A nicht so ohne weiteres die Kontrolle über X
an B abgeben wollen. Das liegt nicht daran, daß er an X unmittelbar interessiert wäre, sondern nur an der damit möglichen Bedürfnisbefriedigung und
Nutzenproduktion durch die Erzeugung des primären Zwischengutes Z. Aus
diesem Potential an möglichen Gewinnen und Verlusten für die Nutzenproduktion ergibt sich die Intensität des Kontrollkonfliktes: Bei der Ausgangsverteilung konnte A die Menge z1A erzeugen, während B nichts davon erhielt.
Nach der Umverteilung kann A nur noch die Menge z2A produzieren, während
B jetzt die Menge z2B erzeugt.
Beide erhalten nun, weil die Produktionsfunktionen für beide ja gleich
sind, den gleichen Ertrag an Z: z2A=z2B. Aber es gibt doch einen Unterschied:
Der Verlust von A für die Produktion von Z – und darüber für seine Nutzenproduktion – entspricht der Differenz z1A-z2A. Dieser Verlust ist für ihn kleiner als der Gewinn von B in Höhe von z2B-z1B=z2B – obwohl nun beide zu
gleichen Teilen das Zwischengut X kontrollieren. Der Grund ist leicht zu sehen: Es ist eine Folge des abnehmenden Grenzertrages der sozialen Produktionsfunktion. Das aber heißt: Derjenige, der von einer produktiven Ressource
wenig kontrolliert, hat – bei dem beschriebenen Verlauf der sozialen Produktionsfunktion – ein höheres Interesse an der Umverteilung der Kontrolle als
derjenige, der bereits viel davon kontrolliert an einer Beibehaltung des Status
Quo der Kontrolle hat. Bei einem anderen Kurvenverlauf würden die Akteure
die Folgen einer Umverteilung der Kontrolle natürlich anders empfinden.
Die Heftigkeit der Kontrollkonflikte
Kontrollkonflikte können, gerade wenn die Ausgangsverteilung sehr ungleich
ist, durchaus auch sehr heftig sein, einfach deshalb, weil es sich bei der Kontrolle von nicht vermehrbaren Gütern auch um ein Konstantsummen- bzw. ein
Nullsummenproblem handelt: Was der eine an Kontrolle gewinnt, muß der
andere abgeben. Aber der Konflikt um die Kontrolle ist dennoch meist viel
milder als bei den Interessenkonflikten. Der wichtigste Grund wurde oben
schon genannt: Die Produktion des Nutzens bleibt immer im positiven Bereich. Es wird auch mit einem kompletten Kontrollverlust – anders als bei der
Umwertung der Verfassung – keine Schande erzeugt. Schon geringere
Umverteilungen der Kontrolle lassen auch den jeweils Anderen leben. Und –
last but not least – zeigt sich hier eine segensreiche Folge des ansonsten ja
Interesse und Kontrolle
155
but not least – zeigt sich hier eine segensreiche Folge des ansonsten ja eher
unangenehmen Gesetzes vom abnehmenden Grenzertrag: Wer nicht viel hat,
gewinnt schon durch kleinere Umverteilungen relativ viel, und wer schon viel
besitzt, verliert relativ wenig an Nutzenerzeugung. So läßt es sich leicht großzügig sein: Noblesse oblige – wenn man es denn in genügendem Maße hat,
das Kapital.
Der Konflikt um die Kontrolle der Definitionsmacht
Die in Abschnitt 3.3 des vorigen Kapitels angesprochenen cleavages einer
Gesellschaft, die sich über die kulturellen Ziele einig ist und in der sich die
Gruppen nur nach der Kontrolle der institutionalisierten Mittel unterscheiden,
beruhen auf einem solchen recht milden Kontrollkonflikt: Wenn eine Gruppe
die institutionalisierten Mittel für die Erreichung bestimmter kultureller Ziele
nicht kontrolliert, die Ziele aber selbst unterstützt, dann versucht sie sich „anzupassen“, etwa durch die Erfindung ganz neuer Mittel, möglicherweise auch
solcher, die unter der gegebenen Definition der sozialen Produktionsfunktionen nicht legitim sind. Sie versucht aber eben nicht, die Verfassung der Gesellschaft, die Definition der primären Zwischengüter, die kulturellen Ziele also, zu ändern: Es gibt dort zwar einen Kontroll-, aber keinen Interessenkonflikt.
Leicht schlagen Kontrollkonflikte jedoch in Interessenkonflikte um – und
darüber dann in tiefste Spaltungen. Das ist der Fall, wenn es um die Kontrolle
jener Mittel geht, die es gestatten, die Grundlagen der Gesellschaft zu ändern
und die sozialen Produktionsfunktionen zu definieren. Denn immer gibt es
Gruppen, die von einer bestehenden Verfassung mehr haben als andere. Das
ist das oben beschriebene konstitutionelle Interesse und der Konflikt um die
Kontrolle der Definitionsmacht für die Verfassung einer Gesellschaft, der
Kampf um die Herrschaft in einer Gesellschaft also.
Nun geht es nicht mehr einfach nur um Konkurrenz oder um „Anpassung“,
sondern um etwas anderes: Sollte man nicht, statt einem mühseligen Verteilungskampf um die Kontrolle der Ressourcen nachzugehen, lieber versuchen,
die gesamte Gesellschaft umzuwälzen und durch eine revolutionäre Umdefinition der primären Zwischengüter sowie der Legitimität der Mittel eine
wesentlich effizientere Art der Produktion für sich selbst einzurichten und dadurch den Kampf um die Verteilung der Ressourcen überflüssig machen? Aber was sagen die anderen Gruppen dazu, die mit der Regelung der kulturellen
Ziele und der institutionalisierten Mittel, mit ihren Rechten und sozialen
Chancen, mit dem geltenden System des Prestiges ganz zufrieden sind und an
156
Situationslogik und Handeln
einer Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse überhaupt kein Interesse
haben? Wahrscheinlich haben sie ein ganz anderes Interesse, das sie zur Not
auch mit aller Macht verteidigen werden: das am Erhalt „ihrer“ sozialen Produktionsfunktion, von der der Wert ihrer gesamten Lebensgrundlage abhängt.
Wieder kommt es auf die objektiven, weil strukturell untermauerten, Perspektiven der Gruppen an: Wenn alle nur spezifisches Kapital kontrollieren,
steigt die Wahrscheinlichkeit für solche Konflikte um die Kontrolle der Definitionsmacht. Und das ist ein ganz besonderer Konflikt. Es ist der Konflikt um
die Mittel, die, wenigstens kurzfristig, über alle Konventionen siegen können:
der Kampf um die Panzer, um die Fernsehsender und um die Lehrer, die – alle
auf ihre Weise – für die Durchsetzung einer bestimmten Verfassung sorgen
können.
Integration
Wenn es um die Grundlagen der Nutzenproduktion geht, verstehen die Menschen keinen Spaß. Und daran tun sie auch gut: Wer sich in einer letztlich
doch unfreundlichen Umgebung nicht gegen die Verschlechterung der Reproduktionsbedingungen wehrte, blieb bei der Evolution des Lebens immer schon
auf der Strecke. Wenn hingegen nichts weiter vorliegt, dann befinden sich die
Menschen eher in einer milden kooperativen Grundstimmung. Es ist nicht gegen ihre Natur, wenn die Menschen freundlich zueinander sind. Die Kooperation muß aber eine stärkere Grundlage haben als die bloße Sympathie füreinander, gerade dann, wenn es latente Konflikte gibt. Wieder hängt es von den
objektiven Grundlagen der Ressourcenproduktion ab, ob eine Kooperation
denkbar oder geradezu unausweichlich ist. Dazu gehört beispielsweise die
gemeinsame Abwehr eines Feindes, der die Lebensgrundlage der Gruppen
bedroht, oder die gemeinsame Inangriffnahme einer Investition, die die
Kapitalgrundlage für die Produktion der Zwischengüter langfristig sichert
oder gar erweitert. In beiden Fällen kann das Gut nur produziert werden,
wenn die Akteure zusammenarbeiten. In beiden Fällen vergrößert sich die
Kapitalgrundlage der Akteure. Dieser Zuwachs könnte dann wiederum beiden
zugute kommen. Diese Aussicht – und das Wissen um die objektiven Erträge
aus der Kooperation – motiviert die Akteure zur Zusammenarbeit.
Die Auswirkung der Kooperation kann man sich ebenfalls an Hand der Abbildung 4.3 verdeutlichen. Ohne die Kooperation hätten beide Akteure keine Kontrolle über das betreffende
Gut X. Ihre Position wäre dann – für beide – der Nullpunkt auf der X-Achse. Die Nutzenproduktion läge bei null. Nun werde das Gut X in Kooperation erzeugt. Natürlich kostet die gemeinsame Produktion etwas. Aber es bleibe immer ein Kooperationsgewinn. Dieser Kooperationsgewinn werde – so wollen wir annehmen – auf beide Akteure gleichmäßig aufgeteilt
Interesse und Kontrolle
157
(vgl. die Mengen x2A und x2B). Das erlaubt beiden Akteuren die Produktion von Nutzen über
ein primäres Zwischengut Z – je nach jetzt einsetzbarer Menge von X und je nach dem Verlauf der sozialen Produktionsfunktion (im Diagramm: z2A und z2B). Jetzt wird auch der Kern
des gemeinsamen Interesses erkennbar: Je mehr sie gemeinsam von X erzeugen, desto mehr
Nutzen haben sie – potentiell! – auch individuell davon.
Gleich wird aber auch wieder ein heimlicher Konflikt sichtbar. Nein, genauer:
Es sind zwei latente Konflikte. Schon bei der Zusammenarbeit können sich –
erstens – die Akteure voreinander drücken – wie beim Tauziehen, beim Rudern im Achter oder beim gemeinsamen Tragen schwerer Lasten. Und wenn
es das Gut gibt und wenn es ans Verteilen der Früchte der Zusammenarbeit
geht, dann möchte – zweitens – jeder natürlich den größten Brocken abbekommen. Das muß zwar alles nicht so sein. Es gibt genügend Beispiele für
aufopfernde und selbstlose Zusammenarbeit und für Fairneß und Vertrauen im
Teilen der Früchte gemeinsamer Anstrengung. Aber mindestens könnte immer
einer dabei sein, der falsch spielt. Und wenn sich dieses Mißtrauen einmal
eingeschlichen hat, dann ist es rasch vorbei mit der Kooperation – auch wenn
alle im Grunde immer noch ein hohes Interesse daran haben.
Kurz: Die Kooperation zwischen den Menschen durchzieht oft ein schwer
auflösbares soziales Dilemma: Alle sind an der Kooperation und an dem Gut
interessiert, aber niemand möchte sich bei der Herstellung und bei der Verteilung übers Ohr hauen lassen. Und deshalb unterbleiben viele Kooperationen,
an denen die Menschen eigentlich das größte Interesse haben (vgl. dazu noch
Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
Manchmal aber kann das Interesse an einem Gut der Kooperation so extrem stark sein, daß
auch heftigere latente Konflikte und ein an sich bestehendes Mißtrauen zwischen Gruppen für
eine Zeit lang gänzlich zurückgestellt und überbrückt werden. Konflikte und Mißtrauen brechen dann aber prompt wieder auf, wenn das gemeinsame Ziel erreicht ist. Die Kooperation
und die anschließende Spaltung in einen kalten Krieg zwischen den – durch viele Gräben getrennten – Alliierten des Zweiten Weltkrieges, die gemeinsam der sie in ihrem Lebensnerv
bedrohenden Naziherrschaft ein Ende machten, dann aber sich bald in einem fast tödlichen
Konflikt wiederfanden, sind ein Beispiel dafür.
Die Kooperation der Menschen und die Integration der Gesellschaft hat – wie
man sieht – mit den subjektiven Motiven und „Werten“ des Altruismus, der
Solidarität oder der kommunikativen Verständigung wenig zu tun: Es liegt
letztlich doch immer am individuellen Interesse der Akteure an den jeweiligen
Ressourcen und an den technischen Bedingungen sowie den sozialen Umständen ihrer Herstellung und Verteilung, ob sich die Menschen verbunden
oder getrennt fühlen, ob sie eine Gemeinschaft bilden oder in cleavages zerfallen. Es ist genau das, was die soziologische Kritik am Psychologismus immer sagen wollte: Die Art ihres Umgangs miteinander und die Gefühle zueinander sind die Folge, nicht die Ursache der gesellschaftlichen Strukturen.
158
Situationslogik und Handeln
Noch einmal: Die Professoren
Am Beispiel der Professoren und der beiden Teilgruppen der Locals und der
Cosmopolitans läßt sich das Verhältnis von Konflikt und Kooperation, von
Spaltung und Integration gut zeigen. Professoren bilden zuerst einmal ohne
Zweifel eine Interessen-Gemeinschaft. Insoweit nämlich, als erstens die allgemeine Bewertung von Forschung und Lehre, die Effizienz der für sie bedeutsamen primären Zwischengüter also, davon abhängt, ob das System der
akademischen Bildung und der Universitäten weiterhin Forschung und Lehre
institutionell als „relevant“ definiert und inwieweit die Wissenschaft Ansehen
in der Öffentlichkeit besitzt. Mit den jeweils anderen Gruppen, die die Effizienz der typisch „akademischen“ primären Zwischengüter mindern möchten
– wie etwa die Fachhochschullehrer oder die grünen, roten und schwarzen
Studienabbrecher in den Parlamenten, Feuilletons und Fernsehredaktionen –,
stehen die (Universitäts-)Professoren als Gesamtheit daher in einem Interessen-Konflikt, der eine deutliche Linie zwischen ihnen und diesen anderen
Gruppen zieht. Und genau dieser Konflikt nach außen bindet sie auch nach
innen zusammen.
Eine Gemeinschaft bilden die Professoren zweitens insoweit, als sie allesamt die Kontrolle der Mittel behalten oder erweitern möchten, die sie brauchen, um Lehre und Forschung betreiben zu können. Im Wesentlichen handelt
es sich hierbei um die finanziellen Zuweisungen der jeweiligen Ministerien.
In der Konkurrenz um diese Mittel stehen die Professoren also mit externen
anderen Gruppen in einem Kontrollkonflikt. Auch dies schweißt nach innen
zusammen. Und dann hackt die eine Krähe der anderen in der Tat kein Auge
aus.
In dem gemeinsamen Interesse an der Erhaltung der Effizienz des Wissenschaftssystems und der Kontrolle über die Mittel für dieses Wissenschaftssystem bilden die Professoren somit ein Aggregat von Akteuren mit „objektiv“
begründeten gemeinsamen Interessen, die sie dann auch bei Bedrohung ihrer
gemeinsamen Teile der sozialen Produktionsfunktionen vehement verteidigen
– notfalls mit Hilfe von eigens dazu gegründeten Verbänden und Interessenvertretungen.
Aber es gibt nicht nur Eintracht zwischen Krähen und – man höre! – auch
nicht immer zwischen Professoren. Im Gegenteil: Insoweit die Professoren in
Teilgruppen mit jeweils typisch unterschiedlichen Elementen der sozialen
Produktionsfunktionen zerfallen – wie bei den Forschern und bei den Lehrern
– durchschneidet diese Gemeinsamkeit in den Interessen nach außen ein
durchaus ähnlich heftiger Konflikt nach innen. Nun hacken sie sich gegenseitig oft nicht nur ein Auge, sondern alle beide aus. Es gibt wohl kaum ein miß-
Interesse und Kontrolle
159
günstigeres Milieu als jenen – hoffentlich: nur kleinen – Teil des akademischen Lebens, der sein eigentliches Ziel, die Suche nach Wahrheit, lange
schon aufgegeben hat und nur noch ritualistisch daran denkt, die innere Position im Statuskampf zu festigen.
Wieder geht es dabei erstens um die Effizienz der jeweiligen speziellen
Produktionsfunktionen und zweitens um die Kontrolle der Mittel. Die Forscher streiten in einem Interessenkonflikt mit den Lehrern darüber, welche
Aufgabe die wichtigere sei – und sie stehen daher externen Umwertungen der
Gewichte von Forschung und Lehre, etwa durch die Ministerien, mit unterschiedlicher Sympathie gegenüber. Und sie stehen in einem Kontrollkonflikt
über den ihnen insgesamt zugewiesenen Kuchen an Mitteln darüber, wie diese
Mittel verwendet werden sollen. Es gehört nicht viel Phantasie dazu, vorherzusagen, welche von den beiden Gruppen dabei die Einführung von Lehrevaluationen oder die Belohnung von Drittmitteleinwerbungen, die Zuweisung
von mehr Reisemitteln oder eine von mehr Tutorenstellen favorisieren würde.
Auf eine ganz ähnliche Weise lassen sich die tiefen Gräben zwischen den verschiedenen
Schulen der Soziologie und die Hartnäckigkeit und Leidenschaft erklären, mit denen die Anhänger dieser Schulen daran festhalten und regelmäßig aufheulen, wenn jemand in ihr Revier
eindringt, auf die Einseitigkeiten des Ansatzes verweist und an die Perspektive eines einheitlichen Verständnisses für die Gesellschaftswissenschaften erinnert. Auch dabei geht es um
einen Interessenkonflikt, einen sehr heftigen sogar: Was soll ein bestimmtes, sehr spezifisches Kapital an Wissen und Erfahrung überhaupt noch wert sein? Zum Beispiel: Die Kenntnis der Schriften von Norbert Elias oder Alfred Schütz? Das virtuose Beherrschen der logistischen Regression oder des narrativen Interviews? Auch: Die Eigenschaft, eine Frau oder
sonstwie „betroffen“ zu sein? Jeweils: Und sonst nichts! Die Schärfe des Konfliktes und die
Tiefe der Gräben kommen auch daher, daß diese Revier-Soziologen keine gemeinsamen objektiven Interessen haben, die sie zu einer einheitlicheren Perspektive motivieren würde: Was
sie tun, ist für sie nicht weiter folgenreich; denn die Pensionen sind ja sicher. Daher kommt es
auch, daß die Angehörigen der verschiedenen Richtungen von den jeweils anderen Paradigmen nicht viel wissen: Es ist für sie nicht weiter wichtig, ob sie beachten, was außerhalb geschieht. Zu Recht müssen die Anhänger der einzelnen Schulen aber befürchten, daß beim Obsiegen der jeweils anderen Richtung oder einer integrierenden Theorie der Gesellschaftswissenschaften ihr gesamtes, sehr spezifisches Kapital an einsetzbaren Ressourcen komplett entwertet würde. Und über generalisiertes Kapital, das den Blick über die Gartenzäune ihres
kleinen Schrebergartens erlauben würde, verfügen sie ja nicht. Und alles das wissen sie letztlich sehr genau. Die in diesen Revierkämpfen hervortretenden Verrücktheiten, Emotionen
und Persönlichkeitsstrukturen sind also nicht die Ursache, sondern die Folge eines strukturell
angelegten Konfliktes und von strukturell erzeugten Spaltungen. Und auch der Austragungsstil des Konfliktes ist keine Frage der guten Kinderstube, des moralischen Bewußtseins, der
wissenschaftlichen Sozialisation, der Belesenheit, der Intelligenz oder des Charakters der beteiligten Akteure oder einer freischwebenden Fachkultur, sondern eine solche der objektiven
Strukturierung der Situation durch die sozialen Produktionsfunktionen in dem betreffenden
akademischen Fach und der Verteilung der spezifischen und generalisierten Kapitalien.
Karl Marx hat gesellschaftliche Gruppen mit einer typischen „Dieselbigkeit
der Revenuen und der Revenuequellen“ als soziale Klassen bezeichnet (vgl.
160
Situationslogik und Handeln
dazu noch Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen
Grundlagen“). So gesehen sind die Professoren und ihre verschiedenen Untergruppierungen durchaus soziale Klassen. Ihr Bewußtsein, Denken, Fühlen und
Handeln folgt der Logik dieser Dieselbigkeit. Die sozialen Strukturen erschaffen sich – über die Verteilung von Interesse und Kontrolle – schließlich sogar
ihre Persönlichkeiten und Charaktermasken – den weltmännischen Kosmopoliten und den lokalen Intriganten, ebenso wie den paranoiden Verteidiger eines vom Versinken bedrohten Paradigmas und den unerschrockenen Kämpfer
für die Einheit der Gesellschaftswissenschaften.
Kapitel 5
Die „Definition“ der Situation
Die Verfassung der Gesellschaft und die sozialen Produktionsfunktionen definieren die Situation in objektiver Weise. Immer sind es aber nur die subjektiven Erwartungen und Bewertungen, die das Handeln der Menschen in einer
Situation bestimmen. Das Thomas-Theorem, und mit ihm die soziologische
Handlungstheorie, macht hier eine weitergehende Annahme: Die subjektiven
Erwartungen und Bewertungen sind die Folge einer besonderen subjektiven
„Definition“ der Situation. Dabei handelt es sich um eine zuspitzende Rahmung, die der Akteur der Situation gibt und von der her er dann alle Aspekte
sieht. Die subjektive Definition der Situation ist eine eigene selektive Leistung des Akteurs zur Reduktion der ansonsten übergroßen Komplexität einer
jeden Situation. William I. Thomas und Florian Znaniecki hatten im „Polish
Peasant“ deutlich darauf hingewiesen: Aus den vielen denkbaren Möglichkeiten wird schließlich ein Aspekt, ein Gesichtspunkt, ein Oberziel, ein Rahmen,
ein mentales Modell mit einem Code und einem Programm ausgewählt, das
alles weitere Geschehen bestimmt.
Drei Selektionen
Die objektiven Bestandteile der Situation sind – so haben wir das Kapitel 1
zusammengefaßt – die äußeren und die inneren Bedingungen einer Situation.
Bei den äußeren Bedingungen wurden Opportunitäten, institutionelle Regeln
und der mit signifikanten Symbolen verbundene Bezugsrahmen unterschieden. Die inneren Bedingungen waren das Wissen und die Werte der Akteure,
ihre inneren Einstellungen und ihre Identität. Aus der „Interaktion“ dieser Bestandteile ergibt sich die „Definition“ der Situation.
Bei genauerem Hinsehen führen drei verschiedene Prozesse dahin: Erstens
die Vorgeschichte der äußeren und der inneren Bedingungen. Zweitens die
Beeinflussung der Erwartungen und der Werte durch das Aufeinandertreffen
der äußeren auf die inneren Bedingungen über den Vorgang der Kognition.
162
Situationslogik und Handeln
Und drittens die eigentliche subjektive „Definition“ der Situation durch den
Akteur als die Selektion einer Orientierung – eben des mentalen Modells der
Situation, des Codes und des Programms, von dem das Handeln und weitere
Geschehen ihren Ausgang nehmen.
Wir wollen die drei Schritte zunächst gesondert betrachten und schließlich
zu einem allgemeinen Schema des Prozesses der subjektiven „Definition“ der
Situation zusammenfassen. Dieses dient als Ausgangspunkt für die Skizze eines darüber hinausgehenden Vorgangs, der gelegentlich als „soziale Konstitution“ bezeichnet wird: die von mehreren Akteuren in Interaktion erzeugte kollektive Definition der Situation.
Die erste Selektion: Die Vorgeschichte der Situation
Die Vorgeschichte der Situation ist die Geschichte der Genese der äußeren
Bedingungen, der Opportunitäten, der institutionellen Regeln und des Bezugsrahmens bzw. der signifikanten Symbole und zum anderen die Geschichte des
Erwerbs des Wissens und der Werte, der inneren Einstellungen bzw. der Identität des Akteurs.
Die Genese der sozialen Strukturen
Die Vorgeschichte der äußeren Bedingungen bezieht sich auf alle Prozesse
der evolutionären Genese der sozialen Strukturen, in die das aktuelle Geschehen eingebettet ist, und an deren Konstitution der Akteur zuvor eventuell
selbst beteiligt war. Sie wird über die Sequenzen des Handelns und der Handlungsfolgen nach Maßgabe des Prozeßmodells der soziologischen Erklärung
erklärbar (vgl. dazu die Einleitung). Die aktuell gegebene Situation ist die historisch für den Akteur bis dahin letzte, also eine für ihn neue Situation in der
Folge der vorausgegangenen Situationen. Das in der aktuellen Situation erfolgende Handeln ist Teil der Vorgeschichte der nun folgenden neuen Situationen – ohne eigentlichen Anfang und, meist, ohne definierbares Ende.
Die Genese der Identität
Die Vorgeschichte der inneren Bedingungen der Situation bezieht sich auf die
Genese des Wissens und der Werte, der Einstellungen, der Identität insgesamt. Es ist Frage nach der Lerngeschichte, nach der Biographie des Akteurs.
Die „Definition“ der Situation
163
Sie besteht aus der Geschichte der Speicherung von Wissen aus den Erfahrungen in vergangenen Situationen. Und es ist die Geschichte der Internalisierung von erworbenen Vorlieben aus den positiven und den negativen Verstärkungen, die der Akteur als Reaktion auf sein Handeln in den Situationen seiner Biographie erlebt hat (vgl. dazu insbesondere das Kapitel 9).
Die Faktizität der Vorgeschichte
Die Vorgeschichte der äußeren und der inneren Bedingungen ist für den betrachteten Akteur der passivste Teil des aktuellen Geschehens. Was passiert
ist, ist passiert. Mit den Ergebnissen der Vorgeschichte ist der Akteur mehr
oder weniger als „Tatsache“ konfrontiert. Sie dringt als objektive Faktizität in
sein Leben ein – auch wenn er vorher selbst daran massiv und aktiv beteiligt
war. Die Menschen definieren ihre Situation zwar ohne Zweifel selbst, aber
sie tun das, um das Diktum von Karl Marx wieder aufzugreifen, nicht aus
freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar
vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen. Die beiden
Vorgeschichten sind aber mindestens partiell miteinander verbunden.
Natürlich ist die Biographie der Akteure über die Genese der sozialen
Strukturen beeinflußt: Die Menschen finden bei ihrer Geburt die sozialen
Strukturen vor. Die Identitäten sind daher durch die Genese der äußeren
Bedingungen maßgeblich konstituiert. Aber es gilt auch umgekehrt: Die
Identitäten wirken bei der Genese der sozialen Strukturen mit. Den meisten
Teil der Vorgeschichte eines bestimmten einzelnen Akteurs haben aber andere
Akteure zu verantworten. Es gibt so etwas wie die Gnade – oder den Fluch, je
nachdem – der späten Geburt.
Die zweite Selektion: Kognition
Die Ergebnisse der Vorgeschichte sind in der aktuellen Situation die unverrückbaren „Daten“, in deren Grenzen alles folgende Geschehen stattfindet.
Die Daten der äußeren Bedingungen wirken daher in durchaus objektiver
Weise auf den Akteur. Wir wollen die objektive Aufdringlichkeit dieser Wirkung als das Erleben der situationellen Umstände bezeichnen. Es geschieht
physisch und psychisch über die Einwirkungen sinnlicher Eindrücke und über
die dadurch den Organismus beeinflussenden und anregenden Reizungen. Das
Erleben geschieht über alle möglichen Reizungen des Organismus: Sehen,
Hören, Fühlen, Riechen, Schmecken. Das ist zunächst ein sehr passiver Vor-
164
Situationslogik und Handeln
gang: Die Reize drängen sich auf und können nur unter größter Mühe – etwa
der Askese oder der Verdrängung – in ihrer Aufdringlichkeit eingedämmt
werden. Aber selbst ein solches, eher passiv „erlebtes“ Erleben geschieht
grundsätzlich selektiv. Es ist immer auch schon von den Vorerfahrungen und
Einstellungen gefiltert, die der Akteur bereits erworben hat.
Das Erleben ist als Kontakt des Organismus zur Umgebung noch sehr unmittelbar und nachdrücklich. Ein indirekterer, aber auch flexiblerer Mechanismus
der Einwirkung der äußeren Bedingungen auf den Akteur ist die Wahrnehmung der mit der Situation gegebenen Daten. Wahrnehmungen enthalten zwar
immer auch passive Elemente: Sie beruhen auf dem Erleben eingehender Sinnesreizungen. Sie beinhalten aber auch stark aktive und selektive Vorgänge
der inneren Verarbeitung von Informationen durch den Organismus, vor allem
durch das Gehirn. Wahrnehmungen sind immer von Prozessen des gedanklichen Schließens von den erlebten gegebenen Daten auf nicht unmittelbar vorhandene Eigenschaften und Zusammenhänge in der Situation begleitet. Das
erlaubt die gedankliche Vorwegnahme weiterer Abläufe und macht – auf der
Grundlage von Erfahrungen – eigene Tests der weiteren Folgen überflüssig:
Wer nicht unmittelbar erleben und fühlen will, kann hören und sehen, wahrnehmen, seine Schlüsse ziehen und gedanklich vorwegnehmen, was jetzt geschehen könnte. Es ist ein Prozeß der inneren Konstruktion der situationalen
Wirklichkeit – durch das Gehirn der individuellen Akteure.
Über das Erleben, die selektive Wahrnehmung und die schließende Konstruktion der subjektiven Wirklichkeit treten die Akteure mit ihrer sozialen
wie nicht-sozialen Umgebung in Kontakt. Es ist ein – kompliziertes und auch
im wörtlichen Sinne „konstruktives“ – Zusammenspiel von Außenwelt, Sinnesorganen, Nervensystem, Gehirn und Gedächtnis. Den gesamten Vorgang
wollen wir zusammenfassend als Kognition bezeichnen.
Die dritte Selektion: Orientierung
Die Kognition der Situation läßt offen, welches „Modell“ der Situation gelten
soll: Der gehörnte Ehemann in dem Beispiel bei Thomas und Znaniecki hatte
aufgrund seiner Wahrnehmungen sehr unterschiedliche Möglichkeiten für die
Rahmung der Situation. Diese Rahmung der Situation ist der dritte selektive
Schritt: die Orientierung.
Die Orientierung ist die vereinfachende und strukturierende Selektion eines
mentalen Modells über die Situation aus alternativ möglichen mentalen Modellen. Es ist eine gedankliche und emotionale Aktivität, ein, wie Max Weber
sagt, „inneres Tun“, ein covertes Handeln in der Sprache von Alfred Schütz.
Die „Definition“ der Situation
165
Sie vollzieht sich als eine, nicht bewußte oder irgendwie „abwägende“, innere
„Entscheidung“, bei der wiederum Erwartungen und Bewertungen eine Rolle
spielen. Als Folge werden bestimmte situationsspezifische Einstellungen beim
Akteur aktualisiert: der Code für den Typ, das Oberziel und den Sinn der Situation; und das Programm für das Handeln nach diesem Code.
Bei der Orientierung spielt insbesondere die Entzifferung und Interpretation
von – mehr oder weniger signifikanten – Symbolen eine entscheidende Rolle.
Symbole zeigen die Wahrscheinlichkeit für die „Geltung“ einer Situation und
für die „Relevanz“ eines bestimmten mentalen Modells an. Es ist die Aktualisierung des speziellen Bezugsrahmens, unter dem die Situation nun nur noch
gesehen wird. Der Vorgang der Orientierung und die Selektion einer
bestimmten subjektiven Definition der Situation wird auch als Framing bezeichnet (vgl. dazu noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen
Grundlagen“).
Das Gesamtmodell
Im Modell der soziologischen Erklärung besteht die „Logik der Situation“ aus
einer einfachen Beziehung zwischen Situation und Akteur. Der Vorgang der
subjektiven Definition der Situation läßt sich dann in einer dreifachen Differenzierung dieses einfachen Schrittes zusammenfassen (vgl. Abbildung 5.1).
Die Vorgeschichte ist durch die Pfeile 1a (Genese der äußeren Bedingungen
als Entstehungsgeschichte der sozialen Strukturen) und 1b (Genese der inneren Bedingungen als Ergebnis der Biographie des Akteurs) gekennzeichnet,
der Vorgang der Kognition durch den Pfeil 2 und der Prozeß der Orientierung
hin zur subjektiven Definition der Situation durch den Pfeil 3. Der Akteur ist
als ein von den äußeren Bedingungen abgegrenztes „personales System“ mit
einer in die Situation mitgebrachten und gegenüber den aktuellen äußeren Bedingungen auch eigenständigen Identität gekennzeichnet.
Die Erklärung des sichtbaren, des overten Handelns als „Entscheidung“ des
Akteurs bezieht sich damit auf einen – mindestens – zweistufigen Prozeß der
Selektion: Erst erfolgt die coverte Selektion der Definition der Situation als
„innerliches Tun“ der Orientierung (Schritt 3 im Diagramm). Hier werden der
Rahmen, das mentale Modell, der Code der Situation und das Programm des
darin vorgesehenen Handelns gewählt. Und dann erst geschieht die Selektion
des eigentlichen overten Handelns und die Ausführung der dazu nötigen technischen Maßnahmen, gewisse Muskelbewegungen oder das Anspannen der
Stimmbänder beispielsweise (Schritt 4 im Diagramm). Und das erst hat „rea-
166
Situationslogik und Handeln
le“ Folgen und zieht darüber die externen Effekte nach sich, aus der eine neue
„objektive“ Situation entsteht.
(1a)
äußere Bedingungen
Kognition
(2)
innere Bedingungen
(1b)
Orientierung
(3)
subj ektive Definition
der Situation:
mentales Modell/
Code und Programm
(4)
overtes
Handeln
Abb. 5.1: Die Selektionen zur „Definition“ der Situation
Die Frage ist dann nur noch: Nach welchen Regeln erfolgen eigentlich diese
Selektionen für das overte wie für das coverte Tun? Denn: Variablen, Pfeile
und Zusammenfassungen erklären ja noch nichts. Es ist eine etwas abgründige
und scheinheilige Frage, wie Sie noch merken werden.
Mit der Idee von der jeder Entscheidung vorgängigen subjektiven Definition der Situation
werden, wie es scheint, alle Handlungskonzepte problematisch, die nur eine Logik der Selektion für jedes Handeln kennen wollen – etwa die Theorie der rationalen Wahl. Denn mit der
„Definition“ der Situation ändern sich ja unter Umständen auch der „Typ“ des Handelns und
die „Logik“ seiner Selektion (vgl. dazu noch Abschnitt 6.7). Es kommt eben darauf an, wie
eine Situation codiert ist, ob jemand etwa als Geschäftsmann als rationaler Egoist oder in der
Familie als gefühlsvoller Altruist handelt. Unter das Verdikt, eine tatsächlich nur spezielle
Orientierung des Handelns zur allgemeinen Selektionsregel zu erheben, fiele dann natürlich
auch die Wert-Erwartungstheorie, die wir noch ausgiebig zur Modellierung der Logik der Situation und zur Erklärung des Handelns verwenden werden (vgl. dazu noch Kapitel 7 und 8
ausführlich). Diesen Einwand hat die Soziologie immer schon gegen die Verallgemeinerung
aller speziellen Handlungstheorien, besonders aber gegen das Rationalitätskonzept, vorgebracht. Die Frage nach der Allgemeinheit der Handlungstheorien, besonders die nach der Universalität des Rationalitätskonzeptes, ist ein Kernproblem der Gesellschaftswissenschaften
immer gewesen. Die Auseinandersetzung damit beginnt erst jetzt in den verschiedenen Dis-
Die „Definition“ der Situation
167
ziplinen, die über diese Frage ganz unterschiedliche Ansichten haben – wie die Ökonomie,
die Psychologie und die Soziologie. Sie durchzieht – wie Sie noch sehen werden – auch dieses Buch und alle seine fünf Einzelbände. Warten Sie ab, wie die Geschichte ausgeht!
An dieser Stelle müssen wir es mit der Feststellung gut sein lassen, daß es tatsächlich so etwas gibt wie eine – selektive – subjektive Definition der Situation vor dem Hintergrund der äußeren und der inneren Bedingungen.
Die kollektive Definition der Situation
Das Modell der Definition der Situation in Abbildung 5.1 bezieht sich auf einen, letztlich nur theoretisch denkbaren, Sonderfall: Es wird ein isolierter Akteur betrachtet, der sich alleine sein ganz eigenes Bild einer bestimmten Situation macht. Niemand gibt ihm eine Rückmeldung darüber, ob seine Sicht der
Situation geteilt wird. Wenn es aber eine Grundüberzeugung in der Soziologie
gibt, die von allen Soziologen geteilt wird, dann ist es die: Die Definition der
Situation ist stets und notwendigerweise ein sozialer Prozeß, bei dem sich die
Psychen der Menschen ineinander verschränken und dialogisch und interaktiv
zu einer gemeinsamen Sicht der Dinge kommen – eventuell auch darüber, daß
es keine gemeinsame Sicht gibt. Erst über bestimmte Formen der KoOrientierung, der symbolischen Interaktion oder der Kommunikation könnten
Akteure überhaupt zu einem stabilen Bild ihrer sozialen Umgebung – und ihres Selbst – kommen. Kurz: Die Definition der Situation sei stets eine Angelegenheit der interaktiven Konstitution und einer gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit.
Der Reiter über den Bodensee nahm eine solche einsame, wie manche Soziologen sagen: egologische oder monadische, subjektive Definition der Situation vor. Diese lautete wohl etwa
so: „Die weite weiße Fläche vor mir ist der See noch lange nicht, und ich reite ganz ohne zu
Zögern auf das Licht in der Nacht zu.“ Allein auf dem Pferd war etwas anderes ja auch kaum
möglich. Am anderen Ufer angekommen wird er jedoch unvermittelt in einen Prozeß der interaktiv erweiterten, kollektiven Definition der Situation einbezogen: Die rasch versammelten
Anwohner weisen ihn in einer turbulent ablaufenden Sequenz von kommunikativen Akten
auf eine drastisch andere Definition der Situation hin, der er sich angesichts der überwältigenden Evidenz sprachlicher wie anderer signifikanter Symbole schließlich beugen muß: das
mentale Modell eines tollkühnen Rittes über dünnes Eis. Die sozial vermittelte und eben dadurch nachhaltig auferlegte Erkenntnis des mentalen Modells der – wenngleich überstandenen – Gefahr hat für ihn sogar schlimme physiologische Folgen: Er fällt vor Schreck über
seinen Irrtum in der egologischen subjektiven Definition der Situation tot vom Pferd.
Interaktionen sind aneinander anschließende Prozesse sozialer Handlungen.
Sie lassen sich als Sequenzen über das Modell der soziologischen Prozeßerklärung rekonstruieren, das ja, wie es in der Einleitung skizziert worden
ist, nur eine Erweiterung des Modells der soziologischen Erklärung ist. Das
168
Situationslogik und Handeln
Konzept der interaktiv erzeugten kollektiven Definition der Situation ist somit
nur eine einfache Erweiterung des Modells der individuellen Orientierung aus
Abbildung 5.1.
Dazu müssen lediglich zwei weitere Annahmen gemacht werden. Ausgangspunkt ist der einfache Vorgang der egologischen subjektiven Definition der Situation und ein daran anschließendes Handeln. Die erste Annahme besagt, daß dieses Handeln immer externe Effekte auch
symbolischer Art hat: Es ist – unter anderem und unvermeidlich – ein Anzeichen für einen
anderen Akteur in der Situation, der daraufhin seinerseits eine subjektive Definition der
Situation vornimmt. Dessen Tun dient dann dem ersten Akteur wiederum als Anzeichen, sei
es als eine Bestätigung oder als eine Widerlegung seiner ursprünglichen Definition der
Situation. Daran orientiert, handelt der erste Akteur wieder. Damit erhält – zweitens – der
Vorgang der Definition der Situation eine reflexive Rückkopplung von individueller
Situationsdefinition, dadurch ausgelöstem Handeln und erneuter Situationsdefinition. Es ist
kein monologischer, sondern ein dialogischer Vorgang.
In Abbildung 5.2 ist die kollektive Definition der Situation als ein derartig dialogischer Prozeß aneinander gekoppelter und reflexiv aufeinander bezogener
Orientierungen skizziert. Aus Gründen der Übersichtlichkeit wird dabei der
komplizierte Vorgang der individuellen Orientierung aus Abbildung 5.1 wieder vereinfacht als ein Schritt dargestellt. Der Prozeß beginne in einer Situation 1, für die der Akteur A eine subjektive Definition der Situation vornimmt.
Sein Handeln ist – auch unbeabsichtigt – ein symbolisches Zeichen in der Situation 2, auf die der Akteur B reagiert. Der selektiert nun seinerseits eine
subjektive Definition der Situation – unter „Interpretation“ der ihm erkennbaren Hinweise auf die inneren Vorgänge bei A und mit Vermutungen darüber,
was das jetzt wohl für eine Art von Situation sei, und welches mentale Modell
gelte. Das Handeln von B verändert die Situation erneut. Es ist jetzt für A ein
Anzeichen für die Deutung der Situation durch B ... und so weiter, und so
weiter.
Im Diagramm haben wir angenommen, daß sich die Akteure schon bald auf
ein mentales Modell einigen (Modell 2). Im Prinzip kann die Sequenz aber
unendlich lange ohne eine solche Einigung und mit immer neuen Definitionen
weiterlaufen. Das kommt auch oft genug vor – bei Leuten etwa, die sich nicht
kennen oder nicht genau genug darauf achten, was der jeweils andere jetzt
denkt. Kommt es aber, wie im Beispiel, über die fortlaufende Sequenz einer
solchen „symbolischen Interaktion“ zu einem Gleichgewicht der wechselseitigen Bestätigung der jeweiligen Orientierungen durch das sichtbare Handeln,
dann liegt schließlich eine stabile kollektive Definition der Situation vor. Hier
ist es der Rahmen des Modells 2, des Codes für den Sinn und des Programms
für das darin vorgesehene Handeln.
169
Die „Definition“ der Situation
Akteur B/
Modell 2
Situation 1
Akteur A/
Modell 1
Situation 2
Handeln/
Symbol
Handeln/
Symbol
Situation 3
Akteur A/
Modell 2
Abb. 5.2: Die kollektive Definition der Situation
Diese subjektive Definition der Situation wird dann von den Akteuren geteilt
und durch das jeweilige Handeln selbst immer wieder bestätigt. Es ist die stabile gegenseitige Konstitution der äußeren und der inneren Bedingungen der
Situation, von „Individuum“ und „Gesellschaft“, von „Akteur“ und „Struktur“, von „personalen“ und „sozialen Systemen“, des subjektiven und des sozialen Sinns. Das entstandene Gleichgewicht einer solchen Konstitution wirkt
schließlich auf die Akteure wie eine externe Tatsache, von der sie nicht wissen, daß sie es selbst immer wieder neu aufbauen und konstituieren und von
ihr im gleichen Zuge auch immer wieder neu aufgebaut und konstituiert werden.
Selbstverständlich kann die Sequenz der kollektiven Definition der Wirklichkeit auch auf Situationen angewandt werden, bei denen mehr als zwei Akteure beteiligt sind. Im Prinzip kann auf diese Weise das Entstehen von Deutungs-Systemen in ganzen Kollektiven erklärt werden: Die wechselseitige
Einrede bestimmter, schließlich geteilter und selbstverständlicher Vorstellungen über die Welt – auch wenn „objektiv“ nichts Wahres daran ist. Der Zusammenbruch der Last National Bank war ein Beispiel dafür. Die Bildung der
Fiktion einer nationalen oder ethnischen Gemeinschaft gehört ebenso dazu
wie die Entstehung von Religionen oder einer „öffentlichen Meinung“ etwa
darüber, daß Helmut Kohl jetzt nicht mehr alles bloß aussitzt, sondern Stehvermögen hat oder am Ende seiner Ära angekommen ist. Es ist die wechselseitig von Menschen über Symbole, Handlungen und Deutungen stabilisierte
Konstruktion einer zwar immer nur vorgestellten, aber in ihren Wirkungen
dann höchst realen, gesellschaftlichen Wirklichkeit – einer Wirklichkeit, die
aus einem sehr flüchtigen Material besteht: Sinn.
170
Situationslogik und Handeln
Exkurs über die sechs Lesarten des Thomas-Theorems
Robert K. Merton berief sich auf das Thomas-Theorem, als er von der Selffulfilling Prophecy sprach und damit den sozialen Prozeß meinte, über den eine zunächst objektiv falsche, subjektiv aber als richtig definierte Ansicht sich
schließlich als „real“ bewahrheitet. In der ursprünglichen Fassung von William I. Thomas und Dorothy S. Thomas in „The Child in America“ bezog sich
der Satz unmittelbar auf das Handeln eines Akteurs in einer Situation: Für das
„reale“ Handeln seien letztlich nur die momentan gegebenen subjektiven Ansichten und nicht die objektiv vorliegenden situationalen Verhältnisse maßgeblich. Bereits daraus wird erkennbar, daß das Wort von der „Definition der
Situation“ und den „realen Konsequenzen“ im soziologischen Sprachgebrauch
nicht immer das Gleiche bedeutet. Mindestens sechs verschiedene Lesarten
des Begriffs der „Definition der Situation“ lassen sich unterscheiden. Wie üblich ergeben sich leicht vermeidbare Verwirrungen, wenn man diese Unterschiede nicht kennt oder nicht beachtet. Wir wollen daher in den mitunter sehr
unterschiedlichen Sprachgebrauch im Zusammenhang der Metapher von der
„Definition der Situation“ eine gewisse Ordnung bringen, die auch für das
Verständnis der weiteren Ausführungen in diesem Buch nützlich sein kann.
Die erste Lesart:
Die Realität der subjektiven Wirklichkeit
Die erste Lesart ist die, die vom Ehepaar Thomas im Thomas-Theorem niedergelegt worden ist: Für das Handeln der Menschen kausal relevant ist im
Moment des Handelns nur die jeweils aktuelle Definition einer subjektiven
Vorstellung über die situationale Wirklichkeit. In dieser Lesart geht es also
um die Realität der jeweils aktuell vorgestellten subjektiven Wirklichkeit der
individuellen Akteure, die dann deren reales Handeln leitet. Die aufgeregten
Kunden der Last National Bank handelten vor dem Hintergrund dieses Typs
einer subjektiven – und objektiv (zunächst wenigstens) falschen – Definition
der Situation, ebenso wie der Reiter über den Bodensee oder der Gefangene,
der da meinte, daß die mit sich selbst redenden Passanten ihn verhexen würden.
Die „Definition“ der Situation
171
Die zweite Lesart:
Der Inhalt der Bedingungen in der Situation
Die zweite Lesart des Begriffs der Definition der Situation bezieht sich auf
den Inhalt der Bedingungen der Situationen, von denen die Selektion der subjektiven Wirklichkeit ihren Ausgang nimmt: die inhaltlichen Eigenschaften
der äußeren Bedingungen wie die der Identität der Akteure. Es geht dabei etwa um die Art der Restriktionen, um die Inhalte der institutionellen Regeln
und um die Inhalte der Codes und Programme der Bezugsrahmen, unter die
das soziale Handeln in einer Situation objektiv gestellt ist und aus denen sich
sein sozialer Sinn ergibt. Für Schachspieler beispielsweise ist die Situation
durch die Regeln des Schachspiels in bestimmter Weise inhaltlich definiert.
Und Fußballer wissen inhaltlich, was Abseits ist und was es bedeutet, daß ein
rundes, mit Luft aufgeblasenes Stück Leder durch drei weiße Pfosten in ein
grünes Netz fliegt. Sinnhaft gehandelt wird entsprechend dieser Regeln und
der in ihnen möglichen Spielräume. Und welche Situation gerade gegeben ist,
signalisieren die signifikanten Symbole, deren „Bedeutung“ die Akteure im
Repertoire ihrer Identität gespeichert haben. Institutionen können als verbindlich geltende inhaltliche Definitionen sozialer Regeln aufgefaßt werden. Sie
sind – neben den Restriktionen – der wichtigste Hintergrund der objektiven
sozialen Definition von Situationen und damit für die Selektion der subjektiven Wirklichkeiten der Akteure und für ihr reales Handeln.
Die dritte Lesart:
Die Bestimmtheit der individuellen Orientierung
Die dritte Lesart der Redeweise von der Definition der Situation orientiert
sich an der Bedeutung des Wortes „Definition“ im Sinne einer bestimmenden
Festlegung. Diese bezieht sich auf das Ergebnis der durch eine bestimmte
„Definition“ der Situation vollzogenen Orientierung eines individuellen Akteurs in der Situation, so wie dies in Kapitel 1 als Selektion eines mentalen
Modells der Situation beschrieben und in Abbildung 5.1 zusammengefaßt
wurde. Mit der Selektion eines „bestimmten“ mentalen Modells wird die Situation für den Akteur nämlich geklärt, geordnet, „bestimmt“, strukturiert und
festgelegt. Der Hintergrund ist die „Auferlegtheit“ der erkennbaren Objekte
der Situation: die Deutlichkeit der signifikanten Symbole, die Stärke der damit assoziierten Einstellungen und auch die erwartete Zuträglichkeit der Orientierung für die Nutzenproduktion. Der Akteur gewinnt dadurch eine – meist
172
Situationslogik und Handeln
ganz fraglose – Sicherheit, daß jetzt ein bestimmtes Handeln angemessen ist –
und jedes andere eben „bestimmt“ nicht.
Der Gegenbegriff zur „Definition“ der Situation im Sinne der Bestimmtheit
einer individuellen Orientierung wäre der der Orientierungslosigkeit. Dieser
Zustand der individuellen Unbestimmtheit und Desorientierung wird in der
Soziologie auch Anomia (durchaus richtig gelesen: Anomi-a) genannt. Er tritt
insbesondere dann auf, wenn die wahrgenommenen Möglichkeiten schrankenlos geworden, wenn die Spielregeln plötzlich und unerwartet anders, wenn die
signifikanten Symbole als uneindeutig oder gestört oder mit einem Male mit
einer anderen Bedeutung belegt erscheinen – oder auch, wenn die fraglose Befolgung des bestimmenden mentalen Models als riskant und möglicherweise
teuer angesehen wird.
Ein wichtiger Hintergrund der individuellen Bestimmtheit der Orientierung
ist die Stabilität der Identität des Akteurs. Für komplexe und sich rasch wandelnde äußere Bedingungen ist diese Stabilität nur über die eigenartige Strukturflexibilität einer an Prinzipien orientierten „Sittlichkeit“, eines moralischen
Bewußtseins, einer besonderen Ich-Identität also, zu gewinnen. Treten aber irritierende und unerwartete äußere Bedingungen öfters und ohne weitere Regelmäßigkeit auf, dann hat dies auch Folgen für jenen, auch bei Irritationen
kurzfristig immer noch stabilen Teil des Akteurs. Auch die schönste IchIdentität ist letztlich daran gebunden, daß die äußeren Bedingungen der Situation ein Mindestmaß an Berechenbarkeit enthalten und mit den sehr begrenzten Möglichkeiten der Informationsverarbeitung menschlicher Akteure zu
bewältigen sind.
Die vierte Lesart:
Die Bestimmtheit der äußeren Bedingungen
Damit kommen wir zur vierten Lesart: die Bestimmtheit der äußeren Bedingungen der Situation. Daß eine Situation „definiert“ ist, kann sich auch auf
die äußeren Bedingungen beziehen, auf die Festlegung einer Situation. Nun
gibt es Restriktionen, nun gelten die Spielregeln, nun sind die signifikanten
Symbole für den Bezugsrahmen eindeutig.
Der Gegenbegriff zu einer so verstandenen sozialen „Definition“ der Situation ist der Zustand der Anomie (nun wie gewohnt gelesen: Anomie). Darunter
wird der soziale Zustand der Normlosigkeit, der Auflösung moralischer Bindungen und des Verfalls jedweder sozialer Begrenzungen der Ansprüche verstanden. Die gesellschaftliche Anomie ist der wichtigste strukturelle Hintergrund für das Entstehen der individuellen Anomia. Die „Definition“ der Situa-
Die „Definition“ der Situation
173
tion wäre in dieser Bedeutung dann nichts anderes als der Prozeß der (Wieder)Herstellung sozialer Ordnung – und damit die wichtigste Bedingung für die
Beseitigung von Anomia und für eine wieder erleichterte und wieder eindeutigere individuelle Definition der Situation.
Die fünfte Lesart:
Die Selektion der subjektiven Wirklichkeit
Mit der fünften Lesart der Bedeutung des Wortes von der „Definition der Situation“ ist der Prozeß der individuellen Orientierung, der Vorgang der Auswahl eines mentalen Modells der Situation auf der Grundlage wahrgenommener und interpretierter signifikanter Symbole durch den Akteur gemeint. Es ist
der mehrstufige individuelle Selektionsprozeß, der in Kapitel 5 als „‚Definition’ der Situation“ beschrieben wurde. Das Ergebnis dieser so gemeinten „Definition“ der Situation ist die Erzeugung sowohl einer subjektiven Wirklichkeit wie die einer deutlichen Bestimmtheit dieser subjektiven Wirklichkeit,
von denen in der ersten und in der dritten Lesart die Rede war. Diese „Definition“ der Situation geht von den inhaltlichen Bestimmungen der äußeren und
der inneren Bedingungen, den Restriktionen, den institutionellen Regeln und
den signifikanten Symbolen wie der Identität des Akteurs aus. Das Ergebnis
ist die Selektion des jeweiligen Sinnbereichs bzw. des Rahmens, von denen
her dann das reale Handeln seinen Ausgang nimmt. Dieser Vorgang wird auch
als Framing bezeichnet.
Die sechste Lesart: Die soziale Konstitution der Situation
Als „Definition“ der Situation können schließlich sechstens die Vorgeschichte
und die Folgen der individuell vorgenommenen Orientierungen und des daran
auschließenden Handelns verstanden werden. Es ist der Prozeß der kollektiven Definition der Situation, der Vorgang ihrer sozialen Konstitution – so wie
das auch schon in Kapitel 1 beschrieben und in Abbildung 5.2 zusammengefaßt schematisiert wurde. In diese Bedeutung ist der Fall eingeschlossen, den
Robert K. Merton gemeint hat: die nachhaltige soziale Objektivierung von
zunächst falschen Definitionen der subjektiven Wirklichkeit. Die Akteure
stießen mit ihren subjektiven Ansichten über die Liquidität der Last National
Bank die Genese der Bedingungen an, über die sich die zunächst falschen
subjektiven Ansichten schließlich objektiv als richtig erwiesen. Die Selffulfilling Prophecy des Zerfalls der Last National Bank beschreibt die struktu-
174
Situationslogik und Handeln
relle Genese der äußeren Bedingungen, unter denen die ursprünglich falschen
subjektiven Überzeugungen der Kunden schließlich wirklich wahr geworden
sind.
Eine Systematisierung
Die sechs Lesarten ergeben sich aus der Kreuzung von zwei Dimensionen,
von denen eine noch einmal differenziert wird: Den Bezug der Definition der
Situation: individuell oder sozial; und die Bedeutung des Wortes „Definition“
entweder als Zustand oder als Prozeß. Für die Dimension „Zustand“ ist dann
noch zu unterscheiden, ob mit der „Definition“ eine inhaltliche oder eine formale Festlegung gemeint ist. Daraus ergibt sich das folgende Schema der
sechs Lesarten der Metapher von der Definition der Situation.
individueller Bezug
sozialer Bezug
Zustand
Prozeß
inhaltlich
subjektiver Sinn
(1)
sozialer Sinn
(2)
formal
keine Anomia
(3)
keine Anomie
(4)
Framing
(5)
Konstitution
(6)
Das Thomas-Theorem ist ohne Zweifel eine wichtige soziologische Orientierungshypothese. Es führt aber durch die geschilderten Mehrdeutigkeiten leicht
zu Verwirrungen in der Aufgliederung der Einzelschritte bei der Erklärung
sozialer Prozesse. Obwohl die Unterscheidung der sechs Lesarten nicht
schwierig zu verstehen ist, werden die verschiedenen Aspekte und Vorgänge
häufig vermengt.
Wichtig ist insbesondere die Unterscheidung der individuellen subjektiven Definition der Situation zum Zeitpunkt des Handelns einerseits und der kollektiven Prozesse, die zu diesem individuellen Zustand bei den individuellen Akteuren zuvor geführt haben. Die individuelle Definition der Situation ist immer die Folge vorangegangener Prozesse der sozialen Definition
der Situation. Von den so, über eine Vorgeschichte entstandenen, äußeren wie inneren Bedingungen erfolgt dann über Wahrnehmungen und Orientierungen die subjektive Definition
der Situation, von der das Handeln und die gesamte Nachgeschichte ausgeht, die wieder die
Vorgeschichte für ... und so weiter ... darstellt.
Die „Definition“ der Situation
175
Die Komplikationen in den Lesarten des Thomas-Theorems entstehen nur
dann, wenn die verschiedenen Vorgänge der Genese der Situation, der Orientierung in der Situation, der Selektion eines Handelns und deren externer Effekte, die wieder eine neue Situation generieren und so „definieren“, nicht genügend auseinandergehalten werden. Es ist selbstverständlich etwas anderes,
die Geschichte der kollektiven Genese eines sozialen Sinns oder die individuelle Selektion einer Orientierung durch einen Akteur in einer aktuellen Situation zu erklären. Für das erstere braucht man eine komplette soziologische
(Prozeß-)Erklärung, für das zweite eine Theorie der Selektion von Orientierungen. Mit dem Modell der soziologischen Erklärung und mit der Übersicht
über die verschiedenen Lesarten der Metapher von der Definition der Situation werden diese Unterscheidungen leicht möglich. Hoffentlich.
Kapitel 6
Handeln
Für die Erklärung sozialer Prozesse reicht es nicht aus, die Situation der Akteure nur zu beschreiben. Die Umstände, in denen sich die Akteure befinden,
tun ja selbst nichts. Die Dynamik der sozialen Prozesse ergibt sich erst aus
dem Handeln der Menschen in Situationen und aus den dadurch bewirkten
Folgen. Deshalb muß jede soziologische Erklärung auf eine Theorie des Handelns als „Logik der Selektion“ zurückgreifen. In Kapitel 7 werden wir dafür
einen Vorschlag machen und ihn an vielen Stellen dieses Buches benutzen
und diskutieren: Die Wert-Erwartungstheorie. Hier geht es zunächst um den
„Begriff“ des Handelns. Das ist ein weites Feld und berührt zahllose alte und
neue Kontroversen in den Gesellschaftswissenschaften, wie etwa die zwischen Verstehen und Erklären, Sinn und Kausalität, Subjektivität und Objektivität. Die hier eingenommene Position in dieser Auseinandersetzung sei
nicht verschwiegen: Obwohl die Kategorie des Sinns und des Handelns in den
Naturwissenschaften ohne Zweifel kein Äquivalent hat, gibt es keinen Grund,
daraus eine besondere Methode für die Gesellschaftswissenschaften abzuleiten. Auch ein mit Sinn belegtes Handeln kann kausal erklärt werden. Wenn
man einen Akteur oder einen sozialen Prozeß „verstehen“ will, bleibt einem
sogar nichts anderes übrig. Das nun folgende Kapitel soll diese Position verständlich machen. Wir beginnen mit einer vergleichsweise einfachen Frage:
Worin unterscheidet sich das Handeln der Menschen vom sog. Verhalten?
6.1
Verhalten und Handeln
Max Weber definiert das Handeln – gleich im Anschluß an seine berühmte
Definition der Soziologie als der Wissenschaft vom sozialen Handeln und seinen Folgen – so:
178
Situationslogik und Handeln
„‚Handeln’ soll dabei ein menschliches Verhalten (einerlei ob äußeres oder innerliches Tun,
Unterlassen oder Dulden) heißen, wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden.“1
Handeln ist danach ein Spezialfall des „Verhaltens“ von menschlichen Akteuren. Die Besonderheit besteht in zweierlei Hinsicht: Handeln ist ein Verhalten, das von den Akteuren mit Sinn verbunden wird. Und dieser Sinn ist ein
subjektiver Sinn.
Zwei wichtige Hinweise auf eine Erweiterung des Begriffs des Handelns
gegenüber dem üblichen Sprachgebrauch gibt Max Weber in dem Zitat: Verhalten bzw. Handeln kann erstens aus einer aktiven Einflußnahme, aber auch
aus einer passiven Duldung, sogar aus einem Unterlassen bestehen. Und das
Verhalten bzw. Handeln kann zweitens ein äußeres oder ein innerliches Tun
sein. Alfred Schütz sprach vom overten und vom coverten Handeln. Das äußere Tun ist sichtbar und wirkt auf die äußere Umgebung ein, das innerliche Tun
ist dagegen verdeckt und findet in der Binnenwelt des Organismus statt. Beispiele für ein innerliches Tun wären das Phantasieren von Möglichkeiten, die
innere Reflexion von Folgen eines bestimmten Tuns, das Entwerfen und Abwägen von Plänen, die subjektive Definition der Situation oder ein innerer
Entschluß: „Ich mach’ das jetzt“ – etwa mit der Lebensversicherung, dem
Heiratsantrag oder dem Selbstmord.
Verhalten
Unter Verhalten werden – ganz allgemein – alle Positionseinnahmen eines lebenden Organismus zu seiner Umgebung verstanden:2 Verhalten ist jede motorische, verbale, kognitive oder emotionale Aktivität eines Organismus, die
einen Einfluß auf die Beziehung zwischen dem Organismus und der Umwelt
hat.
Zum Verhalten gehören damit insbesondere auch die „automatischen“ und unreflektierten
Reaktionen in Situationen, wie etwa das Befolgen von Gewohnheiten oder emotionale
Reaktionen. Dazu zählen auch die inneren Vorgänge des Denkens und des Entscheidens,
seien sie kontrolliert oder nicht. Ebenso kann man bestimmte Grade und Richtungen der
Aufmerksamkeit, Wahrnehmungen und Verdrängungen, die Übernahme von Überzeugungen,
die Orientierung an bestimmten Zielen oder an übergreifenden Werten, die Bildung,
Beibehaltung oder Änderung von Alltagstheorien, von Vorurteilen und – allgemein – von
Wissen oder Werten dazu rechnen. Auch das Lernen ist ein Verhalten. Selbstverständlich gibt
es auch kommunikatives Verhalten: das – beabsichtigte oder unbeabsichtigte, reflektierte oder
1
2
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5.
Aufl., Tübingen 1972 (zuerst: 1922), S. 1; Hervorhebungen so nicht im Original.
Vgl. zur Definition des Begriffs des Verhaltens etwa: Werner Langenheder, Theorie
menschlicher Entscheidungshandlungen, Stuttgart 1975, S. 35.
Handeln
179
katives Verhalten: das – beabsichtigte oder unbeabsichtigte, reflektierte oder reflexartige –
Aussenden von Signalen, auch das Befehlen, Drohen, Ankündigen oder Argumentieren mit
Hilfe von Sprechakten. Und sogar die selektive Aktivität der Aufnahme von Signalen, deren
interne Verarbeitung, ihr Verstehen, ihre innere Wirkung in der Form der Änderung von Wissen und Werten und schließlich eine evtl. Reaktion in einer Form des overten Verhaltens darauf können in diesem Sinne als Verhalten verstanden werden.
Alle diese Aktivitäten bedeuten eine Stellungnahme des Organismus zu seiner
Umwelt. Auch die Inaktivität ist eine derartige Stellungnahme: Das Nichtstun
wird – aus welchen Gründen auch immer – einem aktiven Verhalten vorgezogen. Strenggenommen ist es also nicht möglich, daß lebende Organismen sich
nicht-verhalten: Das „Verhalten“ hört letztlich erst mit dem Tod des Organismus auf.
Verhalten als Selektion
Verhalten ist immer eine Eigenleistung bzw. eine Eigenbewegung des Organismus. Es hat – zumeist – eine bestimmte Funktion oder einen Zweck für den
Organismus. Es ist der wichtigste Mechanismus zur Lösung von Problemen,
wie sie bei der Sicherung der Homöostase des Organismus in seiner jeweiligen Umwelt durch den Einsatz von Energie unter den Bedingungen der
Knappheit ständig auftreten und fortwährend bewältigt werden „müssen“. Die
Evolution des Lebens ganz allgemein beruht darauf. Die beiden zentralen
Funktionen des Verhaltens sind dabei – mehr oder weniger geplant – die Sicherung der individuellen Existenz und – so gut wie immer ungeplant – die
Reproduktion der Art insgesamt.
Genetische Programme
Da das Verhalten – auch als Passivität, als „Unterlassen oder Dulden“ – immer eine Stellungnahme des Organismus zu seiner Umgebung ist, muß es
auch noch in seinen fixiertesten Formen, wie bei Instinkten, als eine besondere Leistung des Organismus verstanden werden: Die Leistung einer Selektion.
Denn: Immer wären auch andere Möglichkeiten denkbar. Immer wird aus dem
unendlich großen Horizont der Möglichkeiten eine bestimmte ausgewählt.
Und immer bleiben – im Prinzip – die gerade nicht gewählten Möglichkeiten
latent vorhanden, könnten aber später an Stelle der gerade gewählten Aktivität
selektiert werden.
Für die Art der Selektion des Verhaltens läßt sich im Verlaufe der Evolution des Lebens von der Amöbe bis zu Einstein eine charakteristische Entwick-
180
Situationslogik und Handeln
lung beobachten: Die Selektion wird von den Einflüssen der jeweiligen Umgebung immer unabhängiger, und der Grad der Aktivitätsniveaus und der Variabilität des möglichen Verhaltens nehmen immer mehr zu. Genetische Programme, Lernen und antezipatives, intelligent-auswählendes, intentionales
Handeln können als drei charakteristische Stufen dieser Steigerung von Unabhängigkeit, Aktivitätsniveau und Variabilität der Problemlösung bei lebenden Organismen verstanden werden.
Die Selektion des Verhaltens erfolgt bei einfachen Organismen über biologisch fixierte und vererbte genetische Programme. Änderungen in den Selektionen sind dort nur über Mutation und über die langwierige biogenetische Selektion neuer Verhaltens-Programme möglich. Aufgrund der biogenetischen
Art der Auslese stellen die Verhaltens-Selektionen dabei eine relativ sichere
und – für stabil bleibende Verhältnisse – auch optimale Anpassung der Homöostase an die jeweilige Umgebung dar. Änderungen in der Umgebung sind
dann aber für die Träger dieses genetischen Programms auch häufig unmittelbar letal. In stabilen Umwelten ist das Überleben dafür aber um so sicherer.
Lernen
Ein wichtiger Schritt bei der Flexibilisierung und Verbesserung der Selektionsfähigkeiten für instabilere Umgebungen ist die Entwicklung des Lernens –
als evolutionäre Errungenschaft – gewesen. Lernen bedeutet die Auslese von
Selektions-Programmen durch Erfahrung oder durch Beobachtung und Nachahmung – also ohne Änderung der biogenetischen Struktur. Dadurch wird eine Anpassung des gleichen Organismus auch an rascher wechselnde
Umgebungen möglich: Seemöwen lernen zum Beispiel, daß nicht nur
Fischerboote als Nahrungsquellen nutzbar sind, sondern auch Imbißstuben,
Müllkippen und tierliebe Touristen.
Einmal gelernte Verhaltens-Programme passen zwar – ganz ähnlich wie
die biogenetisch fixierten Programme – zunächst auch immer nur zu bestimmten Umgebungen. Die Selektionen können aber im Prinzip der Änderung der
Umgebung flexibel folgen. Allerdings: Eventuell vorhandene aktuelle Möglichkeiten einer aktiven oder absichtsvollen Umgestaltung der Umgebung
selbst – als offensiveres Mittel zur Verbesserung der Anpassung – werden
beim Verhalten als Folge des Lernens nicht in Betracht gezogen. Wenn die
Umgebung gleich bleibt, bleibt es das gelernte Verhalten auch. Und jede Änderung des Verhaltens-Programms setzt einen neuen, oft genug mühsamen
und langwierigen Lernprozeß voraus. Den können aber – anders als bei der
Änderung der genetischen Programme – schon die individuellen Organismen
Handeln
181
durchlaufen, ohne ihre biogenetische Struktur ändern zu müssen. In sich sehr
rasch ändernden Umgebungen ist das aber vielleicht auch eine noch zu langsame und zu inflexible Lösung.
Intentionen
Ein deutlicher Sprung im Grad der Flexibilisierung und in der Effizienz der
Anpassungsleistungen eines Organismus an seine Umgebung kann dann darin
gesehen werden, daß die Organismen die Anpassungen nicht nur passiv und
reaktiv vornehmen, sondern Änderungen der Umgebung rasch wahrnehmen
und bewerten sowie Erfolge oder Fehlschläge bestimmter Selektionen antezipieren und danach – je nach Ausgang des entsprechenden Gedankenexperimentes – ihr Verhalten auch schon im voraus selektieren: Einstein unterscheidet sich von der Amöbe (fast nur) dadurch, daß Einstein den Fehlschlag der
Selektionen selbst gedanklich vorwegnehmen und sein Verhalten daran orientieren kann.
Die Selektion des Verhaltens erfolgt in diesem Fall also nach Maßgabe einer Beurteilung der Umgebung und nach einem, um einen Ausdruck von Alfred Schütz zu verwenden, „vorimaginierten Entwurf“ über das Herbeiführen
gewünschter Zielzustände: als intentionales Handeln. Der Selektion geht ein –
mehr oder weniger sorgfältiges – Abwägen des Für und Wider, des Nutzens
und der Kosten, der (Un-)Möglichkeiten und (Un-)Wahrscheinlichkeiten voraus. Intentionen und gedankliche Reflexionen möglicher Folgen erlauben
wirksame systematische Änderungen des Verhaltens auch in äußerlich gleichen Umgebungen – allein durch die Antizipation von denkbaren Konsequenzen alternativer Reaktionen und über die Planung von Änderungen für die
Zukunft.
Handeln
Ein derartiges, auf Reflexion und Antizipation zukünftiger Situationen beruhendes und mit Intentionen oder Plänen versehenes Verhalten wollen wir allgemein als „Handeln“ bezeichnen. Die Intentionen, Pläne, Reflexionen und
Antizipationen machen dabei den subjektiven Sinn aus, von dem Max Weber
sprach. Amöben handeln nicht, sie verhalten sich nur. Bei Einstein ist das,
manchmal und im Prinzip wenigstens, anders.
182
Situationslogik und Handeln
Behaviorismus und Mentalismus
Der Unterschied zwischen Verhalten und Handeln, zwischen biogenetisch
programmierter, reaktiv gelernter und intentional-reflektierter Stellungnahme
zur Umgebung ist – trotz der beschriebenen qualitativen Sprünge – theoretisch
gesehen nur gradueller Art. Das intentionale Handeln folgt letztlich der gleichen Regel wie das Verhalten: der Maxime der Maximierung der erwarteten
Erträge für das Wohlbefinden des Organismus. Diese engen Verbindungen
zwischen Verhalten und Handeln sind nicht immer so gesehen worden – etwa
in der Auseinandersetzung zwischen dem Behaviorismus und dem Mentalismus in der älteren Psychologie.
Unter Behaviorismus wird eine theoretische Orientierung verstanden, die
nur die beobachtbare, unmittelbare Reaktion eines Organismus – den
Response – über ein unmittelbar beobachtbares Situationsmerkmal bzw. Reiz
– den Stimulus – erklären will. Man spricht daher auch von der behavioristischen S-R-Theorie.
Beispielsweise: Einem Hund läuft der Speichel, wenn er einen Glockenton hört, nachdem er
zuvor einige Dutzend Mal mit dem Glockenton ein Stück Fleisch bekommen hatte. Ein Kind
scheut das Klavierspiel, weil es immer wieder üben mußte, auch wenn draußen die Sonne
schien. Die Großmutter geht jeden Sonntag zur Kirche, weil sie in einem lebenslangen Prozeß
der Verstärkung internalisierte, was sie als Kind vielleicht gar nicht sehr gemocht hat. Alles
dies – die Reize und die Reaktionen – waren und sind gut zu beobachten und leicht zu beschreiben. Was im Innern des Organismus des Hundes, des Kindes, der Großmutter vorgeht,
ist für die Erklärung ihrer Reaktionen dann ganz und gar uninteressant. Wichtig sind für den
Behavioristen nur das sichtbare Protokoll der jeweiligen Lernbiographie und die empirisch
festgestellte Kovariation der S-R-Beziehung.
Interne psychische Zustände – wie Musikgeschmack oder die innere Zufriedenheit über die Erfüllung einer Norm – sind für den Behavioristen demnach
nichts als aus dem sichtbaren Verhalten erschlossene und über eine Lerngeschichte von Verstärkungen erklärbare Größen.
Der Hauptvertreter des Behaviorismus war James B. Watson (1878-1958).
Er wandte sich vor allem gegen eine Richtung in der Psychologie, die auch als
Common Sense-Auffassung oder Mentalismus bezeichnet wird: die Vorstellung, daß die Organismen reflektierende Subjekte sind, die in sich hineinschauen und sich ausschließlich nach den über eine solche Introspektion erschauten „inneren Geschehnissen“ richten. Das war gewissermaßen eine O-RTheorie: Der reflektierende Geist des inneren Organismus bestimmt alleine
das Verhalten.
Warum sich James B. Watson und andere so vehement gegen den Mentalismus wandten, ist leicht nachzuvollziehen: Der Verweis auf innere Erlebnisse oder auf nicht weiter empirisch zu prüfende Vorgänge des „Geistes“ oder
Handeln
183
des „Unbewußten“ entziehen sich leicht jeder wissenschaftlichen Kontrolle.
Und gegen diese Spekulationen hatte der Behaviorismus – nicht zu Unrecht –
etwas und wollte radikal Schluß damit machen. Dabei wurde aber das mentalistische Kind mit dem behavioristischen Bade ganz ausgeschüttet: Menschen
haben einen reflektierenden Verstand, auch wenn sie ihn manchmal nicht benutzen. Und sie versuchen oft genug, ihren O-Kopf gegen alle S-Widerstände
in ihrem R-Verhalten durchzusetzen. Die Verhaltens- und Handlungstheorien
der neueren Sozialpsychologie sind daher auch durchweg Kombinationen von
behavioristischen und mentalistischen Elementen. Die Menschen schauen danach durchaus in sich hinein, wenn sie ihre Entscheidungen treffen. Aber sie
orientieren ihr Handeln auch sehr an den Bedingungen der – erlebten, wahrgenommenen, erschlossenen und antezipierten – äußeren Umgebung.
Diese Ansätze, die mentalistische und behavioristische Elemente gewissermaßen kombinieren, werden auch unter der Bezeichnung des NeoBehaviorismus zusammengefaßt. Sie unterscheiden sich zwar je nach dem
Grad, in dem interne Reflexionen für die Erklärung des Handelns berücksichtigt werden.3 Alle weisen aber jene typische Kombination mentalistischer und
behavioristischer Elemente auf. Dies hat ihnen den kennzeichnenden Namen
der S-O-R-Theorie eingetragen: Nicht der situationale Stimulus S alleine bestimmt die Selektion, sondern daran ist auch noch der reflektierende Geist, der
Organismus O beteiligt. Es ist die Interaktion zwischen Organismus und Umgebung, aus der sich die Selektion der Reaktion erklärt.
George C. Homans
Die erkennbaren Verbindungen zwischen reaktivem Verhalten und intentionalem Handeln sind also keineswegs erstaunlich: Es handelt sich ja in beiden
Fällen um Selektionen, bei denen die Umgebung und der Organismus gleichermaßen beteiligt sind. Wie groß die Übereinstimmungen zwischen verstärktem Verhalten und planvoll-absichtsvollem Handeln sind, wird besonders
deutlich an dem wohl prominentesten Versuch, den Behaviorismus und die
sog. Lerntheorie als Grundlage der Erklärung sozialer Prozesse vorzuschlagen
(vgl. dazu noch Kapitel 9 ausführlich): Die fünf Haupthypothesen der „grundlegenden sozialen Prozesse“ von George C. Homans.4 George C. Homans
stützt sich auf die Grundgedanken der Lernpsychologie, insbesondere auf die
3
4
Vgl. John W. Atkinson, Einführung in die Motivationsforschung, Stuttgart 1975, S. 186ff,
222ff.
George C. Homans, Grundlegende soziale Prozesse, in: George C. Homans, Grundfragen
soziologischer Theorie, Opladen 1972a, S. 61ff.
184
Situationslogik und Handeln
Experimente mit Ratten und Tauben von Burrhus F. Skinner.5 In seinem Beispiel geht Homans von einem Angler aus, der einen Angelhaken mit einem
Köder versieht und die Angel in einen Teich auswirft. Und die Frage lautet:
Warum tut der Angler das?
Die Erfolgshypothese
Die erste – naheliegende – Antwort: Weil er sich davon einen Erfolg erwartet.
Und, so Homans weiter: Er tut es um so häufiger und intensiver, je erfolgreicher er damit vorher gewesen ist. Die erste Hypothese faßt diese Beziehung
zwischen der Häufigkeit eines Erfolgs in der Vergangenheit und der Wahrscheinlichkeit für das aktuelle Auftreten eines bestimmten Verhaltens zusammen. Es ist die sog. Erfolgshypothese. Sie lautet:
Hypothese 1:
Je häufiger die Aktivität einer Person belohnt wird, mit um so größerer Wahrscheinlichkeit wird diese Person die Aktivität ausführen.
George C. Homans fügt hinzu, daß diese Hypothese nicht absolut, sondern nur
im Vergleich zu anderen Aktivitäten und deren Erfolg gelte: Auch beim Verhalten werden immer Alternativen verglichen und nach ihrem relativen Erfolg
mit größerer oder kleinerer Wahrscheinlichkeit gewählt. Aber: Der Erfolg
muß auf irgendeine Weise zuvor erfahren – eben gelernt– worden sein.
Die Reizhypothese
Der Angler bemerke nun nach einigen mehr oder weniger zufälligen Versuchen, daß die Fische an schattigen Stellen des Teiches deutlich besser beißen
als an den sonnigen Abschnitten. Diese Merkmale der Situation – Sonne versus Schatten – kann man Reize nennen. Sie können einfach oder komplex,
zahlreich oder selten, sowie mehr oder weniger differenziert oder auch auf
ähnliche Situationen generalisiert sein. Ein bestimmtes Verhalten tritt nun um
so eher auf, je ähnlicher die aktuellen Reize denjenigen sind, bei denen in der
Vergangenheit ein Erfolg erlebt wurde. Dies ist die Reizhypothese.
Hypothese 2:
5
Wenn in der Vergangenheit ein bestimmter Reiz oder eine Menge von
Reizen eine Aktivität begleitet hat, die belohnt worden ist, dann wird eine
Person um so eher diese oder eine ähnliche Aktivität ausführen, je ähnlicher
die gegenwärtigen Reize den vergangenen sind.
Burrhus F. Skinner, The Behavior of Organisms. An experimental analysis, New York
1938; Burrhus F. Skinner, Science and Human Behavior, New York 1953.
Handeln
185
Beide Hypothesen – Erfolgs- und Reizhypothese – zusammen besagen, daß
Menschen aus ihren Erfahrungen lernen und daß sie dann das tun, was ihnen
aufgrund dieser Erfahrungen am angemessensten erscheint. Das heißt: Sie orientieren sich an den Merkmalen einer Situation, die mit erfolgreich erlebten
Situationen am ähnlichsten sind. Menschen – und nicht nur sie – sind dabei zu
erstaunlichen Differenzierungen in der Lage: Sie können ähnliche Klassen
von Situationselementen generalisierend zusammenfassen. Und sie können
feine – und feinste – Differenzen wahrnehmen, bei denen sich ein ganz unterschiedlicher Erfolg in Abhängigkeit bestimmter, manchmal ganz abgefeimter
und nicht von jedermann erkennbarer, „Distinktionen“ erwarten läßt.
Wichtig ist bei alledem – auch bei der Generalisierung und der Differenzierung der Erfolgserwartungen – nur: Um das Verhalten vorhersagen bzw. erklären zu können, muß man die Lerngeschichte des Akteurs – mehr oder weniger: vollständig – kennen.
Die Werthypothese
Die Häufigkeit der Belohnung alleine bestimmt das Verhalten aber noch
nicht. Es kommt auch auf die Höhe der Belohnung an. Dies ist die
Werthypothese.
Hypothese 3:
Je wertvoller die Belohnung einer Aktivität für eine Person ist, desto eher
wird sie die Aktivität ausführen.
George C. Homans betont, daß die Erfolgs- und die Werthypothese gemeinsam betrachtet werden müssen: Auch hohe Belohnungen sind für die Wahrscheinlichkeit, daß ein Verhalten auftritt, bedeutungslos. Dann nämlich, wenn
es keine Erfolgserwartung für eine noch so hohe Belohnung gibt. Und auch
sichere Erwartungen über Erfolge sind unwirksam, wenn der Wert der zu erwartenden Belohnung nur gering ist. Die Wahrscheinlichkeit für ein Verhalten
ist demnach also um so stärker, je wertvoller und je sicherer eine Belohnung
ist, die mit dem Verhalten verbunden erscheint. Nur wenn die Belohnung mit
Sicherheit erwartet wird, bestimmen die Präferenzen alleine das Verhalten.
Und nur wenn ausschließlich hohe Belohnungen winken, reicht das Wissen
alleine aus, um das Verhalten zu bestimmen.
Diese Regel entspricht – interessanterweise – genau der Regel, die wir im
nächsten Kapitel 7 als die Grundregel für die Selektion des Handelns allgemein kennenlernen werden: Die multiplikative Verknüpfung von Bewertungen
und Erwartungen in der Wert-Erwartungstheorie. Das ist kein Zufall, sondern
das Ergebnis der Evolution des Lebens, die schon bei den Amöben daran
186
Situationslogik und Handeln
hing, daß diese winzigen Tierchen weder etwas taten, was ihrem Organismus
schadete, noch etwas, was die Umgebung nicht zuließ. Und für Einstein gilt
dieses Gesetz der Lösung von Problemen, denen er sich gegenübersieht, immer noch.
Kosten und Konflikte
Der Wert der Folgen eines Verhaltens kann natürlich auch negativ sein. Man
spricht dann von Bestrafung oder von den Kosten des Verhaltens. Ein bestimmtes Verhalten kann sowohl Belohnungen wie Bestrafungen gleichzeitig
nach sich ziehen. Das wäre zum Beispiel der Fall, wenn der Angler, um an eine schattige Stelle zu gelangen, sich durch ein Brombeergebüsch kämpfen
müßte. Bei solchen gemischten Folgen unterliegt das Verhalten also gewissen
inneren Konflikten.
Es wird dann das Verhalten am wahrscheinlichsten sein, bei dem die Differenz zwischen Belohnung und Bestrafung – die Netto-Belohnung oder der
Netto-Nutzen, die Differenz zwischen Nutzen und Kosten also – am höchsten
ist.
Im Prinzip bringt jedwedes Verhalten solche inneren Konflikte mit sich:
Auch das Verhalten mit dem höchsten Netto-Nutzen kostet immer etwas. Die
Unvermeidlichkeit von Kosten und inneren Konflikten hat einen einfachen
Grund: Ausgeschlagene Alternativen des Verhaltens sind entgangene Belohnungen und zählen so zu den inhärenten Kosten jeder Handlung. In der ökonomischen Theorie bezeichnet man die mit einer gewählten Aktivität entgangenen Belohnungen anderer Alternativen als die Opportunitätskosten einer
Entscheidung. Das ist schon etwas traurig: Man kann nicht alles gleichzeitig
haben – den Nutzen der gewählten Aktivität und den der ausgeschlagenen Alternativen. Und Homans nennt es daher zu Recht
„ ... die größte menschliche Tragödie, daß man nicht zwei Dinge zugleich tun kann.“ (Homans 1972a, S. 65)
Daneben bestehen die Kosten einer Handlung aus dem gesamten Aufwand an
Ressourcen – in Zeit, Geld, Nerven –, der für das Verhalten aufzubringen ist.
Und jedes, auch das angenehmste, Verhalten erfordert immer die Verausgabung solcher Ressourcen, mit denen man auch etwas anderes hätte anfangen
können.
Handeln
187
Der sanfte Zwang der Praxis
Ein Verhalten, das einmal begonnen hat, zeigt eine wichtige Eigenschaft: Die
Kosten für die Fortführung sinken deutlich ab. Und die Kosten für die Wahl
eines anderen Verhaltens steigen – gerade mit dieser Wahl – ebenso deutlich
an. Anders gesagt: mit dem Anlaufen eines Verhaltens betritt man einen Korridor, der so leicht nicht mehr zu verlassen ist. Einmal begonnenes Verhalten
erzeugt auf diese Weise einen eigenen Rahmen für die Fortführung dieser Linie, eine besondere Bindung und Stabilisierung des gesamten Ablaufs einer
Verhaltenssequenz, eine sog. Pfadabhängigkeit des Tuns. Diese Bindung an
eine einmal gewählte Verhaltens-Alternative stabilisiert das Verhalten bereits
beträchtlich – auch ohne daß es Normen, soziale Regeln oder soziale Kontrolle geben müßte. Das hat einfach damit zu tun, daß mit dem Anlaufen eines
Tuns die ausgeschlagenen Alternativen immer teurer, die gewählte Alternative dagegen relativ günstiger wird. Deshalb alleine ist es oft besser, irgendetwas zu tun, als immer nur abzuwarten. Das Tun allein schafft sich manchmal
die Vorteile, die es gegenüber Alternativen attraktiver machen.
Die Entbehrungs-Sättigungs-Hypothese
George C. Homans fügt zwei weitere Hypothesen an, die für das Verständnis
der Logik der Selektion des Verhaltens eigentlich nicht so wichtig sind – wohl
aber für bestimmte Phänomene wie die, daß Menschen an einem Gut, das sie
kontrollieren, das Interesse zu verlieren beginnen; oder daß sich die Menschen
sehr ärgern, wenn etwas Unerwartetes geschieht. Die eine Hypothese beschreibt die Annahme, daß der Wert einer zusätzlichen Belohnungseinheit
sinkt, wenn der Akteur diese Belohnung bereits mehrfach erhalten hat. Dies
ist die Entbehrungs-Sättigungs-Hypothese.
Hypothese 4:
Je öfter eine Person in der Vergangenheit eine bestimmte Belohnung erhalten
hat, desto weniger wertvoll wird für sie jede zusätzliche Belohnungseinheit.
Es ist das uns bereits aus der Diskussion der sozialen Produktionsfunktionen
wohlbekannte Gesetz vom abnehmenden Grenzertrag, hier bezogen auf den
Ertrag eines Handelns in Form einer bestimmten Belohnung oder Nutzens.
Man spricht deshalb auch vom Gesetz des abnehmenden Grenznutzens. Der
Hintergrund des Gesetzes vom abnehmenden Grenzertrages bzw. Grenznutzens sind wieder die Bedingungen der Evolution des Lebens: Das Leben ist
keine eindimensionale Sache. Es muß immer auf mehreren Dimensionen
gleichzeitig optimiert werden. Deshalb müssen die Organismen darauf achten,
188
Situationslogik und Handeln
daß sie möglichst allen Belangen ihrer Reproduktion in möglichst gleicher
Weise und möglichst gleichzeitig Rechnung tragen. Und dafür sorgt der Mechanismus des abnehmenden Grenzertrages der Belohnungen – schon durch
die biologische hardware, die aus biochemischen Gründen der Reproduktion
des Organismus das achtzehnte Brötchen zum Frühstück nicht gleich dem ersten bewertet.
Die Frustrations-Aggressions-Hypothese
Mit seiner fünften Hypothese bringt Homans die Emotionen, die Leidenschaften und die Moral ins Spiel: Unsicherheiten erzeugen Angst. Und die Enttäuschung von sicheren Erwartungen und festen Plänen zieht Frustration, Wut,
Ärger sowie eine Neigung zu aggressivem Verhalten nach sich. Dies ist die
Frustrations-Aggressions-Hypothese.
Hypothese 5:
Wenn die Aktivität einer Person nicht wie erwartet belohnt oder unerwartet
bestraft wird, wird die Person ärgerlich, und im Ärger sind die Ergebnisse aggressiven Verhaltens belohnend.
Richtig ist in der Tat, daß Menschen – wie alle Lebewesen – sehr emotional
reagieren, wenn ihre Erwartungen enttäuscht werden: Freude bei unerwartetem Erfolg, Ärger,Wut und Niedergeschlagenheit bei unerwartetem Mißerfolg. Und es ist nicht zu bestreiten, daß die Enttäuschung von Erwartungen die
Menschen sehr irritiert und ihre Energien und Leidenschaften nachhaltig mobilisiert. Das alles ist aber auch leicht zu verstehen: Die Verläßlichkeit von
Erwartungen über die Bedingungen des Erfolgs und der Vermeidung von Mißerfolg sind ja die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Reproduktion immer
gewesen. Organismen, die nicht alles mobilisiert haben, um den Fehlschlag
ihrer Bemühungen und die Enttäuschung ihrer Überzeugungen zu erklären, zu
korrigieren und zu kompensieren, hatten in der Evolution des Lebens und der
Kooperation miteinander nur schlechte Karten.
Das Ergebnis dieses evolutionären Weges ist auch beim homo sapiens gut
zu besichtigen: Auch er beginnt, Risiken auf sich zu nehmen und Dinge zu
tun, an die er vorher nicht einmal dachte, wenn es um den Ausgleich eines erlebten Verlustes geht. Bei drohenden Verlusten einer sicher unter Kontrolle
geglaubten interessanten Ressource werden die Menschen sehr böse und tun
alles – auch „rational“ sehr sinnlose Dinge –, um diesen Verlust zu vermeiden, rückgängig zu machen oder in ohnmächtiger Wut und in scheinbar ganz
unverständlichen emotionalen Ausbrüchen doch noch etwas zu kompensieren
(vgl. dazu u.a. noch Kapitel 8).
Handeln
189
Ob der zweite Teil der Hypothese – die offene Aggression als allgemeine
Reaktion auf eine Frustration – so stimmt, kann allerdings bezweifelt werden:
Aggression ist nicht die einzige Form der Abarbeitung von Enttäuschungen.
Und aggressives Verhalten gibt es darüber hinaus durchaus auch dann, wenn
keinerlei Frustration vorliegt. Manchmal ist die Aggression, jeweils dann
noch in besonderer kultureller Stilisierung, sogar das, was von Personen
gesellschaftlich erwartet wird, wenn sie an Belohnungen herankommen
wollen – wie wohl in der Lebenswelt einer rechtsradikalen Skinhead-Gruppe
oder bei gewissen, sich bewußt als gewissenlos und aggressiv gebenden
Bankern in „Mainhattan“. Die Reaktion auf Frustration muß daher keineswegs
die Aggression sein. Der von seiner Freundin menschlich tief enttäuschte
Martin geht eher sanft und betroffen zu seiner Männergruppe, wogegen
Manni sich in den tiefergelegten Manta setzt und nächtens die Anwohner der
A 40 nachhaltig aufschreckt, wenn ihn seine blonde Friseuse aus Bottrop hat
fallen lassen.
Verhaltenstheoretische Soziologie?
George C. Homans geht von einem Modell des reaktiven Verhaltens auch zur
Erklärung des menschlichen Handelns aus. Das ist nicht unverständlich: Die
Variablen zur Erklärung des Verhaltens und die Regeln darüber, wann ein bestimmtes Verhalten reaktiv selektiert wird, sind ja auch nicht prinzipiell verschieden von den Erklärungen des intentionalen Handelns. Aber es gibt
gleichwohl einen Unterschied: Die Verhaltenstheorie erklärt den Erwerb von
Erwartungen und Bewertungen und die Ausführung gewisser Reaktionen auf
deren Grundlage gleichzeitig: Die Verhaltenstheorie ist immer auch eine
Lerntheorie (vgl. dazu noch Kapitel 9). Die sog. Handlungstheorien, wie wir
sie in Kapitel 7 kennenlernen werden, erklären dagegen nur die Selektion von
Handlungen in einer gegebenen Situation, nicht dagegen den Erwerb der Erwartungen und Bewertungen über eine Lerngeschichte vorher. Dazu müßte
man die Lerntheorie noch gesondert heranziehen. Es ist nun ohne Zweifel eine
Stärke für eine Theorie, wenn sie verschiedene Dinge gleichzeitig erklärt. Wäre damit für soziologische Erklärungen eher eine verhaltenstheoretische oder
eine handlungstheoretische Grundlage ratsamer?
Diese Frage soll hier eindeutig zugunsten der handlungstheoretischen Lösung entschieden werden. Der theoretische Vorteil der Verhaltenstheorie, daß
sie zwei Phänomene gleichzeitig erklärt, ist nämlich zugleich ihr Nachteil für
die Modellierung von Situationseinflüssen: Situationen sind im Rahmen der
Verhaltenstheorie nur als – mehr oder weniger komplizierte – Lernbiographien modellierbar, nicht aber als Wahrnehmung von aktuellen Chancen. Und
190
Situationslogik und Handeln
die Folge: In der Berücksichtigung der aktuellen Situation ist die Verhaltenstheorie sehr inflexibel. Dies betont George C. Homans selbst:
„Die Tatsache, daß eine lange und komplexe Geschichte das gegenwärtige Verhalten jedes
Einzelnen bestimmt, schafft für alle Sozialwissenschaften große Schwierigkeiten. Selbst
wenn wir die allgemeinen Lernprinzipien kennen, wissen wir in der Regel doch nichts über
die Einzelheiten der Erfahrungen eines bestimmten Menschen. Wir können folglich zur Erklärung oder Prognose seines Verhaltens in den gegenwärtigen Umständen die allgemeinen
Prinzipien nicht anwenden, es sei denn mit einer großen Fehlerspanne.“ (Ebd., S. 63f.; Hervorhebungen nicht im Original)
Das ist bei den erklärenden Handlungstheorien – wie bei der WertErwartungstheorie, die wir in Kapitel 7 kennenlernen werden – ganz anders:
Das für die Entscheidung zwischen verschiedenen, alternativ möglichen
Handlungen bedeutsame Wissen und die dafür wichtigen Bewertungen können sowohl über eigene Erfahrungen und über das Lernen, aber auch aus anderen Quellen bezogen werden: Dr. Oetkers Kochbuch oder die Ratschläge
von Erika Berger zum Beispiel helfen – unter Umständen – dabei, Mißerfolge
zu vermeiden und das Richtige zu tun, um belohnt zu werden. Sie helfen auch,
bestimmte Dinge, die einem zuvor gleichgültig waren, nun mit Bewertungen
zu belegen. Und dies alles, ohne selbst langwierige eigene Erfahrungen machen zu müssen. Oder anders gesagt: Wer nicht fühlen will, kann hören oder
lesen oder einfach nur erfolgreiche Modelle des Verhaltens anderer nachahmen.
Kurz: Die Kognition und die subjektive Definition der Situation über den
Prozeß der Orientierung bilden die „Brücke“ zwischen Situation und Handeln.
Die Lerngeschichte gehört zur „Vorgeschichte“ der Situation (vgl. dazu die
Zusammenfassung der Elemente einer Situation in Kapitel 5). Sie muß man
nicht unbedingt kennen, um die Situation von Akteuren beschreiben und ihr
Handeln erklären zu wollen. Es reicht die korrekte Beschreibung der aktuellen
Opportunitäten, institutionellen Regeln und Bezugsrahmen, sowie die der Identität der Akteure, die sie vorher durch Lernen erworben haben.
6.2
Handeln und „Handlung“
Das Handeln findet, wie das Verhalten lebender Organismen allgemein, fortwährend und ohne Unterbrechungen und als ein mehr oder weniger träger
Handlungsstrom statt. Ohne weitere Kennzeichnungen oder Grenzziehungen
ließe sich nicht einfach sagen, was geschieht. Das ist aber im Alltag für die
zahllosen kleineren und größeren Koordinationen des Handelns sehr nötig.
Handeln
191
Der Satz: „Ich gehe jetzt einkaufen. Könntest Du inzwischen das Katzenklo säubern?“ – etwa
– macht deutlich, was jetzt wohl passiert und wie der Tag weitergehen könnte. Er zerlegt einen zunächst ungegliederten Handlungsstrom in deutlich erkennbare Abschnitte mit typischen Aktivitäten und versieht sie mit verständlichen sprachlichen Etikettierungen. Mit jedem
der Abschnitte verbinden die Akteure typische Vorstellungen und Erwartungen, zu denen sie
– wenn nötig – Stellung nehmen und an denen sie sich in ihren Planungen wieder orientieren
können. Es sind Teile von sinnhaften und geregelten Zusammenhängen typisierter sozialer
Abläufe: soziale Drehbücher und Modelle bestimmter Sequenzen des Handelns, die leicht
kommuniziert und bestimmten Akteuren als Auftrag oder Verantwortlichkeit zugeschrieben
werden können – und die damit selbst wiederum etwas aus ihrer Sicht Sinnvolles anfangen
können. Zum Beispiel die Antwort: „Ist gut.“.
Im Alltag dienen solche Abgrenzungen und über sprachliche Ausdrücke vorgenommene Markierungen des Handelns – unter anderem – der Definition der
Situation, der Strukturierung der Orientierungen der Akteure und der Koordination ihres Tuns. Derartige, als abgeschlossen definierte, normativ geregelte,
einem Akteur als Aktivität zuschreibbare, mit einer Markierung versehene
und im Ablauf typisierte Einheiten, Sequenzen oder „Projekte“ eines Handelns sollen als „Handlung“ – mit Anführungszeichen! – bezeichnet werden.
Beispielsweise wären in diesem Sinne jeweils eine „Handlung“: „Eine Abseitsfalle aufbauen“; „eine Ampel bei rot überfahren“; „einen ‚Befehl’ erteilen“; „Luhmann nicht zitieren“,
„Einkaufen“ oder „das Katzenklo säubern“ – jeweils für ganz verschiedene Situationen,
Sphären und Codierungen des Tuns: Fußball, Straßenverkehr, Kasernenhof, Soziologie,
Samstag, zu Hause. Soziale Rollen mit ihren typischen Positionsbezeichnungen – wie Familienvater, Student oder Professorengattin – gehören zu den deutlichsten Formen solcher typisierten und markierten Strukturierungen des Handlungsstromes, an denen sich die Akteure
wechselseitig in ihren Erwartungen und Wahrnehmungen orientieren.
Wir werden den Terminus „Handlung“ – mit Anführungszeichen – immer
dann gebrauchen, wenn die Unterscheidung zwischen dem Handeln als fortwährender Selektion und der Selektion eines vorgestellten Modells des Handelns wichtig ist. Meist ist das aber nicht nötig, weil es andere Begriffe für
den gemeinten Sachverhalt gibt, beispielsweise allgemein den der Norm oder
des Programms, oder spezieller, den der sozialen Rolle oder des sozialen
Drehbuchs (vgl. dazu noch Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Weil die ausdrückliche Unterscheidung zwischen Handeln und Handlung oft ohnehin nicht sonderlich wichtig ist, werden die Begriffe Handeln
und Handlung – ohne Anführungszeichen! – meist auch synonym gebraucht.
Schütz-Parsons-Luhmann
In der Soziologie ist die Vorstellung einer „Handlung“ als abgegrenzte und
markierte Einheit des Handelns gut eingeführt. Drei verschiedene Versionen
192
Situationslogik und Handeln
des Begriffs kursieren. Sie sind mit den Namen von Alfred Schütz, Talcott
Parsons und Niklas Luhmann verbunden.6 Man sollte sie auseinanderhalten,
um nicht unnötig in Verwirrung zu fallen.
Eine ausdrückliche begriffliche Unterscheidung zwischen „Handeln“ und
„Handlung“ hat Alfred Schütz eingeführt. Eine „Handlung“ ist nach Alfred
Schütz eine „abgeschlossene Einheit“, ein „fertig konstituiertes Erzeugnis“,
ein „vorimaginierter Entwurf“ eines „Projektes“, das verwirklicht werden soll.
Es ist das vorgestellte Ergebnis einer gedachten Kette des Tuns. Das Handeln
sind nach Schütz dann alle motorischen und sonstigen Aktivitäten auf dem
Weg dorthin. Es wird, kurz gesagt, gehandelt, um eine „Handlung“ zu verwirklichen.
Als Idee, wenngleich nicht als eigener sprachlicher Begriff, geht das Konzept einer „Handlung“ als wohlabgegrenzte und sinnhafte Einheit, an der sich
die Akteure bei ihrem „Handeln“ orientieren, auf die „Voluntaristic Theory of
Action“ nach Talcott Parsons zurück, wie wir sie in Kapitel 1 schon kurz beschrieben haben: Die kleinste Einheit des sozial sinnvollen Handelns ist der
unit act. Danach ist jedes Handeln ein „System“, das neben Zielen und Mitteln immer auch eine normative Orientierung enthält (vgl. dazu bereits Kapitel
1). Diese Orientierung ist nichts anderes als das, was hier als „Handlung“ bezeichnet wird: ein, oft mit markanten Zeichen, besonders sprachlicher Art,
versehenes Modell eines typischen Tuns, unter dem alle anderen Aspekte, die
Situation, die Ziele und die Mittel, gesehen werden.
Niklas Luhmann versteht, deutlich erkennbar im Anschluß an diesen soziologischen Handlungsbegriff nach Talcott Parsons, eine „Handlung“ als markierbaren und markierten „Abstützpunkt“ kommunikativer Prozesse – so wie
das oben am Beispiel der Verabredung mit dem Einkaufen und dem Katzenklo gezeigt wurde. Derartige „Handlungen“ werden – so Luhmann – durch
Zuschreibungen erzeugt. Das sind innere Aktivitäten der subjektiven Vereinfachung von Situationen, wieder also: der subjektiven Definition der Situation.
Über eine „Handlung“ definieren sich die Akteure auch in dieser Fassung des Begriffs also
wechselseitig die Situation, indem sie ein ihnen bekanntes und verständliches mentales „Modell“ der Situation selektieren und sich daran orientieren. Dazu kann dann auch gehören, daß
ein Geschehen der Situation oder der Person zugeschrieben wird. Luhmann bezeichnet ein
mentales Modell der Situation, das die Zuschreibung auf die Situation bezieht, als „Erleben“.
6
Vgl. Alfred Schütz, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie, Frankfurt/M. 1974, S. 50f., 74ff.; Talcott Parsons, The Structure of
Social Action. A Study in Social Theory with Special Reference to a Group of Recent
European Writers, Band 1: Marshall, Pareto, Durkheim, New York und London 1937, S.
44f.; Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/M. 1984, 277ff.
Handeln
193
Und ein mentales Modell, das die Zuschreibung auf die Person bezieht, nennt er „Handeln“.
Die Selektion von „Handlungen“ verläuft laut Luhmann stets über drastische Vereinfachungen in Form von sog. binären Codierungen: external/internal, konstant/variabel, Handeln/Erleben, ego/alter u.a. Er unterscheidet drei sog. Sinndimensionen dieser Vereinfachungen: zeitliche, sachliche oder soziale Codierungen. Darüber kann – und muß – alles Handeln
als „Handlung“ markiert und vereinfacht werden, damit es zu sinnhafter Kommunikation, zu
einem sozial geregelten Ablauf, zu einem sozialen System überhaupt kommen kann.
In der Tat können durch die Selektion solcher mentaler Modelle und durch die
beschriebenen Zuschreibungen als „Erleben“ oder als „Handeln“ soziale Abstimmungen erleichtert und die Kommunikation der Akteure untereinander
deutlich reibungsärmer werden: Die Akteure wissen mit den „Handlungen“
jeweils genau, woran sie sind, was jetzt zu erwarten und was zu tun ist – etwa,
ob sie selbst für das, was geschieht, die Verantwortung tragen und „handeln“,
oder ob sie nur passiv etwas „erleben“, für was sie nichts weiter können.
„Handlung“ als „Programm“ des Handelns
Die Unterscheidung zwischen Handeln und „Handlung“ als Konzept ist ohne
Zweifel eine sinnvolle Angelegenheit. Sie verweist darauf, daß das Handeln,
wie wir das in Teil A ausführlich besprochen haben, stets das Ergebnis einer
eigenen subjektiven Definition der Situation und der Orientierung an einem
sozial geteilten mentalen Modell ist: „Handlungen“ sind die, mitunter normativ verankerten Vorstellungen der Akteure über das Programm ihres Handelns. Sie enthalten Anweisungen über typische Abläufe, typische Projekte
und typische Zuschreibungen für den jeweils typischen „Rahmen“, den der
Code der betreffenden Situationsdefinition vorgibt. Soziale Rollen und soziale
Drehbücher sind nichts anderes als derartige „Handlungen“ und Programme
des Handelns für typischerweise definierte Situationen. An ihnen orientieren
sich die Akteure im Alltag meist ohne langes Nachdenken – sofern es keine
besonderen erkennbaren Abweichungen vom „Programm“ gibt. Die Kultur
einer Gesellschaft besteht u.a. aus dem Repertoire solcher „Handlungen“ und
Programme des Handelns (vgl. dazu noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser
„Speziellen Grundlagen“).
„Handlung“, Handeln und Interaktion
Eine „Handlung“ ist also eine Vorstellung und damit ebenfalls, wie die subjektive Definition der Situation, ein mentales Modell. Sie ist daher auch nicht
das sichtbare Handeln selbst. Diese Unterscheidung ist insbesondere wichtig
194
Situationslogik und Handeln
für die Erklärung der oftmals erstaunlich leichten Koordination des gemeinsamen Tuns von Akteuren bei den sog. Interaktionen (vgl. dazu noch Band 3,
„Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“): Nur über sichtbare
Hinweise auf solche „Handlungen“ können die Akteure gegenseitig erschließen, woran sie jeweils sind, was der andere jeweils plant und was jetzt sinnvollerweise zu tun ist. Die „Abstützung“ des sozialen Geschehens einer Interaktion geschieht, wenn nicht explizite eigene Hinweise etwa sprachlicher Art
vorhanden sind, insbesondere dadurch, daß das sichtbare Handeln von den
Akteuren als Anzeichen für bestimmte, immer ja nur innerlich vorgestellte,
„Handlungen“ und damit verbundene Situationsdefinitionen gewertet wird:
Indem sich die Akteure bei ihrem Tun gegenseitig beobachten, vergewissern
sie sich fortwährend, ob ihre Orientierung an einem bestimmten Code der Situation und die Ausführung eines bestimmten Programms des Handelns auch
„richtig“ sind. Interaktionen aller Art, sei es als Koorientierung, als symbolische Interaktion oder als Kommunikation, sind nur möglich unter gegenseitiger Beobachtung und so gestützter wechselseitiger Orientierung an den durch
das Handeln erkennbaren Spuren der „Handlungen“, die die Akteure jeweils
annehmen. Das führt, sofern die wechselseitigen Vermutungen über die
„Handlungen“ durch das sichtbare Handeln bestätigt werden, gleichzeitig wieder zur Verfestigung der Vorstellungen, der „Handlungen“ also. Das bei
Interaktionen wechselseitig an „Handlungen“ orientierte und gegenseitig beobachtete Handeln konstituiert, wie man sagen könnte, genau die „Handlungen“ immer wieder, auf denen es selbst beruht und an denen es sich selbst
wieder abstützt (vgl. dazu noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen
Grundlagen“).
6.3
Subjektiver Sinn
Vom Verhalten unterscheidet sich das Handeln vor allem durch den subjektiven Sinn: die Intentionalität des Tuns und die Reflexion gewisser Folgen.
„Sinn“ ist ein in der Soziologie häufig gebrauchter Begriff und hat eine ganze Reihe weiterer
Bedeutungen. So ist zum Beispiel der semantische Sinn die inhaltliche Bedeutung eines Wortes oder – allgemeiner – eines Zeichens. Der soziale Sinn eines Handelns bezieht sich auf die
richtige Beachtung sozialer Regeln. Die subjektiv sinnhafte Ordnung der Welt, insbesondere
durch bestimmte Legitimationen, wird als nomischer Sinn verstanden; um ihn geht es bei den
Fragen nach dem Sinn des Lebens und dessen eventuellen Verlust. Dann gibt es noch den
funktionalen Sinn. Das ist die Funktion, die ein Element in einem Gesamtzusammenhang
ausübt, etwa die Unruhe in einer Uhr. Unter objektivem Sinn kann man schließlich die inzwischen, gottlob, fast ganz entschwundene Vorstellung verstehen, daß die Vorgänge der Welt
einem irgendwie „objektiven“ Ziel zustrebten und insoweit von einem „objektiven Geist“, einer Vorsehung oder einer geschichtlichen Bestimmung unterlägen, auf die die Menschen kei-
Handeln
195
nen weiteren Einfluß hätten. Niklas Luhmann hat dem Begriff des Sinns noch eine ganz andere Bedeutung gegeben. Danach ist Sinn die Einheit der Differenz von Selektion, Verweisung
und Anschluß – wovon auch immer. Sinn kommt – so Luhmann – in diesem Sinne in zwei
Formen vor: Als Bewußtsein der psychischen und als Kommunikation der sozialen Systeme.
Ihren jeweiligen Sinn produzieren die psychischen und sozialen Systeme in – wie es in der
sog. Systemtheorie heißt – wechselseitiger Konstitution und Autopoiese. Wir wollen diese
Variante des Begriffs daher als autopoietischen Sinn bezeichnen. Alle diese Varianten sind
nicht ohne Sinn. Man sollte nur darauf achten, daß der Begriff des Sinns jeweils einen ganz
anderen (semantischen) Sinn haben kann.
Eine der bis heute umstrittensten Fragen ist, ob sich mit Sinn verbundene
Vorgänge überhaupt mit Hilfe allgemeiner Kausalgesetze erfassen lassen. Die
für die Logik der Selektion nötige Theorie des Handelns müßte ja auch ein
kausales Gesetz enthalten. Der subjektive Sinn eines Handelns könne, so heißt
es, letztlich nur „verstanden“, nicht aber „erklärt“ werden. Und deshalb sei eine kausale Theorie des Handelns unmöglich.
Wäre damit eine erklärende Handlungstheorie hinfällig? Max Weber schon
hat die Lösung des Problems geliefert. Er formuliert zwar keine „Theorie“ des
Handelns in dem Sinne, daß er ein spezielles Gesetz angibt, dem das Handeln
folgt. Gleichwohl hat er die Skizze einer nomologischen Erklärung des mit
subjektivem Sinn versehenen Handelns vorgelegt. Im Kern besteht sie aus einer etwas widersprüchlich klingenden Kombination: Die Erklärung eines
Handelns ist das Verstehen des kausalen Zusammenhangs zwischen dem subjektiven Sinn und dem betreffenden Handeln. Was aber heißt hier „Verstehen“? Worin besteht der, wie Max Weber sagt, „Sinnzusammenhang“ zwischen dem subjektiven Sinn und dem Handeln? Und was ist eigentlich genau
mit dem Begriff des „subjektiven Sinns“ gemeint?
Verstehen und Sinnzusammenhang
Max Weber hat den Begriff des subjektiven Sinns nirgendwo unmittelbar definiert. Im Anschluß an die Definition des Handelns finden wir auf Seite 1 von
„Wirtschaft und Gesellschaft“ nur, daß es um den „subjektiv gemeinten Sinn“
gehe. Gleich darauf verbindet Max Weber das Konzept des subjektiven Sinns
aber deutlich mit dem des „Verstehens“: Subjektiven Sinn habe ein Verhalten
bzw. dessen Folgen dann, wenn es bzw. die Folgen „verständlich“ sind. Beispielsweise:
„Jedes Artefakt, z.B. eine ‚Maschine’, ist lediglich aus dem Sinn deutbar und verständlich,
den menschliches Handeln (von möglicherweise sehr verschiedener Zielrichtung) der Herstellung und Verwendung dieses Artefakts verlieh (oder verleihen wollte); ohne Zurückgreifen
auf ihn bleibt sie gänzlich unverständlich.“ (Weber 1972, S. 3; Hervorhebung nicht im Original)
196
Situationslogik und Handeln
Was aber ist an einem Handeln oder an dessen Folgen, wie an den erwähnten
Artefakten, so „verständlich“? Max Weber stellt einen deutlichen Zusammenhang her:
„Das Verständliche daran ist ... die Bezogenheit menschlichen Handelns darauf, entweder als
„Mittel“ oder als „Zweck“, der dem oder den Handelnden vorschwebte, und woran ihr Handeln orientiert wurde. Nur in diesen Kategorien findet ein Verstehen solcher Objekte statt.“
(Ebd.; Hervorhebungen so nicht im Original)
An einer anderen Stelle sagt er sogar:
„Jede denkende Besinnung auf die letzten Elemente sinnvollen Handelns ist zunächst gebunden an die Kategorien ‚Zweck’ und ‚Mittel’.“7
Und schließlich:
„Sinnfremd bleiben dagegen alle – belebten, unbelebten, außermenschlichen, menschlichen –
Vorgänge oder Zuständlichkeiten ohne gemeinten Sinngehalt, soweit sie nicht in die Beziehung vom „Mittel“ und „Zweck“ zum Handeln treten ... .“ (Weber 1972, S. 3; Hervorhebungen so nicht im Original)
Subjektiven Sinn gewinnt ein Verhalten also dann, wenn es von Erwägungen
über Mittel und Zwecke bzw. Ziele geleitet ist, die dem Akteur vorschwebten.
Erst dann kann man den Akteur, sein Handeln und die Folgen seines Tuns
„verstehen“. Max Weber unterscheidet dabei ein „aktuelles“ vom „motivationsmäßigen“ Verstehen. „Aktuell“ wird ein Handeln schon aufgrund seiner
äußerlichen Zusammenhänge verstanden – wie ein „Zornesausbruch, der sich
in Gesichtsausdruck, Interjektionen, irrationalen Bewegungen manifestiert“
und damit selbst-„verständlich“ ist. Letztlich geht es aber um das Verstehen
der Motive der Akteure:
„Wir verstehen (zum Beispiel; HE) das Holzhacken oder Gewehranlegen nicht nur aktuell,
sondern auch motivationsmäßig, wenn wir wissen, daß der Holzhacker entweder gegen Lohn
oder aber für seinen Eigenbedarf oder zu seiner Erholung (rational), oder etwa, ‚weil er sich
eine Erregung abreagierte’ (irrational), oder wenn der Schießende auf Befehl zum Zweck der
Hinrichtung oder der Bekämpfung von Feinden (rational) oder aus Rache (affektuell, also in
diesem Sinn: irrational) diese Handlung vollzieht.“ (Ebd., S. 4)
Erst dieser Zusammenhang zwischen Motiven, Gründen und dem äußerlich
erkennbaren Handeln gibt dem Handeln den verstehbaren subjektiven Sinn,
den „Sinnzusammenhang“. Es ist der Schlüssel zur Erklärung des Handlungsgeschehens:
7
Max Weber, Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis,
in: Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 5. Aufl., hrsg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 1982a (zuerst: 1904), S. 149; Hervorhebungen nicht im Original.
Handeln
197
„All dies sind verständliche Sinnzusammenhänge, deren Verstehen wir als ein Erklären des
tatsächlichen Ablaufs des Handelns ansehen. ‚Erklären’ bedeutet also für eine mit dem Sinn
des Handelns befaßte Wissenschaft soviel wie: Erfassung des Sinnzusammenhangs, in den,
seinem subjektiv gemeinten Sinn nach, ein aktuell verständliches Handeln hineingehört.“
(Ebd.; Hervorhebungen im Original)
Beim Verstehen und der dadurch möglichen Erklärung des Handelns kommt
es also auf eine besondere Art der Verbindung zwischen den Elementen Mittel, Zweck bzw. Ziel und der jeweiligen Handlung an. Und nicht jede beliebige Selektion des Verhaltens ist vor dem Hintergrund gegebener Motive und
Überzeugungen mit Sinn verbunden: Zum Lohnerwerb wäre beispielsweise
das wildwütige Zerhacken von Bäumen in Nachbars Garten aus Rache ebensowenig geeignet und daher sinnvoll, wie das Gewehranlegen anläßlich einer
Hinrichtung zur Freizeitbeschäftigung und Erholung des Schützen.
Die Evidenz der Zweckrationalität
Das motivationale Verstehen des subjektiven Sinns eines Handelns kann also
unterschiedliche Grade an Sinn, an Nachvollziehbarkeit, an Evidenz haben:
„Menschliches (‚äußeres’ oder ‚inneres’) Verhalten zeigt sowohl Zusammenhänge wie Regelmäßigkeiten des Verlaufs wie alles Geschehen. Was aber, wenigstens im vollen Sinne, nur
menschlichem Verhalten eignet, sind Zusammenhänge und Regelmäßigkeiten, deren Ablauf
verständlich deutbar ist. Ein durch Deutung gewonnenes ‚Verständnis’ menschlichen Verhaltens enthält zunächst eine spezifische, sehr verschieden große, qualitative ‚Evidenz’.“8
Die für einen deutenden Beobachter gegebene Evidenz eines Verstehens freilich „beweist an sich noch nichts für ihre empirische Gültigkeit.“ (Ebd., S.
428). Ein äußerlich gleiches Sichverhalten kann ja auf ganz unterschiedlichen
Motiven und Konstellationen beruhen, deren „verständlich-evidenteste nicht
immer auch die wirklich im Spiel gewesene ist.“ (Ebd.) Jedoch:
„Das Höchstmaß an ‚Evidenz’ besitzt nun die zweckrationale Deutung.“ (Ebd.; Hervorhebungen nicht im Original).
Was aber wäre eine solche „zweckrationale“ Handlung? Webers Definition:
„Zweckrationales Sichverhalten soll ein solches heißen, welches ausschließlich orientiert ist
an (subjektiv) als adäquat vorgestellten Mitteln für (subjektiv) eindeutig erfaßte Zwecke.“
(Ebd.; Hervorhebung im Original)
8
Max Weber, Ueber einige Kategorien der verstehenden Soziologie, in: Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 5. Aufl., hrsg. von Johannes Winckelmann,
Tübingen 1982b (zuerst: 1904), S. 427f.; Hervorhebungen so nicht im Original.
198
Situationslogik und Handeln
Aus den beiden Eigenschaften der Adäquatheit der Mittel und der Eindeutigkeit der Zwecke (bzw. der Ziele) und aus der Regel, die für die jeweiligen
Zwecke jeweils angemessensten Mittel einzusetzen, ergibt sich somit die besondere „Evidenz“ des zweckrationalen Handelns: Gegeben eine eindeutige
Rangordnung der Zwecke nach ihrer Wichtigkeit für den Akteur und gegeben
eine eindeutige Rangordnung der Mittel nach ihrer angenommenen Adäquanz
zur Erfüllung der Zwecke, folgt das Handeln logisch und gegen andere Motive und Gesichtspunkte ganz und gar unwiderstehlich.
Die verstehende Erklärung des Handelns
Nun kann gut rekonstruiert werden, welche Art von Erklärung und welches
Gesetz des Handelns Max Weber im Sinn hatte.9 Der Sinn des Handelns ist
zunächst immer ein „subjektiv gemeinter“ Sinn und nicht irgendein „objektiv
‚richtiger’“ oder „metaphysisch ergründeter ‚wahrer’ Sinn“ (vgl. dazu schon
Kapitel 2). Bedeutsam sind nur die subjektiven Zielsetzungen und Präferenzen, sowie die subjektiven Überzeugungen und Erwartungen der Akteure, wie
diese Ziele und Zwecke mit welchen Mitteln am ehesten zu realisieren wären.
Die Orientierung des Handelns an Mitteln und Zwecken in einem Sinnzusammenhang bezieht sich also nicht unbedingt auf objektiv richtige Zusammenhänge – wie eine objektiv richtige Kausaltheorie darüber, wie am
effizientesten Holz gehackt oder eine Hinrichtung durch Erschießen vollzogen
werde. Kurz: Die Randbedingungen der gesuchten Erklärung beziehen sich
auf subjektive Vorstellungen über Mittel und Ziele (vgl. auch noch Abschnitt
6.4).
Was aber ist das allgemeine Gesetz, das die subjektiven Vorstellungen der
Akteure mit ihrem Handeln in einen „sinnhaften“ Zusammenhang, in einen
Sinnzusammenhang also, bringt? Diesem Gesetz kommt man näher, wenn
man an ein Kriterium für bessere oder schlechtere, für mehr oder weniger
sinnvolle Selektionen denkt – auch wenn die Ziele und die Vorstellungen über
geeignete Mittel zur Erreichung dieser Ziele nur subjektiver Art sind. Denn:
Sehr sinnvoll wäre es ja nicht gewesen, wenn der Reiter über den Bodensee,
so wie er die Situation sah, in weitem Bogen zu dem Gasthaus in der Ferne
geritten wäre. Der gerade Weg zum Licht ist allemal der richtige – wenn
nichts dagegen spricht. Welches Kriterium also? Max Weber macht auch hier,
wenngleich nicht explizit, einen deutlichen Vorschlag: Das Gesetz des Han9
Vgl. zum Schema einer deduktiv-nomologischen Erklärung und zu den Voraussetzungen
einer adäquaten Erklärung: Hartmut Esser, Soziologie. Allgemeine Grundlagen, 3. Aufl.,
Frankfurt/M. und New York, 1999, Kapitel 4.
Handeln
199
delns ist die Regel der Orientierung an der „Evidenz“ der „Verständlichkeit“
des Handelns. Sie ergibt sich, wenn es ein „rational orientiertes Zweckhandeln“ (Weber 1972, S. 2.; Hervorhebung nicht im Original) ist. Die Selektion
eines solchen zweckrationalen Handelns ist dabei bestimmt
„ ... durch Erwartungen des Verhaltens von Gegenständen der Außenwelt und von anderen
Menschen und unter Benutzung dieser Erwartungen als ‚Bedingungen’ oder als ‚Mittel’ für
rational, als Erfolg, erstrebte und abgewogene eigne Zwecke, ...“ (Ebd., S. 12; Hervorhebungen so nicht im Original)
Und sie geschieht in der Weise, daß der Akteur
„ ... sein Handeln nach Zweck, Mitteln und Nebenfolgen orientiert und dabei sowohl die Mittel gegen die Zwecke, wie die Zwecke gegen die Nebenfolgen, wie endlich auch die verschiedenen möglichen Zwecke gegeneinander rational abwägt.“ (Ebd., S. 13; Hervorhebung
im Original)
Subjektiven Sinn gewinnt ein Tun also durch eine optimierende Auswahl zwischen verschiedenen Alternativen zur Verwirklichung hoch bewerteter Ziele
bzw. Zwecke nach Maßgabe von Erwartungen über die Tauglichkeit bestimmter Mittel und über die Konsequenzen der verschiedenen denkbaren Alternativen. Das Prinzip der Handlungswahl nach den Regeln der Zweckrationalität ist das allgemeine Gesetz, das, zusammen mit den subjektiven Erwartungen und Bewertungen über Ziele und Mittel, das Handeln erklärt – und es
dadurch gleichzeitig mit einer hohen „Evidenz“ verständlich macht.
Die zweckrationale „Logik“ der Situation
Der zwanglose Zwang dieser Logik des zweckrationalen Handelns macht das
Handeln gerade dann besonders folgerichtig, wenn die Verbindungen zwischen den Zwecken und den dafür geeigneten Mitteln in der Situation transparent, deutlich und somit „evident“ gegeben sind. So hätte ein forschender
Hochschullehrer kaum eine Wahl, sich sonderlich um die lokalen Angelegenheiten seiner Hochschule zu kümmern. Und ein bisher nur in den Gremien intrigierender Professor wäre sehr schlecht beraten, es mit einem Male mit dem
Schreiben von Aufsätzen und Büchern und mit dem Besuch von Konferenzen
zu versuchen. Es wäre die blanke Unvernunft. Und niemand, der sich in einer
entsprechenden Situation befindet, könnte sich freiwillig dieser zwingenden
Logik der Vernunft entziehen – wenn er alle Tassen im Schrank hat (vgl. dazu
noch Kapitel 10 über die „Logik“ der Situation).
200
Situationslogik und Handeln
Die Zweckrationalität als Basishypothese
Max Weber ist weit davon entfernt, andere als zweckrational bedingte Umstände und etwa „religiöse und karitative Virtuosenleistungen“, „extrem rationalistische Fanatismen“ oder „aktuelle Affekte (Angst, Zorn, Ehrgeiz, Neid,
Eifersucht, Liebe, Begeisterung, Stolz, Rachedurst, Pietät, Hingabe, Begierden aller Art)“ zu ignorieren (vgl. dazu noch Abschnitt 6.7). Sollen die Erklärungen der Soziologie aber „das Höchstmaß an Evidenz“ aufweisen, dann
müssen sie nach Max Weber zunächst unter der Hypothese des „rational orientierten Zweckhandelns“ aufgebaut werden. Das Konstrukt der Zweckrationalität führt Weber also nicht in erster Linie als empirische Hypothese für eine
allgemeine Logik der Selektion des Handelns ein, sondern in mehr methodischer Absicht: Das zweckrationale Handeln dient ihm als eine Art von NullHypothese, als Baseline-Modell für eine ganz bestimmte typisierende Modellierung sozialer Prozesse:
„Für die typenbildende wissenschaftliche Betrachtung werden nun alle irrationalen, affektuell
bedingten, Sinnzusammenhänge des Sichverhaltens, die das Handeln beeinflussen, am übersehbarsten als ‚Ablenkungen’ von einem konstruierten rein zweckrationalen Verlauf desselben erforscht und dargestellt. Z. B. wird bei einer Erklärung einer ‚Börsenpanik’ zweckmäßigerweise zunächst festgestellt: wie ohne Beeinflussung durch irrationale Affekte das Handeln
abgelaufen wäre, und dann werden jene irrationalen Komponenten als ‚Störungen’ eingetragen.“ (Weber 1972, S. 2; Hervorhebungen im Original)
Max Weber läßt damit offen, ob das Handeln empirisch tatsächlich zweckrational verläuft oder nicht. Es geht ihm zunächst nur um eine erste Modellierung
sozialer Prozesse. Genau dies ist auch das Vorgehen bei einer soziologischen
Erklärung nach dem Prinzip der abnehmenden Abstraktion: Gelingt die Erklärung schon auf dieser ersten Stufe der einfachen zweckrationalen Verständlichkeit, dann ist das Ziel schon erreicht. Eine solche erste Erklärung über die
Basishypothese der Zweckrationalität hätte eine Reihe von Vorzügen: Die
Akteure und ihr Handeln können mit einem Höchstmaß an Evidenz verstanden werden. Und mit der Anwendung der Selektionsregel der Zweckrationalität ist das in seinem subjektiven Sinn verstandene Handeln gleichzeitig „ursächlich“ erklärt. Was will man mehr? Probleme gibt es erst, wenn ein solches
zweckrationales erklärendes Verstehen nicht gelingt. Aber auch dann sollte
man nicht allzu vorschnell annehmen, daß die Menschen halt eben verrückt
geworden seien.
Handeln
6.4
201
Die Logik des Handelns
Wie sieht nun aber die Logik der verstehend-nomologischen Erklärung eines
mit subjektivem Sinn versehenen zweckrationalen Handelns genau aus? Und
wie kann man diese Erklärung mit dem Hempel-Oppenheim-Schema in Verbindung bringen? Dazu ein Beispiel, von dem man wenigstens auf den ersten
Blick nicht sagen möchte, daß es für den Zweck der Demonstration der Handlungserklärung über das Konzept der Zweckrationalität besonders geeignet
wäre.
Hitler und sein Krieg gegen die USA
Im Kriegstagebuch des Wehrmachtführungsstabes für den 6. Dezember 1941
ist die folgende Passage zu lesen:
„Als die Katastrophe des Winters 1941/42 hereinbrach, wurde dem Führer ... klar, daß von
diesem Kulminationspunkt ... an kein Sieg mehr errungen werden konnte.“
Am 11. Dezember – also fünf Tage nach dieser Eintragung – erklärt Hitler
den USA den Krieg. War Hitler verrückt?
Wir folgen mit dieser Frage und mit dem Versuch einer Antwort darauf der Analyse von
Sebastian Haffner.10 Haffner prüft zunächst verschiedene Alternativen. War die
Kriegserklärung an die USA ein Akt der Nibelungentreue zu Japan, das ja gerade erst den
Angriff auf Pearl Harbor unternommen hatte, und mit dem das Deutsche Reich zusammen mit
Italien im sog. Dreierpakt verbunden war? Dagegen spricht, daß der Dreierpakt ein reines
Defensivbündnis war, daß Japan dem deutschen Überfall auf Rußland nur kaltlächelnd und
abwartend zugesehen hatte, und daß Hitler – aus nur allzu bekannten anderen Gründen –
Japan gegenüber sicher keine sentimentalen Gefühle von besonderer ethnischer
Anhänglichkeit entgegenbrachte. War es ein „verkleideter Hilferuf“ (150) an die Westmächte
angesichts der Einsicht Hitlers, daß nach der Niederlage vor Moskau „kein Sieg mehr
errungen werden konnte“? Dagegen spricht das spätere Verhalten Hitlers als es darum geht,
von welcher Seite er den „Todesstreich“ erhalten wollte: „lieber im Westen oder im Osten“
(150). Er startet die Ardennenoffensive noch im Winter 1944/45 – und lädt gerade dadurch
die Rote Armee zur großen Endoffensive im Januar 1945 ein. Auch gegen die Hypothese,
durch die Einbeziehung der USA in den bereits verlorenen Krieg den damals durchaus schon
erkennbaren Ost-West-Gegensatz zu verschärfen und für seine Zwecke auszunutzen, spricht
alles: Hitler hat die – latent immer vorhandenen – Gegensätze zwischen den Alliierten nie
selbst verstärkt, etwa durch Versuche eines Sonderfriedens mit Rußland, der 1942, ja selbst
1943 immer noch möglich gewesen wäre.
10
Sebastian Haffner, Anmerkungen zu Hitler, München 1978, S. 147ff. Das obige Zitat aus
dem Kriegstagebuch ist dem Buch von Sebastian Haffner entnommen. Die folgenden Seitenangaben in Klammern beziehen sich auf das Buch von Haffner.
202
Situationslogik und Handeln
Man ist mit Sebastian Haffner bei der Suche nach den Motiven für diesen
„unerklärteste der (militärisch-strategischen; HE) Fehler“ (147), für diesen
„Wahnsinnsakt“ (148) also auf Vermutungen angewiesen. Hitler selbst hat
sich zu seinen Gründen für die Kriegserklärung an die USA nicht geäußert: Es
war, wie Sebastian Haffner schreibt, nicht nur der seltsamste, sondern „ ...
auch der einsamste seiner einsamen Entschlüsse“ (152). Was also war der
Grund? Sebastian Haffner entwickelt die folgende Hypothese: Hitlers Lebensziel war es, als der Größte in die Geschichte einzugehen. Entweder als „größter Eroberer und Triumphator“ oder, wenn dies sich als unmöglich erweisen
sollte, „wenigstens als der Architekt der größten Katastrophe“ (153). Der
größte Triumphator kann er, das sieht er selbst ein, nach der Niederlage vor
Moskau nicht mehr werden, wohl aber immer noch der größte Destruktor.
Und dann war die Kriegserklärung an die USA nur folgerichtig – aus der
Sicht Hitlers, wie Sebastian Haffner sie annimmt.
Das Vorgehen
Wie ist Sebastian Haffner vorgegangen? Er versucht ganz offenkundig ein
deutendes Verstehen der subjektiven Ziele und der wahrgenommenen Möglichkeiten des interessierenden Akteurs, um damit den Ablauf – und letztlich
auch die schrecklichen Wirkungen – von dessen zunächst ganz und gar unverständlich erscheinendem Handeln ursächlich zu erklären. Dabei werden zunächst verschiedene, auch schon plausibel scheinende Hypothesen geprüft.
Erstens werden mögliche Ziele erwogen. Sebastian Haffner macht es sich hier
zwar vielleicht etwas einfach, weil Hitler sicher auch andere – unmenschliche
und verbrecherische – Lebensziele hatte. Aber für den Entschluß zur Kriegserklärung an die USA waren diese anderen Beweggründe – seine Rassenvorstellungen insbesondere – wohl tatsächlich nicht besonders relevant.
Zweitens werden Überlegungen über möglich erscheinende Mittel angestellt: Was ist das beste erreichbare Zwischenziel, das es erlaubt, dem eigentlich interessierenden grundlegenden Ziel – der Größte aller Zeiten zu werden
– am nächsten zu kommen? Zwei solche Zwischenziele erscheinen möglich:
totaler Sieg oder totale Niederlage. Alles andere ist mit dem Ziel, der Größte
der Geschichte zu werden, aufgrund der subjektiven Überzeugungen Hitlers
nicht vereinbar.
Schließlich wendet Haffner, allerdings sehr implizit, auch eine Art von Deduktionsregel an, eine allgemeine Logik für die Erklärung von Hitlers speziellem Handeln: Was wird ein beliebiger Akteur tun, wenn – das Ziel gegeben –
beide Zwischenziele gleichermaßen erreichbar scheinen – wie nach dem Sieg
Handeln
203
im Frankreichfeldzug und in den ersten Monaten des Überfalls auf Rußland?
Die Antwort: Er wählt die aus seiner Sicht attraktivere Alternative. Und das
ist ohne Zweifel der totale Sieg. Was wird ein beliebiger Akteur aber tun,
wenn er erkennen muß, daß die attraktivere Lösung unmöglich geworden ist?
Genau. Er wird nicht die – nun unerreichbare – beste, sondern die nächste erreichbare, die second best Lösung gegenüber jeder noch schlechteren Alternative wählen.
Kurz: Gegeben die subjektiven Ziele und gegeben die Umstände und das
subjektive Wissen des Akteurs, so folgt das Handeln auch bei ganz verrückten
Zielen und auch bei falschem Wissen „logisch“ aus der allgemeinen Regel der
zweckrationalen Optimierung der Mittel zur Erreichung der Ziele.
Rationale Erklärung
Aus den subjektiven Zielen, aus den vom Akteur eingeschätzten Mitteln und
aus der Deduktionsregel ergibt sich also die Erklärung der „Wahnsinnstat“ der
Kriegserklärung an die USA. Hitler hat – so muß man es schon sehen – auf
eine zunächst unbegreifliche, jetzt aber nachvollziehbare und dann sogar auch
evident „verständliche“ und folgerichtige Weise – „rational“ gehandelt, als er
den USA den Krieg erklärte – obwohl dies nach außen ganz anders aussieht.
Das Vorgehen ist eine spezielle Art der „objektiven“ Hermeneutik: Der Soziologe oder der
Historiker versucht, die objektiv vorliegenden subjektiven Ziele und Mittel des Akteurs objektiv richtig zu rekonstruieren und daraus dann das Handeln nach einer bestimmten logischen
Regel, die der Akteur anwendet, deduktiv abzuleiten. Das Verfahren beruht – wenn man so
sagen will – auf der Beachtung der „Hermeneutik der natürlichen Lebenswelt“, in der sich die
Akteure befinden, und ihrer persönlichen Biographie und Identität – und der Anwendung eines Gesetzes, was sie auf dieser Grundlage „logischerweise“ tun werden. Und dies ist nichts
anderes als das Verstehen der Akteure durch die Erklärung ihres Handelns (vgl. dazu auch
noch den folgenden Abschnitt 6.5 über die sog. doppelte Hermeneutik). Logo.
Dabei ist es vollkommen gleichgültig, wie die Bedingungen des Handelns,
wie die Inhalte der jeweiligen „Hermeneutik der natürlichen Lebenswelt“
aussehen. Das richtige Verstehen und die korrekte Erklärung auch einer
zunächst unbegreiflichen Handlung bemißt sich also nicht an dem Inhalt der
Ziele, auch nicht an der Objektivität des Wissens. Sondern einzig daran, ob
der Akteur bei gegebenen Zielen und bei gegebenem Wissen seine
Entscheidung nach einer bestimmten Logik fällt. Maßgebend für den Sinn und
für die Rationalität des Handelns ist also allein die Art der Regeln, die Logik,
der die Selektion des Handelns folgt.
Wenn von subjektiver Rationalität, von der subjektiven Vernunft, vom subjektiven Sinn des Handelns die Rede ist, wird also nur behauptet: Gegeben
204
Situationslogik und Handeln
bestimmte subjektive Zielsetzungen und gegeben bestimmte subjektive „Theorien“ über die Verbindung der Handlungen zu gegebenen Zielen, folgt die
Auswahl der Handlung immer den objektiven Regeln der Rationalität. Es
kann daher ohne weiteres ein „rationales“ Handeln bezogen auf die Logik der
Selektion geben – bei vollkommen irrationalen oder a-rationalen Vorstellungen, Weltbildern und Alltagstheorien der Akteure bezogen auf den Inhalt dieser Bedingungen (vgl. dazu noch Abschnitt 6.6, sowie Kapitel 8 über die Logik der subjektiven Vernunft, insbesondere Abschnitt 8.4 ausführlich). Wolfgang Stegmüller drückt diese, manchmal etwa verwirrende, aber leicht auflösbare Paradoxie der sog. rationalen Erklärungen so aus:
„Die Überzeugungen eines Handelnden können uns als gänzlich unsinnig erscheinen, ebenso
seine Zielsetzung; trotzdem kann seine Tätigkeit vernünftig sein, wenn wir diese beiden motivierenden Faktoren als gegebene Daten betrachten. Eine Erklärung, in welcher der Nachweis erbracht wird, daß die Tätigkeit eines Menschen eine in diesem Sinn vernünftige Handlung darstellte, bildet eine rationale Erklärung.“11
Genau. So ist es. Selbst bei Hitler.
Das Grundmodell der Handlungslogik
Wir wollen das Vorgehen und die Bestandteile einer rationalen Erklärung des
Handelns von Menschen nun etwas stärker systematisieren und in der Sprache
des Hempel-Oppenheim-Schemas der nomologischen Erklärung rekonstruieren. Erklärt werden soll das Auftreten einer bestimmten Handlung bei einem
Akteur i. Die Handlung von i sei mit Hi gekennzeichnet. Hi ist also das Explanandum der gesuchten Erklärung.
Zunächst benötigt die Erklärung eine singuläre Aussage über die Ziele des
Akteurs i. In den Zielen sind die Bewertungen von Situationen, die Präferenzen, die Motive des Akteurs also, zusammengefaßt. Formal: Zi. Dann wird
angenommen, daß der Akteur eine Art von „Theorie“ darüber besitzt, auf welche Weise er das Ziel erreichen kann. Etwa: „Für das Ziel Z ist eine Handlung
H erforderlich“. Diese „Theorie“ des Akteurs ist sein subjektiver Glaube über
die Verhältnisse in der Welt. Sie repräsentiert die Erwartungen des Akteurs i
und besteht aus lauter subjektiven Kausalhypothesen des Akteurs i über die
vermutete Wirksamkeit seines Tuns. Formal: (Z → H)i.
11
Wolfgang Stegmüller, Rationale Erklärung, in: Wolfgang Stegmüller, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie, Band 1: Wissenschaftliche Erklärung und Begründung, Berlin, Heidelberg und New York 1969, S. 379;
Hervorhebungen so nicht im Original.
Handeln
205
Aus den Zielen und deren Bewertungen und aus den Erwartungen über ein
geeignetes Handeln allein läßt sich aber das Handeln noch nicht ableiten. Es
muß auch eine Verbindung – welcher Art auch immer – zwischen den Zielen
und dem Handeln aufgrund der Bewertungen und der Erwartungen geben.
Diese Verbindung ist der Kern jedes Gesetzes und damit jeder Erklärung. Solche Verbindungen gehen immer über die bloße Beschreibung der Bedingungen und der Situation hinaus. Erst wenn – an irgendeiner Stelle – eine solche
funktionale oder kausale Verbindung genannt wird, ist es erlaubt, von einer
Theorie zu sprechen. Jede Handlungs-Theorie muß daher sagen, wie sie diese
Verbindung herstellen möchte. Mit Andeutungen ist es dabei ebensowenig getan wie mit phänomenologischen Beschreibungen oder der alleinigen Benennung der Bedingungen, des Typus oder der Dimensionen des Handelns. Die
von einem Akteur subjektiv geglaubte Verbindung zwischen den Zielen und
den dazu nötigen Handlungen als Mittel kann man als ein allgemeines Gesetz
über die psychische Verursachung des Handelns formulieren. Etwa: Für alle
Exemplare des homo sapiens gilt: Immer wenn eine (beliebige) Person glaubt,
daß zur Erreichung eines Zieles Z die Handlung H notwendig ist, und wenn
diese Person das Ziel Z hat, dann handelt die Person gemäß H. Dies klingt alles komplizierter als es ist. Formal lautet das Gesetz in der Sprache der Logik12 dann so:
(Z ^ (Z → H)) → H.
Nach den Regeln des Hempel-Oppenheim-Schemas der Erklärung ist ein
Explanandum dann erklärt, wenn es logisch aus den Randbedingungen und
einem Gesetz ableitbar ist. Für die Erklärung des Handelns hieße dies: Hi
müßte sich aus den Zielen Zi und der „Alltagstheorie“ (Z → H)i als den Randbedingungen sowie aus dem Gesetz (Z ^ (Z → H)) → H ableiten lassen. Und
so ist es tatsächlich auch – wie sich der Leser gerne selbst mit Hilfe seiner ohne Zweifel vorhandenen Kenntnisse der Aussagenlogik überzeugen möchte
(vgl. Abbildung 6.1):
12
Das Zeichen ^ heißt in der Notation der sog. Aussagenlogik „und“ und das Zeichen →
heißt „wenn ... , dann ...“.
206
Situationslogik und Handeln
Gesetz:
(Z ^ (Z → H)) → H
Randbedingungen:
Ziele von i
Alltagstheorien von i
Zi
(Z → H)i
Explanandum:
Abb. 6.1:
Hi
Das Grundschema der Handlungslogik
Das Handeln erklärt sich mit dieser Logik formal also ganz genau so, wie
auch die Fallgeschwindigkeit eines Steines erklärt würde. Als Erklärung enthält das Schema alle wichtigen Bestandteile: Ein Explanandum, Randbedingungen und ein Gesetz. Die Erklärung erscheint nur etwas komplizierter, weil
als Teil des objektiven Gesetzes des Handelns eine subjektive Komponente
vorkommt. Bei Steinen gibt es diese Komplikation nicht. Steine folgen, so
weit wir das wissen, nur der äußeren Kausalität des Fallgesetzes, Menschen
dagegen der Logik ihrer subjektiven Ziele und inneren Überzeugungen – unter
anderem. Und genau darin besteht der subjektive Sinn, der ihr Verhalten zu
einem Handeln macht.
Interpretation und Erklärung
Insoweit entspricht die Erklärung des Handelns formal vollkommen der gleichen Grundlogik, wie sie auch für die Erklärungen in den Naturwissenschaften gilt. Es gibt aber gleichwohl einen folgenreichen Unterschied zu den naturwissenschaftlichen Erklärungen: Das Handeln bedeutet den Akteuren etwas
– sie führen es aus, „um“ bestimmte Ziele „zu“ erreichen. Die Grundlage des
Tuns sind subjektive Vorstellungen und Gründe ihres Tuns. Steine und Moleküle bewegen sich – vermutlich – ohne dies. Und deshalb muß der
Naturwissenschafter sich nicht darum kümmern, wie Steine oder Moleküle die
Welt oder den Wissenschaftler sehen, der Theorien über sie anfertigt, der
Sozialwissenschaftler dagegen sehr wohl.
Dies ist die bereits mehrfach betonte Besonderheit der Sozialwissenschaften gegenüber allen „Natur“-Wissenschaften: ihre interpretative Dimension.
Max Weber hatte von der Verständlichkeit als der Besonderheit menschlicher
Handeln
207
Artefakte deswegen gesprochen, weil sie die Folge des sinnhaften Handelns
der Menschen seien. Einen ganz ähnlichen Gedanken drückt Alfred Schütz so
aus:
„Die in der Weise des Naturwissenschaftlers erforschte Welt der Natur ‚bedeutet’ den Molekülen, Atomen und Elektronen gar nichts. Das Beobachtungsfeld des Sozialwissenschaftlers,
also die soziale Wirklichkeit, hat dagegen eine besondere Bedeutung und Relevanzstruktur
für die in ihr lebenden, handelnden und denkenden menschlichen Wesen. Sie haben diese
Welt, in der sie die Wirklichkeit ihres täglichen Lebens erfahren, in einer Folge von Konstruktionen des Alltagsverstands bereits vorher ausgesucht und interpretiert. Diese ihre eigenen gedanklichen Gegenstände bestimmen ihr Verhalten, indem sie es motivieren.“13
Obwohl eine Erklärung des Handelns also ohne Zweifel subjektive Elemente
– Ziele und Wissen in den Randbedingungen – enthalten muß, handelt es sich
aber gleichwohl um eine objektive und kausale Erklärung. Um sich von dieser
sog. „Dialektik“ der Objektivität und Subjektivität des Handelns nicht verwirren zu lassen, muß man gut verstanden haben, daß in der Erklärung ein „Gesetz“ an zwei verschiedenen Stellen und mit einer gänzlich unterschiedlichen
Bedeutung vorkommt.
Nämlich: Einmal gibt es die Alltagstheorien und die „Gesetze“, die die Akteure selbst subjektiv für wahr halten. Im Beispiel war das: Z → H. Dieses Gesetz muß keinesfalls tatsächlich
objektiv richtig sein. Menschen handeln auch mit falschem Wissen folgerichtig und subjektiv
rational. Und es gibt das Gesetz, das die ausgeführte Handlung objektiv erklärt: (Z ^ (Z →
H)) → H. Dieses Gesetz enthält das vom Akteur subjektiv für wahr gehaltene Gesetz. Es muß
selbst aber objektiv wahr sein und empirisch zutreffen. Dieses Gesetz wendet nur der Sozialwissenschaftler an. Den Akteuren kann es vollkommen unbekannt oder gleichgültig sein. Oder kannten Sie dieses Gesetz etwa bisher schon, von dem auch Ihr Handeln objektiv und
kausal bestimmt ist?
Rationale Erklärungen beruhen daher zwingend auf dem Wissen, den Motiven
und den Interpretationen der Akteure – und nicht auf den Annahmen der Wissenschaftler darüber, was „objektiv“ richtig gewesen wäre. Andererseits muß
aber die angewandte Handlungstheorie, nach der sich die Akteure gemäß ihren subjektiven Vorstellungen rational verhalten, objektiv richtig sein. Und
das müssen die Wissenschaftler herausfinden. Anders gesagt: Dem Akteur
wird die Rationalität bei der Prozedur und den Regeln seiner Entscheidung,
nicht aber die Rationalität in der Substanz und Form seiner Motive und seines
Wissens unterstellt.
Selbstverständlich kann man sich fragen, ob das oben vorgeschlagene Gesetz der Selektion
des Handelns korrekt ist. Das ist hier aber auch nicht das Problem. Leicht könnte man weitere
13
Alfred Schütz, Begriffs- und Theoriebildung in den Sozialwissenschaften, in: Alfred
Schütz, Gesammelte Aufsätze, Band 1: Das Problem der sozialen Wirklichkeit, Den Haag
1971b, S. 68; Hervorhebungen so nicht im Original.
208
Situationslogik und Handeln
Einzelheiten einfügen, die vermutlich für das Handeln der Menschen bedeutsam sind: die Berücksichtigung der Kosten des Handelns, des „Korridors“ der Alternativen und Möglichkeiten, mehrere Ziele und eine eventuelle Rangordnung, die Existenz von Konflikten zwischen
verschiedenen, ähnlich attraktiv oder aversiv empfundenen Varianten, Unsicherheiten und
Risiken in den Erwartungen, sowie daß das Gesetz des rationalen Handelns vielleicht nur
probabilistisch gilt und die Menschen manchmal nicht genau dem folgen, was logisch eigentlich geboten wäre. Auch wird nichts darüber gesagt, daß das Handeln tatsächlich die Folgen
hat, die die Akteure erwarten.
Immer wird aber der gleiche Grundsatz angenommen: daß – von solchen zufälligen Fehlern einmal abgesehen – die Menschen in dem geschilderten Sinne
subjektiv rational handelnde Akteure sind. Und dies trifft auch zu, wenn sich
herausstellt, daß sie sich in ihren Überlegungen gründlich geirrt haben und
vielleicht schon die eigentlichen Pläne gar nicht umsetzen konnten.
Historische Erklärungen
Die verstehende Erklärung des Handelns über die Unterstellung der subjektiven Rationalität der Akteure ist für die Historiker eine selbstverständliche
Technik. Sie wird von ihnen manchmal sogar hypothesentestend und „konfirmatorisch“ angewandt.
Wenn sich etwa ein Potentat etwas eigenartig verhalten hat, dann kann man auf der Grundlage der Logik der subjektiven Vernunft Hypothesen über Situationsbedingungen gezielt entwickeln, die dieses zunächst unverständliche Handeln verständlich zu machen vermögen. Erklärt zum Beispiel nur die Existenz einer bisher verborgen gebliebenen Mätresse, warum König Y den Krieg K nicht begonnen hat, obwohl er es nach Lage der Dinge hätte tun müssen,
dann kann ein Historiker gezielt auf Quellensuche gehen und nach der – sozusagen – theoretisch implizierten Mätresse fahnden. Findet er sie, dann ist das großer Triumph seiner Hypothesen und der Theorie des subjektiv rationalen Handelns. Findet er sie nicht, muß weiter gesucht werden. Findet er sie immer noch nicht, wird wohl zuerst die Hypothese von der Mätresse fallen gelassen werden und eine Änderung in den angenommenen Randbedingungen
vorgenommen. Vielleicht hat ihm seine Mutter den Krieg ausgeredet. Aber lassen sich dafür
Quellen finden? Wenn ja: Wieder Triumph. Wenn nein: Wieder Probleme und neue Hypothesen und neue Suche nach Quellen. Und so weiter. Erst zu allerletzt allerdings würde der
Historiker das Gesetz des subjektiv rationalen Handelns für König Y anzweifeln.
Ganz ähnlich würde im übrigen auch ein Naturwissenschaftler vorgehen, der
mit Hilfe von gravitationstheoretischen Überlegungen nach einem verborgenen Planeten sucht und ihn wieder und wieder nicht findet. Auch er würde die
Gravitationstheorie nicht bereits deshalb aufgeben, weil die vermutete kosmische Staubwolke, die die Anomalie der Bewegungen seines Planeten erklären
würde, nicht sofort verifiziert werden kann.
Handeln
209
Gründe und Ursachen
Einen Teil der Verwirrungen über die Möglichkeiten einer verstehenden Erklärung des Handelns haben die Soziologen von einem Streit unter Philosophen übernommen. Es hat in der Philosophie einen langen Disput darüber gegeben, ob es sich bei der Logik der subjektiven Vernunft um ein empirisches,
kausales Gesetz handele oder nicht.14 Zwei Argumente wurden vorgebracht.
Das erste meinte, daß es sich deshalb nicht um eine kausale Erklärung handeln könne, weil das Handeln und die intentionalen „Um-zu-Motive“ ja auf
die Zukunft gerichtet seien, und daß ja – bekanntlich – Kausalgesetze nur „von
hinten“ wirken könnten. Dies war die These von der materialen Teleologie
des Handelns. Danach könne es keine kausale Erklärung des intentionalen,
zielgerichteten Handelns geben.
Der Denkfehler ist leicht zu sehen. Er wurde bereits von C. J. Ducasse im
Jahre 1925 aufgedeckt: Das „Handeln“ selbst strebt ja nicht auf ein Ziel in der
Zukunft und es wird auch durch das Ziel nicht kausal bewegt. Es wird vielmehr durch Gründe des Akteurs motiviert, die jetzt vorliegen und somit
durchaus und ohne jede metaphysische Verrenkung eine Ursache für das Handeln in Bezug auf ein zukünftig eventuell verwirklichtes Ziel sein können. Im
Schema der Handlungserklärung wird dies sehr deutlich: Die Motive und die
Alltagstheorien der Akteure liegen zeitlich stets vor der Handlungsentscheidung und – erst recht – vor der Ausführung des Handelns und der Zielverwirklichung. Sie wirken daher leicht einsehbar nach allen Regeln der
Kunst kausal.
Das zweite Argument stammt von dem Historiker William Dray.15 Zunächst kann man Dray leicht folgen: Wir verstehen ein Handeln dann, wenn
wir die subjektiven Gründe des Akteurs kennen und die rationale Logik der
Handlungsentscheidung unterstellen. Aber diese Gründe – so Dray – sind eigentlich keine Ursachen, sondern praktische Gründe. Das heißt, es sind Gründe, die ein Akteur auf Nachfragen rechtfertigen könnte. Genauer: Es sind „gute“ Gründe, in denen normativ ausgesprochen ist, was „zu tun war“, wenn der
Akteur die Möglichkeiten gehabt hätte, um alle bedeutsamen Umstände zu
bedenken. Eine „rationale Erklärung“ – so Dray weiter – liefert damit Hinweise auf die objektive Begründbarkeit und auf die normative Rechtfertigung von
Handlungen. Und die Ergebnisse einer solchen „rationalen Erklärung“ könne
man nutzen, um eventuelle Abweichungen der „empirischen“ von den „guten“
14
15
Vgl. dazu die zusammenfassende Darstellung bei Stegmüller 1969, Kapitel VI und Kapitel VIII, Abschnitt 3; vgl. insbesondere die Diskussion des sog. praktischen Syllogismus
bei Georg Henrik von Wright, Erklären und Verstehen, Frankfurt/M. 1974, S. 89ff.
William H. Dray, Laws and Explanation in History, London 1957, S. 122ff.
210
Situationslogik und Handeln
Gründen, des tatsächlichen von dem „richtigen“ Handeln festzustellen – und
seinerseits zu erklären zu versuchen.
Auch hier ist der Irrtum leicht zu sehen: Die Logik der subjektiven Vernunft ist keine normative, sondern eine empirische Gesetzmäßigkeit, die auch
falsch sein könnte. Dray verwechselt offenbar die Konstruktion eines normativ gedachten Baseline-Modells der subjektiven Zweckrationalität mit der empirischen Erklärung des Handelns über die subjektiven Gründe. Nichts ist
selbstverständlich gegen die Konstruktion von zweckrationalen Vergleichsmodellen zu sagen. Daß deren Vorhersagen sich vom tatsächlichen Handeln
sehr unterscheiden können und daß gleichwohl die Logik der subjektiven
Vernunft als empirisches Kausalgesetz angenommen werden kann, haben wir
oben aber bereits gesehen. Außerdem: Eine normative Rechtfertigung ist
durch keine Anwendung eines empirischen Gesetzes und durch keinen Verweis darauf möglich, daß „eigentlich“ der Akteur die Situation anders sehen
müßte.
Diese – leicht vermeidbare – Verwechslung einer normativen mit der empirischen Interpretation der rationalen Erklärung ist keineswegs ausgestorben. Das prominenteste neuere Beispiel
in der Soziologie findet sich bei Jürgen Habermas, der sich in der „Theorie des kommunikativen Handelns“ – und in seinem philosophischen Leben davor und danach – gerade damit abmüht, zu zeigen, daß bestimmte Arten von Handlungen – das „kommunikative Handeln“ beispielsweise – von der Rechtfertigung der Gründe für das Handeln abhängen und – darüber
hinaus – daß eine solche Rechtfertigung auch in sogar universaler Weise möglich ist: über
den herrschaftsfreien Diskurs (vgl. dazu auch noch Abschnitt 6.8).
Wir müssen diesen Streitigkeiten nicht weiter nachgehen. Teils beruhen sie ja
auf einfachen Denkfehlern, teils werden sozialphilosophische, normative
Rechtfertigungen gesucht, wo nur empirische Feststellungen und nomologische Erklärungen möglich und nötig sind. Die erklärende Soziologie macht
keine Denkfehler und ist an Sozialphilosophie nicht weiter interessiert. Daher
werden wir diese Versuche und Streitigkeiten über eine objektivierbare Moral
auf sich beruhen lassen. Sie sind für die Ziele und Möglichkeiten der soziologischen Erklärungen ohnehin bedeutungslos.
6.5
Doppelte Hermeneutik
Das sinnhafte Handeln der Menschen ist ein Verhalten, das den subjektiven
Bewertungen und Erwartungen der Akteure nach der Logik der rationalen Erklärung folgt. Das Gesetz des Handelns enthält dabei zwei verschiedene Arten
von „Theorien“: die subjektiven Theorien der Akteure, die als das Wissen der
Alltagsmenschen in die Randbedingungen der rationalen Erklärung eingehen.
Handeln
211
Und die – ihrem Anspruch nach jedenfalls – objektive Theorie des rationalen
Handelns, die der Sozialwissenschaftler auf das zu erklärende Handeln unter
Benutzung der subjektiven Theorien des Alltagsmenschen anwendet. Den Gedanken, daß soziologische Analysen immer auf diesen beiden Konstruktionen
beruhen, hat Alfred Schütz mit einer wichtigen Unterscheidung betont: die
Differenz zwischen den – wie er sie nennt – Konstruktionen erster Ordnung
und den Konstruktionen zweiter Ordnung.16
Die Konstruktionen erster Ordnung sind die subjektiven Vorstellungen, die Motive, die
„Sinn- und Relevanzstrukturen“, so wie sie den Akteuren in ihrer alltäglichen Lebenswelt gegeben und selbstverständlich sind. Danach richten sie ihr Handeln aus. Und zwar nach den
Regeln der Vernunft – eine Vernunft freilich relativ zu dem Wissen, den Zielen und den angenommenen Möglichkeiten des Alltagshandelns. Das von Sebastian Haffner geschilderte
Beispiel betraf die Konstruktionen erster Ordnung von Hitler bei seinen Entscheidungen. Davon streng zu unterscheiden sind die Konstruktionen zweiter Ordnung: Modelle des Handelns, die sich ein Wissenschaftler, meist in Kontakt und Interaktion mit anderen Wissenschaftlern, toten und lebendigen, macht, um damit bestimmte idealisierte Erklärungen zu versuchen. Ein solches Modell wäre etwa das des perfekt informierten homo oeconomicus der
Ökonomen, auch das hier vorgeschlagene Modell des subjektiv rationalen Handelns nach
Max Weber, oder das des ausschließlich an Normen orientierten homo sociologicus der meisten Soziologen.
Alfred Schütz hat vor allem darauf bestanden, daß die Konstruktionen zweiter
Ordnung der Sozialwissenschaften über den systematischen Einbezug der
Konstruktionen erster Ordnung, der Modelle und Theorien der Alltagsmenschen also, erfolgen müßten. Dabei können durchaus auch Vereinfachungen
und Typisierungen vorgenommen werden. Schütz spricht sogar von Puppen,
die sich der Sozialwissenschaftler für seine Analysen herstellen müßte:
„Es ist eine der hervorragenden Leistungen der modernen Sozialwissenschaften, die Mittel
beschrieben zu haben, mit denen die Sozialwissenschaftler ihre Begriffs-Schemen aufbauen,
und es ist das große Verdienst von Durkheim, Pareto, Marshall, Veblen und vor allem Max
Weber, diese Technik in ihrer Fülle und Klarheit entwickelt zu haben. Diese Technik besteht
darin, daß man die Menschenwesen, welche der Sozialwissenschaftler als Handelnde auf der
sozialen Bühne beobachtet, durch Puppen, die er selbst schuf, ersetzt, mit anderen Worten,
daß er Idealtypen der Handelnden konstruiert.“17
Wichtig ist aber, daß auch diese groben Typisierungen die Verhältnisse in der
Lebenswelt zwar vereinfachen, aber in ihren Grundstrukturen korrekt wieder-
16
17
Vgl. Alfred Schütz, Wissenschaftliche Interpretation und Alltagsverständnis menschlichen
Handelns, in: Alfred Schütz, Gesammelte Aufsätze, Band 1: Das Problem der sozialen
Wirklichkeit, Den Haag 1971c, S. 7; vgl. auch Schütz 1971b, S. 68.
Alfred Schütz, Die soziale Welt und die Theorie der sozialen Handlung, in: Alfred Schütz,
Gesammelte Aufsätze, Band 2: Studien zur soziologischen Theorie, Den Haag 1972, S.
19.
212
Situationslogik und Handeln
geben müssen. Wichtig ist auch, daß die angenommene Logik der Selektion
des Handelns zwar die realen Abläufe vereinfacht, aber in den Grundregeln
dem entspricht, wonach sich die Akteure – wenigstens in groben Zügen –
wirklich verhalten. Wissenschaft und Modellbildung bedeutet zwar immer
Vereinfachung und Reduktion von Komplexität. Aber nicht alle Arten von
Vereinfachungen sind dabei zulässig. Vor allem sind solche Vereinfachungen
unzulässig, die den Bedingungen in der Lebenswelt auch im stark vergröberten Durchschnitt widersprechen – wie das Modell des perfekt informierten
homo oeconomicus oder das des homo sociologicus, der nur blind und ohne
Nachdenken den Werten und Normen der Gesellschaft gehorcht.
Eine wichtige Folge für jede verstehende Erklärung sozialer Prozesse ist
dann aber: In den Modellen müssen die wirklichen, nicht bloß a priori angenommenen kognitiven und motivationalen Strukturen der Lebenswelt der
Menschen systematisch Eingang finden. Der Sozialwissenschaftler muß erst
die Konstruktionen erster Ordnung, die Gründe der Menschen verstanden haben, ehe er an die Konstruktion seiner Konstruktionen zweiter Ordnung, an
seine Theorien und an soziologische Erklärungen gehen kann. Im Prinzip
müßten die Alltagsmenschen daher auch selbst die Konstruktionen erster
Ordnung darin verstehen und bestätigen können, nicht jedoch die Konstruktionen zweiter Ordnung, die der Sozialwissenschaftler damit anfertigt.
Weil es der Sozialwissenschaftler daher unvermeidlicherweise mit zwei
Arten von Konstruktionen – denen erster und denen zweiter Ordnung – zu tun
hat, und weil er damit immer zwei verschiedene Probleme des Verstehens zu
lösen hat, spricht Anthony Giddens – zu Recht – auch von der doppelten
Hermeneutik der Sozialwissenschaften: Ich muß mich als Sozialwissenschaftler nicht nur mit den Fachkollegen über Modelle, Theorien und Konstruktionen zweiter Ordnung der sozialwissenschaftlichen Theorie – wie die Konstrukte Position oder Rolle – verständigen können, sondern – geradezu als
Voraussetzung dafür – zuvor die „Hermeneutik der natürlichen Lebenswelt“
der Akteure, deren Handeln ich erklären will, entschlüsseln, interpretieren und
aus deren Sicht heraus verstehen.18
Unter Hermeneutik versteht man – unter Anspielung auf Hermes, der der Sage nach den Griechen die Botschaften der Götter überbrachte – die Lehre von der richtigen Auslegung und Interpretation des semantischen Sinns von Texten. Die Konstruktionen erster Ordnung – das
Wissen und die Motive der Alltagsmenschen – können von einem Sozialwissenschaftler
durchaus als eine Art von, zunächst unverständlichem, „Text“ angesehen und auf seinen se-
18
Anthony Giddens, New Rules of Sociological Method. A Positive Critique of Interpretative Sociologies, London u.a. 1976, S. 162; Anthony Giddens, Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung, Frankfurt/M. und New York 1992, S.
338f.
Handeln
213
mantischen Sinn hin untersucht werden, den die Menschen mit ihm verbinden. Hieran wird
deutlich, daß solche hermeneutischen Auslegungen und Interpretationen des Handelns von
Menschen nichts anderes als rationale Rekonstruktionen von subjektiven Gründen und Motiven, von den Sinnzusammenhängen des Handelns also, sind.
Für Wissenschaftler ganz allgemein sind dann ihre Modelle, die Konstruktionen zweiter Ordnung also, die „Texte“, nach denen sie sich in ihrem Handeln
– unter anderem – richten. Um das Tun der Wissenschaftler wiederum zu verstehen, muß man also deren Modelle und Alltagstheorien ihrer wissenschaftlichen Lebenswelt auch erst einmal kennen. Naturwissenschaftler benötigen für
ihre Verständigung nur diese Modelle der Konstruktionen zweiter Ordnung,
weil die Natur-Gegenstände selbst ja keine zu verstehenden Konstruktionen
erster Ordnung haben und daher auch nicht sinnhaft handeln können. Die Naturwissenschaftler benötigen für ihre Verständigung daher entsprechend auch
nur eine einfache Hermeneutik: die Kenntnis der objektiven Modelle ihrer
Wissenschaft, deren Verstehen sie bei den Kollegen voraussetzen können.
Selbstverständlich könnte man auch das Handeln der (Natur-) Wissenschaftler und die Konstruktion ihrer Modelle und Theorien zum Gegenstand einer soziologischen Erklärung machen. Beispielsweise: Die interaktiv erzeugte Fabrikation von physikalischen Modellen durch
Kern-Physiker in der Lebenswelt ihres Labors. Ein Wissenschaftssoziologe könnte ohne Weiteres versuchen, diese Konstruktionen zu rekonstruieren und zu verstehen, um damit ein wissenschaftssoziologisches Modell der gesellschaftlichen Konstruktion der physikalischen
Wirklichkeit im Labor aufzustellen. Das erklärende Modell des Wissenschaftssoziologen über
die Konstruktion der Modelle der Naturwissenschaftler wäre damit eine wissenschaftssoziologische Konstruktion zweiter Ordnung, die die Konstruktionen zweiter Ordnung der
Naturwissenschaftler über deren Gegenstände als Konstruktionen erster Ordnung für ihr
Handeln im Labor enthält.
Alles klar?
Die Objektivität der subjektiven Konstruktionen
Die Konstruktionen erster Ordnung sind der Hintergrund für die Besonderheit
der doppelten Hermeneutik der Sozialwissenschaften – im Unterschied zu allen Naturwissenschaften. Dieser Unterschied kann nicht bestritten werden.
Und alle Versuche, ohne die subjektiven Alltagstheorien der Akteure soziale
Prozesse zu erklären – wie bei Verwendung des Modells des perfekt informierten und objektiv rationalen homo oeconomicus – können in der Tat nur
ausnahmsweise und nur in Spezialbereichen – wie beim wirtschaftlichen Handeln – erfolgreich sein. Die These von der doppelten Hermeneutik gibt darüber hinaus gelegentlich Anlaß zu der Vermutung, es ließe sich eine nach den
Regeln der objektiven methodischen Kunst aufgebaute erklärende Soziologie
214
Situationslogik und Handeln
überhaupt nicht vorstellen. Nicht zuletzt über die Hinweise bei Alfred Schütz,
der nur das betont, was die Logik der rationalen Erklärung auch besagt, kann
man es besser wissen: Selbstverständlich lassen sich die subjektiven
Konstruktionen erster Ordnung objektiv erfassen – mit den Methoden der
empirischen Sozialforschung zum Beispiel. Und ebenso selbstverständlich
kann man unter Benutzung dieser Konstruktionen erster Ordnung objektiv
beurteilbare Modelle und Theorien formulieren, die genau den gleichen
Kriterien entsprechen, wie sie in allen anderen Wissenschaften üblich sind:
logischer Gehalt, empirische Interpretation und Bewährung nach empirischer
PrüDarin
fung. unterscheiden sich – so stellt auch Alfred Schütz unzweideutig heraus – die Sozial- und die Naturwissenschaften jedenfalls nicht. Zwar haben,
wie Raymond Boudon gesagt hat, einige Soziologen gemeint, sie könnten die
interpretative Dimension aus der Soziologie ausklammern – was ohne Zweifel
ein sehr schwerwiegender Fehler wäre. Aber andererseits kann das Vorliegen
des Problems der doppelten Hermeneutik in den Sozialwissenschaften auch
nicht bedeuten, daß unter dem Deckmantel einer sinnverstehenden Soziologie
„und im Namen einer hochmütigen Absage an den ‚Positivismus’“ es einige
Soziologen
„ ... nicht nötig zu haben (scheinen), ihre Informationen zu überprüfen, ihre Interpretationen
zu testen und sich grundsätzlich an die allgemein gültigen Richtlinien der wissenschaftlichen
Methode zu halten.“19
Anders gesagt: Die ohne Zweifel nicht hintergehbare interpretative Dimension
jeder „sinn“-vollen soziologischen Erklärung und die unvermeidliche doppelte Hermeneutik der Konstruktionen erster und zweiter Ordnung in den Sozialwissenschaften schließen in keiner Weise aus, die Regeln der objektiven
kausalen Erklärungen auch dann anzuwenden, wenn in den Randbedingungen
magische Weltbilder und subjektive – und zuweilen objektiv ganz falsche –
Alltagstheorien vorkommen.
Die (rationale) Erklärung eines Handelns ist immer auch das Verstehen des
subjektiven Sinns, den die Akteure mit ihrem Tun verbinden.
6.6
Objektive Rationalität?
Der Reiter über den Bodensee und der Paranoiker des Thomas-Theorems
handelten aus ihrer Sicht höchst vernünftig und folgerichtig, wenngleich objektiv haarsträubend falsch und „irrational“. Es ist eben nicht die Objektivität
19
Raymond Boudon, Die Logik des gesellschaftlichen Handelns. Eine Einführung in die soziologische Denk- und Arbeitsweise, Neuwied und Darmstadt 1980, S. 209.
Handeln
215
der Logik der Situation, die die Zweckrationalität des Handelns ausmacht,
sondern der subjektive Sinnzusammenhang zwischen Zielen, Mitteln und dem
Handeln.
Richtigkeit und Rationalität
Max Weber nennt das an objektiv zutreffenden Vorstellungen orientierte
zweckrationale Handeln auch „richtigkeitsrationales“ Handeln, und das davon
abweichende, an subjektiven Vorstellungen orientierte zweckrationale Handeln bezeichnet er als „subjektiv zweckrational rationales“ Handeln (Weber
1982b, S.433). Und er hält fest:
„Subjektiv zweckrational orientiertes und am objektiv Gültigen ‚richtig’ orientiertes (‚richtigkeitsrationales’) Handeln sind an sich gänzlich zweierlei. Dem Forscher kann ein von ihm
zu erklärendes Handeln im höchsten Grad zweckrational, dabei aber an für ihn ganz ungültigen Annahmen des Handelnden orientiert erscheinen.“ (Ebd.)
Entsprechend kann es auch an objektiv zutreffenden wie an subjektiven und
falschen Situationsdeutungen orientiertes „zweckirrationales“ Handeln geben:
Es ist ein solches Handeln, das – egal ob objektiv oder subjektiv, richtig oder
falsch orientiert – den Regeln der Effizienz des Mitteleinsatzes bei der Selektion des Handelns nicht folgt. Als Beispiel für diese grundlegende Unabhängigkeit von Richtigkeit und Rationalität des Handelns nennt Weber das an
„magischen Vorstellungen“ orientierte, oft außerordentlich zweckrational gestaltete religiöse Handeln in den einfachen, von Zauberglauben stark durchdrungenen Gesellschaften, bei dem die magischen Vorstellungen als „richtige“ Vorgaben des Handelns ganz „rational“ angewandt werden – ganz im Unterschied zur Religiösität in den „entzauberten“ Gesellschaften, die sich dort
typischerweise stärker auf zweckirrationale Praktiken der Gesinnungsethik
und der Mystik verlagert.
Es ist also deutlich zu unterscheiden, worauf sich die These von der objektiven bzw. der rationalen Logik der Selektion bezieht. Sie kann sich auf die
Richtigkeit und die Objektivität der Wahrnehmung der Situation durch den
Akteur, also: auf die Randbedingungen seiner Handlungswahl, beziehen, und
sie kann sich – ganz unabhängig von der Richtigkeit der Wahrnehmungen und
Deutungen der Situation – auf die Art der nomologischen Regel der Selektion
des Handelns beziehen.
Wir wollen hier eine deutliche Festlegung vornehmen: Von einer rationalen Logik der Selektion sei immer dann die Rede, wenn der Akteur bei seinen
Selektionen für die Gewichtung der möglichen Alternativen nach seinen Zielen und Erwartungen eine bestimmte Regel anwendet: die Maximierung der
216
Situationslogik und Handeln
Nutzenerwartung. Dabei ist es egal, ob die Einschätzung des Nutzens eines
Zieles und die Erwartungen über die Effizienz eines Tuns objektiv richtig oder subjektiv und/oder falsch sind (siehe dazu noch Kapitel 7 und 8). Und das
heißt dann aber auch: „Rational“ kann ein Handeln auch dann sein, wenn die
Ziele und die Erwartungen der Akteure vollkommen subjektiv sind und objektiv keinerlei Grundlage haben. Das Etikett der Rationalität eines Handelns bezieht sich – kurz gesagt – auf die Regel und eben nicht auf die Randbedingungen seiner Selektion.
Die Macht der Objektivität
Am Problem der Abgrenzung des rationalen von einem nicht-rationalen Handeln ist auch erkennbar geworden, wie flüssig die Übergänge zwischen der
Logik der Situation und der Logik der Selektion sein können, wenn man nicht
genau aufpaßt. In Teil A hatten wir schon gesehen, daß die Definition der Situation selbst als eine Aktivität des Akteurs aufgefaßt werden kann: Er selektiert ein Modell der Situation nach Maßgabe der äußeren Bedingungen und
seiner inneren Einstellungen. Und sofort stellt sich die Frage wieder: Wie weit
werden die subjektiven Definitionen der Situation – als Ergebnis eines inneren
Tuns – von den objektiven Bedingungen der Situation abweichen?
Das subjektiv orientierte Handeln steht nämlich – wie Max Weber betont –
immer der „objektiv-gegenständlichen Welt“ gegenüber und wird letztlich nur
durch ihre Vorgaben geprägt. Die objektiven Restriktionen der materiellen,
institutionellen und kulturellen Welt sind durch subjektive Definitionen nur
begrenzt außer Kraft zu setzen. Und das hat zur Folge, daß die Menschen
durchweg über die sie umgebende Welt zwar nicht perfekt, aber in den für sie
relevanten Ausschnitten erstaunlich gut und objektiv richtig informiert sind.
Der Herausgeber von „Wirtschaft und Gesellschaft“, Johannes Winckelmann,
hat die Auffassung von Max Weber zu diesem Problem in seinem Vorwort zur
fünften Auflage so zusammengefaßt:
„Überall, hebt Max Weber eindeutig hervor, knüpft das soziale Handeln an den die konkrete
Ausgangslage ‚bedingenden objektiven Sachverhalt’ an, d.h. an die objektiv gegebene Bedingungskonstellation, und vollzieht sich auf deren Grundlage. Handeln und Situation stehen
dabei einander in keiner Weise unvermittelt gegenüber, sondern sind in actu stets vermittelt:
durch die (subjektive) Orientierung des Handelnden an der Ausgangssituation, durch die von
ihm gehegten realen Erwartungen, durch die Zweck-Mittel-Kausalität, durch die subjektivvorherige (wie die objektiv-nachträgliche) Chance, durch die statistische Wahrscheinlichkeit
des intendierten Erfolgs. Durch diese Vermittlungsfaktoren hindurch begünstigt die objektive
Handeln
217
Situation – bei zweckrationaler Betrachtung – eine bestimmte Wahlentscheidung (oder eine
Mehrzahl ihrer).“20
Und er fügt hinzu:
„Diese generell oder konkret begünstigenden Umstände sind es, auf die sich das spezielle Interesse der Erfahrungswissenschaften richtet und die die Grundlage für die Erkenntnis der
empirischen Regelmäßigkeiten und Wahrscheinlichkeiten abgeben.“ (Ebd.)
Diese Annahme verweist wieder auf die Idee der letztlich an den objektiven
materiellen, institutionellen und kulturellen Vorgaben orientierten Logik der
Situation und auf die Wichtigkeit der Idee der sozialen Produktionsfunktionen: Es sind schließlich dann doch die objektiven, gesellschaftlich strukturierten Umstände, die sich auch in der subjektiven Logik des Handelns durchsetzen – und sei es auch nur deshalb, weil hierfür die Chancen eines Handlungserfolges größer sind und weil die Akteure, die dies nicht sofort bemerken,
aufgrund erlebter Mißerfolge sich dann schließlich doch den objektiven Vorgaben der für sie geltenden Logik der Situation beugen müssen. Mit dem
Konzept der sozialen Produktionsfunktionen war außerdem deutlich geworden, warum es meist sogar im Interesse der Menschen selbst liegt, sich in der
subjektiven Beurteilung der Situation nicht allzu weit von den geltenden institutionellen und kulturellen Vorgaben und materiellen Restriktionen zu entfernen: Sie schaden sich spürbar selbst, wenn sie die objektiven Bedingungen
mißachten.
Prälogisches Denken?
Mit der Unterscheidung der unter Umständen ganz falschen und „irrationalen“
subjektiven Konstruktionen erster Ordnung der Akteure, die Teil und Gegenstand der Theorien der Sozialwissenschaftler sind, und den objektiven Konstruktionen zweiter Ordnung der Modelle der Sozialwissenschaftler über die
Konstruktionen erster Ordnung der Akteure ist ein weiterer alter Streit in den
Sozialwissenschaften berührt. Nämlich dem, ob Menschen mit mythischen
oder magischen Weltvorstellungen im gleichen Sinne logisch oder rational
handeln wie solche mit modernen Weltbildern mit ihren – im groben Durchschnitt: etwas stärker wenigstens – wissenschaftlich abgesicherten Theorien
über die Zusammenhänge der Welt. Bei dem Sozialphilosophen Jürgen Ha-
20
Johannes Winckelmann, Vorwort zur fünften Auflage, in: Weber 1972, S. XXIII; Hervorhebungen so nicht im Original.
218
Situationslogik und Handeln
bermas findet man beispielsweise die – zu Mißverständnissen geradezu herausfordernde – Behauptung:
„Mythische Weltbilder sind weit davon entfernt, in unserem Sinne rationale Handlungsorientierungen zu ermöglichen. Sie bilden, was die Bedingungen der im angegebenen Sinne
rationalen Lebensführung angeht, einen Gegensatz zum modernen Weltverständnis.“21
Das ist eine, wenn man sie isoliert liest, eigentlich ebenso arrogante wie beleidigende These. Sie war in der frühen Kulturanthropologie und Soziologie
des 19. Jahrhunderts eine geläufige Auffassung: Die magischen Praktiken und
mythischen Vorstellungen über die Zusammenhänge in der Natur, durch und
durch verwoben mit religiösen Ideen und sakralen Ritualen, bei den sog. primitiven Gesellschaften wurden – etwa von dem britischen Soziologen Herbert
Spencer (1820-1903) oder dem britischen Kulturanthropologen Edward B.
Tylor (1832-1917) – als eine Art von irrationalem Ersatz, als unvollständiges
Wissen, als evolutionäre Vorstufe zu den vorgeblich höher entwickelten Kulturen des Westens angesehen. Das Denken der Naturvölker richte sich überwiegend nach affektiven Impulsen und Gefühlen und gleiche eher den spontanen und emotionalisierten Denkmustern von Kindern als dem von vernünftig
handelnden Erwachsenen. Es befinde sich in „mystischer Partizipation“ mit
der Kollektivität eines Gruppengeistes, und jede Individualität sei ihm fremd.
Diese These von der prälogischen Struktur des Denkens der Naturvölker wird
insbesondere dem französischen Völkerkundler, Philosophen und Psychologen Lucien Lévy-Bruhl (1857-1939) zugeschrieben. In der Einleitung zu seinem Buch über „Die geistige Welt der Primitiven“ zitiert Lévy-Bruhl den Bericht eines Missionars, der seine Erfahrungen mit den afrikanischen Ureinwohnern so zusammenfaßt:22
„‚Der Afrikaner, Neger oder Bantu denkt nicht, überlegt nicht, folgert nicht, wenn er es irgend vermeiden kann. Er hat ein wunderbares Gedächtnis, großes Talent zur Beobachtung
und Nachahmung, einen leichten Redefluß und überhaupt gute Eigenschaften. Er kann sehr
wohlwollend, großmütig, liebevoll, selbstlos, ergeben, treu, tapfer, geduldig und beharrlich
sein. Aber die Fähigkeiten zur vernunftgemäßen Überlegung und Erfindung schlummern
noch in ihm. Er begreift die tatsächlich gegenwärtigen Umstände sehr leicht, paßt sich ihnen
an und schafft Rat für sie; aber einen Plan ernsthaft ausarbeiten, mit Intelligenz eine Induktion ausführen – das geht über seine Kräfte.‘“
21
22
Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Band 1: Handlungsrationalität
und gesellschaftliche Rationalisierung, Frankfurt/M. 1981a, S. 73; Hervorhebung nicht im
Original.
Lucien Lévy-Bruhl, Die geistige Welt der Primitiven, München 1927 (zuerst: 1922), S.
11.
Handeln
219
Aber schon Lévy-Bruhl hält das Fehlen „logischer“ Denkoperationen nicht für
eine Art von Defekt in der hardware der Naturvölker oder Primitiven. Es ist
für ihn eine Folge ihrer Lebensumstände einerseits und der – eng damit verwobenen – objektiv vorhandenen und sozial stark verankerten subjektiven
Vorstellungen über die bewegenden Kräfte in ihrer Welt, insbesondere die
zahllosen und mit dem Gruppenleben stark verbundenen Mythen über Geister
und okkulte Mächte. Die übliche „Dumpfheit, Starrheit und unüberwindliche
Schläfrigkeit“ wird zum Beispiel sofort aufgegeben, wenn es sich „lohnt“:
„Denn dieselben Naturmenschen, denen die geringste Abstraktion als unerträgliche Anstrengung erscheint, und denen am Nachdenken nichts liegt, erweisen sich im Gegenteil als scharfsinnig, urteilsfähig, geschickt, gewandt, ja spitzfindig, wenn ein Gegenstand sie fesselt und
zumal, wenn sie ein sehnlichst erwünschtes Ziel erreichen wollen.“ (Ebd., S. 13)
Auch der Missionar schrieb ja nicht, daß der Afrikaner nicht logisch denken
könnte, sondern nur, daß er es vermeide, solange es geht, und daß die Fähigkeiten zur Überlegung noch in ihm „schlummern“. Was schlummert, kann aber jederzeit geweckt werden. Die subjektive Welt der Mentalität der Primitiven macht außerdem Kausaloperationen der üblichen naturwissenschaftlichen
Art überflüssig: Es sind ja stets Geister, die alles bewirken und tun, was ihnen
beliebt:
„Ein Mann erliegt einem organischen Leiden, einem Schlangenbiß, er wird von einem fallenden Baum erschlagen, von einem Tiger oder Krokodil zerrissen: für die primitive Mentalität
hat ihn nicht die Krankheit, oder die Schlange, oder der Baum, oder der Tiger, oder das Krokodil getötet. Wenn er umgekommen ist, so hat ihn zweifellos ein Zauberer ´verurteilt´ (doomed) und ´ausgeliefert´. Der Baum oder die wilden Tiere sind nur Werkzeuge gewesen. Mangels des einen würde das andere denselben Dienst versehen haben. Sie waren, wie man sagt,
auswechselbar – nach dem Belieben der unsichtbaren Macht, die sie gebrauchte.“ (Ebd., S.
344)
Also: Wenn jemand an derartige Dinge glaubt und es geschieht ein Unglück,
dann ist es nur folgerichtig, das Unglück dem Walten der Geister und eben
nicht einer – den Lebensumständen sehr fremden und vor allem in diesem
Rahmen: ganz und gar unverständlichen – „wissenschaftlich“ korrekten Kausalerklärung zuzuschreiben. Damit aber löst sich auch das Rätsel von der angeblich prälogischen Denkstruktur der Wilden auf: Nur ausnahmsweise
„lohnt“ es sich für sie, angesichts der begrenzten Reichweite ihres Lebens und
angesichts der repetitiven Wiederkehr aller Abläufe, von dem angenehmmoderaten Fluß der automatisch kommenden und gehenden Gedanken auf den
stets auch anstrengenden Modus des Nachdenkens, Schließens und Planens
umzuschalten und in einer Welt an wissenschaftliche Theorien über Naturgesetze zu glauben, in der fortwährend etwas geschieht, wovon man die „wahren“ Hintergründe nicht kennt, und in der man auch keine Chance sieht, ihnen
220
Situationslogik und Handeln
näher zu kommen, wäre ebenfalls nicht sehr vernünftig (siehe dazu noch
gleich unten zum Hexenglauben bei den Zande, sowie folgenden Abschnitt
6.7 über die „Typen“ des Handelns).
Kurz: Es ist nicht die Logik des Denkens der Naturvölker verschieden von
der der „zivilisierten“ Völker, sondern es sind die Umstände der alltäglichen
und eingelebten Situation, die sie dazu bringen, in der Regel wenigstens, der
Sache nicht auf den Grund zu gehen oder aber objektiv wohl falsche Kausaltheorien für die eintretenden Ereignisse anzunehmen.
Das drohende Mißverständnis und der Streit um die Universalität einer rationalen Logik der
Selektion des Handelns ist mit der oben vorgenommenen Differenzierung also leicht aufzulösen: Sicher kann man die Weltbilder bzw. die Konstruktionen erster Ordnung der Menschen
verschiedener Kulturen danach unterscheiden, ob in ihnen Götter die Gestirne bewegen oder
die Gesetze der Gravitation. Und sicher unterscheidet sich danach auch das äußerliche Handeln der Menschen. Und ebenso sicher läßt sich damit auch auf eine unterschiedliche Weise
die Rationalisierung und die Beherrschung der Welt bewerkstelligen. Aber davon gänzlich
unberührt bleibt die Frage: Sind die Selektion dieser Weltbilder und die Selektion der Handlungen danach auch irrationale Vorgänge, die mit den Mitteln des rationalen Verstehens nicht
zu erklären sind?
Das Modell der subjektiven Rationalität nimmt für alle Exemplare des homo
sapiens an, egal in welcher Kultur und Gesellschaft sie leben, daß sie der Logik der rationalen Wahl folgen: Der Inhalt der Weltbilder ist für die Rationalität der Logik des Handelns nicht maßgeblich. Und auch ein Verzicht auf Kalkulationen, die sich nicht lohnen, ist eine vernünftige Entscheidung.
Die Rationalität des mythischen Wissens
Man kann bei der Beurteilung der Rationalität der subjektiven Logik von Alltagstheorien und Weltbildern noch weiter gehen: Auch die Übernahme von
Überzeugungen, die Ausbildung von Weltbildern und die Akzeptanz von
„Theorien“ ist jeweils ein Handeln, das – als innerliches Tun – der gleichen
Logik der Selektion folgt wie jedes andere Handeln auch. Die vorfindbaren
subjektiven Ansichten stellen in dieser Sichtweise vor dem Hintegrund der
jeweils gegebenen Umwelten ausgesprochen vernünftige Selektionen dar. Sie
sind das Ergebnis einer evolutionär-rationalen Anpassung an die natürlichen
und vorgegebenen sozialen Verhältnisse. Und sie werden, wenn es sie einmal
gibt, beibehalten, weil – und solange – sie für die Lösung bestimmter Probleme aktuell erlebbar nützliche Dienste leisten. Ihre objektive Richtigkeit und
wissenschaftliche Begründbarkeit ist bei diesen Leistungen zwar nicht unwichtig, aber keineswegs der einzige Maßstab für ihre aktuell erlebte Nützlichkeit im Rahmen der gegebenen sozialen Ordnung. Der Anthropologe Ed-
Handeln
221
ward E. Evans-Pritchard (1902-1973) berichtet beispielsweise über den Hexenglauben im Stamm der Zande im Sudan Folgendes:
„Im Zandeland stürzt manchmal ein alter Getreidespeicher ein. Daran ist nichts Bemerkenswertes. Jeder Zande weiß, daß Termiten die Stützbalken im Laufe der Zeit zernagen und daß
auch das härteste Holz nach Jahren der Beanspruchung verrottet. Nun ist aber ein Speicher
immer zugleich das Sommerhaus eines Zande-Gehöfts und die Leute sitzen während der Mittagshitze darunter, plaudern oder spielen das afrikanische Lochspiel oder sind mit irgendeiner
handwerklichen Tätigkeit beschäftigt. Infolgedessen kann es passieren, daß gerade dann,
wenn er einstürzt, Leute daruntersitzen und verletzt werden, denn es ist ein massiver Bau aus
Balken und Lehm und kann außerdem noch mit Eleusine gefüllt sein. Warum mußten gerade
im Moment des Einsturzes ausgerechnet diese Leute unter dem betreffenden Speicher sitzen?
Daß er einstürzen mußte, ist leicht verständlich. Aber warum mußte er gerade in dem Moment, als ausgerechnet diese Leute daruntersaßen, einstürzen? Er hätte schon seit Jahren einstürzen können, warum also tat er es gerade dann, als bestimmte Leute seinen behaglichen
Schutz suchten? Wir sagen, daß der Speicher einstürzte, weil seine Stützen von Termiten
weggefressen wurden: das ist die Ursache, die den Einsturz des Speichers erklärt. Wir sagen
auch, daß Leute gerade daruntersaßen, weil es die heißeste Zeit des Tages war und sie dachten, daß es ein bequemer Ort zum Reden und Arbeiten sein würde: das ist die Ursache dafür,
daß zum Zeitpunkt seines Einsturzes Leute unter dem Speicher waren. Für uns besteht der
einzige Zusammenhang zwischen diesen beiden unabhängig voneinander verursachten Sachverhalten in der Koinzidenz von Zeit und Ort. Wir haben keine Erklärung dafür, warum die
beiden Kausalketten sich zu einem bestimmten Zeitpunkt und an einem bestimmten Ort überschnitten, da es keine Interdependenz zwischen ihnen gibt. Die Philosophie der Zande kann
dazu das fehlende Glied liefern. Ein Zande weiß, daß die Stützen von Termiten unterhöhlt
waren und daß Leute unter dem Speicher saßen, um der Hitze und dem gleißenden Sonnenlicht zu entgehen. Aber er weiß außerdem, warum diese beiden Ereignisse zur genau gleichen
Zeit am gleichen Ort eintraten. Es war eine Folge der Wirkung von Hexerei. Hätte es keine
Hexerei gegeben, hätten die Leute unter dem Speicher gesessen, ohne daß er auf sie gefallen
wäre; oder er wäre eingestürzt, ohne daß sich jemand zu diesem Zeitpunkt darunter befunden
hätte. Hexerei erklärt die Koinzidenz dieser beiden Ereignisse.“23
Die Hypothese von der Hexerei ist eine besonders interessante Konstruktion
erster Ordnung. Sie füllt für die Zande ohne Zweifel eine Erklärungslücke für
das – unwahrscheinliche und wegen seiner gravierenden Folgen auch höchst
beunruhigende – Zusammentreffen zweier, ansonsten unverbundener und damit sinnloser, Ereignisse.
Das Konzept der Hexerei als Erklärungsskizze kann dabei ersichtlich als eine ausgesprochen
vernünftige Wahl einer bestimmten Alltags-„Theorie“ im Vergleich zu anderen Hypothesen
angesehen werden. Die magische Erklärung ist – auch vor dem Hintergrund anderer Gesichtspunkte des Lebens und der sonstigen Welt-Deutungen der Zande im Zusammenhang ihrer gesamten sozialen, kulturellen und kognitiven Ordnung – jedenfalls weitaus vernünftiger
als die Selektion der wissenschaftlich und objektiv wohl „richtigen“ Hypothese, daß es der
Zufall war, der den Speicher zusammenstürzen ließ – ausgerechnet als Leute darin saßen.
Denn: Wäre es nicht sehr unklug, eine Erklärung für ein sehr beunruhigendes Ereignis und
23
Edward E. Evans-Pritchard, Hexerei, Orakel und Magie bei den Zande, Frankfurt/M.
1978, S. 65f.; Hervorhebung nicht im Original.
222
Situationslogik und Handeln
für ein wichtiges Problem zu wählen, die nicht mehr leistet, als zu behaupten, daß man nicht
erklären könne, wie die Koinzidenz zustande kam? Und das in einer Welt, die von Bedrohungen nur so wimmelt und keinerlei „wissenschaftliche“ Möglichkeiten hat, damit umzugehen?
Dann also besser: Hexerei.
Ein Sozialwissenschaftler müßte die Hypothese von der Hexerei als Konstruktion erster Ordnung in sein Erklärungs-Modell, in seine Konstruktion zweiter
Ordnung also, einbauen – will er nicht den Sinn des Handelns der Zande und
der damit verbundenen sozialen Prozesse vollständig verfehlen. Dazu müßte
er freilich sicherstellen, daß diese subjektive Hypothese auch objektiv tatsächlich bei den Zande zutrifft, und klären, ob er nicht einem Scherz seiner Informanten oder einer Fehl-Interpretation bei seinen hermeneutischen Bemühungen zur Erfassung der Weltbilder der Zande zum Opfer gefallen ist. Mit den
Mitteln der anthropologischen Sozialforschung wäre das aber auch möglich.
Und was für die Weltbilder und subjektiven Theorien der Zande zutrifft, gilt
selbstverständlich für die Erklärung des subjektiven Sinns und des darauf aufbauenden Handelns aller Menschen zu allen Zeiten. Die empirische Sozialforschung, qualitativ wie quantitativ, ist auch zu diesem Zweck erfunden worden: die Erhebung der aus ihrer Sicht höchst vernünftigen Einstellungen der
Menschen als Teil der Hermeneutik ihrer jeweiligen Lebenswelten.
Die Universalität der rationalen Logik
Der französische Anthropologe Claude Lévi-Strauss kommt – aufgrund eigener, sehr umfangreicher Studien über „Das wilde Denken“ der Menschen in
einfachen Gesellschaften – dann auch zu dem Schluß:
„Anstatt also Magie und Wissenschaft als Gegensätze zu behandeln, wäre es besser, sie parallel zu setzen, als zwei Arten der Erkenntnis, die zwar hinsichtlich ihrer theoretischen und
praktischen Ergebnisse ungleich sind ..., nicht aber bezüglich der Art der geistigen Prozesse,
die die Voraussetzung beider sind und sich weniger der Natur nach unterscheiden als aufgrund der Erscheinungstypen, auf die sie sich beziehen.“24
Gewissermaßen aus Übungsgründen haben wir oben den Erfinder des emanzipatorischen Erkenntnisinteresses und Autor der „Theorie des kommunikativen Handelns“ Jürgen Habermas mit seinem Zitat in einen mißverständlichen
Zusammenhang gestellt. Sicher ist er weit davon entfernt, fremde und nichtmoderne Völker und Kulturen gegenüber der entzauberten Moderne abwerten
zu wollen. Aber es geht auch ihm eben nicht um die Art der Logik der Selek24
Claude Lévi-Strauss, Das wilde Denken, Frankfurt/M. 1968, S. 25; Hervorhebungen nicht
im Original.
Handeln
223
tion, sondern um eine Bewertung der Umstände der Selektion, also um die Art
der Logik der Situation. Auch Habermas bezieht sich bei seiner Beurteilung
nicht auf die Struktur des Denkens selbst, sondern auf die inhaltliche Struktur
der Weltbilder. Wir finden bei ihm dann schließlich auch noch den Satz, der
alle Mißdeutungen vermeiden hilft:
„ ... daß die Unterschiede zwischen mythischem und modernem Denken nicht auf der Ebene
logischer Operationen liegen.“
Sondern:
„ ... daß erwachsene Mitglieder primitiver Stammesgesellschaften grundsätzlich dieselben
formalen Operationen erwerben können wie Angehörige moderner Gesellschaften ... .“ (Habermas 1981a, S. 74; Hervorhebungen nicht im Original)
Genau dies ist auch mit der oben bereits formulierten These von der Universalität einer rationalen Logik der Selektion des Handelns gemeint. Die Erkenntnisse zur biogenetischen Evolution des Menschen unterstützen alle diese
Vermutungen – von Evans-Pritchard, von Lévi-Strauss, auch von Lévy-Bruhl,
wenn man ihn genauer liest, und natürlich von Habermas – nachdrücklich:
Die mentalen Grundstrukturen für die zum Handeln nötigen Selektionsleistungen, wenn man so will die Hardware des Menschen, sind eine universale
Eigenschaft des homo sapiens. Sie erlauben die gleiche Grund-Logik der Selektion des Handelns bei allen Exemplaren des homo sapiens – in welchen
Kulturen und zu welchen Zeiten auch immer.
Was zwischen den Menschen und ihren Kulturen freilich ganz beträchtlich
variiert, ist die kulturelle Software: die belief systems, die mentalen Modelle
mit ihren Codes und Programmen, die „Handlungen“, die Konstruktionen erster Ordnung, die den nach außen oft irrational scheinenden subjektiven Sinn
ihres stets rational gewählten Handelns bestimmen. Diese Software ist das –
unintendierte – Ergebnis eines im Prinzip klugen Umgangs mit den Problemen des Alltags in der jeweils gegebenen Umwelt und dessen Folgen.
6.7
Typen des Handelns
Menschen handeln, so haben wir soeben festgehalten, wenngleich oft auf der
Grundlage von objekiv falschen Vorstellungen, so doch in der „Logik“ der
Selektion des Handelns stets rational. Wirklich?
Gibt es nicht auch Werte, denen die Menschen ganz unbedingt – koste es, was es wolle –
nachhängen? Setzen nicht oft genug Gefühle wie Eifersucht, Neid, Stolz oder – natürlich –
die Liebe den Verstand völlig außer Kraft? Sind nicht die allermeisten Tätigkeiten des Alltags
224
Situationslogik und Handeln
nichts anderes als die Ausübung von Routinen, bei denen über Zwecke und Mittel kaum
nachgedacht wird? Ist die kalkulierende und abwägende Zweckrationalität außerdem nicht in
vielen Situationen ganz und gar verpönt und fehl am Platze: in der Familie, bei einer Geburtstagsfeier oder auf der Bettkante beispielsweise? Und bleibt nicht oft genug einfach keine
Zeit und keine Gelegenheit zur – stets anstrengenden – rationalen Überlegung?
In allen diesen Fällen „muß“ anders selektiert werden als nach den aufwendigen Regeln der subjektiven Rationalität: Nicht nur die Inhalte der Bewertungen und Erwartungen, sondern auch die Art und sogar die Regeln der Selektion des Handelns können sich – so scheint es – von Situation zu Situation verändern und von gewissen Bedingungen und Definitionen der Situation abhängig sein. Typisch unterschiedliche Arten der Selektion des sozialen Handelns
sollen – erneut im Anschluß an Max Weber – dann als „Typen“ des Handelns
bezeichnet werden.
Die vier Typen des Handelns von Max Weber
Von Max Weber stammt die wohl bekannteste Typologie unterschiedlicher
Formen des Handelns. Er unterscheidet vier Typen des Handelns: das zweckrationale, das wertrationale, das affektuelle und das traditionale Handeln.
Ein Handeln ist nach Max Weber, so sei auch noch aus Abschnitt 6.3 erinnert,
„ ... zweckrational: durch Erwartungen des Verhaltens von Gegenständen der Außenwelt und
von anderen Menschen und unter Benutzung dieser Erwartungen als ‚Bedingungen’ oder als
‚Mittel’ für rational, als Erfolg, erstrebte und abgewogene eigne Zwecke.“ (Weber, 1972, S.
12; Hervorhebungen im Original)
Und dann an anderer Stelle weiter:
„ ... Zweckrational handelt, wer sein Handeln nach Zweck, Mitteln und Nebenfolgen orientiert und dabei sowohl die Mittel gegen die Zwecke, wie die Zwecke gegen die Nebenfolgen,
wie endlich auch die verschiedenen möglichen Zwecke gegeneinander rational abwägt: also
jedenfalls weder affektuell (und insbesondere nicht emotional), noch traditional handelt.“
(Ebd.; S. 13; Hervorhebungen im Original)
Dagegen ist ein Handeln
„ ... wertrational: durch bewußten Glauben an den – ethischen, ästhetischen, religiösen oder
wie immer sonst zu deutenden – unbedingten Eigenwert eines bestimmten Sichverhaltens rein
als solchen und unabhängig vom Erfolg, –
affektuell, insbesondere emotional: durch aktuelle Affekte und Gefühlslagen, –
traditional: durch eingelebte Gewohnheit.“ (Weber 1972, S. 12; Hervorhebungen so nicht im
Original)
225
Handeln
Dem ist als Beschreibung kaum etwas hinzuzufügen. Wer wollte bestreiten,
daß es kühles Berechnen von Mitteln und Zielen, nicht unmittelbar erfolgsorientiertes Handeln nach Werten oder Normen, Affekte und Emotionen, Traditionen und Habitualisierungen allesamt gibt? Aber sofort stellt sich eine andere Frage: Wie kann erklärt werden, wann wer welchen Typ des Handelns warum bevorzugt und unter welchen Bedingungen von einem zum anderen Typ
gewechselt wird?
Eine Systematik
Ein erster Schritt hin zu einer solchen Erklärung ist die Systematisierung der
angetroffenen Vielfalt auf wenige Dimensionen. Hier hat Wolfgang Schluchter ein instruktives Schema vorgeschlagen (vgl. Abbildung 6.2).25
Handlungstypus
Mittel
Zwecke
Werte
Folgen
zweckrational
+
+
+
+
wertrational
+
+
+
-
affektuell
+
+
-
-
traditional
+
-
-
-
Abb. 6.2: Die Ordnung der Handlungstypen von Max Weber
(nach Schluchter 1979, S. 192)
In der Typologie werden vier Elemente angesprochen, an denen sich die Selektion des Handelns orientieren kann: Mittel, Zwecke, Werte und Konsequenzen.
Die Mittel sind die jeweiligen Handlungen, die eingesetzt werden, um bestimmte Zwecke zu
verwirklichen. Es gibt sie also bei jedem Typ.
Die Zwecke sind die unmittelbaren Veränderungen einer Situation, die mit der Handlung
erreicht werden sollen und die für den Akteur die Erreichung eines bestimmten vorgestellten
Zielzustandes bedeuten. Zwecke kann man sich auch als Zwischenziele oder Zwischenprodukte vorstellen, die als Mittel zur Erreichung der eigentlich angestrebten „letzten“ Ziele dienen.
25
Wolfgang Schluchter, Die Entwicklung des okzidentalen Rationalismus, Tübingen 1979,
S. 191f.
226
Situationslogik und Handeln
Unter Werten sind die übergreifenden Orientierungen und die alles andere dominierenden
Zielsetzungen allgemeiner Art zu verstehen, unter denen ein Akteur zum Beispiel sein Leben
organisiert wissen möchte, oder die in den Maximen bzw. in der sozialen Codierung von Gesellschaften, Gruppen oder Situationen als primärer Rahmen festgelegt sind, wie das Streben
nach Wahrheit in der Wissenschaft, die Verwirklichung der Prinzipien des Islam oder die der
CSU, oder auch das Abnehmen bei einer Hungerkur. Beim wertrationalen Handeln gibt es eine weitreichende Besonderheit: Es trägt seinen Nutzen als unbedingten Eigenwert der Handlung selbst immer schon in sich und ist, sofern nur der Wert bedient wird, von eventuellen
Kosten oder anderen Konsequenzen weitgehend unabhängig.
Unter den Folgen werden schließlich alle mit dem Handeln subjektiv verbundenen und
dem Handeln zugeschriebenen Konsequenzen des Tuns gefaßt, auch die, die vor dem Hintergrund der eigentlichen Zwecke und Werte unerwünscht und von indirekter Art sind.
Je nach Vollständigkeit in der Beachtung dieser vier Elemente bei der Selektion der Handlung ergibt sich ein anderer Typus des Handelns. Beim zweckrationalen Handeln werden alle vier Elemente – Mittel, Zwecke, Werte und Folgen – vom Akteur systematisch beachtet und in Beziehung gebracht. Dann
verengt sich die Orientierung auf diese vier Elemente schrittweise und weicht
so in typischer Weise vom Idealtypus der Zweckrationalität ab.
Beim wertrationalen Handeln werden die Folgen nicht mehr weiter betrachtet. Die Selektion
der Zwecke und der Mittel erfolgt nur unter dem Gesichtspunkt des „unbedingten Eigenwertes“ der Handlung. Sie ist insofern in der Tat nicht erfolgsorientiert. Beim affektuellen Handeln spielen zusätzlich auch die Werte keine Rolle mehr: Haß, Neid, Stolz oder Liebe bedenken die Folgen gerade nicht und sind für alle Werte blind. Es konzentriert sich nur auf die jeweiligen emotionalen Zwecke und – oftmals sehr genau – auf die Wahl der dafür besonders
geeignet erscheinenden Mittel. Beim eingelebten traditionalen Handeln schließlich werden
auch die Zwecke nicht mehr bedacht. Das Handeln wird jetzt nur noch ritualisiert, dumpf und
unbewußt als Habitualisierung der Mittelwahl abgerufen, wenn die Situation „da“ ist. Es ist
jetzt eigentlich nur noch ein reaktives „Verhalten“.
Die Typologie von Max Weber und die Systematik von Wolfgang Schluchter
sind eine zusammenfassende Beschreibung von Arten, wie in bestimmten Situationen gehandelt wird, wovon sich die Akteure bei der Selektion ihres Tuns
leiten lassen und wie genau sie die verschiedenen Aspekte bedenken, prüfen
und bei ihrer Entscheidung systematisch berücksichtigen. Erklären kann man
damit, wie mit jeder begrifflichen Systematisierung, noch nichts.
Die Typen des Handelns als Heuristiken der Entscheidungsfindung
In der Systematisierung von Wolfgang Schluchter werden die „Rationalität“
des Handelns und die „Evidenz“ an subjektiver Sinnhaftigkeit mit der Entfernung von der Zweckrationalität immer geringer. Bei der Wertrationalität wird
schon nicht mehr an die Folgen gedacht. Bei Gefühlsausbrüchen sind einem
die heiligsten Überzeugungen egal. Und beim gedankenlosen traditionalen
Handeln
227
Betreten des Fahrstuhls jeden Morgen auf dem Weg zum Büro weiß manch
einer oft schon lange nicht mehr, wozu das eigentlich gut sein soll.
Zweckrationales, wertrationales, affektuelles und traditionales Handeln sind in dieser Sicht
bestimmte Arten der Informationsverarbeitung: aufwendiges „Kalkulieren“ von Mitteln, Nebenfolgen und der Reihenfolge gewisser Zwecke etwa bei der Zweckrationalität. Das können
sich viele Menschen aber nicht leisten. Meist fehlen ihnen schon die Zeit, oft die Nerven,
manchmal auch der Verstand dazu. Und oft genug lohnt sich die zweckrationale Durchdringung einer Situation nicht einmal: Um ein Stück Seife zu kaufen, macht sich eine aufwendige
Marktanalyse meist nicht bezahlt. Das wertrationale, das affektuelle und das traditionale
Handeln werden im Grad der Informationsverarbeitung und der innerlichen Kalkulation
demgegenüber immer unaufwendiger und durchführbarer – aber auch immer weniger
„rational“ und den wirklichen Verhältnissen angemessen.
Die (Sozial-)Psychologie nennt die Art und die Strategie der Informationsverarbeitung in einer Situation auch Heuristik. Die vier Typen des Handelns bilden so unterschiedliche Heuristiken der Entscheidungsfindung – geordnet von
oben nach unten nach dem Grad der „rationalen“ Durchdringung der Situation.
Die Typen des Handelns als Codes der Situation
Die vier Typen des Handelns sind aber nicht nur in Hinsicht auf den Grad der
Informationsverarbeitung verschieden voneinander. Die Zweckrationalität,
beispielsweise, kann auch eine normativ geforderte Orientierung sein, ein Code der Rahmung der Situation also, mit dem ein Akteur eine Situation
betrachten „muß“, und unter der er sie klugerweise subjektiv definiert.
Das gilt beispielsweise für geschäftliche Beziehungen und wenn mit Geld bezahlt wird: Dann
gilt der Code der zweckrationalen Berechnung und des wirtschaftlichen Handelns. Für Werte,
Affekte und Gewohnheiten gilt das Gleiche: Ein Wert dominiert als normativ gefordertes oberstes Ziel alles andere, wie beispielsweise die deutsche Einigung, die ja bekanntlich wirklich durch einen „bewußten Glauben“ an den „unbedingten Eigenwert“ der deutschen Einheit
und ohne Zweifel „unabhängig vom Erfolg“ und vollkommen ohne Rücksicht auf die Folgen
betrieben wurde. Ähnliches gilt für gewisse Emotionen, die, etwa in der Liebe oder am offenen Grab, in genau bestimmter Weise erwartet werden: Wehe dem Liebhaber, der bei der
passenden Gelegenheit nicht im Code der Liebe leidenschaftlich genug seufzt! Oder wehe der
Witwe, die nicht im Rahmen der Emotion der Trauer hinreichend herzzerreißend aufschluchzt, wenn der Sarg des Gatten hinabsinkt! Und kaum etwas unterliegt mehr den diversen Codes der Konventionen als die Befolgung von Traditionen – seien das die ergriffene
Feierlichkeit zu Heiligabend, die schauerliche Maschinerie einer Hinrichtung oder die leer
gewordene Erinnerung an das alte Gaudeamus Igitur bei der Absolventenfeier mit den frisch
diplomierten Techno Kids in der Aula.
228
Situationslogik und Handeln
Die Typen des Handelns lassen sich dann als typisch unterschiedliche Codes
für typische Situationen oder Sphären der Gesellschaft verstehen. Sie sind ein
Teil der Definition der Situation.
Modus und Modell
Die Heuristik, mit der die Akteure an eine Situation herangehen, wollen wir
als den Modus der Selektion des Handelns bezeichnen. Der Modus ist also die
Art der Informationsverarbeitung, die ein Akteur in einer Situation angesichts
der vorliegenden Daten und der bestehenden Begrenzungen und Opportunitäten der Informationsverarbeitung vornehmen kann – oder „sollte“, wenn er
klug ist.
Der Code der Situationsdefinition bei der Selektion des Handelns sei als
das Modell der Selektion des Handelns bezeichnet. Die Modelle der Selektion
des Handelns als zweckrational, wertrational, affektuell und traditional sind
somit auch kulturell verbreitete und normativ institutionalisierte Vorgaben,
wie in einer Situation gehandelt werden soll. Es sind Teile der institutionellen
Regeln und des Bezugsrahmens des Handelns. Und sie folgen daher – wie üblich – den objektiven Vorgaben der sozialen Produktionsfunktionen.
In der Systematik von Wolfgang Schluchter lassen sich die vier Handlungstypen von Max
Weber leicht auf den beiden Achsen des Modells und des Modus der Selektion des Handelns
verorten. Die senkrechte Achse beschreibt vier typische Modelle der Selektion des Handelns,
wie sie in typischen Situationen und typischen Sphären der Gesellschaft verlangt werden:
Zweckrationalität etwa im Bereich der Wirtschaft, Wertrationalität im Bereich der Politik, affektuelles Handeln in Familie und Verwandtschaft, traditionales Handeln überall da, wo es
auf die Einhaltung von Regeln als Oberziel ankommt: vor Gericht und bei der peinlichen Beachtung der Regeln des Zitierens in einem wissenschaftlichen Buch zum Beispiel. Die waagerechte Achse ordnet die vier Typen, wie oben schon gesagt, nach dem Modus: Je mehr Aspekte der Zweckrationalität bei der Selektion des Handelns übergangen werden können –
Zwecke, Werte, Folgen – um so unaufwendiger – und ineffizienter! – ist die Heuristik und
um so weniger reflektiert und „automatischer“ ist der Modus der Selektion.
Jeder der vier Typen kann also beides sein: Ein spezielles Modell der Situationsdefinition und/oder ein besonderer Modus der Informationsverarbeitung.
Das gilt gerade auch für die Zweckrationalität: Manchmal ist sie sozial vorgeschrieben, wie
bei der feindlichen Übernahme von Thyssen durch Krupp oder beim abendlichen Warten auf
den DAX. Manchmal ist sie dagegen verpönt, wie unter dem Weihnachtsbaum oder wenn es
darum geht, ob sich ein weiteres Kind noch lohnen würde. Aber auch wenn die Zweckrationalität erlaubt oder vorgeschrieben ist, kann sie nicht immer zum Zuge kommen. Meist sind
die nötigen „objektiven“ Informationen nicht zur Hand. Und oft genug lohnt es sich nicht,
den nötigen Aufwand zu betreiben. Dann ist es klüger, mit dem zufrieden zu sein, was bisher
immer funktioniert hatte, was einem das Gefühl oder eine mythische Vorstellung sagt, oder
was ein Wert an „unbedingter“ Direktive vorgibt.
Handeln
229
Wir gehen davon aus, daß jede Situationsdefinition auch den „Typ“ des Handelns bestimmt – das Modell der Selektion des Handelns und den Modus der
Informationsverarbeitung dabei.
... und noch eine Frage
Es kann gar keinen Zweifel geben, daß es verschiedene „Typen“ des Handelns
bzw. Modelle und Modi der Selektion empirisch gibt. Schon die Berichte über
das „Wilde Denken“ haben das gezeigt (vgl. Abschnitt 6.6). Aber ist diese
Feststellung wirklich alles, was man wissen möchte, nein: wissen müßte? Wäre es, nach der Systematisierung der Typen des Handelns, nicht eigentlich viel
wichtiger, auch erklären zu können, warum – manchmal die gleiche Person –
einmal affektuell, ein anderes Mal traditional, dann aber wieder sehr kontrolliert und zweckrational handelt? Und wäre es nicht auch außerordentlich
wichtig, zu wissen, welche Umstände in der Situation die Selektion eines bestimmten Modells bzw. Modus der Selektion des Handelns bewirken – und
nach welchen Regeln das nun wiederum geschieht?
Dahinter steht natürlich eine allgemeine Frage: Gibt es nur eine und allgemeine Logik der Selektion oder deren mehrere verschiedene? Beschreiben die Typen, Modelle und Modi des
Handelns nicht eigentlich bloß verschiedene situationelle Bedingungen – etwa des Bezugsrahmens oder der schieren Opportunitäten für die „Wahl“ eines bestimmten Typs des Handelns? Oder gibt es mit jedem Typus auch jeweils eine andere Logik der Selektion des Handelns? Und wenn ja: Wie kommen die Akteure dazu, immer die jeweils „richtige“ dieser Logiken zu treffen? Vielleicht dann sogar doch wieder über eine Art von optimierender Selektion, nämlich einer solchen, die auch den Modus des Handelns als Situationsbedingung in
Rechnung stellt?
Der nun folgende Abschnitt macht einen Vorschlag zur Lösung des Problems.
Zum Schluß der „Speziellen Grundlagen“, in Band 6 über „Sinn und Kultur,
werden Sie die komplette Erklärung finden. Es ist die Erklärung des Vorgangs
der subjektiven Definition der Situation, für den wir bisher, etwa in Kapitel 5,
ja nur recht abstrakt angeben konnten, welche Faktoren und Prozesse dabei
eine Rolle spielen.
6.8
Optimierung und Orientierung
Nach wie vor geht die Ökonomie wie selbstverständlich davon aus, daß die
Rationalität die allgemeine Grundregel des menschlichen Handelns sei. Ganz
anders die Soziologie. Sie geht ebenso selbstverständlich davon aus, daß die
Rationalität kein allgemeiner Grundzug des Handelns sei. Die Soziologie ist ja
230
Situationslogik und Handeln
geradezu als Kritik an der Auffassung entstanden, daß die Rationalität die
Welt regiere und die allgemeine Regel der Logik der Selektion des Handelns
wäre. Die Rationalität gelte allenfalls in bestimmten Unterbereichen der Gesellschaft und insbesondere unter den Bedingungen der entfesselten Ellbogengesellschaft einer kapitalistischen Verkehrswirtschaft. Folglich sind viele Soziologen auch nur schwer von Vorschlägen zu überzeugen, das rationale Handeln als die universale empirische Regel für die Logik der Selektion aufzufassen. Aber auch manche Ökonomen sehen inzwischen die eine oder andere
Grenze ihres Modells des homo oeconomicus – und wissen nicht recht, wie
sie damit umgehen sollen.
Die Grenzen der Rationalität: Drei Argumente
Es sind im wesentlichen drei Argumente, die gegen die Annahme der Rationalität als allgemeine Logik der Selektion des sozialen Handelns vorgebracht
werden. Das erste Argument stammt aus der klassischen Soziologie Emile
Durkheims und der Kritik an der, etwa auf Adam Smith zurückgehenden,
Auffassung, daß sich soziale Ordnung als Folge eines zweckrationalen utilitaristischen Handelns denken lasse.
Es lautet: Jeder Vertrag, den Akteure aus zweckrationalen Gründen schließen wollen, setze
zwingend einen nicht-kontraktuellen Teil, einen moralischen, nicht-egoistischen Rahmen, eine aus der arbeitsteiligen Verbindung mögliche, dafür aber auch erforderliche, „organische
Solidarität“ selbst dann voraus, wenn die vertragliche Beziehung vollauf im Interesse beider
Partner sei. Dieser Gedanke ist von Talcott Parsons zu der – bis heute weithin in der Soziologie verbreiteten – Doktrin ausgebaut worden, daß jedes soziale Handeln einen bewertenden
Rahmen von Standards voraussetze (siehe dazu noch gleich unten zum soziologischen Handlungsbegriff).
Diese Kritik am Konzept der Rationalität ist die unmittelbare Folge der These
vom sog. utilitarian dilemma (vgl. dazu noch Band 3, „Soziales Handeln“ und
Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Und weil es
dennoch empirisch ohne Zweifel soziale Ordnung gebe, könne die Rationalität
die Grundlage des sozialen Handelns nicht sein.
Das zweite Argument gegen die Rationalität als einzigem oder grundlegendem Typus des Handelns hat mit der Existenz der sozialen Differenzierung
auch der einfachsten Gesellschaften und sozialen Gebilde und deren Unterteilung in unterschiedliche funktionale Sphären zu tun.
Zu den sozialen Regeln in den verschiedenen Sinnwelten der funktionalen Sphären gehören
nämlich auch formale Eigenschaften des Handelns selbst und nicht nur die inhaltlichen
Sinnzusammenhänge. Dazu gehören der Grad der Beachtung des Verhältnisses von Aufwand
zu Ertrag und des Ausgleichs von Nutzen und Kosten, die Stärke der Orientierung an den
Handeln
231
obersten Maximen, also die Gesinnungsethik des Handelns, auch der Grad, in dem man den
Emotionen freien Lauf läßt oder in dem gerade die sozialen Regeln verlangen, daß und in
welcher Weise das Handeln von Affekten durchzogen sein soll, und schließlich der Grad, in
dem das Handeln lediglich aus dem Vollzug von (halbbewußten) Routinen und Traditionen
des Tuns besteht.
Die verschiedenen Bereiche der Gesellschaft unterscheiden sich also nicht nur
nach ihren inhaltlichen Maximen und sozialen Regeln, sondern auch danach,
wie ausgeprägt der Grad der Kalkulation von Zielen und Mitteln, von Nutzen
und Kosten ist, der für das jeweilige Handeln erwartet wird. Es unterscheidet
sich demnach nicht nur der Inhalt des in einem Sub-System erwarteten Handelns, sondern auch schon die Art, wie man dort jeweils handelt und sogar
handeln muß: auf Effizienz bedacht oder an einer Gesinnung orientiert; kontrolliert-berechnend oder emotionalisiert und jedem Affekt folgend; dumpf
gewohnheitsmäßig oder aufmerksam, hellwach und findig. Diese Form des
Handelns bestimmt zusammen mit dem jeweils dominanten funktionalen Imperativ als Ober-Ziel den Code des Sub-Systems: kalkulierende Rationalität
im Sub-System der Wirtschaft etwa gegenüber dem Altruismus der Brüderlichkeitsethik im integrativen Sub-System oder gegenüber der leidenschaftslosen, aber ebenfalls rationalen Suche nach Wahrheit im Teilbereich der Wissenschaft einer Gesellschaft (vgl. dazu noch Band 2, „Die Konstruktion der
Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
Unterschiedliche Grade der Abweichung vom Idealtyp der Rationalität
sind für das Handeln der Menschen aber nicht nur aus Gründen der Definition
des Typs des Handelns in bestimmten Sinnzusammenhängen zu erwarten. Die
Rationalität erfordert ein sehr hohes Ausmaß an Informationsverarbeitung und
Durchdringung eines Entscheidungsproblems, sowie viel Zeit und Aufwand
für die Entscheidungsfindung selbst. Zeit und intellektueller Aufwand gehören aber zu den chronisch knappen Ressourcen der Menschen. Die sog. bounded rationality des Menschen macht deutliche Einschränkungen des Aufwandes bei der Entscheidungsfindung erforderlich. Die Frage ist nur: Bei welchen
Handlungen zuerst?
Von dieser Überlegung her leitet sich das dritte Argument gegen die Rationalität als universale und als alleinige Logik der Selektion des Handelns ab.
Es lautet sehr einfach: Menschen können bereits aufgrund ihrer beschränkten Fähigkeiten zur
Informationsverarbeitung gar nicht immer zweckrational in dem Sinne handeln, daß sie alle
Mittel in Bezug auf alle Zwecke maximieren. Sie müssen sich im Grunde schon deshalb so
gut wie immer mit bescheideneren Lösungen zufriedengeben, weil die Suche nach den besten
Möglichkeiten viel zu aufwendig würde. Herbert Simon hat dies mit satisficing bezeichnet –
im Unterschied zum maximizing als dem unerfüllbaren Prinzip des zweckrationalökonomischen Handelns. Und Alfred Schütz hat in seinem Konzept der Lebenswelt betont,
daß die Befolgung nur grober Daumennregeln für das Alltagshandeln meist auch vollkommen
232
Situationslogik und Handeln
ausreiche – solange die Routine in zufriedenstellender Weise weiterhilft (vgl. dazu insgesamt
noch Kapitel 8, insbesondere Abschnitt 8.4).
Kurz: Die bounded rationality des Menschen erzwinge die Abkehr vom Idealtypus der (Zweck-)Rationalität und die Selektion einer weniger anspruchsvollen Heuristik in den allermeisten Situationen.
Der soziologische Handlungsbegriff
Immer hat insbesondere die Soziologie darauf bestanden, daß die schiere
Zweckrationalität, daß individuelle Motive und individuelle Einschätzungen,
Intentionen und Antizipationen, Ziele und Mittel und der subjektive Sinn alleine für einen angemessenen Begriff des Handelns nicht genug seien. In Kapitel 1 haben wir diese Auffassung mit dem Konzept des unit act von Talcott
Parsons schon kennengelernt: Zu den Zielen und den Mitteln und den Bedingungen der Situation müsse noch eine normative Orientierung hinzukommen,
die dem Handeln erst seinen sozialen Sinn in Gestalt eines Bezugsrahmens
gebe, der über die individuellen Motive hinausweise. In einem programmatischen Artikel zur soziologischen Theorie des Handelns haben Talcott Parsons
und Edward A. Shils diese Auffassung einmal so zusammengefaßt:
„The theory of action is a conceptual scheme for the analysis of the behavior of living
organisms. It conceives of this behavior as oriented to the attainment of ends in situations, by
means of the normatively regulated expenditure of energy.“26
Die „General Theory of Action“, die dann für die soziologische Handlungstheorie bis heute maßgeblich wurde, faßt das Handeln damit als ein Verhalten
auf, das vier Elemente umfaßt: Es wird in einer Situation versucht, Ziele mit
Mitteln zu erreichen, die Energie kosten und normativ geregelt sind:
„There are four points to be noted in this conceptualization of behavior: (1) Behavior is oriented to the attainment of ends or goals or other anticipated states of affairs. (2) It takes place in
situations. (3) It is normatively regulated. (4) It involves expenditure of energy or effort or
‚motivation’ ... .“ (Ebd.; Hervorhebung nicht im Original)
Erst wenn ein „Verhalten“ den Rahmen des Schemas dieser vier Eigenschaften ausfüllt, soll es nach Parsons und Shils „Handeln“ genannt werden:
„When behavior can be and is so analyzed, it is called ‚action’. This means that any behavior
of a living organism might be called action; but to be so called, it must be analyzed in terms
26
Talcott Parsons und Edward A. Shils (mit Unterstützung durch James Olds), Values, Motives, and Systems of Action, in: Talcott Parsons und Edward A. Shils, Toward a General
Theory of Action, Cambridge, Mass., 1954, S. 53; Hervorhebung nicht im Original.
Handeln
233
of the anticipated states of affairs toward which it is directed, the situation in which it occurs,
the normative regulation ... of the behavior, and the expenditure of energy or ‚motivation’ involved. Behavior which is reducible to these terms, then, is action.“ (Ebd.; Hervorhebungen
nicht im Original)
Ein Beispiel nennen die beiden Autoren gleich auch:
„Thus, for example, a man driving his automobile to a lake to go fishing might be the behavior to be analyzed. In this case, (1) to be fishing is the ‚end’ toward which our man’s behavior
is oriented; (2) his situation is the road and the car and the place where he is; (3) his energy
expenditures are normatively regulated – for example, this driving behavior is an intelligent
means of getting to the lake; (4) but he does spend energy to get there; he holds the wheel,
presses the accelerator, pays attention, and adapts his action to changing road and traffic conditions.“ (Ebd.)
In dem Beispiel irritiert den unbefangenen Leser wohl etwas, daß offenkundig
schon ein „intelligenter“ Mitteleinsatz „normativ“ geregelt sein soll: Eigentlich ist ein „intelligenter“ Mitteleinsatz zum Zwecke der Zielerreichung ein
„bloß“ intentionales, subjektiv sinnhaftes, ja geradezu zweckrationales Handeln – noch ganz ohne jede normative Regulierung. In einer Fußnote wird diese Irritation gleich so ausgeräumt:
„Norms of intelligence are one set among several possible sets of norms that function in the
regulation of energy expenditure.“ (Ebd., Fußnote 2; Hervorhebung nicht im Original)
Aha! Der intelligente Mitteleinsatz ist also bereits eine normativ geregelte
Angelegenheit. Es ginge, so deuten Parsons und Shils an, auch anders, aber
nur mit anderen Normen. Wie etwa bei einem Formel-1-Rennen, bei dem ja in
der Tat eine andere Norm und ein anderes Oberziel das Geschehen bestimmt:
Wer kommt als erster über die Ziellinie, an die Magnum-Flasche und an das
Pisten-Girlie, selbst wenn die Reifen platzen und eine Menge an Sprit schon
beim Aufwärmen draufgeht, die für 1000 Eingeborenenherde in der Dritten
Welt für ein Jahr reichen würde. Auch der rein an Zwecken und Mitteln orientierte „intelligente“ oder „zweckrationale“ Einsatz von Energie ist danach also
nichts als ein spezieller normativer Bezugsrahmen, unter dem das Handeln
steht: die „Norm“ der Intelligenz oder die zur Zweckrationalität, so wie wir
dies in Abschnitt 6.7 im Zusammenhang der Typen des Handelns mit der
Zweckrationalität als normative Erwartung, als spezielles Modell der Selektion des Handelns zusammengefaßt haben.
Das macht gerade die Radikalität des soziologischen Handlungsbegriffs
aus: Es gibt grundsätzlich nur normativ geregeltes Handeln. Fehlt die normative Orientierung, ist es eben kein Handeln. So ist es für die Soziologie definiert.
234
Situationslogik und Handeln
Normen und Knappheiten
Der soziologische Handlungsbegriff nach Talcott Parsons und Edward A.
Shils betont die normative Regulierung eines jeden Handelns. Er nennt aber
auch jenen anderen Aspekt, der, anders noch als in der Fassung des unit act
von Talcott Parsons, neben der normativen Orientierung vorkommt und der
von der ökonomischen Handlungstheorie als alleine maßgeblich betrachtet
wird: Die „expenditure of energy“, die Knappheiten und die Kosten einer jeden Handlung.
Damit aber ist das grundlegende Problem jeder Handlungstheorie skizziert,
die die normative Regelung des Handelns einbezieht: Wann kosten die normativen Orientierungen soviel an „Energie“, daß ihnen – vernünftigerweise –
nicht mehr gefolgt werden sollte oder gar kann? Es ist die Frage, die uns
schon in Teil A beschäftigte und die uns immer wieder begegnen wird: Wo
liegen die Grenzen der Normen und der Moral, und wann und warum wird die
normative Orientierung gewechselt, die einem Handeln zugrundeliegt?
Optimierung oder Orientierung?
Die Gesellschaftswissenschaften haben eine lange und bewegte Tradition in
der Auseinandersetzung gerade in dieser Frage. Wenn man die vielen philosophischen Untiefen, die wir oben gelegentlich gestreift haben, nicht weiter
beachtet, dann lassen sich im Grunde zwei Pole bzw. Maximen der Erklärung
des Handelns der Menschen unterscheiden.
Der erste Pol hat mit der Maxime zu tun, daß jedes menschliche Handeln im Grunde eine Frage der rationalen Optimierung vor dem Hintergrund insbesondere von Opportunitäten und
Knappheiten sei. Dies ist die Perspektive, die – nach wie vor – in der Ökonomie dominiert
und im Konzept des homo oeconomicus und in der Nutzentheorie ihren Niederschlag gefunden hat. Nichts regt Soziologen nach wie vor mehr auf, als die Vorstellung, daß die rationale
Optimierung das allgemeine und einzige Gesetz des Handelns sein könnte. Der andere Pol ist
die besondere Sichtweise der Soziologie. Sie beruht auf der Maxime, daß das mit Sinn versehene menschliche Handeln auf institutionellen Regeln und kulturellen Bezugsrahmen und
daran anschließenden Orientierungen beruhe. Der homo sociologicus und die normative Theorie des Handelns, etwa die Voluntaristic Theory of Action nach Talcott Parsons oder auch
die sog. normative Rollentheorie, folgen dieser Vorstellung. In dieser Perspektive ist die Maxime der Optimierung auch nur eine Art der Orientierung: Die Zweckrationalität ist lediglich
einer von verschiedenen „Typen“ des Handelns. Und welcher Typus gerade „gilt“ – das sei
eine Frage der kulturellen und normativen Orientierung. Die Ökonomen, die das überhaupt
einmal mitbekommen haben, haben laut aufgeschrien – vor Spott und vor Entsetzen.
Was tun? Der norwegische Ökonom, Soziologe und Philosoph Jon Elster
schlägt einfacherweise vor, zwei verschiedene Arten der Logik der Selektion
Handeln
235
für typisch unterschiedliche Situationen anzunehmen: die Selektion nach den
Kriterien einer „rationalen“ Wahl einerseits und eine Selektion in Orientierung an „sozialen Normen“ andererseits. Den Unterschied zwischen diesen
beiden Gesetzen des Handelns beschreibt Jon Elster so:
„Rational action – be it economically or politically motivated – is concerned with outcomes.
Rationality says ‚If you want to achiveve Y, do X’. Action guided by social norms is not outcome-oriented. The simplest social norms are of the type ‚Do X’ or ‚Don’t do X’.“27
Also: Die rationale Wahl des Handelns schiele nach dem Erfolg, das
normorientierte Handeln dagegen nicht. Letzteres finde um seiner selbst
willen
Es fällt
statt.nicht schwer in der Unterscheidung zwei typische Dimensionen
wiederzuerkennen, die auch Webers Typologie unterliegen: die Ziel- und Mittel-optimierende Selektion einerseits und die Orientierung an nicht-rationalen
Elementen, Werte, Affekte, Gewohnheiten zum Beispiel, andererseits. Ganz
ohne Zweifel dürfen in der Tat beide Sichtweisen – Optimierung unter Beachtung von Knappheiten und Zuträglichkeiten und Orientierung an sozialen Regeln – jede für sich gute Argumente für eine Theorie der Selektion des Handelns beanspruchen. Die effiziente Bewältigung des Knappheitsproblems ist
ebenso eine Grundbedingung der conditio humana wie das der institutionell
und kulturell abgesicherten Reduktion der Weltoffenheit des Menschen. Die
unhintergehbare antagonistische Kooperation als Grundbedingung jeder Vergesellschaftung beruht ja auch auf dieser Dualität: Der egoistische Opportunismus ist ebenso ein Grundzug des Menschen wie das auch emotional fundierte Interesse an einer funktionierenden sozialen Ordnung, scheinbar gegen
alle egoistische Vernunft.
Das Problem
Für den Anspruch eines wirklich allgemeinen nomologischen Kerns bei einer
soziologischen Erklärung wäre mit der Unterscheidung verschiedener Typen
und Logiken des Handelns aber nicht sehr viel gewonnen. Etwa: Indem man
das rationale Handeln einerseits und das normative Handeln andererseits unterschiede und sagt, daß es eben von der „Situation“ abhänge, wann welcher
Typ, welches Modell des Handelns also, Geltung habe und welcher Modus
der Informationsverarbeitung angeraten wäre. Es wäre aber nicht sehr zufriedenstellend, wenn nun auch, neben den Randbedingungen, das Gesetz des
Handelns der Menschen mit den Gesellschaften, den Institutionen und Kultu27
Jon Elster, Nuts and Bolts for the Social Sciences, Cambridge u.a. 1989a, S. 113; Hervorhebungen nicht im Original.
236
Situationslogik und Handeln
ren und, allgemein, mit den Situationen variiert. Und offen bliebe obendrein,
wohl noch unangenehmer, nach welcher Regel sich die Akteure denn nun entscheiden sollen, wenn etwa nicht klar ist, welcher „Typ“ des Handelns wohl
gerade gilt?
Solche nicht-definierten Situationen gibt es ja häufig genug: Ist der Freund noch ein Freund,
wenn er mich ständig ausnutzt? Gilt dem Partner die Ehe und der Altruismus der Liebe noch
als Modell seines Handelns – oder ist er bereits längst zum zweckrationalen Egoismus der
Berechnung von Versorgungsansprüchen übergegangen? Und wird es nicht allmählich Zeit
für eine Umorientierung, um hinterher nicht ganz dumm dazustehen?
Spätestens bei solchen Situationen, bei denen nicht klar ist, welche übergreifende Definition der Situation gerade „gilt“, wird deutlich, daß die Akteure
schon auf einer der eigentlichen Wahl des Handelns vorgängigen Ebene selektieren müssen. Es bedarf nämlich einer Selektion der Orientierung in der jeweiligen Situation. Aber wieder bleibt die Frage: Nach welcher Regel denn?
Kreatives Handeln?
Von Hans Joas stammt ein Vorschlag, der das gleiche Problem aufgreift: Es
gibt verschiedene Typen des Handelns, sie erfassen auch jeweils für sich einen wichtigen Aspekt, sind aber alleine unvollständig und bedürfen einer theoretischen Integration, die über die bloße Addition der beiden Modelle hinausweist.
Joas kritisiert die Unvollständigkeit der beiden, wie er sagt „vorherrschenden Handlungsmodelle“ des normativen und des rationalen Handelns.28 Beide Modelle vernachlässigten seiner
Meinung nach jeweils für sich wichtige Aspekte des sozialen Geschehens: Die normative
Theorie des Handelns überstrapaziere die Bedeutung und die Wirksamkeit normativer Übereinstimmungen und sei gegenüber den Bedürfnissen der Menschen nach Selbstausdruck und
der Sicherung eines positiven Selbstbildes blind; die Theorie des rationalen Handelns sei in
ihren Abstraktionen entschieden zu rigide, die „phänomenale Vielfalt“ des Handelns komme
nur unter dem Gesichtspunkt „mangelnder Rationalität“ in den Blick, und sie unterstelle zu
Unrecht, daß der Akteur seinen Körper unter Kontrolle habe und gegenüber seinen Mitmenschen und seiner Umwelt autonom sei (Ebd., S. 42ff., 214ff., 286ff.).
Und erneut stellt sich die Frage: Was tun? Hans Joas schlägt zur Überwindung
des Schismas zwischen rationaler und normativer Theorie des Handelns
(s)eine Theorie des kreativen Handelns vor. Mit Kreativität ist dabei u.a. „ ...
der intentionale Charakter menschlichen Handelns, die spezifische Körperlichkeit und die ursprüngliche Sozialität der menschlichen Handlungsfähigkeit“ (ebd., S. 217) gemeint. Die Theorie vom kreativen Handeln will sich da28
Hans Joas, Die Kreativität des Handelns, Frankfurt/M. 1992, S. 15.
Handeln
237
bei nicht bloß als Ergänzung der beiden anderen Modelle verstanden wissen
und lediglich ein wenig Kreativität zum rationalen und zum normativen Handeln hinzufügen. Nein. Sie stellt vielmehr den Anspruch, „ ... einen die beiden
anderen überwölbenden Charakter zu reklamieren.“ (Ebd., S. 15; Hervorhebung nicht im Original)
Die Kreativität, die Rationalität und die Normativität bilden dabei eine
organische Einheit. Mehr sogar noch:
„Sie (die Theorie des kreativen Handelns; HE) produziert nicht etwa eine Residualkategorie
des nicht-kreativen Handelns, sondern kann die Randbedingungen für die sinnvolle Anwendung der anderen Handlungsmodelle spezifizieren, da sie die in diesen stillschweigend
enthaltenen Annahmen deutlich macht.“ (Ebd., S. 15f.; Hervorhebung nicht im Original)
Den anderen Handlungsmodellen könnte dadurch ihr „logischer Ort“ zugewiesen werden, und es ließen sich somit
„ ... die Fülle von Begriffen, die mit dem Handlungsbegriff verbunden sind – wie die Begriffe
Intention, Norm, Identität, Rolle, Situationsdefinition, Institution, Routine und andere –, konsistent und sachadäquat bestimmen.“ (Ebd., S. 16)
Das ist keine schlechte Idee. Es ist die Vorstellung, eine integrierte Theorie
des Handelns zu entwickeln, die angeben kann, wann welcher „Typ“ des Handelns – rational oder normativ oder was auch immer – jeweils „gilt“ und wie
sich die vielen Begrifflichkeiten der Theorie des Handelns darin einordnen
lassen. Es ist nichts weniger als der Versuch einer reduzierenden Tiefenerklärung und der Beantwortung der Frage: Wann gilt welche „Theorie des Handelns“?
Die Theorie des kreativen Handelns beansprucht, diese „überwölbende“
Ober-Theorie des Handelns zu sein. Leider vergißt Hans Joas, daß es dazu einer richtigen „Theorie“ bedarf, die alle für eine Erklärung nötigen Eigenschaften enthält, unter anderem ein allgemeines Gesetz der Selektion. Seine „Theorie des kreativen Handelns“ gibt eine Fülle von Einzelheiten der somatischen,
emotionalen und psycho-sozialen Einbettung menschlicher Akteure an, die
ohne Zweifel Beachtung verdienen. Eine erklärende Theorie ist die bloße
Aufzählung von „Randbedingungen“ aber – wie wir wissen – leider noch
nicht. Und selbst die Kreativität ist ja nicht bedingungsfrei, wie wir aus der
Besprechung der Typen des Handelns und den Konzepten von Modell und
Modus des Handelns wissen: Ob jemand eng an den Regeln der Zweckrationalität oder den Vorgaben dumpfer Gewohnheiten hängt, oder davon „kreativ“ abweicht, ist eine Frage der Umstände und einer Regel darüber, wann
menschliche Akteure die Fesseln einer gegebenen Situationslogik verlassen
und selbst innovativ und findig nach neuen Wegen zu suchen beginnen.
238
Situationslogik und Handeln
Die Lösung des Problems: Die rationale Selektion des Typs des Handelns
Wenn ein Typ des Handelns – rational, normativ, kreativ, whatever – als Modell und Modus der Selektion verstanden wird, dann liegt ein einfacher Gedanke nahe: Ein Akteur „wählt“ jenes Modell und jenen Modus, der für eine
bestimmte Situation am wahrscheinlichsten und in seinen Konsequenzen im
Vergleich zu anderen Modellen und Modi des Handelns am günstigsten erscheint. Also: Affektuell oder kreativ etwa dann, wenn es jeweils „angesagt“,
möglich und möglichst günstig ist und zweckrational eben auch nur dann,
wenn das angesagt und auch möglich und vergleichsweise günstig ist.
Kurz: Modell und Modus der Selektion des Handelns werden – als innerliches Tun – ihrerseits nach den Regeln der subjektiven Vernunft selektiert.
Das kommunikative Handeln und die Universalität der menschlichen Vernunft
Ist also die (Zweck-)Rationalität letztlich dann doch das Prinzip, das alle Selektionen der menschlichen Akteure steuert, einschließlich der Selektion, ob
die Regel der Selektion des Handelns der Zweckrationalität folgt oder nicht?
Nicht viele Soziologen würden dieser einfachen Idee zustimmen können. Zu
tief haben sie verinnerlicht, daß das eine zu einseitige und vor allem in sich
widersprüchliche Sicht sei. Hilfreich ist da – gewissermaßen als emotionale
Brücke für ein bloß rational offenbar nur schwer zu vermittelndes Argument –
ein Soziologe, der nun wirklich nicht im Verdacht steht, das Geschäft der Ideologen der Ellbogengesellschaft zu betreiben: Jürgen Habermas und „seine“
Typologie des Handelns.
Jürgen Habermas unterscheidet vier „Grundbegriffe“ des Handelns (Habermas 1981a, S.
126ff., S. 384ff.): Das teleologische, das normenregulierte, das dramaturgische und das
kommunikative Handeln. Das teleologische Handeln entspricht dem Typus der Zweckrationalität: Ein „einsamer“ Akteur wägt Mittel, Nebenfolgen und Zwecke sorgfältig zu seinem Vorteil ab (vgl. dazu noch ausführlich Kapitel 7 und 8). Sind mehr als ein Akteur beteiligt,
spricht Habermas auch vom strategischen Handeln, bei dem die Akteure jeweils auch nur einsam und zweckrational handeln, aber dabei die Kalküle der anderen Akteure in ihr eigenes
einbeziehen. Es ist ein Spezialfall des teleologischen Handelns (vgl. dazu ausführlich noch
Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). In ihrem Handeln beziehen
sich die Akteure dann aber nur auf eine Welt: auf die „Richtigkeit“ ihrer Vorstellungen über
die Wahrheit und Wirksamkeit ihrer Erwartungen in der Welt, in der sie sich befinden. Auch
beim normenregulierten Handeln bleibt der Akteur „prinzipiell einsam“. Er bezieht sich jedoch auf gemeinsam geteilte Werte. Der Unterschied zum teleologischen bzw. zum strategischen Handeln liegt darin, daß die Ansprüche aus den Werten und Normen als im Prinzip
„berechtigt“ anerkannt werden. Nun beziehen sich die Akteure auf zwei Welten: Die „objektive“ Welt der Wahrheit und der Wirksamkeit wie beim teleologischen Handeln, und die soziale Welt der Geltung von Normen. Beim dramaturgischen Handeln bringt der Akteur in
Handeln
239
derartige, im Prinzip auch normativ geregelte Situationen seine eigenen Interessen ein, insbesondere das an einem positiven Selbstbild und dem Erhalt einer günstigen Identität. Die anderen Akteure sind dabei nicht bloßer Hintergrund fremder Kalküle oder normativer Erwartungen, sondern ein Publikum, das sich durch Darstellungen und Stilisierungen beeindrucken
läßt (vgl. dazu auch noch Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Auch hier
bezieht sich der Akteur auf zwei Welten: Die subjektive Binnenwelt seiner Identitäts- und
Selbstdarstellungsbedürfnisse und die soziale Außenwelt der Öffentlichkeit. Das kommunikative Handeln schließlich bezieht sich auf die Beziehung zwischen „ ... mindestens zwei
sprach- und handlungsfähigen Subjekten“ (Habermas 1981a, S. 128). Hier geht es um das
„Aushandeln konsensfähiger Situationsdefinitionen“ (ebd.), um die Koordination des Handelns durch Verständigung, nicht zuletzt über die Gemeinsamkeit gewisser Interessen. Nun
findet die Verschmelzung aller drei Welten statt, in denen der Akteur sich bewegt: die objektive Welt der „Richtigkeit“ seiner Erwartungen, die soziale Welt der Normen und der Öffentlichkeit und die subjektive Welt seiner Identität und inneren Bedürfnisse. Was das kommunikative vom teleologischen, vom normenorientierten und vom dramaturgischen Handeln unterscheidet, macht Jürgen Habermas am jeweils unterschiedlichen Gebrauch der Sprache
deutlich (ebd., S. 141ff.): Für das teleologische bzw. das strategische Handeln ist die Sprache
bloß ein instrumentelles Mittel der Zielerreichung, für das normenorientierte Handeln nur eine – eher: technische – Voraussetzung, an die man sich füglicherweise hält und für das dramaturgische Handeln ein bloßes Medium der Selbstinszenierung. Beim kommunikativen
Handeln hat die Sprache dagegen eine weitergehende, alle anderen Funktionen übergreifende
Bedeutung: Sie umfaßt dann „alle Sprachfunktionen gleichermaßen“ (ebd., S. 143).
Das kommunikative Handeln ist also die anspruchsvollste und weitreichendste
Form des Handelns: Es wird vorausgesetzt, daß der Andere eine Äußerung
des Akteurs bestreiten kann, und daß der Akteur dann dazu mit guten Gründen Stellung nehmen müßte. Beiderseitig anerkannte Geltungsansprüche von
Äußerungen können dann als intersubjektiv verbindlich angesehen werden.
Der Hintergrund ist ein gemeinsames Motiv: Das vorbehaltlose und aufrichtige Ziel der Verständigung, das weder durch strategische Interessen, noch
durch normative Vorgaben, noch durch Selbstdarstellungen dominiert wird,
sondern alle drei Gesichtspunkte im Interesse an der Verständigung integriert.
Das aber setzt wiederum voraus, daß sich die Akteure als im Prinzip zu Vernunft fähige Wesen ansehen und anerkennen, wenn sie in den Prozeß der
kommunikativen Verständigung eintreten:
„Mit diesem Handlungsmodell wird unterstellt, daß die Interaktionsteilnehmer das Rationalitätspotential, das nach unserer bisherigen Analyse in den drei Weltbezügen des Aktors steckt,
ausdrücklich für das kooperativ verfolgte Ziel der Verständigung mobilisieren.“ (Ebd., S.
149; Hervorhebung nicht im Original)
Alle anderen Handlungstypen vermögen nur, jeweils einen der Weltbezüge zu
thematisieren. Gleichwohl liegt allen Handlungstypen letztlich doch die teleologische Struktur zugrunde:
„In allen Fällen wird die teleologische Handlungsstruktur insofern vorausgesetzt, als den Aktoren die Fähigkeit zu Zwecksetzung und zielgerichtetem Handeln, auch das Interesse an der
240
Situationslogik und Handeln
Ausführung ihrer Handlungspläne zugeschrieben wird.“ (Ebd., S. 151; Hervorhebungen nicht
im Original)
Sicher dominiert das teleologische, das „rationale“ Handeln nicht alle Typen
des Handelns. Aber es liegt ihnen, so Habermas, stets zugrunde. Das hatte
Jürgen Habermas auch schon gemeint, als er davon sprach, daß die prälogischen mythischen Weltbilder weit davon entfernt seien, „rationale Handlungsorientierungen zu ermöglichen“ (vgl. Abschnitt 6.6). Erst im kommunikativen Handeln könne sich, so müssen wir Habermas verstehen, die im homo
sapiens angelegte Rationalität voll entfalten. An der Vernunft der Menschen,
so wollen wir den Gedanken zuammenfassen, führt letztlich also nichts vorbei: Weder Werte, noch Affekte oder Traditionen, auch nicht die Disposition
zur Kreativität oder das Bedürfnis nach Selbstdarstellung, und schon gar
nicht: das Motiv zur Verständigung, können die Fähigkeit des Menschen zu
Vernunft und zu eigeninteressiertem Handeln ausschalten. Konsensus, Verständigung und kommunikatives Handeln liegen manchmal, leider nicht immer, im ureigenen Interesse der Menschen. Und sie wären schlecht beraten,
dann bloß strategisch oder bloß normenorientiert oder bloß dramaturgisch zu
handeln.
Die Optimierung der Orientierung
Alles spricht also in der Tat dafür, daß es verschiedene Typen des Handelns
gibt, und daß die Orientierung der Vorgang ist, der die Selektion dieser Typen, der Modelle und der Modi der Selektion also, steuert. Die Frage bleibt
nur: Nach welcher Selektionsregel geschieht diese Orientierung als innerliches Tun? Nach allem, was sich abzeichnet, ist es diese: die Regel der Optimierung von Modell und Modus des Handelns, die Optimierung der Orientierung also. Damit wäre die Optimierung schließlich doch das allgemeinste Gesetz des Handelns. Sie ist, gerade auch in ihrer Anwendung auf die Selektionen, die die subjektive Definition der Situation steuern, ein Teil der Stellungnahme der menschlichen Organismen zu ihrer Umwelt und als solche ein
zentrales und unaufgebbares Ergebnis der Evolution des homo sapiens und
der menschlichen Gesellschaft allgemein. Eine andere Regel wäre kaum vorstellbar.
Handeln
6.9
241
Die „Logik der Selektion“
Wir können nun das Kapitel über den „Begriff“ des Handelns abschließen. Es
fehlt nur noch die Klärung einer Frage, bevor wir zur Auswahl geeigneter
Theorien des Handelns kommen können: Was wird von einer Handlungstheorie als der Logik der Selektion im Zusammenhang des Modells der soziologischen Erklärung verlangt? Es ist schon einiges. Aber es ist auch nichts, was
unmöglich wäre. Wir wollen die verschiedenen inhaltlichen, methodischen
und formalen Anforderungen an eine für die Zwecke der soziologischen Erklärung brauchbare Theorie des Handelns in sechs Punkten zusammenfassen:
Präzision, Kausalität, Allgemeinheit, Einfachheit, Modellierbarkeit und Bewährung.
1. Präzision
Jede, für die Zwecke einer soziologischen Erklärung überhaupt nur brauchbare Handlungstheorie muß eine präzise funktionale Verbindung zwischen bestimmten Antezedensvariablen, in denen Merkmale der Situation beschrieben
werden können, und der Folgevariablen eines bestimmten Handelns angeben.
Es reicht nicht aus, nur bestimmte Merkmale und Besonderheiten oder Umstände des Handelns – etwa: Normen, Symbole, das Unbewußte, das Motiv
zur Verständigung oder die Kreativität – zu benennen und zu sagen, daß sie
irgendeinen „Einfluß“ hätten. Man muß auch genau sagen, wie sich dieser
Einfluß auswirkt und unter welchen Bedingungen eine Alternative gewählt
würde – und wann nicht. Kurz: Über das Handeln kann man nicht nur als
„Begriff“ und in vagen Abhängigkeiten sprechen, sondern man muß es in
Lehrsätze der funktionalen und präzise angebbaren Beziehung zwischen Variablen fassen.
2. Kausalität
Es muß sich bei der verwendeten funktionalen Beziehung außerdem um eine
Variante eines Kausalgesetzes handeln. Nur Kausalgesetze kommen ja als
Gesetze bei Erklärungen in Frage. Damit wird verlangt, daß die
Randbedingungen des Gesetzes – etwa die Opportunitäten, die institutionellen
Regeln, der Bezugsrahmen und die „Definition der Situation“ – der Folge,
dem sichtbaren Handeln also, zeitlich vorangehen, daß die Folge von den
Randbedingungen abhängig ist, und daß es für diese Abhängigkeit keine
weitere, unbeobachtete Ursache gibt. Wir haben oben in Abschnitt 6.4
242
Situationslogik und Handeln
bachtete Ursache gibt. Wir haben oben in Abschnitt 6.4 gesehen, daß die Kausalität auch für den Fall des intentionalen und mit Sinn belegten Handelns zutrifft: Jetzt vorliegende Intentionen zur Erreichung eines Zielzustandes können die Ursache für ein darauf folgendes Handeln sein – ganz unabhängig davon, ob dann das Handeln den gewünschten Erfolg hat oder nicht. Die Kategorie des „teleologischen“ Sinns, die für das menschliche Handeln so wichtig
ist, steht mit der Möglichkeit einer kausalen Theorie des Handelns in keinerlei
Widerspruch.
3. Allgemeinheit
Diese Bedingung hat mit dem methodischen Ziel zu tun, der angewandten
Handlungstheorie einen möglichst hohen Anwendungsgrad und Informationsgehalt zu verleihen. Sie soll – im Prinzip – für alle Exemplare des homo sapiens, für alle historischen Epochen der Menschheitsgeschichte und für alle
Varianten von Situationen zutreffen. Das muß in keiner Weise bedeuten, daß
sich die Menschen alle gleich verhalten oder handeln müßten. Aber es wird
angenommen, daß alle Variationen des Verhaltens oder Handelns auf Änderungen in den Randbedingungen der Handlungstheorie und eben nicht auf Unterschiede in der Logik der Selektion des Handelns zurückgehen. Damit werden die verschiedenen Typen bzw. Modelle und Modi des Handelns nicht als
eigene und stets neue „Gesetze“ des Handelns, sondern nur als Varianten des
allgemeinen Grundmusters angesehen, wobei die Selektion dieser Typen,
Modelle und Modi des Handelns selbst eine Art von innerlichem Tun nach
diesem Muster ist.
4. Einfachheit
Die Handlungstheorie ist im Kontext des Modells der soziologischen Erklärung eigentlich nur ein vergleichsweise unwesentliches – wenngleich unentbehrliches – Bindeglied. Sie hat eher nur eine instrumentelle Funktion: die logische und kausale Verbindung der Situation mit dem Handeln der Menschen
und der erst dann möglichen Ableitung der aggregierten Effekte. Deshalb
reicht es aus, wenn sie nur die typischen Aspekte einer Situation beschreiben
und das Handeln der Menschen zuverlässig erklären und vorsagen hilft. Über
die „wahren“ Prozesse dabei – etwa im Unbewußten oder im neuronalen System oder bei den Emotionen – müssen die Soziologen nicht viel wissen. Es
reicht aus, wenn die Handlungstheorie gut funktioniert. Deshalb werden auch
Handeln
243
keine besonders „realistischen“ Handlungstheorien benötigt, sondern nur solche, die ihre Aufgabe gut erfüllen – und dabei möglichst einfach sind. Dies ist
nichts weiter als die Anwendung des Prinzips der abnehmenden Abstraktion.
Soziologen sind Soziologen – und keine Psychoanalytiker, Neuronenspezialisten oder Emotionspsychologen. Erst wenn die ganz einfachen Theorien ihren
Dienst versagen, muß man sich nach realistischeren, dann aber meist auch
sehr viel komplizierteren Varianten umsehen. Wir kommen ohne diese aus.
5. Modellierbarkeit
Damit in engem Zusammenhang steht eine weitere Anforderung: Die verwendete Handlungstheorie muß es erlauben, die unterschiedlichsten und komplexesten Situationen mit möglichst wenigen Grundvariablen zu modellieren.
Dies ist bei der in diesem Buche präferierten Theorie des Handelns – bei der
Wert-Erwartungstheorie – in besonderem Maße der Fall. Sie enthält nur zwei
Arten von Variablen als „Ursachen“: Bewertungen und Erwartungen. Jede alternative Handlungstheorie – etwa die Rollentheorie, die Theorie der symbolischen Interaktion, die ethnomethodologische Theorie, die Theorie des kreativen oder des kommunikativen Handelns – müßte angeben können, welche
Grundvariablen sie denn nun genau enthält und auf welche Weise diese mit
der „Folge“ – einem bestimmten Handeln – kausal zusammenhängen. Modellierbarkeit und Einfachheit sind – gerade wegen des bloß instrumentellen Charakters der Handlungstheorie bei soziologischen Erklärungen – ganz besonders wichtig.
6. Bewährung
Schließlich gibt es noch die – selbstverständliche – Anforderung, daß die verwandte Handlungstheorie empirisch gut bewährt sein soll. Dies kann auf dreierlei Weise belegt werden: Erstens durch spezielle Experimente. Diese sind
aber für das menschliche Handeln vor allem in Realsituationen äußerst
spärlich. Zweitens durch die Reinterpretation bestimmter beobachteter Abläufe in der Sprache der jeweiligen Handlungstheorie. Und drittens – nicht zuletzt – darüber, mit wieviel oder wiewenig Aufwand zunächst „falsifizierende“ Anomalien im Rahmen des ursprünglichen Modells schließlich doch wieder erklärt werden können, ohne seinen Kern zu ändern (vgl. auch dazu noch
Kapitel 8, insbesondere Abschnitt 8.3). Auch dies – so viel sei hier vorweggenommen – ist nicht bei allen Theorien des Handelns gleichermaßen der Fall.
244
Situationslogik und Handeln
***
Welche fabelhafte Theorie des Handelns, die allen diesen Bedingungen wenigstens einigermaßen entspricht, soll es denn dann aber sein? Das ist natürlich eine scheinheilige rhetorische Frage. Die Antwort darauf haben wir schon
mehrfach nicht nur angedeutet: die Wert-Erwartungstheorie. Wir kommen sofort im nächsten Kapitel darauf zu sprechen.
Exkurs über die unbegründete Furcht vor Vernunft und Eigennutz
Gary S. Becker hat 1992 den Nobelpreis für Ökonomie für seine Versuche erhalten, auch Ehen, Kinderwünsche, Freundschaften, Ehescheidungen, Verbrechen und Diskriminierungen letztlich als Folge des Nutzens und der Kosten
des jeweiligen Handelns zu erklären. Die skeptischen Kommentare nicht nur
von soziologisch ausgebildeten Autoren in den Tageszeitungen aller Couleurs
haben gezeigt, daß die Vorbehalte gegen die (Zweck-)Rationalität als universale Theorie des Handelns weit über die Soziologie hinaus verbreitet sind. Die
Skepsis richtete sich zunächst gegen die Verwendbarkeit der Theorie des rationalen Handelns als deskriptive Aussage (vgl. dazu noch das Kapitel 8 ausführlich). Die Auffassung von der universalen Rationalität des Handelns als
der einen Logik der Selektion wird in den Gesellschaftswissenschaften gelegentlich aber auch mit einem normativen Unterton abgelehnt: Wenn nur noch
die kalkulierende Zweckrationalität die Welt beherrschte, dann ginge es langfristig den Menschen schlecht, und der Gesellschaft bzw. der Gattung drohten
Krisen, vielleicht sogar der Untergang. Emile Durkheims Sorge vor der Anomie und – daran anschließend – Talcott Parsons These vom utilitarian dilemma hatten immer auch diese moralisierenden Untertöne. Die sog. Kritische
Theorie der Frankfurter Schule um Adorno, Horkheimer und Marcuse haben
diese Warnung vor der immer weiteren Entfaltung der entfremdenden Zweckrationalität in der Moderne dann auch mit einem dezidiert normativen Programm verbunden – und dabei sogar Karl Marx recht heftig kritisiert, der
noch deutlich auf die volle Entfaltung der Kategorie der Arbeit, der rationalen
Wissenschaft und der technischen Produktivkräfte als materielle Voraussetzung für die endgültige Befreiung des Menschen von den selbsterzeugten
Zwängen gesetzt hatte. Den Gedanken der Kritischen Theorie auf eine normativ vorgegebene Abkehr von der bloß instrumentellen Rationalität – sogar als
Bedingung des Überlebens der Gattung des Menschen – hat vor allem Jürgen
Habermas fortgeführt. Von ihm stammt der oben bereits kurz angesprochene
Handeln
245
Versuch, dem sog. kommunikativen Handeln gegenüber einer bloß instrumentell gedachten Zweckrationalität eine Sonderstellung einzuräumen. Zwar ist
Jürgen Habermas weit davon entfernt, die „teleologischen“ Aspekte des
menschlichen Handelns zu ignorieren oder gar als „einseitig“ abzuwerten. Im
Gegenteil: Die Vernunft der Menschen wird gerade beim kommunikativen
Handeln vorausgesetzt und kommt sogar erst dort zu ihrem vollen Recht. Aber eben nicht nur die Vernunft, sondern insbesondere auch die Moralität der
Menschen. Vor den Verderbnissen einer einseitigen instrumentellteleologischen Rationalisierung schütze nur die Orientierung am Typ der
kommunikativen Verständigung. Wirklich, Du!
Die Kritische Theorie der Frankfurter Schule und die Theorie des kommunikativen Handelns sind inzwischen etwas bleich gewordene Hinterlassenschaften einer anderen Zeit. Wenn man die Texte heute liest, überkommt einen schon manches Gefühl der Rührung – vor so viel Naivität und zerstobener
Hoffnung, etwa auf die vertane Studentenbewegung, auf die Schimäre der Basisdemokratie auch bei den Grünen und auf die vom Wohlfahrtsstaat einst so
trefflich unterstützte kommunikative Dauerverständigung im verkehrsberuhigten Stadtteil. Aber es gibt sie immer noch – die Verfechter einer sich auch als
moralische Instanz verstehenden Soziologie und die vielen anderen guten
Menschen, zu Hause nicht nur in den Feuilletons der etabliert-spontanen, gutlinksmitterechtsbildungsbürgerlichen bis stockkonservativen Organe für Prof.
Dr. Lieschen Müller-Wohlbestallt aus Berlin, Hamburg oder Frankfurt. Der
Nobelpreis an Gary S. Becker hat sie zu teilweise ganz aufgeregten und in der
Sache auch grauslich falschen Kommentaren verführt.29 Und angelegentlich
wird mit einem von allen Geschäftigkeiten des Kapitalismus freigesetzten
Millionenerben zusammen ein larmoyanter Kongreß über die Barbarei der
Moderne organisiert – und dabei offenbar vergessen, wie überaus barbarisch
es zuvor zugegangen ist und weiter zugeht.
Die erklärende Soziologie sieht die Sache ganz anders und, wenn man so
will, ohne jede Moral. Sie ist ohne falsche Hoffnung und ohne Illusion über
die anthropologisch verankerte Natur des homo sapiens. Sie fürchtet sich
nicht vor der Vernunft der Menschen. Sie ignoriert nicht, daß menschliche
Akteure keine Engel sind und auf die Werte, die Normen, das Motiv zur Verständigung und ihr schönes moralisches Bewußtsein alsbald pfeifen, wenn es
sie zuviel an Zeit, Nerven, und andere Attraktionen kostet. Und sie weiß auch
nicht schon vorher, ob mit Rationalität und Eigennutz notwendigerweise nur
Ausbeutung, Unordnung, Amoral und Chaos in die Welt kommen müssen.
29
So beispielsweise: Max Miller, Ellbogenmentalität und ihre theoretische Apotheose. Einige kritische Anmerkungen zur Rational Choice Theorie, in: Soziale Welt, 45, 1994, S. 315.
246
Situationslogik und Handeln
Die kollektiven Folgen sind, gottlob, von den Motiven des Handelns unabhängig. Und kaum etwas hat mehr an Barbarei hervorgebracht als die Orientierung an Gemeinschaft und Moral und die Abwertung der Individualität, der
Eigeninteressen und der Rationalität der Menschen.
Theorien predigen nicht. Sie tragen auch nicht die Schuld, wenn die Menschen nicht so sind, wie in den diversen philosophischen Träumereien
behauptet oder erhofft wird. Und die Theorie des rationalen Handelns ist nicht
verantwortlich dafür, daß es Egoisten und das Problem der sozialen Ordnung
gibt. Der erklärenden Soziologie geht es, einfach gesagt, nur um eine deskriptive und eben nicht um eine normative Frage. Die letztere wäre ohnehin wissenschaftlich nicht zu beantworten. Die Frage lautet für die erklärende Soziologie allein: Wie sieht die allgemeine Theorie aus, die das Handeln der Menschen erklärt – einschließlich der Selektion bestimmter Typen, Modelle oder
Modi dieses Handelns? Denn nur, wenn man eine brauchbare Theorie des
Handelns hat, können auch die soziologischen Erklärungen etwas taugen, die
man mit ihr versucht. Und nur wer über gute soziologische Erklärungen verfügt, kennt die Mittel, mit denen man sich gegen den Verfall der Sitten und
gegen die Barbarei, etwa auch die der egoistischen Ellbogengesellschaft, wehren kann.
Kapitel 7
Die Wert-Erwartungstheorie
Theorien des Handelns finden sich in den Wissenschaften vom Menschen überreichlich. Und die Wahl fällt, wenn man keine Kriterien hat, nicht leicht. In
der Soziologie alleine können mindestens sechs, zum Teil sehr unterschiedliche Varianten an Handlungstheorien unterschieden werden. Zum Beispiel: die
normative Handlungstheorie nach Talcott Parsons, die Theorie der symbolischen Interaktion nach George H. Mead, die Theorie des Alltagshandelns
nach Alfred Schütz, die ethnomethodologische Theorie nach Harold Garfinkel, die Theorie des dramaturgischen Handelns nach Erving Goffman und die
soziologische Rollentheorie, die ihrerseits wiederum in verschiedenen Spielarten zu haben ist (vgl. dazu auch Band 5, „Institutionen“, und Band 6, „Sinn
und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Die Ökonomie verläßt sich überwiegend auf eine spezielle Variante der Theorie des (zweck-)ratio-nalen
Handelns: die Nutzentheorie in Gestalt der sog. neoklassischen Preistheorie.
In der Psychologie finden wir u.a. lern- und verhaltenstheoretische Ansätze,
Einstellungstheorien oder kognitive Erklärungen des Handelns (vgl. dazu
schon Abschnitt 6.1, sowie Kapitel 9). Welche Handlungstheorien die Historiker verwenden, kann man nur aus ihren Werken erschließen. Oft ist es eine
Variante des praktischen Syllogismus bzw. der subjektiv rationalen Erklärung, so wie wir sie in Abschnitt 6.4 am Beispiel der Analyse von Hitlers
Kriegserklärung an die USA durch Sebastian Haffner gesehen haben. Auch
Politologen, Juristen, Theologen, Kriminologen und sogar Mediziner und Literaturwissenschaftler befassen sich mit der Erklärung des Handelns von
Menschen. Aber mit welcher Theorie des Handelns tun sie das? Sie wissen es
wohl – wie die Alltagsmenschen – selbst nicht immer so genau.
Welche Theorie des Handelns soll es nun aber für die Zwecke der soziologischen Erklärung sein, wenn wir nicht für jedes Problem und für jede Teildisziplin eine eigene Variante bereithalten wollen? Es ist noch einmal die rhetorische Frage vom Schluß des letzten Kapitels. Und jetzt auch noch einmal
die Antwort: Die Wert-Erwartungstheorie (auch: WE-Theorie) ist diejenige
Erklärung des Handelns, die nach den in Abschnitt 6.9 genannten Kriterien
248
Situationslogik und Handeln
noch am ehesten für die Logik der Selektion in Frage kommt. Das ist kein einfaches Durchschlagen eines gordischen Knotens: Es gibt gute Gründe für die
Annahme, daß die WE-Theorie alle oben genannten Handlungstheorien als
Spezialfälle enthält und daher tatsächlich the One and the Only ist und eben
nicht einseitig immer nur einen Aspekt des Handelns berücksichtigt. Ihre
Grundstruktur und einige spezielle Einzelheiten, sowie drei konkrete Beispiele für ihre Anwendung sind der Gegenstand des nun folgenden Kapitels.
Das Grundprinzip
Die WE-Theorie ist eine im Grunde sehr einfache Sache. Das ist ja gerade einer ihrer Vorteile. Sie ist auch gut zu verstehen, weil sie der Lösung von Alltagsproblemen und dem „Verstehen“ der Menschen sehr nahe ist. Ihre grundlegende Regel lautet: Versuche Dich vorzugsweise an solchen Handlungen,
deren Folgen nicht nur wahrscheinlich, sondern Dir gleichzeitig auch etwas
wert sind! Und meide ein Handeln, das schädlich bzw. zu aufwendig für Dich
ist und/oder für Dein Wohlbefinden keine Wirkung hat!
Die Annahmen der WE-Theorie lassen sich in sechs Punkten zusammenfassen. Die WETheorie geht erstens davon aus, daß jedes Handeln eine Selektion, letztlich also: eine Entscheidung und eine Wahl zwischen Alternativen ist. „Wahl“ und „Entscheidung“ meint, anders als im üblichen Sprachgebrauch, dabei keineswegs, daß es sich um ein bewußtes, abwägendes Tun handelt, sondern nur daß aus mehreren möglichen Alternativen eine schließlich
zum Zuge kommt – wie und warum auch immer. Zweitens wird angenommen, daß ein jedes
derart selektiertes Handeln gewisse Folgen hat. Die Folgen können drittens vom Akteur als
unterschiedlich zuträglich empfunden werden – positiv oder negativ in verschiedenen Graden, oder aber auch neutral. Entsprechend sind die Folgen für den Akteur mit unterschiedlichen Bewertungen versehen. Die Folgen treten viertens mit dem Vollzug des Handelns jeweils mit einer unterschiedlichen Wahrscheinlichkeit ein, die der Akteur als Erwartungen gespeichert hat. Die Alternativen werden fünftens einer Evaluation unterzogen: Sie werden
nach einer gewissen Regel gewichtet. Diese Gewichte der Alternativen werden als WertErwartungen bezeichnet. Wir nennen sie auch WE-Gewichte oder EV- bzw. EU-Gewichte,
von „expected value“ bzw. „expected utility“ als andere Ausdrücke für die Wert-Erwartung
(vgl. dazu auch noch Abschnitt 8.4). Von diesen Gewichten hat die WE-Theorie ihren Namen. Schließlich wird sechstens eine Selektion vorgenommen und jene Alternative aus allen
betrachteten ausgeführt, deren WE- bzw. EU-Gewicht im Vergleich maximal ist.
Die WE-Theorie knüpft mit ihren beiden Grundvariablen – Bewertungen und
Erwartungen – erkennbar an das Konzept des subjektiven Sinns an, auf das
Max Weber ja so großen Wert legte: Die Menschen handeln vor dem Hintergrund gewisser Absichten und den von ihnen eingeschätzten Bedingungen,
wie diese Absichten verwirklicht werden könnten. Die WE-Theorie ist demnach eine Variante der Theorien des „rationalen“ Handelns: Der handelnde
Akteur ist – im faktischen Tun, nicht unbedingt auch in einer reflektierten
Die Wert-Erwartungstheorie
249
Überlegung! – an den Folgen seines Handelns vor dem Hintergrund der inneren und äußeren Bedingungen in der Situation orientiert. Wir haben in Kapitel
6 schon gesehen, daß dies sogar die „rationale“ Selektion von nichtrationalem Handeln einschließen kann.
Die WE-Theorie erlaubt ferner eine kausale Erklärung des Handelns. Sie
ist ganz ähnlich wie der praktische Syllogismus der Logik des Handelns aus
Abschnitt 6.4 aufgebaut: Die Akteure handeln gesetzmäßig nach ihren subjektiven Zielen und subjektiven Kausalhypothesen darüber, wie man diese Ziele
erreichen kann. Das jeweilige Handeln ist das Explanandum, und die Bewertungen bzw. die Erwartungen sind die Randbedingungen bei dieser Erklärung.
Das Gesetz der WE-Theorie besteht aus einer Regel für die Bildung der EUGewichte und aus einer Regel für die Wahl des Handelns. Gegeben die Bewertungen der Folgen und gegeben die Erwartungen, daß ein bestimmtes
Handeln zu gewissen Folgen führe, leitet sich das zu erklärende Handeln über
diese beiden Regeln kausal-logisch und deterministisch ab – obwohl der „Ort“
der Selektion des Handelns immer ein menschlicher Akteur ist, der „im Prinzip“ auch anders könnte und „frei“ in seinen Entscheidungen ist. Er tut es nur
normalerweise nicht, weil er ansonsten gegen seine bessere Einsicht und gegen seine eigenen Interessen verstoßen würde.
Die WE-Theorie ist nur ein „Modell“ des Entscheidungsprozesses, keine
empirische Beschreibung oder Erklärung auch der Vorgänge im Gehirn oder
in den Muskeln des Akteurs. Das muß sie auch nicht sein – solange sie als
Logik der Selektion innerhalb einer soziologischen Erklärung brauchbar arbeitet. Für ihre Anwendbarkeit als Logik der Selektion ist es daher ganz
gleichgültig, ob die Menschen jeweils auch „wirklich“ über die Folgen ihres
Tuns sinnhaft nachdenken oder nicht. Es genügt, daß sie so handeln, „als ob“
die WE-Theorie auch „wirklich“ zutreffen würde. Und das ist genug für die
Zwecke der Soziologen, die ja keine Hirnphysiologie, keine Emotionsbiologie
und keine Tiefenpsychologie betreiben wollen, sollen oder müssen und an den
Einzelmenschen ohnehin nicht interessiert sind.
Einige theoriegeschichtliche Hintergründe
Die WE-Theorie entstammt einer langen interdisziplinären Tradition der Beschäftigung mit dem Handeln der Menschen als „Entscheidung“.1 Erste An1
Vgl. zur WE-Theorie u.a.: Ward Edwards, The Theory of Decision Making, in: Psychological Bulletin, 4, 1954, S. 380-417; Robert P. Abelson und Ariel Levi, Decision Making
and Decision Theory, in: Gardner Lindzey und Elliot Aronson (Hrsg.), Handbook of Social Psychology, Band 1: Theory and Method, 3. Aufl., New York 1985, S. 243ff.; Heinz
250
Situationslogik und Handeln
sätze finden sich bei dem englischen Philosophen Jeremy Bentham (17481832), der das Nutzenkonzept in das ökonomische Denken systematisch eingeführt hatte. Ein wichtiger Schritt wurde von dem Statistiker Daniel Bernoulli (1700-1782) getan. Von ihm stammt auch die grundlegende Logik aller Varianten der Entscheidungstheorie: Es wird die Alternative gewählt, deren Erwartungswert am höchsten ist.
Das Problem einer „rationalen“ Entscheidung hatten – neben den Geschäftsleuten – nämlich
vor allem die Spieler in den Spielsalons der gelangweilten Aristokraten der damaligen Zeit:
welches jeu ist das Beste? Nun, offenkundig das, bei dem das Produkt von Wert und Wahrscheinlichkeit des Gewinns im Vergleich am höchsten ist. Lotterien mit hohem, aber fast ausgeschlossenem Gewinn sind ebenso schlecht wie Lotterien mit guten Chancen, aber sehr geringen Auszahlungen. Der erwartete Wert EVi einer Lotterie i ist ja die Summe des Gewinns
Vj aus allen n denkbaren Gewinn- und Verlustsituationen, gewichtet mit der Wahrscheinlichkeit pij, daß das jeweils günstige Ereignis eintritt oder nicht: EVi=Σpij*Vj. Der statistisch geschulte Leser wird bemerkt haben, daß dies nichts anderes als der statistische Mittelwert der
zu erwartenden Gewinne der Lotterie ist.
Den eigentlichen Anstoß zur inhaltlichen Interpretation der Theorie der Werterwartung gaben John von Neumann und Oskar Morgenstern in einer
inzwischen klassischen Arbeit.2 Eine wichtige Weiterentwicklung hin zur
Anwendung auf das tatsächliche Handeln auch in anderen Bereichen, war die
Umdeutung der Wahrscheinlichkeiten und der Bewertungen von objektiven
Größen auf subjektive: subjektive Wahrscheinlichkeiten und subjektive
Bewertungen, die dann als subjektiver Nutzen verstanden werden (vgl. dazu
noch Abschnitt 8.4). Das Konzept der „subjektiven“ Nutzenerwartung geht
auf einen gewissen Thornton C. Fry zurück, auf den sich Leonard J. Savage
berufen hat, der von der „personalen“ (Nutzen)-Erwartung spricht.3 Ein
nachhaltiger Beitrag zu ihrer heutigen Form als erklärende Theorie des
Handelns wurde ferner von einer interessanten Konvergenz in der
Entwicklung der psychologischen Handlungstheorien geliefert.
2
3
Heckhausen, Motivation und Handeln, 2. Aufl., Berlin u.a. 1989, S. Kapitel 5: Motivation
durch Erwartung und Anreiz, S. 133-188; Werner Langenheder, Theorie menschlicher
Entscheidungshandlungen, Stuttgart 1975, S. 37f.; Franz Eisenführ und Martin Weber,
Rationales Entscheiden, Berlin u.a. 1993, S. 200ff. Kritisch zur WE-Theorie: Shaun
Hargreaves Heap, Rationality, in: Shaun Hargreaves Heap, Martin Hollis, Bruce Lyons,
Robert Sugden und Albert Weale, The Theory of Choice. A Critical Guide, Oxford und
Cambridge, Mass., 1992, S. 4ff.; Paul J. Schoemaker, The Expected Utility Model: Its
Variants, Purposes, Evidence and Limitations, in: The Journal of Economic Literature, 20,
1982, S. 529-563.
John von Neumann und Oskar Morgenstern, Theory of Games and Economic Behavior,
Princeton 1944, S. 15ff.
Leonard J. Savage, The Foundations of Statistics, New York 1954, Kapitel 3: Personal
Probability, S. 27ff.
Die Wert-Erwartungstheorie
251
Zwei Hauptrichtungen bestimmten die Diskussionen in der Psychologie für eine lange Zeit:
die eher behavioristische Trieb-mal-Habit-Theorie von Edward L. Thorndike und Clark L.
Hull; und die eher mentalistische Erwartungs-mal-Wert-Theorie bei Kurt Lewin und Edward
C. Tolman. Später wurde bemerkt, daß beide Theorien im Grunde das Gleiche sagen: Das
Verhalten aller Organismen ist eine Funktion des Produktes aus der Stärke eines Wunsches
(„Trieb“ einerseits, „Wert“ andererseits) und der Intensität der Erwartungen, daß das Verhalten zur Verwirklichung des Wunsches führe („Habit“ einerseits, „Erwartung“ andererseits).
Die WE-Theorie integriert die behavioristisch-erklärenden und die mentalistischverstehenden Ansätze. Es ist – in der Sprache des Abschnitts 6.1 aus dem vorigen Kapitel –
eine Variante der „neobehavioristischen“ S-O-R-Theorie.
John W. Atkinson und – in Deutschland – Heinz Heckhausen haben viel zur
Weiterentwicklung der WE-Theorie und zur Klärung dieser Konvergenzen
beigetragen.4 Die Konvergenzen reichen inzwischen bis weit in die ökonomische Theorie und in die Konzepte der philosophischen Handlungslogik hinein.
7.1
Das Grundmodell der WE-Theorie
Nun aber zu den Grundelementen der WE-Theorie. Im Anschluß an die sechs
oben genannten Annahmen werden zuerst das Explanandum der WE-Theorie
näher beschrieben, dann ihre Randbedingungen und schließlich die Gewichtungs- und die Selektionsregel.
1. Die Alternativen
Das Explanandum der WE-Theorie ist eine bestimmte Handlung Ai. Zu erklären ist, warum sie – und keine andere – von einem Akteur selektiert wurde.
Zur Erklärung der Selektion von Ai muß zunächst der gesamte Satz an Alternativen bestimmt werden, der dem Akteur verfügbar ist, darunter natürlich
auch Ai. Die Alternativen müssen dabei wechselseitig ausschließend sein.
Die WE-Theorie setzt also voraus, daß es immer mindestens zwei Alternativen gibt. Und das
ist ja auch in der „Wirklichkeit“ stets so: Zu einem bestimmten Handeln gibt es immer die
Möglichkeit, etwas anderes zu tun – so undenkbar und schlimm die Folgen davon auch immer sein mögen. Findige Akteure verschaffen sich außerdem zur Not immer noch einen
Ausweg. Und selbst der Galeerensklave könnte den Tod dem weiteren Leiden als Alternative
vorziehen. Zu den Alternativen gehören – wie Max Weber verdeutlicht hat – selbstverständlich auch das Dulden und das Unterlassen. Und es zählen kognitive Akte, wie das Wahrnehmen, kommunikative Handlungen, wie das Sprechen, inneres und äußeres Tun, die Suche
nach Informationen, das Nachahmen anderer Akteure und sogar das Lernen, das Vergessen
4
Vgl. die Zusammenfassung bei John W. Atkinson, Einführung in die Motivationsforschung, Stuttgart 1975, S. 167ff., 337ff.; sowie Heckhausen 1989, S. 157ff.
252
Situationslogik und Handeln
und das Verdrängen dazu. Die Alternativen können beliebig fein oder in diskrete, gar „binär
codierte“ Einheiten unterteilt sein. Es können sowohl Einzelhandlungen wie ganze Bündel
und komplette Sequenzen von Handlungszusammenhängen, „Strategien“, „Projekte“, soziale
Drehbücher, Rollen und „Handlungen“, sogar Modelle der Situationsdefinition und des Handelns und Modi der Informationsverarbeitung damit gemeint sein.
Bei den betrachteten Alternativen können im Prinzip alle denkbaren, auch die
dem Akteur eigentlich unmöglichen, Alternativen genannt werden. Bei der
Benennung des Möglichkeitsraumes der Alternativen sollte aber – wie bei allen Modellierungen – immer möglichst sparsam und vereinfachend vorgegangen werden: möglichst nur wenige und nur möglichst „typische“ Alternativen,
die auch für die Erklärung des jeweiligen Problems relevant sind. Nicht jeder
Grashalm muß in den Modellen der Handlungserklärung berücksichtigt werden. Und es empfiehlt sich im konkreten Fall auch, diejenigen Alternativen
auszulassen, die für alle betrachteten Akteure weit außerhalb ihrer Möglichkeiten liegen: Man würde nur Vektoren, Matrizen und Gleichungen mit lauter
Nullen erzeugen.
Die verschiedenen Alternativen des Handelns werden am einfachsten über
einen Vektor A = (A1, A2, ... , Ai, ... , Am) beschrieben. Der Vektor der Alternativen soll als der Alternativenraum des Akteurs bezeichnet werden. Es ist
der Raum der Möglichkeiten für sein Tun (vgl. dazu auch noch Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
2. Die Folgen
Für jede der m Alternativen aus dem Alternativenraum wird nun das EUGewicht gesucht, das die schließliche Wahl bestimmt. Das EU-Gewicht wird,
wie gesagt, aus zwei Gruppen von Variablen gebildet: aus den Bewertungen
der Folgen des Handelns und den Erwartungen, daß das Handeln die betreffenden Folgen habe. Die Folgen sind teils erwünscht, teils unerwünscht, teils
erwartet, teils unerwartet. Für das aktuell zu wählende Handeln zählen stets
nur die – irgendwie – vom Akteur, auch unbewußt, erwarteten Folgen.
Manche Folgen schließen einander aus. Das ist beispielsweise bei einer Lotterie so: Man kann
bei rot nur gewinnen oder verlieren. Tertium non datur. Ein bestimmtes Handeln kann aber
selbstverständlich auch mehrere Folgen gleichzeitig haben: Ein Akteur schlägt dann, wie man
sagt, mehrere Fliegen mit einer Klappe. Eine interessante Folge ist das Ereignis des Handelns
selbst, die unter Umständen von einem Akteur mit einem „unbedingten Eigenwert“ belegt ist
und so schon „an sich“ ohne jede weitere Folge als nützlich erlebt und erwartet wird.
Die Wert-Erwartungstheorie
253
Die Folgen des Handelns werden allgemein auch als outcomes bezeichnet. Sie
werden über den Vektor O = (O1, O2, ... , Oj, ... , On) dargestellt. Dieser Vektor bildet den Ergebnisraum des Handelns.
3. Die Bewertungen
Die Folgen des Handelns werden von den Akteuren in unterschiedlicher Weise bewertet: positiv, negativ oder neutral. Die einfachste Annahme über die
Bewertungen der Folgen sind die „objektiven“ Auszahlungen oder Verluste,
die mit einem bestimmten Handeln eintreten können: eine Million im Lotto
minus den Einsatz, wenn man Lotto gespielt und gewonnen hat; den Verlust
des Einsatzes, wenn man gespielt und verloren hat; und gar nichts, wenn man
überhaupt nicht mitgespielt hat.
Die outcomes O können so mit Werten versehen werden. Ihre Bewertungen
lassen sich entsprechend als Vektor V(O) (von „value“) beschreiben, bei dem
den outcomes ihr Wert jeweils zugewiesen ist: V(O) = (V(O1), V(O2), ... ,
V(Oj), ... , V(On)); in der Schreibweise etwas vereinfacht: V = (V1, V2, ... , Vj,
... , Vn).
In den Bewertungen V spiegeln sich die objektiven Werte der Auszahlungen, aber noch nicht
die subjektiven Präferenzen und die Nutzenschätzungen der Akteure wider. Meist ist diese
einfache Annahme empirisch falsch. Darauf ist man in der WE-Theorie schon früh gekommen – wie beispielsweise der bereits erwähnte Statistiker Daniel Bernoulli, der festgestellt
hatte, daß Zuwächse zu sehr großen Geldbeträgen als nicht mehr so wertvoll angesehen werden wie die gleichen Zuwächse auf kleinere Geldbeträge (vgl. dazu noch Abschnitt 8.4).
Kurz: Es handelt sich bei den Bewertungen der outcomes also oft um subjektive Bewertungen, die von den objektiven Werten abweichen – etwa nach dem Gesetz des abnehmenden
Grenzertrages bei der subjektiven Bewertung. Die subjektive Bewertung von positiven Auszahlungen wird auch als deren Nutzen U (von „utility“) bezeichnet, die von negativen Auszahlungen als negativer Nutzen oder als Kosten. Der subjektive Nutzen hängt mit den objektiven Werten der outcomes in einer jeweils typischen Weise zusammen. Dieser Zusammenhang wird in einer eigenen Funktion, der sog. Nutzenfunktion abgebildet. Wir wollen hier
einstweilen annehmen, daß objektive Werte und subjektiver Nutzen linear zusammenhängen
(vgl. aber auch dazu noch Abschnitt 8.3). Ergänzt sei hier auch noch eine Selbstverständlichkeit: Es ist ganz egal, worin der Nutzen oder die Bewertung allgemein besteht. Auch das
Wohlergehen anderer Menschen, das schöne Gefühl der Pflichterfüllung und des Aufgehobenseins in einer Moral und der „unbedingte Eigenwert“ eines Handelns „an sich“ können
dazu gehören. Nicht vergessen sollte man auch solche Dinge wie die Schadenfreude, den
Neid und die Eifersucht, bei denen sich die Akteure daran delektieren, daß es den anderen
schlecht ergeht.
Der Vektor der Bewertungen der Folgen soll mit den Beträgen des subjektiven Nutzens U(O) bezeichnet werden und dann so aussehen: U(O) = (U(O1),
254
Situationslogik und Handeln
U(O2), ... , U(Oj), ... , U(On)); bzw. in der vereinfachenden Schreibweise: U =
(U1, U2, ... , Uj, ... , Un). Der Vektor U ist der Bewertungsraum des Akteurs.
4. Die Erwartungen
Bei perfekter Information wüßte jeder Akteur mit Sicherheit, welches alternative Handeln Ai mit welcher Wahrscheinlichkeit zu welchem outcome Oj und
damit zu welchem Wert Vj bzw. Nutzen Uj führt. Ein solches perfektes Wissen über die Situation ist aber nur ein seltener und unrealistischer Grenzfall.
Manchmal können „sichere“ Wahrscheinlichkeiten angegeben werden, wie
bei Lotterien, oder unsichere, wie beim ungewissen Bemühen, ein Examen
durch das Lesen von dicken Büchern zu bestehen. Meist wissen die Menschen
nur ungefähr über die Wirksamkeit ihres Handelns Bescheid. Und oft genug
können sie beim besten Willen gar nichts darüber sagen, wohin sie ein bestimmtes Handeln bringt.
Das Wissen über die Eintrittswahrscheinlichkeit gewisser Ereignisse als
Folge eines bestimmten Handelns sind die Erwartungen pij. Sie verbinden eine Alternative Ai mit der bewerteten Folge Uj.
Wie alle Wahrscheinlichkeiten haben die Erwartungen pij Werte zwischen 0 und 1: 0 ≤ p’≤ 1.
Bei sich wechselseitig ausschließenden und alle möglichen Ereignisse ausschöpfenden Folgen addieren sich die Wahrscheinlichkeiten zu 1: Wenn etwa die Wahrscheinlichkeit, bei einer Lotterie zu gewinnen, pg ist, dann ist die Wahrscheinlichkeit pl, zu verlieren, gleich 1-pg.
Und beide Ereignisse zusammen sind ein sicheres Ereignis mit der Wahrscheinlichkeit 1:
pg + pl = pg + (1-pg) = 1. Im Rahmen der WE-Theorie sind die Erwartungen zunächst, wie die
Werte, objektive Erwartungen – etwa die statistischen Gewinnwahrscheinlichkeiten bei einer
Lotterie oder die „objektive“ Chance durch eine Heiratsanzeige einen Ehepartner zu finden.
Aber auch dies ist eine empirisch meist unzutreffende Annahme für das „wirkliche“ Handeln.
Deshalb werden, ganz ähnlich wie beim Nutzen als subjektiver Bewertung, insbesondere die
subjektiven Erwartungen der Akteure zu beachten sein – ihr nicht immer korrektes Alltagswissen, ihre mehr oder weniger zutreffenden Faustregeln über die Wirksamkeit ihres Tuns
und die dabei geläufigen Verzerrungen der Realität. Auch darauf werden wir noch zurückkommen – in Kapitel 8.
Bei den Erwartungen lassen sich vier wichtige Fälle unterscheiden: Sicherheit, Risiko, Unsicherheit und Ambiguität (vgl. dazu auch noch die Abschnitte
7.3, 8.2 und 8.3).
Bei Sicherheit besteht beim Akteur für das Eintreten des Ereignisses nach einer Handlung
keinerlei Zweifel. Zwei Varianten der Sicherheit können dabei unterschieden werden: p=1
und p=0. Wenn pij gleich 1 ist, dann tritt das Ereignis Oj in der Erwartung des Akteurs mit Sicherheit ein, wenn Ai gewählt wird. Wenn pij gleich 0 ist, dann tritt Oj bei Wahl von Ai mit
Sicherheit nicht auf. Etwas anderes kommt nicht vor. Deshalb kann in diesen beiden Fällen
auch von perfekter Information gesprochen werden.
Die Wert-Erwartungstheorie
255
Unter dem Risiko eines Handelns versteht man eine bekannte und präzise festliegende,
aber von 0 und 1 verschiedene Wahrscheinlichkeit, daß mit dem Handeln ein bestimmtes Ereignis eintritt. Bei Risiko haben die Erwartungen pij also Beträge zwischen 0 und 1. Risiko ist
nicht „Unsicherheit“. Zwar ist beim Risiko nicht sicher, ob Oj auftritt oder nicht, aber man
kennt mit „Sicherheit“ die Wahrscheinlichkeit, beispielsweise, daß bei einem fairen Würfel
die sechs mit einer statistischen Wahrscheinlichkeit von 1/6 fällt. Ein Spezialfall des Risikos
ist die Gleichverteilung der Wahrscheinlichkeiten auf die Alternativen und die Ziele. Dann ist
– wie bei einem fairen Würfel – bei m Alternativen die Wahrscheinlichkeit, daß Ai zum Ziel
Oj führe, gleich 1/m. Auch riskante Erwartungen werden daher zum „perfekten“ Wissen der
Akteure gezählt: Zwar sind die Ausgänge nicht sicher, aber es gibt ein sicheres Wissen über
das Risiko – das Wissen über die Wahrscheinlichkeiten des Eintretens der Zielereignisse. Die
Sicherheit wäre damit ein Grenzfall des allgemeineren Begriffs des Risikos: Die „Sicherheit“
ist ein „Risiko“ mit den Werten null bzw. eins.
Bei Sicherheit und Risiko kennt der Akteur die Werte von pij. Das ist anders im Falle der
Unsicherheit. Hier sind ihm keinerlei Werte für die Wahrscheinlichkeiten bekannt, auch keine „riskanten“ Erwartungen zwischen null und eins. Er weiß nur, daß im Prinzip alle Ereignisse mit allen denkbaren Werten von p eintreten könnten – mit Sicherheit oder mit allen
möglichen anderen Graden der Wahrscheinlichkeit. Etwa: Ob bei einer Einladung zum Abendessen beim Chef, dessen Gattin mitsamt ihren Empfindlichkeiten eine vollkommen unbekannte Größe ist, es für die Stimmung angebracht wäre, ein Gespräch über die neue tüchtige, aber auch blonde Sekretärin zu beginnen oder nicht. Die typische Reaktion auf Unsicherheit ist uns allen wohl nur zu gut bekannt: eine gewisse Ängstlichkeit und Vorsicht für das,
was man sagt und tut, und die angestrengte Suche nach irgendwelchen Anhaltspunkten, was
denn nun wahrscheinlich richtig und angesagt wäre.
Sicherheit und Risiko bilden damit den einen Pol der Art des Wissens, die Unsicherheit
den anderen Pol: perfekte Information hier und komplette Ignoranz dort. Unter Ambiguität
kann dann jener, uns allen nur zu vertraute Zustand zwischen perfekter Information und Unsicherheit bzw. Ignoranz verstanden werden. Die Ambiguität ist somit die Streuung der Einschätzungen des Risikos um ein bestimmtes pij als Mittelwert der Erwartungen. Der geschätzte Mittelwert ist eine Art von erstem Anker für die Erwartung pij. Die Streuung um diesen
Anker ist bei Ignoranz maximal, bei Sicherheit und Risiko gleich null. Bestimmte Hinweise,
Symbole und Gesten etwa, haben vor allem diese Folge: die Benennung eines solchen ersten
Ankers, die Eingrenzung der Streuung bei der Schätzung von pij und damit die Verringerung
der Ambiguität. Die sog. signifikanten Symbole erlauben dabei sogar relativ genaue Punktschätzungen mit sehr kleiner Streuung. Genau deshalb sind sie so wichtig für die Definition
der Situation und für das Handeln der Menschen (vgl. dazu insbesondere noch Band 6, „Sinn
und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
Die Erwartungen der Akteure über die Zusammenhänge zwischen Alternativen und Folgen können am einfachsten so ausgedrückt werden, daß der Vektor des Alternativenraumes und der Vektor des Bewertungsraumes gekreuzt
werden. Die resultierende Matrix enthält dann die m*n Erwartungen p11, p12,
... , pij, ..., pmn darüber, daß die Handlung Ai mit der Wahrscheinlichkeit pij
zum outcome Oj mit der Bewertung O(Uj) und damit zur Realisierung eines
Nutzens Uj führe. Wir wollen diese Matrix mit P bezeichnen. Sie sieht – hier
der Erläuterung des Prinzips wegen mit den bewerteten Ereignissen Uj über
den Spalten und den Alternativen Ai links neben den Reihen – dann so aus:
256
Situationslogik und Handeln
U1
P
=
U2
A1
A2
p11 p12
p21 p22
Ai
pi1
Am
pm1 pm2
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
pi2
.
.
.
... Uj
... p1j
... p2j
.
.
.
.
... pij
.
.
... .
.
.
... pmj
...
...
...
.
.
...
.
...
.
...
Un
p1n
p2n
.
.
pin
.
.
.
pmn
Die Matrix P beschreibt das kausale Wissen der Akteure über die Kontrolle
von Alternativen und über die Wirksamkeit der Möglichkeiten für die Erreichung der verschiedenen Folgen des Ergebnisraumes. Sie bildet den Erwartungsraum des Akteurs für sein Handeln.
5. Die Evaluation der Alternativen
Die Randbedingungen der WE-Theorie bestehen also aus dem Vektor U des
Bewertungsraumes und aus der Matrix P des Erwartungsraumes. Es geht nun
um die kausal-logische Ableitung des Explanandums aus diesen Randbedingungen. Das dazu in der WE-Theorie angenommene allgemeine Gesetz hat
zwei Bestandteile: erstens eine Gewichtungsregel für die Evaluation der Alternativen und zweitens eine Regel für die schließliche Selektion einer der so
gewichteten Alternativen. Die Evaluation der Alternativen ist der Kern der
Logik der Selektion nach der WE-Theorie. Das Ergebnis dieser Evaluation
sind die EV-Gewichte für die objektiven Bewertungen. Wir werden, aus
Gründen der Üblichkeit, aber auch von Nutzenerwartungen und daher von
EU-Gewichten sprechen.
An dieser Stelle spätestens läßt sich die Verbindung der Bestandteile der WE-Theorie zum
elementaren System der Situation und den Beziehungen von Kontrolle und Interesse aus Kapitel 1 ziehen – falls Ihnen diese Verbindung nicht ohnehin aufgefallen ist. Die Alternativen
sind die Mittel, die der Akteur – mehr oder weniger – unter Kontrolle hat. Die erwünschten
Folgen sind die Ziele des Akteurs, an denen er im Ausmaß U jeweils ein positives Interesse,
und die unerwünschten Folgen sind die (Opportunitäts-)Kosten des Handelns, an denen er ein
negatives Interesse hat. Die Erwartungen p bestehen, wie in Kapitel 1 erläutert wurde, aus
dem Produkt von Kontrolle und Effizienz eines Mittels zur Verwirklichung eines Zieles. Jeweils also: pij=ci*eij. Der Bewertungsraum ist also der Vektor der Werte, der Erwartungsraum
die Matrix des Wissens aus dem elementaren System der Situation nach Kapitel 1. Auf diese
Wiese lassen sich beliebige Situationen als typische Konstellationen des Interesses und der
Die Wert-Erwartungstheorie
257
Kontrolle von Ressourcen durch Akteure in die Variablen der WE-Theorie übersetzen, aus
der dann das eigentliche Handeln abgeleitet wird. Und das ist ja eine wichtige Bedingung für
ihre Brauchbarkeit als Logik der Selektion: die systematische Verbindung der Logik der Situation mit der Logik der Selektion.
Die Grundgleichung für die Evaluation jeder der betrachteten Alternativen i
lautet: EU(Ai)=Σpij*Uj.
Die Bildung der EU-Gewichte nach dieser Formel sieht komplizierter aus,
als sie es tatsächlich ist. Es wird nur gesagt, daß für jede der n Alternativen
jeweils das Produkt des Wertes der jeweiligen Folge mit der Wahrscheinlichkeit, daß die Alternative i zur Folge j führe, gebildet wird und daß über alle n
Folgen die Summe dieser Produkte aus Wert-mal-Erwartung gebildet wird.
Sehen wir uns dazu den einfachen Fall von zwei Alternativen und drei Folgen
an. Links steht die Matrix des Erwartungsraumes für die beiden Alternativen,
rechts der Vektor des Bewertungsraumes für die drei Folgen.
U1
p 21 p 22 p 23
p 11 p 12 p 13
*
U2
U3
Die EU-Gewichte für die beiden Alternativen A1 und A2 ergeben sich, wenn
man gemäß der Formel EU(Ai)=Σpij*Uj zeilenweise hintereinander für jeden
Wert in der Erwartungsmatrix über alle drei Werte der Bewertungsmatrix das
Produkt bildet und die Produkte addiert. Also:
EU(A1) = p11U1 + p12U2 + p13U3
EU(A2) = p21U1 + p22U2 + p23U3
EU(A1) und EU(A2) sind die gesuchten WE- bzw. EU-Gewichte für die beiden Alternativen. Konkrete Ziffern können Sie der Übung halber selbst eintragen (vgl. dazu noch Abschnitt 7.2).
Die Formel beschreibt die Grundphilosophie der WE-Theorie. Sie ist der Kern dessen, was
als „rational“ bezeichnet wird: Strebe nach Dingen, die möglich und zuträglich sind; und
meide ein Handeln, das undurchführbar und/oder schädlich ist. Die Evaluation der Alternativen nach der Kalkulationsregel Σpij*Uj wird als ein „allgemeines“ Gesetz des Handelns betrachtet, das für alle Menschen als gültig angenommen wird. Der Grund für die Vernünftigkeit der EU-Gewichtungsregel bei der Evaluation der Alternativen ist schon von der Evolutionstheorie her leicht einsehbar: Wenn das Produkt pij*Uj entweder über die geringe Erwartung pij für eine freundliche „Nische“ in der Umwelt und/oder über eine wenig positive Bewertung Uj für das interne Wohlergehen des Organismus insgesamt gering ist, dann ist das
258
Situationslogik und Handeln
Überleben des Organismus in dieser Umwelt sehr gefährdet. Übrig geblieben sind daher im
Laufe der Evolution des Lebens wohl auch nur Organismen, die dieses Evaluationsprinzip als
Grundlage der Selektion von Alternativen auch genetisch verinnerlicht haben. Auch die weitgehend triebungebundenen Menschen tun gut daran, dieses Prinzip zum Kriterium des subjektiven Sinns ihres Handelns zu „wählen“. Und sie tun es wirklich, teils weil sie keine Deppen sind, teils weil die Evolution des Lebens ihre psycho-physische Hardware so selektiert
hat, teils weil sie nach, mehr oder weniger bitteren, Erfahrungen schließlich selbst darauf
kommen.
Technisch erfolgt die Evaluation der Alternativen nach der Formel
EU(Ai)=Σpij*Uj am einfachsten über die Multiplikation der Matrix P mit dem
(Spalten-)Vektor U: P*U. Nach den Regeln der Matrixmultiplikation ergibt
sich daraus wieder ein (Spalten-)Vektor: der Vektor EU der WertErwartungen für alle m Alternativen des Alternativenraumes. Ganz allgemein
also:
EU(A1)
EU(A2)
.
.
.
EU(Ai)
.
.
.
EU(Am)
..., p1j,
..., p2j,
.
.
.
.
.
.
.
.
.
= pi1, pi2, ..., pij,
.
.
.
.
.
.
.
.
.
pm1, pm2, ..., pmj,
p11, p12,
p21, p22,
..., p1n
..., p2n
.
.
.
..., pin
.
.
.
..., pmn
U1
U2
*
.
.
.
Uj
.
.
.
Un
Der Vektor EU sei als der Gewichteraum der Alternativen bezeichnet.
6. Die Selektion
Der sechste und letzte Schritt bei der Logik der Selektion nach der WETheorie ist die Selektion einer der Alternativen aus dem Alternativenraum.
Dabei geben die EU-Gewichte den Ausschlag. Und zwar nach dieser Regel:
Wähle in einer Situation gerade die Alternative, bei der das EU-Gewicht im
Vergleich der betrachteten Alternativen am höchsten ist! Die Regel der Logik
der Selektion des Handelns ist demnach die Maximierung des erwarteten Nutzens.
Die Regel der Maximierung des erwarteten Nutzens wird als allgemeine
Regel für die Logik der Selektion des Handelns angenommen. Abweichungen
davon, wie die Orientierung an einem anderen Typ des Handelns, das satisficing oder das Umschalten auf einen nicht-maximierenden Modus der Informationsverabeitung, von denen in Abschnitt 6.8 die Rede war, sind keine Aus-
Die Wert-Erwartungstheorie
259
nahmen, sondern Spezialfälle dieser Regel. Sonst wäre es ja keine „allgemeine“ Regel. Viel mehr ist an dieser Stelle dazu nicht zu sagen, an anderer Stelle
dafür um so mehr.
7.2
Drei Beispiele
Soziologische Erklärungen sind eine Art von Modellbau. Und die WETheorie ist ein unverzichtbares Werkzeug dafür. Die wichtigste Arbeit ist die
möglichst typisierende und vereinfachende Modellierung von Situationen – in
der Sprache der WE-Theorie. Das kann zwar gelernt werden, aber wie gut die
Modelle dann werden – das ist durchaus eine Art von Kunst, die nur begrenzt
zu erlernen ist. Wie man einfach und praktisch mit der WE-Theorie bei der
Entwicklung theoretischer Modelle für eine soziologische Erklärung umgehen
kann, sei – bevor wir mit einigen speziellen Situationen und Besonderheiten
der WE-Theorie fortfahren – an drei Beispielen gezeigt.
Das erste Beispiel:
Was tun die Professoren?
Es scheint ein empirisch gut gesichertes Ergebnis zu sein, daß Professoren in
aller Regel lieber forschen als lehren. Und die Frage ist wieder: Warum ist das
so?
Sagen Sie jetzt nicht: Weil das EU-Gewicht für die Forschung höher ist als für die Lehre! So
einfach ist die Sache nicht. Beginnen müssen wir vielmehr bei der Beschreibung der typischen Situation eines Hochschullehrers. Wir haben deren Vorliebe für die Forschung nämlich
erst dann erklärt, wenn sich aus dieser Beschreibung mit Hilfe der Variablen und Regeln der
WE-Theorie ableiten läßt, daß das EU-Gewicht für die Forschung höher ist als für die Lehre.
Dazu müssen die typischen Besonderheiten der Situation von Professoren – was ist ihnen
wichtig und was ist ihnen möglich? – in die Randbedingungen der WE-Theorie übersetzt
werden – in typische Erwartungen und Bewertungen also. Das ist eine ganz eigene Leistung.
Es ist die Formulierung der Brückenhypothesen zwischen der Logik der Situation und der
Logik der Selektion (siehe auch noch Kapitel 10 und weiter unten dazu). Die typisierende Situationsbeschreibung und die Formulierung der Brückenhypothesen ist sogar die Hauptaufgabe der soziologischen Arbeit – neben, natürlich, der Aggregation der Handlungen zu kollektiven Resultaten. Der Rest ergibt sich dann „logisch“ und deshalb fast von alleine: die Bestimmung der EU-Gewichte und die Vorhersage der Selektion nach der Maximierungsregel.
Also dann. Wir gehen in der Reihenfolge vor, wie die WE-Theorie oben dargestellt wurde. Wir beginnen mit der Beschreibung der Situation und mit der
Benennung der Alternativen.
260
Situationslogik und Handeln
Die Beschreibung der Situation
Die Alternativen des Hochschullehrers zur Ausfüllung seiner Rolle sind: Forschung und Lehre. Sie seien mit A1 und A2 bezeichnet. Wir wollen annehmen,
daß es sich um gegenseitig ausschließende Alternativen handelt. Das ist zwar
empirisch nicht ganz zutreffend, in der Tendenz aber schon: Auch Professoren
können nicht alles gleichzeitig mit großem Einsatz tun. Und hier geht es nur
darum, ob Forschen oder Lehren Priorität hat. Der Alternativenraum heißt also A = (A1, A2).
Nun zu den Folgen. Dazu müssen wir etwas weiter ausholen.
Zwei zentrale Aspekte habe die Tätigkeit von Professoren: die Erzeugung von Reputation einerseits und die Störung ihres vegetativen Nervensystems andererseits. Alle anderen Folgen
sind – so wollen wir der Einfachheit halber annehmen – entweder unwichtig oder eine Folge
dieser Folgen – wie zum Beispiel eine wohldotierte Position als Folge einer hohen Reputation. Das wichtigste Mittel zur Erzeugung von Reputation sind, wie wir in der Analyse des
Wissenschaftssystems in Kapitel 3 gesehen haben, Publikationen, am besten in der TopZeitschrift des Faches. Erneut vereinfachend wollen wir daher die Plazierung eines Artikels
in einer solchen Zeitschrift als eine zentrale Absicht der Professoren annehmen: Ein Artikel
im American Journal of Sociology ist ein primäres Zwischengut der Soziologieprofessoren
mit einer sehr hohen Effizienz bei der Erzeugung von sozialer Wertschätzung – und sicher
auch von physischem Wohlbefinden, wenn sich die Brust angesichts des gedruckten Artikels
vor Stolz bläht. Zur Plazierung muß natürlich ein Manuskript eingereicht werden. Dann können zwei Dinge geschehen: Annahme des Manuskriptes oder Ablehnung. Und jeder weiß es:
Alles das kostet Zeit und Nerven.
Damit haben wir drei Folgen der Tätigkeit der Professoren: die Akzeptanz der
Ergebnisse seines Tuns in der scientific community, die Zurückweisung seiner
Bemühungen – und die Arbeitsüberlastung bzw. die Störung des vegetativen
Nervensystems. Die drei Folgen seien mit O1, O2 und O3 abgekürzt. Natürlich
haben wir der Einfachheit halber andere wichtige Folgen ausgelassen – wie
etwa den Ärger mit der Familie und die schließliche Scheidung! Aber das soll
uns hier einstweilen nicht weiter interessieren, weil es nicht primär zum Funktionieren des Wissenschaftssystems gehört.
Nun müssen den drei Folgen Nutzenwerte zugeschrieben werden. Es geht
also um die Bewertungen der Folgen. Normalerweise wären spätestens jetzt
empirische Daten nötig: die Messung der Interessen, der Präferenzen also.
Wir wollen jedoch wieder nur mit Annahmen vorliebnehmen, weil es hier ja
nur auf das Prinzip des Vorgehens bei der Modellierung ankommt und weil
soziologische Erklärungen durchaus zunächst mit Hilfe plausibler Annahmen
begonnen werden können, die dann Schritt für Schritt mit „Daten“ unterfüttert
werden können. Die Annahme des Manuskriptes sei mit 200 Nutzeneinheiten
bewertet, die Ablehnung mit –10, weil das ja kein neutrales Ereignis ist, sondern schon etwas am Selbstbild nagt. Der Zustand der Arbeitsüberlastung
261
Die Wert-Erwartungstheorie
wird zwar auch als unangenehm empfunden, aber doch nicht so sehr, weil das
– gewissermaßen – zum Standardgefühl der Professoren dazugehört. Daher
sei für diese Folge ein Wert von –5 angenommen. Es ergibt sich daraus der
Bewertungsraum U = (200, –10, –5).
Jetzt fehlen noch die Erwartungen. Nun kommen die Alternativen wieder
mit ins Spiel: Welche Folgen haben mit welcher Wahrscheinlichkeit das Forschen und das Lehren? Auch hier sind wir auf Annahmen angewiesen, die im
Ernstfall durch empirisch zu gewinnende Daten zu ersetzen wären.
Beginnen wir mit der Erwartung, daß ein eingereichtes Manuskript angenommen wird. Ohne
jede weitere Vorinformation wäre die durchschnittliche Annahmequote der betreffenden Zeitschrift eine naheliegende Schätzung für die Erwartung, daß ein eingereichtes Manuskript
auch akzeptiert und publiziert wird. Wir wollen hier eine Ablehnungsquote von 90% annehmen. Sie beschreibt das „objektive“ Risiko des Professors, der ein Manuskript anbietet. Zu
Annahme oder Ablehnung kann es aber nur kommen, wenn ein Manuskript wirklich eingereicht wird. Und das geht nur dann, wenn der Forschung die Priorität gilt. Wer vorwiegend
lehrt, der reicht kein Manuskript ein, weil er keines schreibt. Für ihn gibt es daher mit Sicherheit nichts: weder Annahme, noch Ablehnung. Nun noch die Verbindung von Forschung und
Lehre zur Arbeits- und Nervenbelastung. Wieder sehr vereinfachend wollen wir annehmen,
daß der richtige Streß nur den Forscher trifft: Wird der Antrag für das Forschungsprojekt genehmigt? Ziehen die Mitarbeiter mit? Funktioniert die Feldarbeit? Gibt es interessante Ergebnisse und zündende Ideen? Und dann noch: Ist die Bewerbung um die Veröffentlichung erfolgreich? Der Lehrer hat alle diese Sorgen nicht.
Aus alledem läßt sich der folgende Erwartungsraum P für die drei bewerteten
Folgen zusammenstellen:
P
=
U1
U2
U3
A1
0.1
0.9
1
A2
0
0
0
Mit dem Alternativenraum, dem Bewertungsraum und mit dem Erwartungsraum haben wir alles beisammen, was benötigt wird. Jetzt müssen nur noch
die EU-Gewichte bestimmt werden. Zuvor aber noch eine wichtige Zwischenbemerkung.
Brückenhypothesen und soziale Produktionsfunktionen
Die Alternativen, die Folgen mit ihren Bewertungen und die Erwartungen beschreiben in typisierter Form die Situation der Professoren. Die Matrix P und
262
Situationslogik und Handeln
der Vektor U enthalten dabei die benötigte Verbindung zwischen den Eigenschaften der Situation und den Variablen der Handlungstheorie. In der Sprache des Modells der soziologischen Erklärung werden sie – wie wir wissen –
als Brückenhypothesen bezeichnet.
Die Brückenhypothesen sind – wie man jetzt sehr deutlich sieht – alles andere als universale Gesetze. Sie können sich mit den sozialen Produktionsfunktionen von Gruppe zu Gruppe, von Land zu Land und in der Zeit, je nach
institutioneller Definition der Situation drastisch ändern. Sie treffen – wie
man sich leicht vorstellen kann – auch nicht für jeden einzelnen Professor
gleichermaßen zu. Es gibt ja auch individuelle Varianzen. Und es gibt für die
Hochschullehrer sicher auch noch andere Dinge im Leben als die Forschung
und die Lehre oder die Reputation und den Nervenstreß. Aber alles das spielt
hier für die soziologische Analyse der „Logik“ seiner Situation als Hochschullehrer – einstweilen – keine systematische Rolle. Es wird erst wichtig,
wenn sich die strukturellen Umstände der Situation ändern – die sozialen Produktionsfunktionen also. Dann ändern sich die Alternativen, die Bewertungen
und die Erwartungen und somit auch die Brückenhypothesen für die Beziehung zwischen Situation und Akteur. Und dann ändern sich auch die EUGewichte – und darüber dann das typische Handeln der Akteure. Genau das
ist gemeint, wenn von der „Logik“ der Situation die Rede ist (vgl. dazu noch
die Kapitel 10 und 11 ausführlich).
Die Selektion des Handelns
Was werden die Professoren vor dem Hintergrund dieser Situation tun? Die
Antwort geben die EU-Gewichte für die Alternativen. Sie lassen sich nun
leicht nach der Grundformel der WE-Theorie – EU(Ai)=Σpij*Uj – und über die
Matrix-Vektoren-Multiplikation von Erwartungs- und Bewertungsraum berechnen. Für unser Beispiel wäre das:
EU = P*U =
0.1
0.9
1
0
0
0
*
200
-10
-5
Als Produktsumme ausgeschrieben:
EU(A1) = (0.1)*200 + (0.9)*-10 + 1*-5 =20 - 9 - 5 = 6
EU(A2) =
0*200 +
0*-10 + 0*-5 =
0
Die Wert-Erwartungstheorie
263
Die Selektion, der letzte Schritt der Erklärung des Handelns eines typischen
Professors, ist also eine klare Sache: Bezogen auf ihre relevanten Ziele bewerten die Professoren typischerweise die – zwar anstrengende und in Hinsicht
auf den Erfolg riskante, aber auch lohnende – Forschung mit 6 EU-Einheiten
höher als die für die Nerven ganz kommode, aber für ihren Ruf auch recht uninteressante Lehre. Und weil die Professoren – wie alle Menschen – ihre Nutzenerwartung maximieren, neigen sie ganz überwiegend mehr zur Forschung
als zur Lehre, obwohl ihnen das auch viel Streß bringt und das nicht geringe
Risiko, sich eine Abfuhr einzuhandeln.
Erklären und Verstehen
Und warum tun sie das? Vordergründig: Weil die Forschung das höhere EUGewicht hat. Das ist vor dem Hintergrund der Maximierungsregel reichlich
trivial. Die wirklichen Gründe stehen in dem Bewertungsvektor und in der
Erwartungsmatrix. Sie geben die durch die Struktur der sozialen Produktionsfunktionen objektiv definierte Situation der Professoren wieder.
An dieser Stelle wird eine gewissermaßen pädagogische Anmerkung sehr nötig. Groß ist die
Versuchung, bei einem gegebenen Explanandum die Logik der Situation so zu modellieren,
nein: hinzufummeln, daß stets genau das herauskommt, was wir als Ergebnis schon wissen.
Darum kann es aber bei den Brückenhypothesen bzw. bei der Beschreibung der Logik der Situation eben nicht gehen. Der Soziologe muß auf unabhängige Weise zur Modellierung der
Erwartungen und der Bewertungen der Akteure kommen. Beispielsweise: Eine Befragung
von Experten über die typische Situation von Akteuren in einem bestimmten Handlungsfeld.
Weniger verläßlich, aber auch ein Weg, wäre die Befragung der Akteure selbst. Aber die wissen oft weniger über ihre Situation als ein außenstehender Beobachter. Eines aber ist unter
Androhung der geistigen Todesstrafe verboten: die Matrizen und Vektoren ad hoc und ohne
eine gesonderte Begründung so zu basteln, daß sich das gesuchte Explanandum von alleine
ergibt.
Wenn aber die Situationsanalyse richtig und begründet war und wenn wir die
WE-Theorie angewandt haben, dann erklärt sich das Tun der Professoren,
weil die WE-Theorie ein kausal-erklärendes Gesetz enthält. Wir verstehen aber gleichzeitig auch, warum die Professoren normalerweise und „situationsgerecht“ die Forschung deutlich lieber machen als die Lehre. „Verstehen“
heißt ja, sich in die Lage des anderen hineinzuversetzen, die Situation aus
dessen Sicht zu betrachten und seine guten Gründe für das beobachtete Tun
herauszufinden. Und genau das haben wir getan, als wir den Erwartungs- und
den Bewertungsraum der Professoren mit konkreten Ziffern gefüllt haben.
Dabei mußten wir nur eines unterstellen, was auch ohne besondere Einfühlung anzunehmen ist: Daß die Akteure der Logik der WE-Theorie folgen,
264
Situationslogik und Handeln
selbst wenn sie darüber noch nie etwas gehört haben und bei ihrem Handeln
nicht sonderlich überlegen, was sie tun.
Das zweite Beispiel:
Retten oder nicht sterben lassen?
Das zweite Beispiel stammt von den beiden Psychologen Amos Tversky und
Daniel Kahneman.5 Einer Reihe von Studenten wurde als Versuchspersonen
erzählt, daß eine neue und gefährliche asiatische Grippe ausgebrochen sei.
Ohne jede weitere Maßnahme sei mit 600 Toten zu rechnen. Aber die Regierung überlege schon, was jetzt zu tun wäre. Es gebe zwei alternative Programme zur Bekämpfung der Grippe. Und es gelte nun, sich für eines der
Programme zu entscheiden. Die Programme unterschieden sich in einer Hinsicht: Ein Programm gab vor, daß die Folgen mit Sicherheit eintreten würden,
das andere, daß sie mit einem gewissen Risiko zu erwarten wären. Dann wurden die beiden Programme – in ihrer Unterscheidung von Sicherheit und Risiko – noch einmal in zwei verschiedenen sprachlichen Versionen jeweils unterschiedlichen Gruppen von Studenten vorgelegt. In der ersten Version war
immer von „retten“ und damit von einem Gewinn an Menschenleben die Rede, in der zweiten von „sterben“ und damit von drohenden Verlusten. Die vier
Vorgaben für die Beurteilung der Programme lauteten in der Originalversion
bei Tversky und Kahneman so:
Version 1: If Program A is adopted, 200 people will be saved.
If Program B is adopted, there is 1/3 probability that 600 people
will be saved, and 2/3 probability that no people will be saved.
Version 2: If Program C is adopted, 400 people will die.
If Program D is adopted, there is 1/3 probability that nobody will
die, and 2/3 probability that 600 people will die.
Wie sehen nun die Nutzenerwartungen für die vier Optionen aus?
Wir können versuchen, die Nutzenerwartungen unmittelbar aus den Schilderungen als EUGleichung aufzuschreiben. Die Alternativen, für die wir die EU-Gewichte suchen, sind klar:
Es sind die vier Optionen A, B, C und D. Als Folgen können die verschiedenen Anzahlen an
Überlebenden angenommen werden. Ihre Bewertung folgt einfacherweise der Anzahl der jeweils überlebenden Personen – 600, 400, 200, je nachdem. Es gibt zwei Programme mit si5
Amos Tversky und Daniel Kahneman, The Framing of Decisions and the Psychology of
Choice, in: Science, 211, 1981, S. 453-458.
265
Die Wert-Erwartungstheorie
cheren Erwartungen von eins und null (Programm A und C) und zwei mit riskanten Erwartungen von 1/3 bzw. 2/3 (Programm B und D). Wenn wir mit Option A beginnen, sehen wir
ein Problem: Die verbale Vorgabe von Tversky und Kahneman ist nicht vollständig. Es wird
zwar gesagt, daß 200 Personen gerettet werden. Aber was geschieht mit den anderen 400?
Werden sie auch gerettet? Offenbar haben Tversky und Kahneman unterstellt, daß die Versuchspersonen den Rest erschließen, nämlich daß die 400 anderen Personen mit einer Wahrscheinlichkeit von null gerettet werden. Ähnliches gilt, nur umgekehrt, für die Vorgabe C.
Dort steht, daß mit Sicherheit 400 Personen sterben, also mit einer Wahrscheinlichkeit von
null überleben werden. Und wieder bleibt offen, was mit den anderen 200 geschieht. Offenbar ist auch hier gemeint, daß diese 200 Personen mit einer Wahrscheinlichkeit von eins nicht
sterben, also gerettet werden (vgl. zu dieser Unvollständigkeit der Vorgaben noch Abschnitt
8.4 im folgenden Kapitel). Vollständig lautet die Vorgabe für das Programm A also: „If Program A is adopted, 200 people will be saved, and 400 people will not be saved.“ Und die
vollständige Vorgabe für das Programm C wäre entsprechend: „If program C is adopted, 200
people will not die, and 400 people will die.“
Dann berechnen sich die Nutzenerwartungen für die vier Programme den vollständigen Versionen entsprechend so:
EUA
=
1*200
+
0*400
=
200
EUB
=
(1/3)600
+
(2/3)*0
=
200
EUC
=
1*200
+
0*400
=
200
EUD
=
(1/3)600
+
(2/3)*0
=
200
Und was sehen wir? Die Nutzenerwartungen für die vier Programme, berechnet nach den Regeln der WE-Theorie, sind vollkommen gleich. Um so interessanter ist das empirische Ergebnis, das Tversky und Kahneman gefunden
haben. Es weicht deutlich von der eigentlich durch die Regeln der WETheorie angesagten Indifferenz zwischen den Alternativen ab. Das Ergebnis
wird in Abschnitt 8.2 des folgenden Kapitels verraten. Und in Abschnitt 8.3
können Sie erfahren, warum die WE-Theorie gleichwohl nicht falsch ist.
Das dritte Beispiel:
Darum fällt der Apfel nicht so weit vom Stamm!
Wenn es in der empirischen Soziologie ein stabiles Ergebnis gibt, dann ist es
dieses: Trotz aller Reformen des Bildungswesens und trotz aller Versuche zur
Aufhebung der Bildungshemmnisse in den westlichen Gesellschaften hat sich
kaum irgendwo etwas daran geändert, daß die unteren Schichten der Bevölkerung ihre Kinder weniger auf Einrichtungen der weiterführenden Bildung
schicken als die mittleren oder gar die oberen Schichten. Vierzig Jahre Bildungsreform und Ungleichheitsforschung haben im wesentlichen das – nicht
266
Situationslogik und Handeln
unbedingt selbstverständliche und auch nicht überall gleichermaßen zutreffende – Ergebnis gebracht: Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.6
Und wieder stellt sich die Frage: Warum ist das so? Wenn man Diskriminierungen ausschließt und die Bildungsabstinenz nicht irgendwie zur „Natur“
der unteren Schichten zählen will, dann ist die Stabilität der Bildungsungleichheit wohl ein Ergebnis von Entscheidungen in den Familien, die sie
angesichts ihrer Sicht der Umstände treffen. Wir wollen diese Entscheidungen
mit Hilfe der WE-Theorie als rationale Wahl rekonstruieren.7 Das heißt auch:
Wir wollen verstehen lernen, warum die Eltern der Kinder aus unteren
Schichten in der Tat gute Gründe haben, den riskanten Weg der Aufwärtsmobilität über die schmale Leiter einer höheren Bildung eben eher nicht zu wagen – auch wenn sich die Möglichkeiten dazu objektiv verbessern.
Bevor man Unterschiede im Verhalten zwischen verschiedenen sozialen
Gruppierungen erklären kann, muß zuerst ein Grundmodell für die Erklärung
des jeweils anstehenden Problems formuliert werden. Darin müssen – in möglichst knapper und stilisierter Weise – die wichtigsten Handlungsmöglichkeiten, Handlungsfolgen und die damit verbundenen Bewertungen und Erwartungen enthalten sein. Dann erst ist der eigentlich erklärende Schritt möglich:
die Modellierung der Unterschiede zwischen den Gruppierungen. Sie werden
als Brückenhypothesen über typische Unterschiede in den Variablen des
Grundmodells formuliert. Wir werden sehen, daß jetzt die Sache nicht mehr
ganz so einfach ist. Also: Wappnen Sie sich mit Aufmerksamkeit und Geduld.
Es ist schon eine „richtige“ soziologische Analyse eines wichtigen sozialen
Problems.
Das Grundmodell
Zuerst also das Grundmodell der Bildungsentscheidung für alle.
Wieder haben wir zwei Alternativen: die Entscheidung, an einer bestimmten Verzweigungsstufe des Bildungssystems die nächste Stufe zu nehmen oder aber nicht. Obwohl sich das
Grundmodell für alle Bildungsstufen eignet, wollen wir hier nur die erste Stufe betrachten:
der Übergang von der Grundschule entweder in den nächsten weiterführenden Zweig oder
das Verbleiben in der Hauptschule. Die Entscheidung zur Weiterführung der Bildung sei mit
Ab, die Zurückhaltung mit An bezeichnet. Drei relevante Folgen mit den entsprechenden Bewertungen hat diese Entscheidung: Erstens kann mit dem Erfolg der zusätzlichen Bildung ei6
7
Vgl. dazu verschiedene Beiträge bei Robert Erikson und Jan O. Jonsson (Hrsg.), Can Education be Equalized? The Swedish Case in Comparative Perspective, Boulder, Col., und
Oxford 1996.
Vgl. dazu etwa auch: Robert Erikson und Jan O. Jonsson, Introduction. Explaining Class
Inequality in Education: The Swedish Test Case, in: Erikson und Jonsson 1996a, S. 13ff.
Die Wert-Erwartungstheorie
267
ne bestimmte berufliche Position erreicht werden. Der betreffende Wert des Ertrages der Bildung sei mit U bezeichnet. Zweitens fallen mit der zusätzlichen Bildung gewisse Kosten -C
an, darunter das entgangene Einkommen, das bezogen worden wäre, wenn man sofort nach
der Hauptschule eine bezahlte Arbeit aufgenommen hätte. Drittens ist der Verlust oder die
Beibehaltung eines bestimmten Status quo mit allen dazugehörigen Folgen für die soziale
Wertschätzung und das Selbstbild eine mögliche Folge der Bildungsentscheidung. Das hat
einen einfachen Grund: Wenn die Beibehaltung des von den Eltern errungenen Status nur mit
einer höheren Bildung möglich ist, dann wäre der Verzicht auf die weitere Bildung nicht bloß
der Verzicht auf einen möglichen Gewinn, sondern die Entscheidung für einen nahezu sicheren Verlust. Der Wert des so drohenden Statusverlustes sei mit -SV gekennzeichnet. Zwei
Erwartungen werden als bedeutsam angenommen: Erstens die Erwartung p, mit der Entscheidung für die Weiterführung der Bildungskarriere auch zum Erfolg, zu einem formellen
Abschluß also, zu kommen und damit den Ertrag U zu verwirklichen. Und zweitens die Erwartung c, daß es einen Statusverlust in Höhe von -SV gibt, wenn auf die Weiterbildung verzichtet wird.
Mit diesen Annahmen können wir – auch ohne die eigentlich erforderliche,
aber etwas umständliche Vektoren- und Matrizenschreibweise – die Grundgleichungen für die EU-Gewichte des allgemeinen Modells der Bildungsbeteiligung aufstellen. Am einfachsten ist die Sache für die bildungsabstinente Alternative An: Bei einem Verzicht auf die weitere Bildung ist – unter Umständen – ein Statusverlust in Höhe von -SV und mit der Wahrscheinlichkeit c zu
erwarten – freilich nur, sofern es überhaupt etwas zu verlieren gibt. Hinzu
kommt die Komplementärerwartung (1-c), daß trotz Bildungsverzicht der soziale Abstieg nicht eintritt. Weil dann aber -SV trivialerweise gleich null ist,
kann dieser Teil des EU-Gewichtes, der Ausdruck (1-c)-SV also – in der
Gleichung entfallen. Bei einem Verzicht auf die Weiterbildung fallen natürlich auch keine Bildungskosten an. Kurz: Die Nutzenerwartung für den Verzicht auf die Weiterbildung ist allgemein gleich c(-SV).
Bei einer Entscheidung für die weiterführende Alternative Ab kann der
Wert der Bildung U mit der Erfolgswahrscheinlichkeit p erwartet werden.
Davon abzuziehen sind die sicheren Kosten C. Aber die Sache kann ja auch
schiefgehen – mit der Wahrscheinlichkeit (1-p). Gibt es einen Mißerfolg und
muß die weiterführende Schule verlassen werden, dann gibt es genau den Statusverlust, der schon beim Verzicht auf die Weiterbildung eintritt, gewichtet
mit der Wahrscheinlichkeit c, daß er beim Scheitern der Schulkarriere wirklich eintritt.
Daraus ergeben sich für die beiden Alternativen Ab und An die folgenden
Gleichungen für die EU-Gewichte im Grundmodell:
EU(An) = c(-SV)
EU(Ab) = pU + (1-p)c(-SV) - C.
268
Situationslogik und Handeln
Die Bewertungen, die Erwartungen und die beiden Formeln für das allgemeine Modell erklären, wie gesagt, den gesuchten Unterschied im Bildungsverhalten zwischen den sozialen Schichten noch nicht. Wieder müssen erst die
entsprechenden Brückenhypothesen aufgestellt – und gesondert begründet –
werden, die die typischen Aspekte der Lebenssituation der verschiedenen sozialen Schichten mit den Variablen des allgemeinen Modells der WE-Theorie
in Verbindung bringen.
Und wieder das Wichtigste: Die Brückenhypothesen
Der Einfachheit halber wollen wir nur zwei soziale Schichten betrachten: Die
unteren und die mittleren Schichten einer Gesellschaft.
Es geht also darum, typische Unterschiede in den Variablen der beiden Gleichungen des
Grundmodells mit der typischen Situation bei den unteren und den mittleren Schichten zu
verbinden. Auch nun wollen wir – weil es ja der erste grobe Schritt ist – getrost ganz einfache
und möglichst wenige Annahmen über solche Unterschiede einführen. Zunächst sei angenommen, daß der Wert der Bildung U und deren Kosten C für beide Klassen gleich sei. Das
kann auch anders gesehen werden. Beispielsweise wird oft unterstellt, daß die Bildung für die
unteren Schichten einen geringeren Wert habe als für die oberen Schichten und daß auch ihre
Leistungsmotivation und ihr Anspruchsniveau geringer seien. Das mag so sein. Wir wissen es
aber ohne weitere Untersuchungen nicht. Wir wissen zunächst nur: Ein Abitur ist ein Abitur –
für alle zuerst einmal gleichermaßen. Es variiert aber wohl unstrittigerweise die Erfolgserwartung p: Die mittleren Schichten haben sicher mehr Möglichkeiten, bei eventuellen Schwierigkeiten einzugreifen. Die Schule ist als „System“ ihrer Kultur ohne Zweifel näher. Die Eltern
wissen, wie man sich dort zurechtfindet und zur Not durchmogeln kann. Sie können auch
ganz anders mit den Lehrern reden, wohl auch besser auf sie Einfluß nehmen. Hinzu kommt
eine durch die Struktur der sozialen Ungleichheit gewissermaßen logisch erzeugte Verschiedenheit: Der Status quo der Unterschichten läßt sich auch ohne Bildung halten, während für
die mittleren Schichten mit einiger Sicherheit das Abrutschen in den sozialen Abstieg droht,
wenn es keine Weiterbildung gibt: Die Praxis des Vaters kann nur übernommen werden,
wenn es ein Medizinstudium des Sohnes gibt. Und dazu muß der Schritt in die weiterführende
Schule gewagt werden, auch wenn das noch lange nicht der „Doktor“ ist. Einen Döner-Laden
dagegen kann jeder Türke aufmachen, mit oder ohne mittlere Reife oder gar auch Abitur.
Kurz: In den mittleren Schichten ist die Bildung für den Statuserhalt eine notwendige Bedingung, in den unteren Schichten hingegen nicht. Und daher droht, so wollen wir erneut vereinfachend annehmen, nur den Mittelschichten beim Verzicht auf die Bildung oder beim Fehlschlagen der Schulkarriere ein sozialer Abstieg und ein materieller, sozialer wie psychischer
Statusverlust in Höhe von –SV; und das mit einer Sicherheit von c gleich eins. Bei den unteren Schichten können dagegen c und –SV mit null angesetzt werden.
In einem Diagramm lassen sich die Brückenhypothesen über die typischen
Unterschiede zwischen den unteren und den mittleren Schichten in den Variablen des Entscheidungsmodells dann so systematisieren:
269
Die Wert-Erwartungstheorie
Variable des Grundmodells
U
p
C
SV
c
mit
*
+
Variation nach Gruppenzugehörigkeit
untere Schicht
mittlere Schicht
*
*
0
0
*
+
*
-SV
1
als gleicher Wert (im Vergleich der Schichten)
als geringerer Wert (im Vergleich der Schichten)
als höherer Wert (im Vergleich der Schichten)
Damit haben wir alles beisammen, was wir für die Erklärung des Unterschiedes im Bildungsverhalten zwischen den Schichten benötigen: Das allgemeine
Grundmodell der Bildungsentscheidung und die spezifischen Brückenhypothesen für die betrachteten gesellschaftlichen Segmente. Vorsichtshalber sei
aber noch einmal daran erinnert: In einer „richtigen“ Erklärung müssen die
Brückenhypothesen, die wir hier als Annahmen eingeführt haben, gesondert
belegt werden. Dafür gibt es aber, gottlob, ja die empirische Sozialforschung
und – vor allem – die Koryphäen der Ungleichheitsforschung etwa in Oxford,
Stockholm, Mannheim, Bremen oder Berlin. Wenn die, was unwahrscheinlich
ist, nicht weiter wissen, muß man sich natürlich selbst an die Arbeit machen,
um die Richtigkeit der Brückenhypothesen zu belegen.
Bildungsmotivation und Investitionsrisiko
Warum also die Zurückhaltung der unteren Schichten bei der Bildung? Es
kommt nun natürlich wieder auf die Größenordnungen der Unterschiede – bei
p vor allem – an. Aber mit einer einfachen Überlegung läßt sich auch schon
ohne genaue Daten und gewissermaßen bereits a priori zeigen, warum die unteren Schichten meist so sehr zögern, den nächsten Schritt auf der Bildungsleiter zu tun. Dazu wollen wir das Problem ein wenig anders formulieren. Die
Entscheidung für eine weiterführende Bildung fällt den Regeln der WETheorie gemäß ja dann, wenn EU(Ab) > EU(An) gilt. Dann ergibt sich als Bedingung für die Entscheidung zu einer weiterführenden Bildung:
pU + (1-p)c(-SV) - C > c(-SV).
Das kann man über einige einfache Umstellungen umformen zu:
270
Situationslogik und Handeln
pU - cSV + pcSV - C > -cSV
p(U+cSV) > C
U + cSV > C/p.
Die Summe U+cSV auf der linken Seite der Ungleichung wollen wir als die
Bildungsmotivation bezeichnen. Sie ist um so höher, je höher der Wert der
Bildung eingeschätzt wird und je höher und je sicherer der drohende Statusverlust ohne die Bildung ist. Ein niedriger Status quo, der auch ohne weitere
Bildung zu halten ist, vermindert also die Bildungsmotivation. Dann besteht
die Bildungsmotivation nur aus dem Ertrag der Bildung selbst. Ist ein bestimmter Bildungsgrad jedoch eine notwendige Bedingung zum Statuserhalt,
dann verstärkt dies die Bildungsmotivation über den bloßen Wert der Bildung
hinaus. Der Quotient von Bildungskosten und Erfolgswahrscheinlichkeit C/p
auf der anderen Seite der Gleichung kann als das Investitionsrisiko der Weiterbildung bezeichnet werden. Es ist – bei gleichen Kosten – um so höher, je
unsicherer der Erfolg ist.
Dann besagt die Ungleichung: Eine Familie wechselt ihre Entscheidung
von der Bildungsabstinenz zur Weiterführung erst dann, wenn die Bildungsmotivation größer ist als das Investitionsrisiko.
Nun aber wird das Problem der anhaltenden Bildungsungleichheit schon
aus der Formel unmittelbar erkennbar: Wenn die Erfolgswahrscheinlichkeit p
klein ist, dann muß die Bildungsmotivation schon sehr groß werden, damit die
kritische Schwelle C/p des Investitionsrisikos überschritten wird. Denn bei einem Wert von p nahe null, muß der Betrag von U+cSV schon gegen unendlich gehen, damit dennoch das betreffende Risiko eingegangen wird.
Die Bildungsabstinenz der unteren Schichten
Was aber heißt das für das Bildungsverhalten der beiden Schichten? Zwischen
den Schichten ist, so haben wir oben angenommen, p verschieden – und damit
das Investitionsrisiko. Aber auch die Bildungsmotivation ist nach diesen Annahmen unterschiedlich – obwohl der Wert der Bildung für beide Schichten
gleich sein mag. Denn: Bei den unteren Schichten beträgt die Bildungsmotivation nur U, weil SV dort ja gleich null ist, bei den mittleren dagegen U+SV
– der Ertrag der Bildung plus dem Motiv aus der Furcht vor dem sicheren Statusverlust, wenn auf die weitere Bildung verzichtet wird. An einem Diagramm
271
Die Wert-Erwartungstheorie
lassen sich die Folgen dieser Zusammenhänge veranschaulichen (Abbildung
7.1a).
a. Die Bildungsabstinenz der
unteren Schichten
b. Die unterschiedliche Wirkung
von schlechten Zeugnissen
C/p
C/p
U+SV
U
* MC
*UC
pu
pm
1
C
p
U+SV
*
* MC
U
*
* UC
p-
p+
1
C
p
Abb. 7.1: Die Entscheidungssituation beim Bildungsverhalten in den unteren
und den mittleren sozialen Schichten
Die beiden Diagramme beschreiben jeweils den Verlauf der Übergangsschwelle C/p von der Bildungsabstinenz zur Entscheidung für eine weiterführende Bildung mit der Variation der Erfolgserwartung p und der Bildungsmotivation U+SV. Leicht läßt sich in Abbildung 7.1a die unterschiedliche Situation für die beiden Schichten erkennen: Bei den unteren Schichten (UC) ist p
relativ klein und damit die Schwelle des Investitionsrisikos relativ hoch. Es ist
aber auch die Bildungsmotivation mit U alleine relativ gering, eben weil die
unteren Schichten einen sozialen Abstieg nicht befürchten müssen. Das ist
ganz anders in den mittleren Schichten (MC): Wo man absteigen kann, da
droht auch der Abstieg, wenn man nicht aufpaßt. Der Bildungsnutzen U ist
hier eben nicht das einzige, was interessiert. Das Motiv des Statuserhaltes
kommt dazu. Außerdem haben die mittleren Schichten die höhere Erfolgserwartung p und empfinden damit ein im Vergleich geringeres Investitionsrisiko.
Kurz: Die beiden zentralen Variablen – Bildungsmotivation und Investitionsrisiko – variieren zwischen den unteren und den mittleren Schichten genau
gegenläufig. Im Diagramm besetzen die beiden Schichten daher zwei Positionen mit ganz unterschiedlichen Koordinaten von Bildungsmotivation und Investitionsrisiko: (U/pu) die unteren Schichten (UC) und (U+SV/pm) die mittle-
272
Situationslogik und Handeln
ren Schichten (MC). Für die einen kommt – gemessen an der Entfernung zur
Übergangsschwelle – eine weiterführende Bildung fast wie selbstverständlich
nicht in Betracht, für die anderen ist sie ebenso ganz fraglos und zwingend.
Und vor allem wohl darum fällt schon bei der Bildungsentscheidung der Apfel meist nicht sehr weit vom Stamm – wie auch bei vielen anderen Dingen.
Was tun die oberen Schichten?
Nun kann auch eine Hypothese über jene sozialen Schichten gewagt werden,
denen eine Statussicherung auch unabhängig vom Bildungsgrad möglich ist:
die oberen Schichten der Gesellschaft. Weil unter dieser Bedingung der Koeffizient c klein ist, vermag dort auch ein sehr hoher drohender Statusverlust die
Bildungsmotivation nicht sonderlich anzuheben. Die oberen Schichten der
Gesellschaft, die ihren gehobenen Status nicht nur auf den Verdiensten einer
besseren Schulbildung gründen können, müßten demnach eine geringere Bildungsmotivation haben als die mittleren Schichten. Ob sich das sichtbar auf
das Bildungsverhalten auswirkt, mag fraglich sein: Hier gibt es eine noch höhere Sicherheit, es gegen alle Widrigkeiten doch noch zu schaffen – und sei es
durch Internate, durch teuren Privatunterricht oder, nötigenfalls, durch gute
Beziehungen.
Die Wirkung der Zeugnisse
Es gibt ein zweites bemerkenswertes Ergebnis der empirischen Bildungsforschung, das wir mit dem WE-Modell auch kurz beleuchten wollen: Wenn
Kinder aus unteren Schichten, die einen weiterführenden Zweig besuchen,
schlechte Zeugnisse heimbringen, werden sie ohne Zögern von der Schule genommen. In den mittleren Schichten ist das ganz anders: Dort wird alles getan, um auch bei schlechten Zeugnissen weiterzumachen.8 Und wieder stellt
sich die Frage: Warum ist das so?
Vielleicht hat das so typisch unterschiedliche Verhalten, wenn erste
Schwierigkeiten auftauchen, auch mit den Kosten, etwa der nun nötigen
Nachhilfe, zu tun. Unser Modell legt eine davon ganz unabhängige, andere
Erklärung nahe. In Diagramm 7.1b haben wir rechts mit p+ die Situation gekennzeichnet, die in diesem Fall für beide Schichten zutreffen soll: Die jewei-
8
Vgl. Raymond Boudon, Die Logik des gesellschaftlichen Handelns. Eine Einführung in
die soziologische Denk- und Arbeitsweise, Neuwied und Darmstadt 1980, S. 179ff.
Die Wert-Erwartungstheorie
273
ligen Kinder sind von ihren Lehrern zum Besuch einer weiterführenden Schule empfohlen worden und haben daher alle relativ gute Erfolgsaussichten p+.
Allerdings gibt es weiter die Unterschiede in der Bildungsmotivation. Deshalb
unterscheiden sich auch die Positionen MC und UC – und damit die Selbstverständlichkeit, mit der die Weiterbildung betrieben wird. Gleichwohl: Mit
den von den Lehrern bezeugten hohen Erfolgssaussichten und dem so abgesenkten Investitionsrisiko entscheiden sich auch Eltern aus den unteren
Schichten für eine weiterführende Bildung.
Nun gebe es aber plötzlich schlechte Zeugnisse für die zuerst so hoffnungsfrohen Schüler aus beiden sozialen Schichten. Zeugnisse sind Anzeichen für
die Leistungsfähigkeit und damit für die Erfolgsaussichten. Wir wollen annehmen, daß die Folgen für die Einschätzung der Erfolgserwartungen jeweils
wieder gleich sind: Die Erfolgserwartung geht für beide Schichten um den
gleichen Betrag von p+ auf p- zurück. Und sofort wird erkennbar, wie wichtig
eine hohe Bildungsmotivation ist, wenn die Erfolgserwartung sinkt: Weil das
Investitionsrisiko mit dem Rückgang von p überproportional ansteigt, ist bei
einer geringen Bildungsmotivation die kritische Schwelle schon bald unterschritten. Bei einer höheren Bildungsmotivation gibt es dagegen noch einen
Spielraum der Toleranz gegen die Leistungsverschlechterung. Die relativ hohe Bildungsmotivation führt so bei den mittleren Schichten dazu, daß die Übergangsschwelle C/p auch bei schlechten Zeugnissen nicht so rasch unterschritten wird, während dies für die unteren Schichten praktisch sofort der
Fall ist.
Warum die Bildungsungleichheit zwischen den sozialen Schichten mit steigender Bildung immer geringer wird
Mit dem Modell kann auch ein weiteres Ergebnis der empirischen Bildungsforschung auf eine einfache Weise erklärt und verständlich gemacht werden:
Die Bildungsungleichheit zwischen den Schichten wird mit den höheren Stufen der Bildung immer geringer.9 Der Grund ist mit dem Modell leicht zu identifizieren: Mit dem zunehmenden Erfolg auf der Stufenleiter der Bildungsgrade wächst ja auch in den unteren Schichten die Erfolgserwartung für
ihre offenkundig begabten Sprößlinge, die sichtbar gut mithalten können. Die
Anzahl der guten Zeugnisse, die für das Anwachsen dieser Überzeugung nötig
waren, haben für die unteren Schichten das Investitionsrisiko schließlich so
9
Vgl. Walter Müller, Class Inequalities in Educational Outcomes: Sweden in Comparative
Perspective, in: Erikson und Jonsson 1996, S. 168ff.; vgl. auch Erikson und Jonsson
1996a, S. 54f.
274
Situationslogik und Handeln
weit abgesenkt, daß sich nun auch eine womöglich immer noch geringere Bildungsmotivation nicht mehr auszuwirken vermag. Wenn der Erfolg sicher
wird, dann muß – so die Implikation des Modells – die Motivation für ein bestimmtes Tun so sehr groß nicht mehr sein.
Risikoscheu?
Der allgemeine Grundzug des Verhaltens der unteren Schichten ist also offenbar eine gewisse, nur schwer zu beseitigende Risikoscheu – sowohl bei der
Entscheidung zur Weiterbildung wie auch danach –, insbesondere wenn es
gilt, aufkommende Schwierigkeiten zu umschiffen. Sie ergibt sich, wie das
Modell zeigt, aber keineswegs aus irgendeiner besonderen Kultur der Passivität und Unterwürfigkeit, einer Mentalität der Zurückhaltung, aus einer
verzerrten Weltsicht, aus einem falschen Bewußtsein oder dergleichen. Es ist
auch keine irgendwie geartete, besondere Einstellung der Unterschichten, die
– etwa als risk aversion – die Logik der Selektion nach der WE-Theorie auf
eine geheimnisvolle Weise überlagern würde. Die Entscheidungen der Familien in den verschiedenen Gruppen sind vielmehr allesamt eine direkte Folge
der Statusstruktur, in der sie sich befinden. Die Scheu vor dem Risiko einer
weiteren Bildung ist eine Haltung, die sich unmittelbar aus der Konstellation
der Situation und aus den Regeln der WE-Theorie ergibt: Es wäre für Unterschichtseltern, angesichts ihrer Lebensumstände, ganz und gar unvernünftig,
selbst ihre ohne Zweifel begabten Kinder wie selbstverständlich zur höheren
Schule zu schicken und bei einmal schlechten Zeugnissen sie einfach weitermachen zu lassen. Und ebenso erscheint es für die Eltern aus den mittleren
Schichten, insbesondere angesichts des drohenden Statusverlustes, ausgeschlossen, auch ihre weniger begabten Kinder auf der Hauptschule zu belassen, oder gleich die Flinte ins Korn zu werfen, wenn der erste blaue Brief
kommt.
Die gesellschaftliche Konstruktion der sozialen Ungleichheit
Der beschriebene Mechanismus ist auch ein Beispiel für die gesellschaftliche
Konstruktion der Wirklichkeit, hier der Wirklichkeit der sozialen Ungleichheit (vgl. dazu noch Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser
„Speziellen Grundlagen“ ausführlich). Die Strukturen der sozialen Ungleichheit bringen die Menschen, gewissermaßen: hinter ihrem Rücken, gerade
dann, wenn sie rational und situationsgerecht handeln, zu „freiwilligen“ Ent-
Die Wert-Erwartungstheorie
275
scheidungen, die als aggregiertes Ergebnis just diese Strukturen der sozialen
Ungleichheit immer wieder neu konstituieren. Die kollektiven Effekte des
Bildungsverzichtes der unteren Schichten führen zu einem Strukturgleichgewicht, das von alleine und auch durch politische Maßnahmen kaum zu ändern
ist. Dieses Strukturgleichgewicht ist eine unintendierte Folge des subjektiv
sinnhaften, und daher: berechenbaren, Handelns der Menschen. Es ist, wenn
man das so sagen möchte, die Erzeugung kollektiver Irrationalität über die
Logik der subjektiven Vernunft bei den einzelnen Handlungen.
***
So weit die Beispiele. Sie sollten zeigen, wie das Instrument der WE-Theorie
zur Modellierung von Situationen und zur Erklärung des Handelns in Situationen angewandt werden kann. Wir werden das Instrument noch an vielen
Stellen dieses Buches und für ganz unterschiedliche Problemstellungen nutzen. Oft werden Sie überrascht sein, wie einfach plötzlich manche Vorgänge
erklärbar werden, mit denen sich die Soziologie lange herumgeplagt hat. Etwa: Warum Revolutionen meist erst dann ausbrechen, wenn es den Menschen
etwas besser geht; warum die kommunikative Verständigung keine Lösung
von Konflikten zwischen Gruppen sein kann; oder warum und unter welchen
Umständen moralische Bindungen auch unter Opportunisten und Egoisten
entstehen. Daß das Modell so einfach ist, sollte man ihm nicht anlasten. Im
Gegenteil. Auf die Schwächen des Modells werden wir noch ausführlich zu
sprechen kommen – gleich anschließend in Kapitel 8 zum Beispiel. Die gibt
es nämlich ohne Zweifel auch. Aber jetzt sei schon verraten: Trotz aller –
wirklichen und behaupteten – Unzulänglichkeiten gibt es für die Zwecke der
soziologischen Erklärung keine ernsthafte Alternative zur WE-Theorie.
7.3
Spezielle Situationen
Die WE-Theorie faßt das Handeln als eine Selektion unter Alternativen, als
eine „Wahl“ auf. Etwas anderes ist eigentlich auch kaum denkbar: Jedes Handeln muß ja einer Entscheidung folgen, bei der andere Möglichkeiten als die
jeweils gewählte eben nicht selektiert werden. Diese anderen Möglichkeiten
gibt es zwar nach dem Handeln weiter, wenngleich vielleicht nicht mehr unverändert, aber die eine Alternative ist auf jeden Fall „gewählt“ worden. Man
sollte sich freilich von den Worten „Entscheidung“ und „Wahl“, wie oben bereits angedeutet, nicht in die Irre führen lassen: Im Zusammenhang der WETheorie heißt das keineswegs, daß der Akteur willkürlich und „frei“ machen
276
Situationslogik und Handeln
kann, was er will, daß es keine Zwänge, Konflikte, Fehler, Irrtümer, Unsicherheiten, Beschränkungen oder Festlegungen gäbe. Im folgenden Abschnitt
wollen wir auf einige spezielle Situationen eingehen, für die oft angenommen
wird, daß die Theorie des rationalen Handelns für sie nicht anwendbar ist: innere Konflikte, Zwänge, Unbedingtheit und Unsicherheit. Wir werden sehen,
daß gerade die WE-Theorie helfen kann, deren Grundstrukturen besser zu verstehen.
7.3.1 Innere Konflikte
Nicht immer fallen den Akteuren ihre Entscheidungen leicht. Es gibt drei
Quellen der Beunruhigung, des Bedauerns und der Unzufriedenheit bei einer
einmal getroffenen, ansonsten aber durchaus „rationalen“ Entscheidung. Alle
haben sie damit zu tun, daß die Folgen der gewählten Handlung unvermeidliche innere Widersprüche oder innere Konflikte nach sich ziehen.
Die inneren Konflikte, die Akteure mit sich selbst bei einer Entscheidung auszutragen haben,
sind natürlich von den Konflikten zwischen Akteuren oder Gruppen zu unterscheiden, obwohl die Grundstruktur durchaus ähnlich ist: Sie entstehen allesamt dadurch, daß der
Nutzengewinn durch eine Alternative zwingend einen Nutzenverlust mit sich bringt (zu den
Konflikten zwischen Akteuren und Gruppen vgl. bereits Abschnitt 4.3, sowie noch Band 3,
„Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
Drei Arten solcher inneren Konflikte sind zu unterscheiden: der AppetenzAversions-Konflikt, der Aversions-Aversions-Konflikt und der AppetenzAppentenz-Konflikt.
Der Appetenz-Aversions-Konflikt
Der erste Fall ist der, daß bei der gewählten Alternative zwar das EU-Gewicht
das höchste ist, daß darin aber ein hoher Anteil an negativ bewerteten Folgen,
Kosten also, enthalten ist. Beispielsweise sei für die Alternative Ai das EUGewicht gleich 20, es setze sich aber aus einem Nutzen von 100 und aus Kosten von –80 zusammen. Dagegen sei das Gewicht einer Alternative Aj so bestimmt: 20 Nutzeneinheiten und keine Kosten. Das EU-Gewicht – als NettoNutzen – ist jeweils genau das gleiche: 20 Nutzeneinheiten. Der Akteur müßte
zwischen beiden Alternativen indifferent sein. Aber wir ahnen es deutlich: Im
zweiten Fall fühlt er sich vergleichsweise besser als im ersten. Die „reine“
WE-Theorie beachtet aber nicht, daß sich beide Fälle „psychologisch“ unterscheiden. Für sie zählt nur der Überschußbetrag des Nutzens über die Kosten:
Die Wert-Erwartungstheorie
277
der sog. Netto-Nutzen. Alles, was an inneren Kosten noch wirklich hinzukäme, müßte von diesem Nutzen vorher abgezogen werden.
Die inneren Kosten der Inkonsistenz einer Entscheidung könnten beispielsweise so berücksichtigt werden, daß das Verhältnis von Kosten und Nutzen bei den Alternativen berechnet
und mit einem gewissen Gewichtungsfaktor (etwa 0.10) versehen wird und daß das Ergebnis
von dem ursprünglichen Netto-Nutzen noch einmal abgezogen wird. Für die Alternative Ai
ergäbe sich beispielsweise dann als Wert für den inneren Streß der folgende Betrag:
(80/100)*(0.10)=8. Dann wäre der „Netto“-Netto-Nutzen von Ai gleich 100-80-8=12. Und es
würde – natürlich: ceteris paribus – die konsistente, streßfreie Alternative Aj gewählt, bei der
es von dem einfachen Netto-Nutzen von 20 ja keinen Streßabzug gibt: (0/20)*(0.10)=0.
In der Sprache der Psychologie wird die beschriebene Situation bei der Wahl
von Ai als Appetenz-Aversions-Konflikt bezeichnet. Immer wenn es Aufwand,
Kosten und entgangene Gelegenheiten für eine Handlung gibt, entsteht ein
solcher Konflikt. Er ist unvermeidlich, solange es Knappheiten gibt und solange man immer etwas herausgeben muß, wenn man etwas haben will, solange es, wie die Ökonomen sagen, Opportunitätskosten einer Selektion gibt.
Also: Praktisch immer. Über diese Tragik des menschlichen Lebens hatte ja
schon George C. Homans Klage geführt (vgl. Abschnitt 6.1).
Der Aversions-Aversions-Konflikt
Der zweite Fall ist der des Galeerensklaven. Er hat die „freie“ Wahl zwischen
verschiedenen, sämtlich deutlich negativ bewerteten Alternativen: Weiterrudern oder Tod durch Kielholen. Für welche Variante auch immer er sich entscheidet: Immer wird der „Nutzen“ negativ sein. Besonders unangenehm ist
der Fall, wenn eine Alternative so übel ist wie die andere, wie bei der Wahl
zwischen Pest und Cholera, oder zwischen Gaskammer und elektrischem
Stuhl.
Dieser Fall wird auch als Aversions-Aversions-Konflikt bezeichnet. Alle
Alternativen, die diese mißliche Situation beenden könnten, würden sofort ergriffen – auch bei sehr hohem Risiko des Mißlingens. Was steht im Kommunistischen Manifest von Karl Marx und Friedrich Engels? Richtig: Die Proletarier haben nichts zu verlieren als ihre Ketten! Und was sagten sich die Bremer Stadtmusikanten? Genau: Etwas Bess’res als den Tod finden wir überall!
Die typische Lösung dieses Konfliktes ist auch tatsächlich die Flucht aus den
Verhältnissen, in die ein Akteur sich unauflösbar verstrikt zu haben glaubt,
sobald dies – nach den Regeln der WE-Theorie! – möglich und erfolgbringend erscheint. Nicht selten ist es die Flucht in die Resignation.
278
Situationslogik und Handeln
Der Appetenz-Appetenz-Konflikt
Der dritte Fall ist das „positive“ Spiegelbild dieser Situation. Es ist der Konflikt jenes Esels, der – einer fälschlicherweise dem Philosophen und Physiker
Johannes Buridanus (1300-1358) zugeschriebenen Fabel zufolge – zwischen
zwei Heuhaufen verhungert. Buridans Esel, wie er auch genannt wird, steht
als vollkommen rationales Grautier nämlich zwischen zwei völlig gleichen
Heuhaufen, also Heuhaufen mit identischen EU-Gewichten. Er verhungert,
weil er sich in dieser Indifferenz „rational“ nicht entscheiden kann. Daß der
Esel ein solcher Esel ist und sich nicht entscheiden kann, hat erneut mit einem
inneren Konflikt zu tun: Welche Alternative auch immer gewählt würde – das
was er gewinnt, würde er im gleichen Zug an entgangenem Nutzen wieder
verlieren.
Bei Buridans Esel haben wir den Spezialfall, daß der Nutzen der gewählten
Alternative exakt gleich dem Nutzen jeder nicht gewählten Alternative ist.
Die Ökonomen nennen den bei einer Wahl entgangenen Nutzen der nicht gewählten Alternative auch Opportunitätskosten. Und das heißt hier: Die Opportunitätskosten der Wahl des einen Heuhaufens entsprechen genau dem
Nutzen des anderen Heuhaufens. Eine Wahl ist nicht möglich, weil die EUGewichte vollkommen gleich sind.
Der beschriebene Konflikt wird auch als Appetenz-Appetenz-Konflikt bezeichnet. Solche Konflikte sind relativ leicht zu lösen: Irgendein zufälliger
Einfluß von außen oder irgendein eigentlich bedeutungsloser Anhaltspunkt
bringt den Akteur einem der „attraktiven“ Ziele näher. Und dann gibt es – bei
hinreichender „Appetenz“ auf Heu natürlich – kein Halten mehr. Esel, die vor
der morgendlichen Heumahlzeit im Horoskop die Empfehlung „Alles Gute
kommt von links“ gelesen hätten, würden nur kurz zögern – und sich dann mit
großem Appetit auf den linken Heuhaufen stürzen. Wenn sich die Anziehungskraft von Alternativen nicht sehr unterscheidet, wird die Orientierung an
Aberglaube und Äußerlichkeiten – wie Kohls Buddhagestalt, Lafontaines
spitze Nase oder die drei Punkte der FDP – also durchaus zu einer „rationalen“ Handlung: Man vermeidet das nervende Schwanken zwischen Möglichkeiten, die sich in nichts voneinander unterscheiden.
***
Alle diese Fälle haben etwas mit den inneren Dissonanzen zu tun, die die
Wahl einer Alternative bei einem Akteur notwendig auch dadurch erzeugt,
daß auf die jeweils andere Alternative verzichtet werden muß. Innere Konflikte lassen sich – wie wir gesehen haben – leicht im Rahmen der WE-Theorie
Die Wert-Erwartungstheorie
279
modellieren. Einer der Väter der WE-Theorie, Kurt Lewin, hat auch selbst die
Grundlagen für die beschriebene Konflikt-Typologie und für die Erklärung
typischer Reaktionen darauf geliefert10.
Ein wichtiges Problem bleibt aber noch: Es liegt vorab nicht fest, ab wann
es den Akteuren um „Gewinn“ oder um „Verlust“, also dann auch: wann es
um einen Appetenz-Appetenz- oder um einen Aversions-Aversions-Konflikt,
geht. Dies hängt – bis auf die drastischen Extrempunkte des Galeerensklaven
im Vergleich zu, sagen wir einmal, Gloria von Thurn und Taxis – wieder von
der „Definition“ der Situation ab. Das oben (in Abschnitt 7.2) beschriebene
Experiment von Tversky und Kahneman war ein Hinweis auf solche Vorgänge. Wir kommen auf dieses Problem noch häufiger zurück, gleich im nächsten
Kapitel 8 und vor allem in Band 6 dieser „Speziellen Grundlagen“ über „Sinn
und Kultur“, wenn es um den „Bezugsrahmen“ des Handelns geht.
7.3.2 Zwänge
Die „Wahl“ einer Handlung nach der WE-Theorie hat nichts damit zu tun, daß
die Akteure frei von Zumutungen wären. Im Gegenteil: Nichts bedrängt und
verdrängt den „freien“ Willen mehr als die Einsicht, daß eine bestimmte Alternative ein deutlich höheres EU-Gewicht hat als die andere. Eine „freie“
Wahl hätte nur der Esel von Buridan – oder ein Verrückter. Aber auch die
sind ja nicht besonders gut dran. Die Stärke der „Auferlegtheit“ von EUGewichten in einer Situation wollen wir allgemein als Zwang bezeichnen. Das
muß nicht immer ein Zwang sein, der den Menschen unwillkommen ist: Es
gibt auch Zwänge, denen die Akteure ganz zwanglos folgen – weil die sich
aufdrängende Alternative ganz und gar ihren Interessen und Zielsetzungen
entspricht. Drei Arten von Zwängen wollen wir in diesem Zusammenhang unterscheiden: den repressiven Zwang, den Zwang der guten Gelegenheit und
den zwanglosen Zwang der besseren Einsicht.
Repressiver Zwang
Diese Situation haben wir bereits kennengelernt. Es ist die des Galeerensklaven, der nur die „Wahl“ zwischen zwei deutlich negativ bewerteten Alternativen hat: Weiterrudern oder Tod. Wenn das Weiterrudern mit allen seinen Un10
Kurt Lewin, The Conceptual Representation and the Measurement of Psychological
Forces, Durham, N.C., 1938; Kurt Lewin, Resolving Social Conflicts, New York 1948;
John W. Atkinson 1975, S. 158ff.
280
Situationslogik und Handeln
annehmlichkeiten mit einem sicher zu erwartenden Wert von -1000 angesetzt
wird, der Tod durch Kielholen aber mit einem ebenso sicher zu erwartenden
Wert von -2000, dann ist es vernünftig und nutzenmaximierend, weiterzurudern – sofern die Wahrscheinlichkeit für irgendeine bessere Alternative gleich
null ist. Es ist das kleinere Übel. Aber schon die kleinste Gelegenheit mit einem neutralen oder gar positiven Nutzen und einer noch so kleinen Erwartung
p>0 würde die Situation sofort ändern. Nun gäbe es eine Alternative mit einem EU-Gewicht, das größer ist als die beste der beiden schlechten Gelegenheiten. Die Fortdauer von sehr repressiven Verhältnissen lebt davon, daß es
wirklich keine Alternative gibt. Das ist nicht nur auf Galeeren so.
Der Zwang der guten Gelegenheit
Der Zwang der guten Gelegenheit besteht in der – erfreulichen – Situation,
daß es eine Alternative mit einem sehr hohen positiven Wert gibt, und daß die
nächstbeste Alternative dazu sehr viel niedriger bewertet wird, am besten sogar: deutlich negativ. Etwa: Die Alternative Ai habe ein EU-Gewicht von
1000, die dazu nächstbeste Alternative Aj eines von -2000. Das wäre etwa der
Fall des Spekulanten an der Börse, der von einem lukrativen Insidergeschäft
Wind bekommen hat und aus sicherer Quelle auch erfahren hat, daß die andere Firma, auf die er setzen wollte, kurz vor dem Zusammenbruch steht. Nicht
nur ist der Ertrag des Handelns dann sehr attraktiv, auch die Differenz in den
Bewertungen ist sehr groß, und folglich sind die Opportunitätskosten sowie
die inneren Konflikte entsprechend gering. Der Akteur hätte zwar immer noch
die „freie“ Wahl, etwas anderes zu tun. Aber er wäre ganz schön dumm, sich
diesem Zwang der guten Gelegenheit nicht zu ergeben. Gerade darin, im strikten Befolgen der nützlichen Logik der Situation besteht die „Freiheit“ des
Menschen. Max Weber hat diese scheinbare Paradoxie zwischen Willensfreiheit und Situationsdeterminiertheit mit einem gut nachvollziehbaren Beispiel
so beschrieben:
„Gerade der empirisch ;frei’, d.h. nach Erwägungen Handelnde, ist teleologisch durch die,
nach Maßgabe der objektiven Situation, ungleichen und erkennbaren Mittel zur Erreichung
seiner Zwecke gebunden. Dem Fabrikanten im Konkurrenzkampf, dem Makler auf der Börse
hilft der Glaube an seine ‚Willensfreiheit’ herzlich wenig. Er hat die Wahl zwischen ökonomischer Ausmerzung oder der Befolgung sehr bestimmter Maximen des ökonomischen Gebarens.“11
11
Max Weber, Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie. III. Knies und das Irrationalitätsproblem, in: Max Weber, Gesammelte Aufsät-
Die Wert-Erwartungstheorie
281
Erst wenn sich die Akteure erkennbar nicht an die deutlichen Vorgaben eines
solchen Zwanges der guten Gelegenheit halten, sind Zweifel an ihrer Rationalität und an ihrer „Willensfreiheit“ angebracht. Und gerade darauf, daß es die
freie Entscheidung zur Unterordnung unter den Zwang der guten Gelegenheit
wirklich gibt, beruhen die „Gesetze“ von Wirtschaft, Gesellschaft und Geschichte:
„Befolgt er (der Fabrikant bzw. der Makler; HE) sie zu seinem offenkundigen Schaden nicht,
so werden wir zur Erklärung – neben anderen möglichen Hypothesen – eventuell gerade auch
die in Betracht ziehen, daß ihm die ‚Willensfreiheit’ mangelte. Gerade die ‚Gesetze’ der theoretischen Nationalökonomie setzen, ganz ebenso wie natürlich auch jede rein rationale Deutung eines historischen Einzelvorgangs, das Bestehen von ‚Willensfreiheit’ in jedem auf dem
Boden des Empirischen überhaupt möglichen Sinn des Wortes notwendig voraus.“ (Ebd.;
Hervorhebung im Original)
Den Zwang der guten Gelegenheit gibt es auch unter repressiven Verhältnissen: Wenn das geringere Übel sehr viel weniger übel ist als das größere Übel.
Man könnte diesen Fall als den Zwang des kleineren Übels bezeichnen. Und
ganz allgemein ist es dann sinnvoll, alle diese Fälle als den Zwang der relativ
besten Gelegenheit zu verstehen – egal ob im Gewinn- oder im Verlustbereich.
Der zwanglose Zwang des besseren Argumentes
Es gibt einen Spezialfall der beschriebenen Situation eines Zwanges der guten
Gelegenheit: der eigentümlich zwanglose Zwang, der sich ergibt, wenn Akteure – etwa im Verlaufe von Gesprächen – herausfinden, daß eine bestimmte
Einsicht richtig ist und eine andere, die zuvor auch als möglich galt, sich eben
als falsch erweist. Das ist oft bei Diskussionen über wissenschaftliche Wahrheiten, ästhetische Urteile oder moralische Wertungen so. Häufig gibt es dabei
ein, wenngleich sachfremdes, so doch wirksames, psychologisches Problem:
Derjenige, der zunächst die „falsche“ Ansicht vertreten hat, befürchtet negative Folgen, wenn er dem, rein „rational“ gesehen: unabweisbaren, Urteil einfach nur so beitritt: Statusverlust, Beschämung über die eigene Unkenntnis,
Schadenfreude der anderen, vielleicht sogar Entlassung wegen erwiesener Inkompetenz. Oft steht eine ganze Biographie auf dem Spiel: Wer – etwa – sein
Leben lang nur Radikalen Konstruktivismus getrieben hat, kann nicht ohne
weiteres eingestehen, daß er seine ganze Energie für eine unsinnige Hochstapelei verschwendet hat – auch wenn das „rationale“ Urteil des wissenschaftlize zur Wissenschaftslehre, 5. Aufl., hrsg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 1982c
(zuerst: 1904), S. 133; Hervorhebung so nicht im Original.
282
Situationslogik und Handeln
chen Diskurses unter kompetenten Sprechern das noch so sehr nahelegen
mag. Kurz: Es gibt oft hohe Kosten für die Zustimmung zu einem „an sich“
zwingenden, am Code der Wahrheit orientierten und für alle nützlichen rationalen Konsens.
Die Situation läßt sich wiederum sehr leicht in die Sprache der WE-Theorie übersetzen. Es
sei Az die Alternative der Zustimmung zu einem Urteil, und Aa die der Ablehnung. Zustimmung habe die Erzeugung eines Konsenses zur Folge, der mit dem Wert Uc, aber auch mit
den Befürchtungen C belegt sei. Das EU-Gewicht für die Zustimmung ist dann EU(Az)=UcC. Bei Ablehnung gebe es nichts weiter. Also: EU(Aa)=0. Alles hängt nun – wie üblich – von
den relativen Größen der Variablen ab. Und wenn die Zustimmungskosten höher sind als der
Nutzen des Konsenses, wird der Beitritt zum rational richtigen Urteil verhindert. Wenn ein
Lebenswerk zu scheitern droht oder der gute Ruf in der scientific community auf dem Spiel
steht, dann ist das wohl meist der Fall.
Alles hängt dann davon ab, daß die Zustimmungskosten verringert oder gar
auf null gesetzt werden. Wie soll das gehen? Von Karl R. Popper stammt dazu
die Idee von der Institutionalisierung von Kritik und von Jürgen Habermas
das Konzept des herrschaftsfreien Diskurses und der idealen Sprechsituation.
Gemeint ist beide Male das Gleiche: Sind die sachfremden Zwänge ausgeschaltet und geht es in der Produktion von Wertschätzung nur um die Wahrheit und die Richtigkeit des Urteils, dann sind in diesem institutionellen Rahmen die Zustimmungskosten C gleich null. Und dann waltet in der Tat jener
eigentümlich zwanglose Zwang, der schon den Fabrikanten und Makler bei
Max Weber so wirksam in seinem „freien Willen“ dirigierte, auch bei den
Teilnehmern an einer Diskussion, bei der nicht alle Recht behalten können,
die zuvor verschiedener Auffassung waren.
7.3.3 Auferlegtheit und Unbedingtheit
Auch die Zwänge haben offenbar etwas mit den inneren Konflikten und mit
den (Opportunitäts-)Kosten zu tun. Ein Zwang liegt dann vor, wenn die Differenz zwischen der erst- und der zweitbesten Alternative sehr hoch ist. Dann
gibt es zwar noch die Frage, ob es ein repressiver Zwang ist, der einer besonders guten Gelegenheit oder einer des besseren Argumentes. Aber in allen diesen Fällen gilt: Viel innerlich abgewogen wird bei der Entscheidung nicht,
weil die Logik der Situation so überaus deutlich ist. Dies ist das Problem der
„Auferlegtheit“ einer Situation und der „Unbedingtheit“ eines Handelns darin.
In Abschnitt 6.8 hatten wir Jon Elster erwähnt, der eine deutliche Unterscheidung zwischen dem rationalen und dem normativen Handeln gemacht hatte.
Und nicht erst Jon Elster hat gemeint, daß alle diese Einzelheiten rationaler
Erklärungen ja ganz hübsch und für viele Zwecke gut brauchbar sind – aber
Die Wert-Erwartungstheorie
283
nur für den Fall des „ökonomischen“ Handelns. Wenn – wie beim sozialen
Handeln üblicherweise – Normen und Werte beteiligt seien, dann gelte eine
ganz andere Logik der Selektion: Die besondere Logik des normativen Handelns (vgl. dazu noch ausführlich Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen
Grundlagen“). Hierbei komme es – ganz anders als bei der Logik des rationalen Handelns – eben nicht auf die erwarteten oder gar kalkulierten Folgen an.
Vielmehr würde der Akteur von ihnen unwiderstehlich mitgerissen: „Norms
have a grip on the mind“, schreibt Jon Elster.12 Mehr noch: „The operation of
norms is to a large extent blind, compulsive, mechanical or even unconscious“
(Ebd.). Kurz: Über die Befolgung von Normen (und Werten) wird nicht lange
nachgedacht. Sie „erfassen“ den Akteur. Und die Konsequenzen seines Tuns
spielen dabei keine Rolle. Wirklich?
Was heißt „Unbedingtheit“
Zunächst ist festzuhalten, daß ganz ohne Bezug auf Konsequenzen auch die
Normen nicht funktionieren. Wenigstens einen Teil ihrer starken „Geltung“
gewinnen sie durch die sog. Sanktionen. Das sind gewisse, mit der Befolgung
oder Mißachtung von Werten und Normen verbundene Folgen, positiver wie
negativer, äußerlich oder innerlich erlebter Art. So weit gibt es also offenbar
keine Probleme mit den Normen im Rahmen der WE-Theorie. Was aber ist
mit dem „grip on the mind“ durch die Normen und die Werte? Was ist mit der
„mechanical“ Ausschaltung jeder „rationalen“ Kalkulation? Was ist mit der
bedingungslosen Identifikation mit den Rollen, auf die Friedrich A. Tenbruck
in seiner Kritik an dem so kühl kalkulierenden homo sociologicus von Ralph
Dahrendorf hingewiesen hatte (vgl. Abschnitt 3.1)? Kurz: Was ist mit der
„Unbedingtheit“, mit der Normen, Werte und soziale Rollen oftmals den Akteur erfassen und ihn – wie es wenigstens scheint – „blind“ und „compulsive“
zum Handeln treiben?
Es gibt sicher viele unterschiedliche Varianten des Verständnisses dieser Unbedingtheit. Eine
könnte sein, daß der Akteur sicher glaubt, daß die Norm allgemein „gilt“ und daß es deshalb
sehr ratsam ist, sich auch selbst daran zu halten. Eine andere Möglichkeit wäre die Annahme
eines sehr großen Wertes der internen Sanktionen, durch den die anderen Bestandteile der
EU-Gleichung gewissermaßen komplett in den Hintergrund gedrängt werden. Wenn beides
zusammentrifft – hoher und sicherer Wert des normativen Handelns –, dann kommt den Akteuren nichts anderes in den Sinn. Das wäre im übrigen nur eine Variante der oben beschriebenen Situation des Zwanges der guten Gelegenheit: Die normativ gebotene Handlung ist
12
Jon Elster, The Cement of Society. A Study of Social Order, Cambridge 1989b, S. 100;
Hervorhebung so nicht im Original.
284
Situationslogik und Handeln
dann die bei weitem „beste“ Alternative. Und deshalb kommt für den Akteur gar nichts anderes in Frage.
Wir wollen eine weitere, wohl eigentlich immer gemeinte, Interpretation von
Unbedingtheit besprechen – jene nämlich, die auch Jon Elster nahelegt: Bei
Normen und Werten wird nicht „rational“ nachgedacht, sondern unmittelbar
und automatisch reagiert. Es wird also, in der Sprache des Abschnitts 6.8 aus
dem letzten Kapitel, der Modus gewechselt, über den das Handeln selektiert
wird: nicht mehr die mühselige innere Berechnung von EU-Gewichten, sondern die unmittelbare und unreflektierte Ausführung der Handlung – wenn es
die betreffende Situation gibt.
Der Wechsel des Modus
Wie aber könnte man diesen Wechsel im Modus erklären? Nichts leichter als
das: Auch der Modus der Selektion des Handelns ist ein Handeln. Es ist ein
innerliches Tun, eine interne Selektion zwischen – wenigstens – zwei Möglichkeiten: automatische Ausführung ohne Bedenken von Konsequenzen versus rationale Reflektion der Folgen. Und zwischen diesen Möglichkeiten des
Modus wird auch „entschieden“. Und zwar: nach den Regeln der WETheorie.
Wir wollen die beiden Alternativen der automatischen Reaktion versus der reflektierten Aktion mit Aap und Arc bezeichnen. Wie sehen die EU-Gewichte für die beiden Modi dann aus?
Zunächst das EU-Gewicht für die automatische Reaktion: Mit der automatischen Reaktion
tritt – in der unmittelbaren inneren Erwartung des Akteurs – die bisher in ähnlichen Fällen
übliche Situation ein. Sie werde einfach mit Uap bewertet. Da es keinen Grund gibt, am Eintreten der Situation zu zweifeln, kann dieser Wert mit einer Erwartung von 1 gewichtet werden, und die Komplementärerwartung, daß Uap nicht realisiert werde, ist daher gleich null.
Nun die EU-Gewichte für die reflektierte Aktion: Das „Ziel“ der Reflektion ist die erfolgreiche Suche nach der „besten“ Alternative – jenseits der standardmäßig üblichen. Nur deshalb
werden ja die Folgen intern bewertet und die Alternativen mühsam gewichtet. Der Akteur
vollzieht nun innerlich eine grobe Schätzung über einen möglichen Mehrertrag seines Handelns bei Reflektion, auch darüber natürlich, was eine Abweichung von der Norm erbringen
könnte. Diesen möglichen höheren Wert wollen wir mit Urc bezeichnen. Der Akteur weiß dabei nur, daß dieser Wert erreichbar ist. Er weiß aber noch nicht, was zu tun ist, und ob er bei
der Suche danach auch erfolgreich ist. Er weiß nur, daß er zuvor etwas nachdenken muß –
und dann vielleicht die Lösung findet. Die Erwartung, daß er dabei erfolgreich ist, wollen wir
mit p kennzeichnen. Damit wird Urc gewichtet. Ist der Akteur bei seiner „rationalen“ Suche
nach einer besseren Lösung nicht erfolgreich, dann hat er immer noch Uap zu erwarten – mit
der Wahrscheinlichkeit (1-p). Etwas fehlt noch: Jede innere Kalkulation von Folgen erfordert
– anders als die automatische Reaktion – einen gewissen Aufwand. Den wollen wir mit C bezeichnen. Er muß von den Anreizen zur rationalen Kalkulation abgezogen werden.
285
Die Wert-Erwartungstheorie
Mit diesen Überlegungen lassen sich die Gleichungen für die EU-Gewichte
bei der inneren Entscheidung für den automatischen oder für den reflektierten
Modus so schreiben:
EU(Aap) = Uap
EU(Arc) = pUrc + (1-p)Uap - C.
Die Gleichungen erinnern an das in Abschnitt 7.2 besprochene Beispiel über
die Bildungsentscheidungen. Dort hatten wir auch schon so etwas wie die
„Unbedingtheit“ eines Normalstandards feststellen können: Die unteren
Schichten sind nur sehr schwer dazu zu bewegen, ihren Standard-Modus der
Bildungsabstinenz aufzugeben. Auf eine ähnliche Weise können wir nun sehen, warum und wann Menschen ganz automatisch den normativen Standards
folgen – und wann aber auch nicht. Dazu geben wir auch hier wieder die Übergangsschwelle an, bei der Akteure vom automatischen auf den reflektierten
Modus überwechseln würden. Ähnlich wie bei dem Beispiel über die Bildungsentscheidung ist das genau dann der Fall, wenn gilt: Urc-Uap>C/p. Und
auch hier wird die Sache erst mit einem graphischen Diagramm richtig deutlich (Abbildung 7.2):
Urc – Uap
C/p
*3
A rc
*2
C
A ap
*1
1
p
Abb. 7.2: Die Unbedingtheit von Normen und die Bedingungen im Wechsel des Modus
der Selektion des Handelns
286
Situationslogik und Handeln
Die Region unterhalb der C/p Linie bezeichnet alle Kombinationen von
Urc−Uap und p, bei denen der Akteur den automatischen Modus Aap, die
Region oberhalb, bei denen er den reflektierenden Modus Arc „wählt“. Die
Unbedingtheit des normativen, automatischen Reagierens können wir jetzt
sogar formal und als Variable definieren: Es ist der Abstand, den der Akteur
in der Region Aap zur Übergangsschwelle C/p hat. Drei Fälle wollen wir etwas
näher betrachten.
Der Fall (1) ist jener, an den Jon Elster – und mit ihm fast die komplette Zunft der Soziologen
– beim normativen Handeln ganz automatisch denken: Automatisches Reagieren. Der Abstand zur Übergangsschwelle C/p nach Arc ist sehr groß. Das hat zwei Gründe: Erstens steht
nicht viel auf dem Spiel, wenn blind der Norm gefolgt wird: Die Differenz Urc-Uap ist fast
gleich null. Sie könnte – theoretisch – sogar negativ werden. Dann würde der Abstand sogar
noch größer. Und zweitens ist die Erwartung, etwas Besseres zu finden, sehr klein. Beides hat
zur Folge, daß es jetzt beträchtliche Spielräume für die Veränderung sowohl der Anreize Urc
wie der Erwartungen p gäbe. Auch größere Änderungen belassen den Akteur im ap-Modus,
solange die Übergangsschwelle nicht überschritten wird. Aber es gibt dann eine Annäherung
an die Übergangsschwelle. Ein solcher Fall ist in Situation (2) beschrieben. Zwar wird auch
nun der automatische Modus (noch) beibehalten. Aber es gibt etwas, was Jon Elster gerade
ausschließen wollte: Zweifel und Fragen, ob nicht vielleicht doch etwas mehr Nachdenken
angebracht wäre. Der Fall (3) beschreibt schließlich jene Situation, die man normalerweise
mit „rationaler Wahl“ verbindet: Der Akteur befindet sich ganz fraglos und „automatisch“ im
Modus der rationalen Kalkulation der Folgen. Dazu hat er sich aus drei Gründen innerlich
entschieden: Erstens lohnt sich das rationale Kalkulieren, weil der Überschuß von Urc über Uap groß genug ist. Zweitens ist die Erfolgserwartung p hoch genug. Und drittens sind auch die
Kalkulationskosten C hinreichend niedrig. Aus dem letzten Punkt wird eine interessante Implikation des Modells sichtbar: Die Unbedingtheit der normativen automatischen Reaktion
kann auch dadurch entstehen, daß die Akteure wenig Möglichkeiten haben, nach anderen
Wegen zu suchen. Und noch ein – paradox klingendes – Detail sollte erwähnt werden: In der
Situation (3) folgt der Akteur auch ganz „unbedingt“ den Imperativen der Situation: Er beginnt ganz ohne Zögern und weitere Bedenken mit dem reflektierten Nachdenken über die
möglichen Folgen seines Tuns. Daß es auch ohne Reflektion ginge, kommt ihm nicht in den
Sinn.
Die Unbedingtheit der Werte und der Normen kann somit als eine Variable
verstanden werden, deren Ausprägung – letztlich – wieder auf Bewertungen
und Erwartungen, auf die Interessen und auf die Möglichkeiten der Akteure
zurückzuführen ist. Die Unbedingtheit verfällt, wenn die Beachtung der Werte
und Normen den Interessen der Menschen massiv zuwiderlaufen und/oder
wenn sich die Chancen für andere Möglichkeiten verbessern.
7.3.4 Unsicherheit
Bisher haben wir stets nur Situationen betrachtet, in denen die Akteure die
EU-Gewichte tatsächlich „berechnen“ konnten: Es gab eindeutige Bewertun-
Die Wert-Erwartungstheorie
287
gen und fest umrissene Erwartungen, sei es als sichere oder als riskante Erwartungen. Manchmal wissen die Akteure aber buchstäblich nichts über die
Wahrscheinlichkeiten, mit denen ihr Handeln zu bestimmten Ergebnissen
führt. Das ist die Situation der Unsicherheit: Die Einträge in der Erwartungsmatrix P sind dann – sozusagen – leer. Es könnten dort alle möglichen Ziffern
zwischen null und eins stehen. Und sofort stellt sich die Frage: Was ist zu
tun? Das Problem sei an einem kleinen Beispiel, erneut aus dem akademischen Leben, illustriert.
Noch ein Beispiel
Die Professorin Dr. Helma-Beate Wiesbaden-Wohlbestallt möchte um fast alles in der Welt die Leitung eines großen Forschungsinstitutes übernehmen,
um der etwas öden Welt des bloßen Universitätsdaseins und vor allem: der
langweiligen, durch Zwischenfragen der Studenten oft irritierenden und wenig
öffentlichkeitswirksamen Lehre zu entkommen. Direktor(in) dieser Art von
Institut kann aber – so sind die Usancen nun einmal – nur werden, wer einen
ganz bestimmten Kuratoriumsvorsitz einmal innegehabt hat. Dieser Vorsitz ist
– gewissermaßen – Voraussetzung und Zeichen einer möglichen Prädestination für das eigentlich erstrebte Amt, bedeutet aber keinerlei Sicherheit für die
wirkliche Erwählung. Die Ernennung selbst ist nämlich von einigen nicht
kontrollierbaren Unwägbarkeiten und unerforschlichen Ratschlüssen anderer
abhängig: Wer gewinnt die nächste Wahl? Bleibt dann auch der Ministeriale
im Amt, mit dem alles bereits so schön vorbereitet worden ist? Richtet der jetzige Direktor das Institut so zugrunde, daß die Geldgeber es inzwischen ganz
schließen? Gelingt es, rechtzeitig ein überzeugendes Programm vorzulegen?
Kurz: Über die Wahrscheinlichkeit, daß die schließliche Ernennung wirklich
gelingt, kann nichts gesagt werden.
Nun wird der Vorsitz des Kuratoriums – das Nadelöhr zum Himmelreich –
tatsächlich angeboten. Und dann die schwierige Frage: Annahme des Angebotes oder nicht?
Die Alternative A1 sei die Annahme, A2 die Ablehnung des Angebotes. Die Bewertungen
sind etwa so zu beschreiben: Der Vorsitz des Kuratoriums ist eigentlich schon recht lästig. Er
kostet an Mühe -60 Werteinheiten. Normalerweise würde man ihn weit von sich weisen.
Wird das Angebot angenommen, dann winkt der Direktorenposten mit einem Wert von 100,
und der Kuratoriumsposten kann dann ohne Gesichtsverlust abgegeben werden – falls es der
Himmel will und die Ernennung tatsächlich auch erfolgt. Stehen die Sterne nicht günstig, gibt
es keine Ernennung. Der an sich äußerst lästige Kuratoriumsposten muß dann auf Dauer behalten werden. Es gibt nun folglich einen Verlust von -60 – und sonst nichts. Bei Ablehnung
des Angebotes ist die Chance auf die Direktorenstelle dagegen mit Sicherheit dahin. Es bleibt
aber auch das Kuratorium erspart. Und die Universität macht immerhin noch eine mäßige
288
Situationslogik und Handeln
Freude von 10 Werteinheiten. Dies gilt – trivialerweise – für beide möglichen Fälle: günstige
oder ungünstige Sterne für den Direktorenposten – was bei Ablehnung des Angebotes aber
nicht mehr bedeutsam ist.
Die Struktur der Situation läßt sich dann so zusammenfassen:
Ernennung
keine Ernennung
Lmax
Gmax
A1
100
-60
-60
100
A2
10
10
10
10
Was soll Frau Professor Dr. Helma-Beate Wiesbaden-Wohlbestallt angesichts
dieser Konstellation vernünftigerweise tun, wenn über die Wahrscheinlichkeit
der Ernennung wirklich nichts vorab gesagt werden kann?
Die Minimierung des maximalen Verlustes
In der Theorie des Entscheidungshandelns sind verschiedene Regeln der Entscheidung für solche Fälle der Unsicherheit vorgeschlagen worden. Eine der
naheliegendsten ist die folgende: Für jede Zeile der möglichen outcomes einer
Handlung wird der geringste Wert bestimmt. Das ergibt den Vektor der maximalen Verluste. Im Beispiel ist dieser Vektor in der Spalte Lmax aufgeführt.
Die Entscheidungsregel lautet dann: Minimiere den maximalen Verlust. Dieses Kriterium wird auch die Maximin-Regel genannt. Nach der MaximinRegel würde das Angebot nicht angenommen, eben weil –60 deutlich weniger
als 10 Einheiten sind, und weil die Vermeidung des Verlustes noch nicht einmal „kalkuliert“, geschweige denn: kontrolliert werden kann.
Pessimismus und Optimismus
Die Maximin-Regel ist etwas für Pessimisten. Sie bietet sich für den Fall der
kompletten Unsicherheit an, für den wirklich keinerlei Wahrscheinlichkeit
angegeben werden kann, und für Fälle, in denen tatsächlich eine, wenngleich
noch so unwahrscheinliche, aber nicht auszuschließende, Katastrophe droht.
Mit einer ähnlichen Überlegung hatte der französische Philosoph und Mathematiker Blaise
Pascal (1623-1662) gezeigt, daß es eigentlich zwingend sei, katholisch zu werden. Das Argument: Wenn es zwar vielleicht sehr unwahrscheinlich, aber gleichwohl nur irgendwie möglich ist, daß der Katholizismus doch wahr wäre, und wenn einen Atheisten oder gar Protestan-
Die Wert-Erwartungstheorie
289
ten in diesem Fall tatsächlich Höllenqualen mit einem Nutzenwert von minus unendlich erwarten, dann ist es gerade für einen rationalen Atheisten bzw. Protestanten zwingend, katholisch zu werden, will er der ewigen Verdammnis mit Sicherheit entgehen. Pascal wurde übrigens in seinem Alter ein gefürchteter katholischer Mystiker.
Also: Nur wenn das ungünstige Ereignis wirklich und mit Sicherheit ausgeschlossen ist, kann die Katastrophe vermieden werden. Aber gerade das weiß
der Akteur unter Unsicherheit nicht. Er kennt ja noch nicht einmal das Risiko.
Und Pessimisten schrecken schon vor wesentlich kleineren Katastrophen als
Hölle und Fegefeuer zurück.
Ein Optimist würde die Sache anders sehen: Es wird schon alles gut gehen!
Er würde für jede Alternative den maximalen Gewinn heraussuchen und dann
die Alternative wählen, bei der der jeweils maximale Gewinn maximal ist. Im
Beispiel stehen die maximalen Gewinne in der Spalte Gmax. Gewählt würde
nach diesem Kriterium die Alternative A1. Das Kriterium wird auch als Maximax-Regel bezeichnet.
Optimismus und Pessimismus oder Risikoscheu und Risikofreudigkeit als
„Erklärung“ sind gleichwohl keine sehr befriedigenden Auskünfte. Denn:
Wann wird man Optimist und risikofreudig? Und wann bleibt man Pessimist
und risikoavers? Hat das vielleicht doch etwas mit den Auszahlungen zu tun?
Was wäre zum Beispiel, wenn der Direktorenposten nicht mäßige 100, sondern gar 10 000 Werteinheiten brächte? Könnte man sich dann nicht doch
auch als Pessimist auf das Risiko einer Entscheidung unter Unsicherheit einlassen?
Wir wissen nicht, was Frau Professor Dr. Helma-Beate WiesbadenWohlbestallt getan hat. Wahrscheinlich hat sie es so weit nicht kommen lassen, sondern ihre Ernennungschancen mit anderen Mitteln abgesichert, oder
wenigstens: verläßlicher erkundet, wie es um ihre Chancen steht und die unberechenbare Unsicherheit in ein kalkulierbares Risiko abgewandelt. Dann
aber hat sie sich – irgendwie – entschieden, nach den Regeln der WE-Theorie.
Was heißt „Unsicherheit“?
Genau das ist auch wohl die vernünftigste Reaktion auf die Situation der Unsicherheit: Zu versuchen, die Unsicherheit zu vermindern – und dann erst eine
Entscheidung zu treffen, wenn man die wichtigen Parameter beisammen hat.
Was aber bedeutet „Unsicherheit“ genau? Der Ausgangspunkt der Überlegung
ist die Frage, wie sich Akteure Urteile über die Wahrscheinlichkeit des Eintretens bestimmter Ereignisse bilden. Bei Sicherheit wissen sie genau, daß ein
Ereignis entweder mit einer Wahrscheinlichkeit von eins oder mit einer Wahr-
290
Situationslogik und Handeln
scheinlichkeit von null auftreten wird. Darüber plagt sie kein Zweifel. Ganz
ähnlich ist es bei Risiko: Nun schätzen die Akteure eine bestimmte Wahrscheinlichkeit zwischen null und eins ein. Aber über den Wert dieser Schätzung sind sie sich ganz sicher. Es ist – sozusagen – die exakte „Punkt“Schätzung einer bestimmten Wahrscheinlichkeit, für die sie keinen Zweifel
haben, daß das Risiko diesen Wert, etwa: genau p=0.60 hat – und keinen anderen! Unsicherheit liegt demgegenüber vor, wenn es für keinen solchen Wert
der Wahrscheinlichkeiten eine solche Schätzung gibt: Alle denkbaren Wahrscheinlichkeiten p sind gleichermaßen wahrscheinlich.
Second Order Probabilities
Die Akteure haben also bestimmte Erwartungen über die Wahrscheinlichkeiten p für die verschiedenen outcomes.13 Diese Erwartungen über die Wahrscheinlichkeiten p werden auch als Meta-Erwartungen, als Erwartungserwartungen oder als second-order-probabilities (SOP) bezeichnet. Wir wollen sie
mit p’ kennzeichnen. Für die Werte von p’ einer SOP gibt es über alle denkbaren Werte von p dann eine bestimmte Verteilungsfunktion. In Abbildung
7.3 sind verschiedene solcher Verteilungen dargestellt. Im Fall der kompletten
Unsicherheit ist das die Gleichverteilung: Jedem denkbaren Wert von p zwischen 0 und +1 ist die gleiche SOP-Wahrscheinlichkeit p’ zugeordnet. Die
waagerechte Linie 1 kennzeichnet diese Gleichverteilung. Es ist der Zustand
der maximalen Unsicherheit.
Eine maximale Reduktion von Sicherheit – und damit: eine minimale Unsicherheit – liegt dann vor, wenn sich alle SOP-Schätzungen auf einen Wert
von p verteilen. Einen solchen Fall haben wir mit der senkrechten Linie 2 über
dem Wert p=0.6 gekennzeichnet. Es ist der Fall eines „sicher“ eingeschätzten
Risikos von 0.6. Die „Sicherheit“, daß eine Wahrscheinlichkeit von p=0 oder
eine von p=1 gelte, wäre folglich eine ähnliche punktuelle Verteilung von p’
13
Vgl. dazu: Hillel J.Einhorn und Robin M. Hogarth, Decision Making Under Ambiguity,
in: Robin M. Hogarth und Melvin W. Reder (Hrsg.), Rational Choice. The Contrast Between Economics and Psychology, Chicago und London 1986, S. 43ff. Die folgende Darstellung folgt einem Vorschlag von Volker Stocké, Relative Knappheiten und die Definition der Situation. Die Bedeutung von Formulierungsunterschieden, Informationsmenge
und Informationszugänglichkeit in Entscheidungssituationen: Ein Test der Framinghypothese der Prospect-Theory am Beispiel des ‚asian disease problem‘. Zwischenbericht
des Forschungsvorhabens „Zum Framing von Entscheidungssituationen“ (Universität
Mannheim), Mannheim 1996, S. 19ff.; Volker Stocké, Framing oder Informationsknappheit? Zur Erklärung der Formulierungseffekte beim Asian-Disease-Problem, in: Ulrich
Druwe und Volker Kunz, Anomalien in der Handlungs- und Entscheidungstheorie, Opladen 1998, S. 197-218.
291
Die Wert-Erwartungstheorie
auf den Werten p=1 oder p=0. Die entsprechenden senkrechten Linien haben
wir aus optischen Gründen nicht in das Diagramm eingetragen.
Nun sieht man sehr deutlich, was gemeint ist, wenn sowohl bei Sicherheit
wie bei Risiko von „sicheren“ Erwartungen die Rede ist: Die Akteure haben
keine Zweifel, daß p diesen – und keinen anderen – Wert hat. Unmittelbar
wird aber auch erkennbar, daß es zwischen der „Sicherheit“ von Sicherheit
und Risiko und der kompletten Unsicherheit einen weiten Spielraum gibt.
1
2
p’
(3b)
(1)
(3a)
0
0.4
0.6
1 p
Abb. 7.3: Wahrscheinlichkeitsverteilungen zweiter Ordnung für die Erwartungen
des Auftretens bestimmter Ereignisse
Der Einfachheit halber wollen wir für solche Schätzungen von p in p’ die Normalverteilung
annehmen. Und der jeweils eingeschätzte Ankerpunkt von p ist dann nichts anderes als der
jeweilige Mittelwert dieser Verteilung. In Abbildung 7.3 haben wir für den Ankerpunkt p=0.4
zwei solcher Verteilungen der SOP und den entsprechenden Mittelwert eingezeichnet: Die
Linien 3a und 3b. An den beiden Verteilungen wird sichtbar, daß die p’-Werte um den Mittelwert p=0.4 unterschiedlich weit streuen.
Nun kann der Grad der Unsicherheit genauer bestimmt werden: Es ist das
Ausmaß der Streuung der normalverteilten SOP von p’ mit dem Mittelwert
des als Anker geschätzten Wertes von p. Der Grad der Unsicherheit wird auch
als Ambiguität bezeichnet (vgl. dazu bereits Abschnitt 7.1). Die geringste
Ambiguität hat entsprechend die Schätzung 2, die höchste die Schätzung 1.
292
Situationslogik und Handeln
Die Schätzungen 3a und 3b liegen entsprechend dazwischen. Die Unsicherheit
bildet damit den maximalen, die Sicherheit und das Risiko den minimalen
Grad an Ambiguität.
Die Frage ist dann natürlich: Wie kommen die Akteure zu den Ankerpunkten, zu den Mittelwerten und zu den Schätzungen der Verteilung von p’? Drei
vorläufige Antworten wollen wir hier geben: Erstens: Sie „kennen“ die Verteilung bereits – etwa aus eigenen Erfahrungen oder von Hörensagen. Zweitens: Es gibt in der Situation bestimmte Hinweise – „cues“ –, die den Akteuren bestimmte Schätzungen nahelegen. Diese Hinweise müssen – als für gewisse Ereignisse oder Zustände „signifikante“ Symbole – natürlich vorher gelernt worden sein. Auch können die cues mehr oder weniger eindeutig oder
gestört sein und so unterschiedliche Grade von Ambiguität nach sich ziehen.
Und drittens können die Akteure, wenn sie es genauer wissen wollen, selbst
etwas tun, um die Unsicherheit bzw. die Ambiguität zu reduzieren. Sie können – um die Sache einmal so auszudrücken – versuchen, selbst die Situation
durch gezielte Suche nach Informationen zu definieren.
Lohnt sich die Reduktion von Komplexität?
Unsicherheit bedeutet eine extreme Komplexität der Situation: Alles ist möglich. Nicht immer stört das die Menschen. Die allermeisten Situationen sind
eigentlich außerordentlich komplex – aber die Menschen lassen es dabei.
Manchmal jedoch werden sie unruhig – wie Frau Professor Dr. Helma-Beate
Wiesbaden-Wohlbestallt, insbesondere wenn es um eine wichtige, wenngleich
im Risiko schlecht abschätzbare Sache geht. Und dann wird nach Hinweisen
gesucht, die die Sache kalkulierbarer machen. Kurz: Es wird, um einen inzwischen fast alltagssprachlichen Ausdruck von Niklas Luhmann zu verwenden,
versucht, die Komplexität der Situation zu reduzieren, und zwar durch die Beschaffung zusätzlicher Informationen über die Verteilung der Wahrscheinlichkeiten p.Es geht bei den Versuchen zur Reduktion von Komplexität also
um eine Meta-Entscheidung: die vor die „eigentliche“ Entscheidung geschaltete Entscheidung, sich die nötigen Informationen zu beschaffen – oder aber
es sein zu lassen. Und wieder läßt sich die WE-Theorie auch auf diese Entscheidung anwenden.
Es ist, wie sich leicht sehen läßt, ein ähnliches Problem wie das bei der Bildungsentscheidung
oder das der Auferlegtheit und Unbedingtheit von Normen und Werten und der Abkehr vom
automatischen Modus der Handlungsselektion (in Abschnitt 7.3.3): Lohnt sich die Suche
nach weiteren Informationen überhaupt? Ist sie überhaupt erfolgversprechend? Könnte man
sich mit dem besten der denkbaren schlechten Ergebnisse zur Not auch zufriedengeben? Sind
die nötigen Informationen eigentlich zu vertretbaren Kosten zu erlangen?
Die Wert-Erwartungstheorie
293
Wir wollen diese Entscheidung, für eine Reduktion der Komplexität zu sorgen, folglich ebenfalls in der Sprache der WE-Theorie modellieren.
Die Akteure kennen demnach zwar das „richtige“ Risiko nicht, aber sie wissen, daß sie darüber eine minimal sichere Information erhalten könnten – wenn sie sich nur die Mühe der Suche nach Informationen machen würden: Telefonate, Hintergrundgespräche oder Interpretation von Andeutungen zum Beispiel. Die Alternative ist die aktive Suche nach weiteren Informationen (Ai) über das „wirkliche“ Risiko einerseits und der Verzicht darauf (Av) andererseits. Der nach einer erfolgreichen Informationssuche mögliche maximale Gewinn ist der
Wert Umax, etwa aus dem Vektor der möglichen Gewinne der oben skizzierten Entscheidungssituation von Frau Prof. Dr. Helma-Beate Wiesbaden-Wohlbestallt; hier also: 100
Werteinheiten. Die subjektive Wahrscheinlichkeit für die Verwirklichung von Umax nach dem
Finden des „richtigen“ Risikos sei p. Außerdem gibt es die sicheren Suchkosten C für die nötigen Informationen. Wenn nichts weiter getan wird, gibt es die sichere Auszahlung Umin; im
Beispiel ist das der maximale Verlust in Höhe von -60 Werteinheiten. Umax entspricht also der
Auszahlung bei der optimistischen Maximax-Regel, Umin derjenigen bei der pessimistischen
Maximin-Regel.
Das Entscheidungsmodell hat dann die uns inzwischen schon wohlvertraute
Struktur:
EU(Ai) = pUmax + (1-p)Umin – C
EU(Av) = Umin.
Sie können sich anhand der Diagramme aus Abbildung 7.1 und 7.2 und unter
entsprechender Umformulierung der Variablen selbst ein Bild davon machen,
wann die Akteure beginnen, unruhig zu werden und weitere Informationen für
die Reduktion der Komplexität bei ihrem Entscheidungsproblem zu suchen
beginnen. Aber wohlgemerkt: Es geht hierbei noch nicht um die „eigentliche“
Entscheidung, etwa den Vorsitz des Kuratoriums anzunehmen oder nicht. Es
geht vielmehr darum, ob nach weiteren Informationen gesucht werden soll,
um nicht eine gute Chance verstreichen zu lassen oder blindlings in eine Katastrophe zu schlittern? Und das sagt das WE-Modell der Informationssuche
ganz deutlich: Auf die Suche nach weiteren Hinweisen machen sich die Menschen dann, wenn viel auf dem Spiele steht, wenn es nicht allzu unwahrscheinlich und nicht zu aufwendig ist, auch wirklich an die betreffenden Informationen zu kommen. Lohnt sich die Sache nicht oder sind die Informationen zu unzuverlässig oder zu schwer zu erhalten, dann läßt man die Dinge am
besten laufen, wird pessimistisch und minimiert den maximalen Verlust. Und
das insbesondere dann, wenn schlimme Dinge drohen – wie die Hölle, die
Heirat der falschen Frau oder die Entscheidung für eine Karriere mit einem
nicht auszuschließenden toten Ende.
Kapitel 8
Die Logik der subjektiven Vernunft
Die Wert-Erwartungstheorie ist eine Variante der Nutzentheorie. Die Nutzentheorie beruht auf dem sog. Nutzenprinzip, dem „principle of utility“. Es wurde – antiken Vorbildern folgend – unter anderem von dem britischen Philosophen Jeremy Bentham (1748-1832) formuliert:
„By the principle of utility is meant that principle which approves or disapproves of every action whatsoever, according to the tendency which it appears to have to augment or diminish
the happiness of the party whose interest is in question: or, what is the same thing in other
words, to promote or to oppose that happiness.“1.
Das Nutzenprinzip besteht aus der Behauptung, daß alle Menschen in all ihrem Tun letztlich nur das eigene Glück im Auge haben, daß es der grundlegende normative wie empirische Bezugsrahmen des menschlichen Handelns
sei und sie davon ganz „gefangen“ seien. Niemand könne sich ihm entziehen,
nicht zuletzt weil es zur „Natur“ des Menschen gehöre:
„Nature has placed mankind under the governance of two sovereign masters, pain and pleasure. It is for them alone to point out what we ought to do, as well as to determine what we
shall do. On the one hand the standard of right and wrong, on the other the chain of causes
and effects, are fastened to their throne. They govern us in all we do, in all we say, in all we
think: every effort we can make to throw off our subjection, will serve but to demonstrate and
confirm it. In words a man may pretend to abjure their empire: but in reality he will remain
subject to it all the while. The principle of utility recognises this subjection ... .“ (Ebd., S. 11;
Hervorhebungen so nicht im Original)
Tiefe philosophische und moralische Fragen lassen sich an diese Thesen
knüpfen. Nicht zuletzt die Soziologie stellt diese Fragen besonders gern, eben
weil sie u.a. aus der Kritik am sog. Utilitarismus hervorgegangen ist und darin
sogar einen Teil ihrer Eigenständigkeit gesucht hat.
1
Jeremy Bentham, An Introduction to the Principles of Morals and Legislation, hrsg. von
James H. Burns und Herbert L.A. Hart, London und New York 1982, S. 11f.; Hervorhebung nicht im Original.
296
Situationslogik und Handeln
Die moderne Ökonomie macht um solche grundsätzlichen Fragen meist einen weiten Bogen.
Sie faßt das Nutzenprinzip viel harmloser auf: als eine ganz nützliche, weil praktisch und
prognostisch sehr erfolgreiche Grundannahme zur Erklärung des menschlichen Handelns und
vieler Vorgänge in Wirtschaft und Gesellschaft. Die Nutzentheorie auf der Grundlage des
Nutzenprinzips ist als theoretisches Instrument unter anderem auch deshalb so brauchbar,
weil sie einige Grundannahmen macht, die es erlauben, komplexe Aggregationen – wie das
Entstehen von Marktgleichgewichten – auf eine mathematisch relativ einfache Weise vorzunehmen, durch die sog. Marginalanalyse (vgl. dazu auch noch Band 4, „Opportunitäten und
Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Und solange die Erklärungen kollektiver
Vorgänge mit Hilfe des Instrumentes der Nutzentheorie gelingen, ist es den Ökonomen ganz
gleichgültig, ob das Nutzenprinzip wirklich allgemein ist, und ob die Annahmen der Nutzentheorie als Handlungstheorie auch tatsächlich empirisch zutreffen oder nicht. Jedenfalls: Solange ihnen für ihre Zwecke keine bessere Alternative angeboten wird, werden sie von dem
Nutzenprinzip und von der Nutzentheorie nicht abrücken - weil sie auch darin dem Nutzenprinzip folgen.
In diesem Kapitel wollen wir die wichtigsten Annahmen der Nutzentheorie
und einige interessante, die Nutzentheorie auch sehr bedrängende, empirische
Ergebnisse behandeln. Diese Ergebnisse belegen eine inzwischen kaum mehr
bezweifelte Vermutung: Der menschliche Geist ist zwar durchaus zu vernünftigen Überlegungen in der Lage, unterliegt dabei aber einer Reihe von Begrenzungen, die die einfache Nutzentheorie meist übersieht. Diese Begrenzungen sind aber selbst nicht unbegrenzt, so daß auch die Gegenfrage gestellt
werden kann: Trifft die Kritik die Nutzentheorie wirklich ins Mark? Und sind
die Menschen wirklich unvernünftig, wie sie mit den – ohne Zweifel vorhandenen – Grenzen ihrer Vernunft umgehen?
8.1
Rationales Handeln
Die Nutzentheorie ist die „reinste“ Variante der Theorie des rationalen Handelns. Einer ihrer wichtigsten Vorteile ist, daß sie klare und konsistente Annahmen macht und sie in sog. Axiomen formuliert. Nur so konnte sie für die
Ökonomie derart leistungsfähig werden, wie sie es auch derzeit immer noch
ist. Welche andere Theorie des Handelns könnte das von sich sagen? Herbert
A. Simon – auch einer der ganz Großen der Wirtschaftswissenschaften und
natürlich ebenfalls Nobelpreisträger – war und ist einer der heftigsten Kritiker
der herkömmlichen Nutzentheorie. Er hat sie aber selbst immer wieder benutzt und wohl auch wegen ihrer Vorzüge und Unentbehrlichkeit die folgenden Worte über sie gefunden: Sie sei „ ... ein großartiges Gebilde, das einen
Die Logik der subjektiven Vernuft
297
Platz in Platons Himmel der Ideen verdient hat.“2 Dieses Urteil ist ein zwiespältiges Lob. Wir werden gleich sehen, warum.
Die grundlegenden Annahmen
Die wichtigsten Annahmen der Nutzentheorie haben wir bei der Darstellung
des Grundmodells der WE-Theorie bereits angesprochen und benutzt. Sie lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:3 Erstens hat jeder Akteur eine klar
definierte Menge von Alternativen vor sich, aus denen eine ausgewählt wird.
Jeder Akteur verfügt zweitens über eine klar definierte, konsistente und vollständige Präferenzordnung für alle nur denkbaren Situationen, die durch sein
Handeln eintreten könnten. Diese Präferenzordnung wird auch als Nutzenfunktion bezeichnet (siehe dazu auch unten). Drittens wird angenommen, daß
jeder Akteur allen künftigen Ereignissen eine gemeinsame und konsistente
Verteilung von Wahrscheinlichkeiten zuweisen kann. Es wird schließlich die
Alternative gewählt, die den aus den Präferenzen und Wahrscheinlichkeiten
gebildeten erwarteten Nutzen maximiert.
Mit diesen vier grundlegenden Annahmen werden eine Reihe von Fähigkeiten und Eigenschaften menschlicher Akteure und sonstiger Sachverhalte
unterstellt, die – wenigstens teilweise – nur schwer mit der wirklichen Welt
der Menschen in Einklang zu bringen sind. Als da wären: Die Akteure haben
einen umfassenden Überblick über alles, was für die Entscheidung wichtig ist,
und zwar nicht nur für die aktuelle Gegenwart, sondern auch für jede sie
2
3
Herbert A. Simon, Homo rationalis. Die Vernunft im menschlichen Leben, Frankfurt/M.
und New York 1993, S. 22.
Die folgende Zusammenfassung der wichtigsten Annahmen der Nutzentheorie orientiert
sich an den Ausführungen bei Simon 1993, S. 21ff. Vgl. zu den Axiomen der Nutzentheorie bzw. der WE-Theorie u.a. R. Duncan Luce und Howard Raiffa, Games and Decisions.
Introduction and Critical Survey, New York und London 1957, S. 23ff.; Jack Hirshleifer
und Amihai Glazer, Price Theory and Applications, 5. Aufl., Englewood Cliffs, N.J.,
1992, Kapitel 3: Utility and Preference, S. 56ff. Vgl. zusammenfassend ferner: Martin
Rutsch, Handeln in entscheidungstheoretischer Sicht, in: Hans Lenk (Hrsg.), Handlungstheorien – interdisziplinär, Band 1: Handlungslogik, formale und sprachwissenschaftliche
Handlungs-theorien, München 1980, S. 223-247; Gebhard Kirchgässner, Homo oeconomicus. Das ökonomische Modell individuellen Verhaltens und seine Anwendung in den
Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Tübingen 1991, Kapitel 2: Das ökonomische Verhaltensmodell, S. 12-56; Franz Eisenführ und Martin Weber, Rationales Entscheiden, Berlin u.a. 1993, S. 202ff.; Paul J. Schoemaker, The Expected Utility Model: Its Variants,
Purposes, Evidence and Limitations, in: The Journal of Economic Literature, 20, 1982, S.
531f.; Shaun Hargreaves Heap, Rationality, in: Shaun Hargreaves Heap, Martin Hollis,
Bruce Lyons, Robert Sugden und Albert Weale, The Theory of Choice. A Critical Guide,
Oxford und Cambridge, Mass., 1992, S. 6ff.
298
Situationslogik und Handeln
betreffende Zukunft. Sie sind sich über alle denkbaren Folgen ihres Tuns im
klaren, mindestens insoweit als sie allen denkbaren Folgen eine gemeinsame
Wahrscheinlichkeitsverteilung zuweisen können. Alle widersprüchlichen
Teilwerte von Zuständen sind in Einklang gebracht und zu einer einzigen übergreifenden Präferenzordnung, zu einer Nutzenfunktion für alles also, verschmolzen.
Woher die Präferenzen kommen, steht übrigens nicht in der Nutzentheorie. Sie ist eine Erklärung des Handelns aus gewissen Randbedingungen, nicht aber auch eine Erklärung der Entstehung ihrer Randbedingungen. Die Präferenzen sind für sie „exogen“ vorgegeben und einfach da. Das wird der Nutzentheorie oft vorgehalten, besonders von den soziologischen
Handlungstheorien, die alle – irgendwie – versuchen, auch die Entstehung ihrer eigenen
Randbedingungen zu erklären. Genaugenommen ist aber der Verzicht auf die Erklärung ihrer
eigenen Randbedingungen kein Mangel: Wie Situationen, Erwartungen und Bewertungen
entstehen, muß ja ohnehin noch anders erklärt werden als das eigentliche Handeln. Dazu bedarf es einer vollständigen soziologischen Erklärung – einschließlich der Logik der Aggregation. Und die kann man ja unabhängig davon versuchen, ob man die Nutzentheorie verwenden will oder nicht. Insofern sind die Einwände gegenstandslos.
Eine Reihe von weiteren Einzelheiten knüpfen sich an die geschilderten Annahmen. Über jede könnte man ganze Bücher schreiben. Wir wollen nur drei
davon aufgreifen: Die Annahme der vollständigen Präferenzordnung, die Annahme der Unabhängigkeit und das sog. Marginalprinzip.
Die Ordnung der Präferenzen
Unter einer Präferenzordnung wird eine Ordnung von Vorlieben verstanden,
die ein Akteur für bestimmte Objekte oder Zustände hat. Sie sind die Grundlage für die Bewertung der Alternativen. Dabei sind zwei formale Eigenschaften für eine solche Präferenzordnung entscheidend: die Vergleichbarkeit und
die Transitivität der Präferenzen. Beide Eigenschaften sind in zwei Axiomen
formuliert:
1. Das Axiom der Vergleichbarkeit
Für jedes Individuum, das zwei Objekte A und B miteinander vergleicht, muß eines der
folgenden drei Ergebnisse zutreffen: A wird B vorgezogen; B wird A vorgezogen; das Individuum ist gegenüber A und B indifferent.
2. Das Axiom der Transitivität
Für die Wahlen eines jeden Individuums in Bezug auf drei Objekte A, B und C gilt: Wenn
A dem Objekt B vorgezogen wird, und wenn B dem Objekt C vorgezogen wird, dann
wird auch A dem Objekt C vorgezogen. Diese Regel gelte auch für die Indifferenz.
Die Logik der subjektiven Vernuft
299
Die Objekte, die sich nach diesen beiden Axiomen ordnen lassen, bilden eine
sog. Präferenzfunktion (oder Nutzenfunktion). Diese Funktion kann positiv
oder negativ sein, je nachdem, ob größere Mengen eines Objektes kleineren
Mengen vorgezogen werden oder nicht. Objekte, bei denen größere Mengen
kleineren Mengen vorgezogen werden, heißen Güter. Dazu zählen auch die
Güter des Konsums, jedoch auch alle anderen Dinge, die als problemlösend
und deshalb als nützlich angesehen werden. Objekte, von denen geringere
Mengen größeren Mengen vorgezogen werden, heißen Übel. Und das sind vor
allem die Kosten, die für den Erwerb eines Gutes aufzubringen sind.
Erst mit einer solchen Präferenzfunktion lassen sich die Alternativen des
Handelns gewichten. Alles kommt also darauf an, ob die wirklichen Menschen tatsächlich eine solche eindeutige und widerspruchsfreie Präferenzordnung der Objekte und Zielzustände dieser Welt haben oder nicht.
Unabhängigkeit
Das Axiom der Unabhängigkeit klingt sehr umständlich. Es lautet: Gibt es eine Präferenzordnung derart, daß A dem Objekt B vorgezogen wird, dann muß
für jedes Objekt C und für die Erwartungen p für A bzw. B und (1-p) für C
auch gelten, daß p*A+(1-p)C größer ist als p*B+(1-p)C. Das Axiom der Unabhängigkeit besagt, etwas einfacher ausgedrückt, daß sich die Präferenz zwischen zwei Objekten nicht ändern darf, wenn sie beide mit einem dritten in
Verbindung gebracht werden. Oder noch allgemeiner gesagt: Die Präferenzordnung und alle anderen entscheidungsrelevanten Variablen dürfen sich nicht
ändern, wenn sich der Kontext der Objekte und Alternativen ändert. Und – so
sei hinzugefügt – es darf sich insbesondere nichts an den Entscheidungen ändern, wenn nutzentheoretisch ganz und gar irrelevante Dinge sich ändern –
wie etwa die sprachliche Präsentation der Entscheidungsaufgabe (wie im Experiment von Tversky und Kahneman aus Abschnitt 7.2; vgl. dazu auch noch
die Abschnitte 8.2 und 8.3).
Das Marginalprinzip
Die Nutzentheorie beruht, wie das Nutzenprinzip besagt, auf dem Grundsatz
der Maximierung des Nutzens. Damit ist nicht einfach gemeint: Nimm, was
Du kriegen kannst! Die Regel ist raffinierter und klüger – und aufwendiger –
als es scheint: Suche bei den Dir möglichen Alternativen genau diejenige aus,
300
Situationslogik und Handeln
bei der der Zuwachs des Ertrages genau dem Zuwachs an Kosten entspricht,
die Du für die Durchführung der betreffenden Handlung aufbringen mußt.
Das Marginalprinzip kann man sich an einer einfachen Überlegung klar machen. Angenommen, es sei für eine Wanderung ein Rucksack zu packen. Dies hat einen angenehmen und einen weniger erfreulichen Hintergrund. Einerseits werden für die Wanderung einige wichtige
und nützliche Dinge benötigt: Proviant, Pullover oder ein Kofferradio zum Beispiel. Andererseits drückt jedes Gepäckstück, auch das nützlichste, mit seinem Gewicht. Es gibt also zwei
Faktoren, die das Wohlbefinden des Wanderers beeinflussen: die Teile, die für die Wanderung benötigt werden und bei der Wanderung einen gewissen Nutzen stiften würden einerseits; und das Gewicht, das unweigerlich zunimmt, wenn der Rucksack mit auch noch so
nützlichen Dingen gepackt wird, andererseits. Und die Frage ist dann: Welches wäre die optimale Kombination von mitgenommenen nützlichen Teilen und dadurch erkauftem Gewicht?
Oder, was das Gleiche ist: Wann schlägt die als nützlich erlebte Gewichtsersparnis in einen
als unangenehm empfundenem Verzicht auf nützliche Dinge um?
Es geht also um die Optimierung von zwei nutzenstiftenden Faktoren: der
Nutzen, den die eingepackten Gepäckstücke erbringen, und der Nutzen, der
sich aus der Gewichtsersparnis der nicht mitgenommenen Gepäckteile ergibt.
Zuerst werden klugerweise die wichtigsten Teile eingepackt. Bei denen ist der Nutzenzuwachs pro Teil sehr hoch – jedenfalls deutlich höher als die empfundenen Kostenzuwächse
pro Teil über das Gewicht. Nun werden immer mehr und unwichtigere Teile zugepackt, wodurch natürlich das Gewicht des Rucksackes weiter ansteigt. Aber: Die Nutzenzuwächse sinken immer mehr, weil es jetzt ja die unwichtigeren Dinge sind, die aber weiterhin Gewicht
mit sich bringen. Das Optimum wäre nun offenkundig genau an der Stelle erreicht, an der der
Nutzenzuwachs des letzten eingepackten Teils gerade so hoch ist wie der Kostenzuwachs
durch das dadurch zugenommene Gewicht. Vor diesem Punkt wäre die Bilanz für ein weiteres Zupacken immer noch positiv: Der Nutzenzuwachs durch das Teil ist höher als der Nutzenverlust durch das zusätzliche Gewicht. Bei Überschreiten des Punktes würde die Bilanz
wieder schlechter: Die Nutzeneinbuße durch die zusätzliche Gewichtslast ist dann größer als
der Nutzenzuwachs durch das zugepackte Teil.
Genau an diesem Optimalpunkt der Gleichheit von Nutzen- und Kostenzuwachs würde ein vernünftiger, nutzenmaximierender, dem Marginalprinzip
folgender Wanderer aufhören, seinen Rucksack weiter vollzustopfen. Er würde nicht mehr – aber auch nicht weniger! – an Gepäck mitnehmen. Die Nutzen- und Kostenzuwächse werden auch als Grenz- oder Marginalnutzen und kosten bezeichnet. Von daher hat das Marginalprinzip seinen Namen. Das
Marginalprinzip beschreibt ein Verhalten, das die Grundphilosophie des ökonomischen Denkens wie kaum eine andere Idee wiedergibt: Die Optimierung
des Handelns im dem Sinne, daß den Bedürfnissen des Organismus wie den
Bedingungen in der Umgebung gleichermaßen Rechnung getragen wird. Mit
ihm wird sichergestellt, daß die Organismen zwar danach streben, ihre Reproduktion zu sichern, sich dabei aber nicht über Gebühr verausgaben. Ein „Nutzen“, der mehr kostet als er nutzt, nutzt natürlich nicht mehr, sondern er schadet. Und darum ist es besser, auf ihn zu verzichten.
Die Logik der subjektiven Vernuft
301
Aber diese Frage stellt sich dann auch sofort: Ist das Finden dieses famosen Optimalpunktes der Gleichheit der Marginalerträge und Marginaleinbußen nicht so aufwendig, daß es vielleicht nützlicher sein könnte, auf seine genaue Bestimmung zu verzichten und mit einer groben Schätzung vorliebzunehmen?
8.2
Anomalien und Paradoxien
Die Nutzentheorie und die WE-Theorie dienen nicht nur als theoretische Instrumente, sondern oft sogar als normative Richtschnur: So sollte sich jemand
verhalten, wenn er an der Maximierung seines Nutzens interessiert ist. Das ist
vor allem für Unternehmer wichtig, die genau kalkulieren müssen, um auf einem umkämpften Markte zu bestehen. Wie aber sieht es mit der Nutzentheorie als empirische Theorie des Handelns aus? Zahllose Abweichungen von
den Axiomen und Annahmen der Nutzentheorie im wirklichen Verhalten der
Menschen wurden inzwischen festgestellt.4 Einige wichtige davon wollen wir
im folgenden Abschnitt darstellen.
Besitztumseffekte
Nach der einfachen WE-Theorie sollte es für den Preis eines Gutes gleichgültig sein, ob man es gegen einen bestimmten Betrag verkauft und aus seinem
Besitz abgibt oder aber kauft und in Besitz nimmt. In zahlreichen Experimenten ist aber immer wieder festgestellt worden, daß die Leute für die Abgabe
eines Gutes aus ihrem Besitz deutlich mehr verlangen als sie für den Kauf
ausgeben würden.5 Eines der typischen Experimente hatte den folgenden
Wortlaut dazu (Thaler 1980, S. 43f.):
4
5
Vgl. dazu u.a. Schoemaker 1982, S. 541ff.; Eisenführ und Weber 1993, S. 321ff.; Heap
1992, S. 14ff.; Anton Kühberger, Risiko und Unsicherheit: Zum Nutzen des Subjective
Expected Utility-Models, in: Psychologische Rundschau, 45, 1994, S. 3-23; Bruno S.
Frey, Economics as a Science of Human Behaviour. Towards a New Social Science Paradigm, Boston, Dordrecht und London 1992, Kapitel 9 und 11; Barry Schwartz und Daniel
Reisberg, Learning and Memory, New York und London 1991, Kapitel 14: Memory and
Decision-Making in Everyday Life, S. 537-577.
Vgl. als Übersichten: Richard Thaler, Toward a Positive Theory of Consumer Choice, in:
Journal of Economic Behavior and Organization, 1, 1980, S. 39-60; Daniel Kahneman,
Jack L. Knetsch und Richard H. Thaler, Experimental Tests of the Endowment Effect and
the Coase Theorem, in: The Journal of Political Economy, 98, 1990, S. 1325-1348.
302
Situationslogik und Handeln
„Two survey questions: (a) Assume you have been exposed to a disease which if contracted
leads to a quick and painless death within a week. The probability you have the disease is
0.001. What is the maximum you would be willing to pay for a cure? (b) Suppose volunteers
were needed for research on the above disease. All that would be required is that you expose
yourself to a 0.001 chance of contracting the disease. What is the minimum payment you
would require to volunteer for this program?“
Das übliche Ergebnis: Die weitaus meisten Personen verlangten für die Verschlechterung ihrer Gesundheit deutlich mehr als für eine Verbesserung um
den gleichen objektiven Betrag. Typische Preise waren 200$ für die Antwort
(a) und 10000$ für die Antwort (b).
Derartige Verletzungen des Unabhängigkeitsaxioms werden als
Besitztums-effekt bezeichnet. Er ist ein Spezialfall einer offenbar ganz
allgemeinen Tendenz im menschlichen Verhalten: Was unmittelbar gegeben
ist, zählt mehr als alles das, was ferner ist oder was noch kommt.
Das Allais-Paradox
Von dem französischen Entscheidungstheoretiker Maurice Allais stammt ein
inzwischen berühmt gewordenes Paradox.6 Eine für das Allais-Paradox typische Aufgabe lautet so:
Den Entscheidern werden zwei Alternativenpaare (a und b sowie a’ und b’) vorgelegt. Dabei
sehen sie sich den folgenden Entscheidungsgrößen gegenüber:
Alternativenpaar 1
EU(a) = 1*3000
= 3000
EU(b) = 0.8*4000 + 0.2*0 = 3200
Alternativenpaar 2
EU(a’) = 0.25*3000 + 0.75*0 = 750
EU(b’) = 0.2*4000 + 0.8*0 = 800
Wie üblich beschreibt die in den Produkten der EU-Gewichte zuerst genannte Ziffer die
Wahrscheinlichkeit p und die andere Ziffer den Wert U der Auszahlung (etwa in DM) für den
Fall, daß die jeweilige Alternative gewählt würde.
6
Maurice Allais, Le comportement de l‘homme rationnel devant le risque: Critique des
postulats et axiomes de l‘ecole americaine, in: Econometrica, 21, 1953, S. 503-546; Maurice Allais, The Foundations of a Positive Theory of Choice Involving Risk and a Criticism of the Postulates and Axioms of the American School, in: Maurice Allais und Ole
Hagen (Hrsg.), Expected Utility Hypotheses and the Allais Paradox, Dordrecht, Boston
und London 1979, S. 27-145.
Die Logik der subjektiven Vernuft
303
Die meisten Versuchspersonen bevorzugen, vor die erste Wahl zwischen a
und b gestellt, die Alternative a vor b. Steht das zweite Alternativenpaar a’
gegen b’ an, präferieren sie dagegen eher b’ vor a’. Das aber ist eine Verletzung der Axiome der WE-Theorie. Denn das EU-Gewicht ist für die Alternativen b und b’ beide Male höher als das für die Alternativen a und a’. Offenbar bevorzugen also die meisten Menschen die sicheren 3000 DM der Alternative a gegenüber dem riskanten Erwartungswert von 3200 DM der Alternative b. Wenn beide Alternativen dagegen riskant sind, dann folgen die Versuchspersonen den Annahmen der WE-Theorie.
Diese Präferenzumkehr widerspricht also dem Axiom der Vergleichbarkeit. Das Ergebnis
kann aber auch als eine Verletzung des Unabhängigkeitsaxioms gewertet werden. Danach
dürfte – siehe oben in Abschnitt 8.1 – eine Verknüpfung der Alternativen a und b mit einer
jeweils gleichen Alternative c an der Entscheidung ja nichts ändern. Die Alternativen a’ und
b’ gehen aber aus a und b über eine solche Verknüpfung hervor: Die betreffende dritte Alternative c habe den Wert EU(c)=1*0=0. Dann gilt für die Verknüpfung nach der allgemeinen
Regel p*A+(1-p)C bzw. p*B+(1-p)C. Angewandt auf den speziellen Fall also:
EU(a’)=0.25*EU(a)+0.75*EU(c) und EU(b’)= 0.25EU(b)+0.75*EU(c). Ausgerechnet und in
Zahlen ergibt das: EU(a’)=0.25*3000+0.75*0=750; und EU(b’)=0.25*3200+0.75*0=800.
Nach dem Unabhängigkeitsaxiom hätten sich die Entscheider beide Male für die zweite Alternative – b bzw. b’ – entscheiden müssen.
Maurice Allais nahm seine Untersuchungen zum Anlaß, die „amerikanische
Schule“ der WE-Theorie um von Neumann und Morgenstern und Savage anzugreifen (vgl. dazu bereits Kapitel 7). Der Angriff ist durchaus gelungen. Die
WE-Theorie hat aber – bis heute – nicht kapituliert. Sie werden in Abschnitt
8.3 sehen warum.
Das Ellsberg-Paradox
Die Axiome der Nutzentheorie setzen voraus, daß sich die Menschen ihrer
Sache sicher sind: Sie kennen ihre Präferenzen und wissen um die Risiken ihres Tuns. Wenigstens implizit wird dabei auch angenommen, daß sich die Akteure nicht offen vorliegende, aber aus der Situation erschließbare Informationen selbst vergegenwärtigen und nach den Regeln der WE-Theorie ergänzen.
Das Ellsberg-Paradox – so benannt nach seinem Erfinder Daniel Ellsberg7 –
ist ein Hinweis darauf, daß die Menschen mit dieser Aufgabe des Erschließens
fehlender Informationen nur schwer zurechtkommen.
7
Daniel Ellsberg, Risk, Ambiguity, and the Savage Axioms, in: The Quarterly Journal of
Economics, 75, 1961, S. 653ff.
304
Situationslogik und Handeln
Eine der Aufgabenstellungen des Ellsberg-Paradoxon sieht so aus (vgl. Eisenführ und Weber
1990, S. 324f.): In einer Urne befinden sich 30 rote Bälle und zusammen 60 schwarze und
gelbe Bälle. Das Zahlenverhältnis zwischen den schwarzen und den gelben Bällen ist unbekannt. Jede Kombination der insgesamt 60 schwarzen und gelben Bälle ist also möglich.
Wieder liegen zwei Alternativenpaare a und b sowie a’ und b’ vor. Die Gewinnbeträge sind
in allen vier Fällen gleich. Gewonnen wird, wenn jeweils die folgenden Ereignisse eintreten:
a: Es wird gewonnen, falls ein roter Ball gezogen wird.
b: Es wird gewonnen, falls ein schwarzer Ball gezogen wird.
Und:
a’: Es wird gewonnen, falls ein roter oder ein gelber Ball gezogen wird.
b’: Es wird gewonnen, falls ein schwarzer oder ein gelber Ball gezogen wird.
Die meisten Versuchspersonen bevorzugen a gegen b und b’ gegen a’. Nach
den Regeln der Logik der WE-Theorie dürften sie aber ihre Präferenzen nicht
ändern. Denn: Die zweite Aufgabe unterscheidet sich von der ersten ja nur
darin, daß nun ein gelber Ball hinzukommen kann, damit gewonnen wird. Das
verbessert die Gewinnwahrscheinlichkeit um den – unbekannten – Betrag der
Wahrscheinlichkeit, daß in der Urne gelbe Bälle sind. Aber diese Verbesserung betrifft beide Alternativen a’ und b’ gleichermaßen. Und gemäß dem
Unabhängigkeitsaxiom dürfte das auf die Präferenzordnung für die Alternativen keine Auswirkung haben.
Eine andere Aufgabe lautet so: In einer Urne 1 befinden sich zusammen 100 rote und schwarze Bälle mit einer unbekannten Verteilung. In der Urne 2 sind dagegen genau 50 rote und 50
schwarze Bälle. Gewonnen werden können 100 DM, wenn man auf rot (oder schwarz) setzt
und wirklich rot (oder schwarz) zieht. Und wieder die Frage: Welche Urne wird vorgezogen?
Wenn die erste Urne zur Wahl steht, sind die Versuchspersonen zwischen rot
und schwarz indifferent. Für sie ist, mangels jedes Hinweises, die Schätzung
der Verteilung eine vollkommen unsichere Angelegenheit: Jeder Wert von p
für rot oder schwarz wäre möglich. Bei der zweiten Urne wissen die Versuchspersonen dagegen sicher, wie die Verteilung ist: p(R2)=p(B2)=0.50.
Werden die Versuchspersonen gebeten, ihr Los aus der ersten oder aus der
zweiten Urne zu ziehen, dann bevorzugen die meisten die zweite Urne. Warum das?
Bei dem ersten Experiment mit den roten, schwarzen und gelben Bällen versagen die Menschen wohl vor der größeren Komplexität der Aufgabe in der Variante a’ gegen b’. Der Zusatz mit den gelben Bällen verwirrt sie wohl etwas, sie erkennen die logische Äquivalenz der
beiden Aufgaben nicht – und bevorzugen im Zweifel die Lotterie, die ihnen am einfachsten,
am transparentesten und deshalb am sichersten vorkommt. Das Unabhängigkeitsaxiom wird
dabei wohl nicht wegen des „Kontextes“ an sich verletzt, sondern schlicht, weil die Aufgaben
unterschiedlich schwierig zu sein scheinen. Auf das Axiom der Unabhängigkeit kommen die
Versuchspersonen wahrscheinlich gar nicht.
Die Logik der subjektiven Vernuft
305
Die Bevorzugung der zweiten Urne im zweiten Experiment hat ganz offensichtlich seinen
Grund in der unterschiedlichen Unsicherheit zwischen beiden Situationen (vgl. dazu Einhorn
und Hogarth 1986, S. 43ff.): Die Versuchspersonen müssen sich bei der ersten Urne deutlich
unsicherer sein als bei der zweiten, weil dafür die Verteilung ganz unbekannt ist. Sie kennen
im einen Fall die Verteilung genau, wenngleich ihre Entscheidung – für oder gegen schwarz
– immer noch riskant bleibt. Im anderen Fall tappen sie in ihrer Schätzung des Risikos der
Lotterie vollkommen im Dunkeln.
Das Ellsberg-Paradox verweist auf den wichtigen Unterschied zwischen Risiko, Unsicherheit und Ambiguität, den wir in Abschnitt 7.1 im Zusammenhang
mit den Erwartungen kennengelernt haben. Die einfache Nutzentheorie kennt
nur die Sicherheit, auch die des Risikos: fixe Erwartungen von eins oder null
oder eines bestimmten Risikos. Unsicherheit kennt sie eigentlich nicht. Und
damit auch nicht die im Alltag so verbreitete Situation, daß man zwar seine
Vermutungen hat, aber nicht genau weiß, wie sicher die Vermutungen sind.
Kurz: Es gibt – sozusagen – unterschiedliche Grade von, wie es heißt, uncertainty about uncertainties. In Abschnitt 7.3 des letzten Kapitels hatten wir dafür schon ein Konzept vorgestellt.
Framing
In Kapitel 7 hatten wir in Abschnitt 7.2 bei den Beispielen für die Anwendung
der WE-Theorie auch von einem Experiment der beiden Psychologen Amos
Tversky und Daniel Kahneman berichtet.8 Zur Erinnerung: Es ging um die
Entscheidung zwischen vier alternativen Programmen zur Bekämpfung einer
Grippeepidemie, wobei die objektiven Auszahlungen der vier Programme
nach den Regeln der WE-Theorie vollkommen gleich waren. Aber: Die Präsentation der Programme an die Versuchspersonen unterschied sich deutlich.
Nach dem Unabhängigkeitsaxiom dürfte aber auch das keinerlei Rolle spielen.
Auch hier zur Erinnerung: Die Programme unterschieden sich auf zwei
Dimensionen. Erstens wurden die zu erwartenden Ergebnisse sprachlich unterschiedlich bezeichnet: In der Version 1 (für die Programme A und B) ist
immer von „retten“ die Rede, in der Version 2 (für die Programme C und D)
dagegen stets von „sterben“, obwohl es sachlich immer um die gleiche zu erwartende Anzahl von Überlebenden geht. Es ist also der sprachliche und symbolische Rahmen, der hier variiert wurde: Einmal wurden Gewinne suggeriert,
das andere Mal dagegen Verluste. Innerhalb der Versionen des jeweils gleichen sprachlichen Rahmens unterschieden sich die Programme dann zweitens
8
Amos Tversky und Daniel Kahneman, The Framing of Decisions and the Psychology of
Choice, in: Science, 211, 1981, S. 453-458.
306
Situationslogik und Handeln
nach dem Aspekt der Risiken beim Einsatz der Programme: Die Programme A
und C geben jeweils sichere Erwartungen (mit eins und null), die Programme
B und D (mit 1/3 und 2/3) dagegen riskante Erwartungen an. In Tabelle 8.1
haben wir die Systematik dieser Anordnung zusammengefaßt. Die objektiven
Nutzenerwartungen sind auch noch einmal aufgeführt.
Tabelle 8.1: Anordnung, Nutzenerwartungen und empirische Ergebnisse des Experimentes
von Tversky und Kahneman
Programm
Rahmen
Risiko
Nutzen –
Erwartung
empirische
Entscheidung
n
A
B
Gewinn
Gewinn
sicher
riskant
200
200
72%
28%
152
C
D
Verlust
Verlust
sicher
riskant
200
200
22%
78%
155
Nach den Regeln der WE-Theorie und der Indifferenz in den Nutzenerwartungen wäre davon auszugehen gewesen, daß sich jeweils etwa die Hälfte der
Studenten innerhalb der beiden Vorgaben zufällig für das eine oder das andere
Programm entschiede. Die Ergebnisse der empirischen Untersuchung stehen
in der rechten Spalte. Sie unterscheiden sich systematisch und sehr deutlich:
In der Gewinn-Variante („retten“) bevorzugten die Studenten mehrheitlich die
sichere Option. Und in der Verlust-Variante („sterben“) wurden sie mehrheitlich wagemutig und risikofreudig.
Das empirische Ergebnis deutet auf einen massiven symbolischen Effekt
bei der Entscheidung zwischen objektiv ganz gleichen Alternativen hin – offenbar alleine ausgelöst durch die sprachliche Art der Präsentation. Die Sprache aktiviert also offenbar einen Rahmen, einen frame, der ein gänzlich unterschiedliches Entscheidungsverhalten nahelegt.
Von „rational choice“ also, wie es scheint, keine Spur. Viele Soziologen
sind gerade auf diese Ergebnisse hin in großen Jubel ausgebrochen: Das wußten wir doch immer schon – spätestens seit Talcott Parsons und seiner Voluntaristic Theory of Action mit dem Erfordernis einer normativen und symbolischen Orientierung! Es kommt, so heißt es, eben doch auf den kulturellen Bezugsrahmen an, was jeweils „rational“ ist! Kaum ein Resultat hat die Diskus-
Die Logik der subjektiven Vernuft
307
sion um die rationale Erklärung des Handelns so beeinflußt wie das Experiment von Tversky und Kahneman. Bevor Sie in den Jubelchor miteinstimmen,
sollten Sie die Fortsetzung der Story über das Experiment mit der Grippeepidemie in Abschnitt 8.3 noch abwarten.
Akrasia und Myopia
Der Weg zur Hölle ist bekanntlich mit guten Vorsätzen gepflastert: Heute abend rauche ich meine letzte Zigarette, trinke den letzten Whisky und fange
morgen früh endlich mit dem Buch an, das ich schon immer schreiben wollte.
Der Morgen dämmert, und der Kopf ist schwer. Erst einmal eine Zigarette –
zur Entspannung und Konzentration. Und einen Underberg gegen den flauen
Magen. Und morgen fangen wir dann richtig an. Wirklich. Wer würde solche
Situationen nicht kennen? Menschen haben ihre Ziele und wissen auch oft
sehr genau, wie man sie erreichen kann. Auch ist der Geist meist durchaus
willig und auch gut informiert, aber das Fleisch oft genug ganz schwach. Dies
hat einen einfachen Grund: Naheliegende Zustände haben bei Menschen – wie
bei anderen Lebewesen – meist ein höheres Gewicht auf die Bewertungen und
Erwartungen als fernere. Und die einzelne Zigarette hat ja auch objektiv nur
einen verschwindend geringen Einfluß auf die Gesundheit. Also warum nicht
dieses eine Mal noch? Die Welt wird schon nicht untergehen! Aber das
schlechte Gewissen nagt doch.
Zwei Seelen wohnen offenbar in der Brust des Selbst: Die eine, die darauf
achtet, daß die aktuelle Bedürfnisbefriedigung nicht zu kurz kommt. Und die
andere, die weiß, daß man manchmal auf kurzfristige Lusterfüllung verzichten
muß, um langfristige und insgesamt wesentlich wertvollere Ziele zu erreichen. Die Kurzsichtigkeit – die Myopia – des Menschen bei der Verfolgung
von wichtigen langfristigen Zielen ist das eine Problem, das der Vernünftigkeit seines Tuns im Wege steht. Seine Willensschwäche – die Akrasia –, etwas gegen die kurzfristigen und lokalen Versuchungen zugunsten langfristiger
und globaler Ziele zu tun, das andere.9
Die beiden Selbste machen schon den individuellen Akteuren sehr zu
schaffen. Aber auch mancherlei grundlegende Probleme der sozialen Ordnung
haben mit einem ganz ähnlichen Problem zu tun: Warum soll ich meinem
Nachbarn helfen, wo ich jetzt überhaupt keine Zeit habe und außerdem nicht
weiß, wie lange der Nachbar noch in der Gegend wohnen bleibt, um mir unter
9
Vgl. dazu insbesondere: Jon Elster, Ulysses and the Sirens. Studies in Rationality and
Irrationality, Cambridge u.a. 1979; Jon Elster, Subversion der Rationalität, Frankfurt/M.
und New York 1987, Kapitel I und II.
308
Situationslogik und Handeln
Umständen auch einmal beizustehen? Und so, wie eine bindende Verfassung
die wichtigste Lösung dieses Problems ist, so kann auch eine verläßliche Bindung des Selbst bei Myopia und Akrasia helfen: Odysseus ließ sich von seinen Gefährten an den Mast seines Schiffes binden und schärfte ihnen ein, ihn
nur noch fester zu binden, wenn er verlangte, ihn loszumachen – weil er wußte, daß er den Lockrufen der Sirenen nicht widerstehen könnte, wenn er sie
hört. Aber gerade weil er über sich so genau Bescheid wußte, war er in der
Lage, sich eine Technik auszudenken und „rational“ umzusetzen, um sein
schwaches Selbst zu einem ihm zuträglichen Handeln zu zwingen.
Grenzen des Wollens
Myopia und Akrasia sind sehr ernstzunehmende Grenzen des „rationalen“
Willens der Menschen. Aber ein jeder könnte sich – im Prinzip, faktisch leider
sehr viel weniger, wie wir alle wissen – gleichwohl immer noch entschließen,
einer Versuchung wirklich nicht nachzugeben. Fälle der Willensschwäche,
wie die von Odysseus, sind – gottlob – auch wiederum so häufig nicht, wenn
wir einmal von sex and drugs and rock’n roll absehen wollen. Das ist anders
bei einer Klasse von Zielen, die alle das Problem haben, daß man sie schon
nicht wollen kann: In dem Moment, in dem man sich entschließt, sie anzustreben, ist ihre Verwirklichung schon blockiert. Man kann – zum Beispiel –
nicht einfach beschließen, jetzt einzuschlafen, bestimmte Dinge zu vergessen
oder nicht darüber nachzudenken, naiv, unschuldig, demütig oder tapfer zu
sein, zu lieben oder etwas zu glauben. Insbesondere ist es nicht möglich, einfach zu beschließen, bewundert, anerkannt und verehrt zu werden (vgl. dazu
bereits den Exkurs über die Ehre im Anschluß an Kapitel 3). Auch Affekte
und Gefühle – wie Neid, Haß, Stolz, Sympathie, Trauer – kann man nicht beschließen: Man hat sie oder man hat sie nicht. Man wird von ihnen „überfallen“. „Rational“ anstreben oder auch loswerden kann man sie, wie es aussieht,
jedenfalls nicht. Kurz: Es gibt Dinge, die nicht gewollt werden können.10
Aber auch hier gibt es Abhilfen. Sie ähneln alle der Technik des Odysseus,
der ja auch wußte, daß er im Moment der Versuchung durch den Gesang der
Sirenen nicht mehr wollen konnte, was er wollte. Aber Odysseus wollte das
Problem lösen – und er wußte auch, wie das geht. So auch hier. Einschlafen
kann man zwar nicht beschließen. Aber wenn zwei Stunden Joggen die nötigen Endorphine wirklich erzeugt, um – nach einem heißen Bad, einer halben
Flasche guten italienischen Rotweins und gewissen weiteren Entspannungs10
Vgl. Jon Elster, Zustände, die wesentlich Nebenprodukt sind, in: Elster 1987a, S. 143ff.
Die Logik der subjektiven Vernuft
309
übungen – für die nötige Bettschwere zu sorgen, dann kann diese Technik
gewollt und „rational“ eingesetzt werden. Denn: Das Joggen kann gewollt
werden. Und auch die Flasche Rotwein entschwindet nicht, wenn ich nach ihr
greife.
Ähnliche Techniken der Umwegsproduktion lassen sich für alle anderen
Beispiele der Unmöglichkeit, bestimmte Dinge zu wollen, ausdenken und
vielleicht sogar finden und gesellschaftlich institutionalisieren. Nicht immer
freilich gibt es die nötige Technik schon – wie beim Vergessen oder bei der
Ausschaltung der Furcht vor dem Tode. Und nicht immer ist sie zuverlässig –
wie bei der Erzeugung von Ehre durch gut gemeinte Taten. Aber die Menschen sind erfinderisch. Die Psychoanalyse, die Pfarrer und die Rotaryclubs
haben sie schließlich auch erfunden. Es sind alles Versuche, Dinge willentlich
und rational zu verwirklichen, die man eigentlich nicht wollen kann, weder rational, noch irrational.
Satisficing
Das Maximieren des Nutzens nach dem Marginalprinzip ist ohne Zweifel eine
für Menschen recht komplizierte und anstrengende Angelegenheit. Herbert A.
Simon hat schon vor langer Zeit an dieser Überschätzung der Fähigkeiten der
Menschen Anstoß genommen.11 In seinem mittlerweile schon klassischen
Aufsatz zur Kritik an der Theorie der rationalen Wahl sagt er dazu:
„My first empirical proposition is that there is a complete lack of evidence that, in actual human choice situations of any complexity, these computations can be, or are in fact, performed.“ (Simon 1957, S. 246)
Herbert A. Simon nennt das Konzept der Rationalität, das diese Begrenzungen
berücksichtigt, auch bounded rationality (vgl. dazu noch die Abschnitte 8.3
und 8.4). Der wichtigste Unterschied zur Hyperrationalität des ökonomischen
Handlungsmodells ist dieser: An die Stelle des maximizing nach dem Marginalprinzip müßte wegen der Beschränkungen in den Fähigkeiten zur „Berechnung“ das der Funktionsweise des Menschen eher entsprechende Selektionsprinzip des satisficing treten. Das heißt: Menschen betrachten nur sehr wenige
Alternativen, meist sogar nur zwei. Sofern eine davon als „acceptable“ oder
„satisfactory“ angesehen wird, wird sie genommen – egal, ob es objektiv noch
bessere Möglichkeiten gibt.
11
Vgl. Herbert A. Simon, A Behavioral Model of Rational Choice, in: Herbert A. Simon,
Models of Man, New York und London 1957, S. 241-261; zuerst in: The Quarterly Journal of Economics, 69, 1955, S. 99-118.
310
Situationslogik und Handeln
Herbert A. Simon nennt als Beispiel einen Hausverkäufer, der einen Preis von (damals)
15.000 $ als akzeptabel ansieht. Er nimmt jedes Angebot an, das diesen Preis überschreitet.
Gibt es dieses Angebot, dann wird nicht weiter ausgelotet, welchen maximalen Preis der
Markt tatsächlich hergeben würde. Er ist zufrieden, wenn – sagen wir – 15.100 $ erzielt werden, obwohl in „Wirklichkeit“ das Haus 23.000 $ gebracht hätte.
Anders gesagt: Es gibt keinen singulären Maximalpunkt eines Nutzengipfels,
der erreicht werden soll, sondern nur eine – mehr oder weniger weit vom Gipfel entfernte – Region eines bestimmten Anspruchsniveaus, das, wenn es erreicht ist, den Akteur zufrieden stellt – auch wenn es darüber hinaus noch
weitaus bessere Möglichkeiten geben sollte. Die Anzahl der Alternativen, die
akzeptiert werden, ist also plötzlich größer als im Falle der Maximierung, die
nur die Eine und Beste kennt. Und das spart natürlich die anstrengende Suche
nach dieser Einen und Besten.
X-Efficiency
Der amerikanische Ökonom Harvey Leibenstein hat einen ähnlichen Gedanken für einen anderen Zusammenhang entwickelt. Sein Ausgangspunkt ist die
von ihm so genannte X-Efficiency: Die empirisch überwältigende Evidenz für
die Tendenz von Organisationen und Betrieben, deutlich oberhalb des minimalen Kostenniveaus zu produzieren, obwohl dies nach dem Marginalprinzip
der ökonomischen Theorie nicht sein dürfte.
Das Argument: Jede, für die Kostenminimierung eigentlich erforderliche, „tight calculation“
des Produktionsoptimums ist sehr anstrengend. Daher gehen die Akteure im „degree of calculatedness“ gerade bis zu dem Punkt, bei dem der empfundene „pressure“ aus der Abweichung
von der effizientesten Produktion nicht größer ist als die Mühe der „tightness“ jeder weiteren
Kalkulation einer effizienteren Lösung. Dadurch entstehen in Organisationen und Betrieben
sog. „inert areas“: Bereiche der Trägheit und des habituellen Handelns, von denen nur ausnahmsweise abgewichen wird.
Und die Folge:
„Unless the gains are sufficiently large most individuals will not choose to move to new patterns. They choose to stay with an existing pattern and appear insensitive to relatively small
variations in opportunities.“12
Satisficing und X-Efficiency erinnern sehr an die oben berichteten
Besitztumseffekte und an die Bevorzugung von sicher erscheinenden
Alternativen bei Allais und Ellsberg. Sowohl bei Herbert A. Simon wie bei
12
Harvey Leibenstein, Beyond Economic Man. A New Foundation for Microeconomics,
Cambridge, Mass., und London 1976, S. 89; Hervorhebungen nicht im Original.
Die Logik der subjektiven Vernuft
311
Harvey Leibenstein finden wir aber noch einen anderen Hinweis: Es ist
einfach – in Relation zum zu erwartenden Ertrag – zu teuer, etwa eine
Marktanalyse für das zu verkaufende Haus anfertigen zu lassen, um dann den
besten Preis zu erzielen. Auch die Manager und Meister, die für die soziale
Kontrolle im Betrieb und für die Bekämpfung der Laxheit sorgen sollen,
müssen bezahlt werden. Und auch das lohnt sich angesichts des Mehrertrages
an Effizienz nicht immer.
Kurz: Vielleicht sind das Satisficing und die X-Efficiency ja nur besonders
raffinierte Arten des maximizing – ebenso wie, möglicherweise, die Vorsicht
der Menschen bei Unsicherheit so dumm nicht ist, wie sie den Anhängern wie
den Kritikern der einfachen Theorie des rationalen Handelns vorkommen mag
(vgl. dazu auch noch Abschnitt 8.3).
Eine Zusammenfassung
So weit zu den wichtigsten Anomalien und Paradoxien der Theorie des rationalen Handelns. Inzwischen gibt es eine ganze Industrie der Untersuchung
dieser Anomalien und Paradoxien. Es gibt sogar eigene wissenschaftliche
Disziplinen dafür: die sog. Verhaltensökonomie und die kognitive Psychologie zum Beispiel. Zahllose einzelne Effekte sind bei diesen Bemühungen
inzwischen gefunden und mit verschiedenen Namen versehen worden. Einige
davon haben wir oben ausführlicher behandelt. Die folgende Zusammenfassung ist sicher nicht vollständig. Es werden u.a. unterschieden (vgl. auch etwa
die Aufstellung bei Frey 1992, S. 173f.):
Sunk-Cost-Effekte:
Menschen berücksichtigen frühere Investitionen in eine
Sache bei ihrem gegenwärtigen Handeln. Nach den Annahmen der Nutzentheorie sollten das aber „versunkene“
Kosten sein, die sie nicht weiter stören. Sie stören aber.
Besitztumseffekte:
Das ist der oben berichtete Effekt, daß Menschen gegen die
Aufgabe von dem, was sie schon unter Kontrolle haben,
eine starke Abneigung besitzen.
Certainty-Effekte:
Günstige Ereignisse, die mit Sicherheit auftreten, werden
riskanten Ereignissen vorgezogen, auch wenn der Erwartungswert der riskanten Ereignisse deutlich höher ist: Der
Spatz in der Hand ist besser als die Taube auf dem Dach!
Opportunitätskosten-
Der durch eine nicht gewählte Alternative entgangene Er-
312
Situationslogik und Handeln
Effekte:
trag zählt weniger als die unmittelbaren Kosten, die die gerade gewählte Alternative nach sich zieht.
Framing-Effekte:
Die sprachliche Formulierung eines Entscheidungsproblems beeinflußt die Entscheidung.
Referenzpunkt-Effekte:
Die Alternativen werden in Bezug auf einen Referenzpunkt
als Gewinn oder Verlust beurteilt. Der Referenzpunkt ist
im Zweifel der Status quo. Manchmal wird er durch das
sprachliche Framing gesetzt.
Verfügbarkeits-Bias:
Aktuelle, spektakuläre und persönlich betreffende Ereignisse werden bei den Entscheidungen systematisch überbewertet.
Repräsentativitäts-Bias:
Menschen können nur sehr bedingt logische Schlüsse ziehen, verzerren objektive Wahrscheinlichkeiten und können
auch keine bedingten Wahrscheinlichkeiten berechnen.
Myopia und Akrasia:
Menschen orientieren sich in ihren Zielen und Aufmerksamkeiten auf naheliegende und sie unmittelbar betreffende
Aspekte der Situation und sind nur begrenzt in der Lage,
Versuchungen zu widerstehen, auch wenn ihnen dies längerfristige Vorteile bringen würde.
Grenzen des Wollens:
Es gibt Ziele des Handelns, die nicht gewollt werden können, weil sie gerade durch den Akt des Wollens verhindert
werden.
Satisficing:
Menschen geben sich mit suboptimalen, ihnen aber ausreichend erscheinenden Lösungen zufrieden und suchen nicht
um jeden Preis nach der Alternative mit der maximalen
Nutzenerwartung.
Will man die Verletzungen der Axiome und Annahmen der Nutzentheorie
soweit zusammenfassen, dann lassen sich die verschiedenen Effekte auf vier
Besonderheiten des empirischen Entscheidungshandelns der Menschen zurückführen.
Es wird erstens die Sicherheit dem Risiko vorgezogen – sofern es etwas zu gewinnen gibt.
Wenn Verluste drohen, werden die Menschen wagemutig. Das Satisficing als Verzicht auf die
Suche nach einer maximierenden Lösung nach Maßgabe des Marginalprinzips ist ein Spezialfall davon. Zweitens werden vergangene Investitionen, Entscheidungen und Handlungen
nicht einfach vergessen. Der empirische Mensch ist keine tabula rasa, sondern verfolgt einmal
aufgebaute Handlungs-„Linien“ auch weiter. Er ist von ihnen auch dann nur schwer abzubringen, wenn sich die „objektiven“ Gründe geändert haben. Drittens spielen unmittelbare
Aspekte der Situation – wie der aktuelle Besitz und der Status quo, ebenso wie aktuelle Ver-
Die Logik der subjektiven Vernuft
313
suchungen – eine größere Rolle als zukünftige oder nicht unmittelbar verfügbare, wie bei allen Phänomenen der Myopia und Akrasia und der Unsicherheit bzw. des Mangels an Informationen. Und viertens können Menschen offenbar nur sehr begrenzt nicht verfügbare, aber
für die Entscheidung wichtige Informationen durch „richtige“ logische Operationen ergänzen.
Letzteres wiederum macht sie anfällig für die aktuellen und sichtbaren Bedingungen der Situation und läßt sie auf das Maximieren auch dann verzichten, wenn sie es „an sich“ könnten.
Vielleicht ist das alles kein Zufall und auch keine Verletzung einer speziellen
Rationalität: Die Sorge um das Gelingen der Reproduktion im Hier und Jetzt,
wie es die Sorge der lebenden Organismen im Verlaufe der Evolution immer
war. Menschen neigen, wie andere lebende Organismen auch, wohl genau
deshalb dazu, lokale und „nur“ zufriedenstellende Optima ihres Nahbereiches
gegenüber den globalen und maximierenden Optima einer – zeitlich, sachlich
und sozial – ferneren Welt vorzuziehen. In einer Welt der Knappheiten und
der mühsamen Behauptung der Reproduktion in einer stets feindlichen Umwelt ist das nicht der geringste evolutionäre Vorteil gewesen: Ohne die heftige
Identifikation mit den Nächstliegenden und mit ihren Nächsten und ohne
momentane Überanstrengung wären die Menschen als Spezies wohl
untergegangen. In the long run we are all dead, soll John Maynard Keynes
einmal gesagt haben. Und deshalb müsse jetzt dafür gesorgt werden, daß die
Menschen genug Geld in der Tasche haben, um die Wirtschaft zu stützen.
Ob diese universale Neigung zur lokalen Optimierung für die Menschen
auch weiterhin ein Vorteil sein wird, muß sich freilich erst noch erweisen.
8.3
Homo oeconomicus? Homo oeconomicus!
Die Logik des rationalen Handelns ist in der Tat sehr anspruchsvoll, und es ist
kaum zu glauben, daß die Menschen ihr überhaupt folgen können. Die gefundenen Anomalien und Paradoxien sind daher ernst zu nehmende und deutliche
Hinweise darauf, daß die wirklichen Menschen diesen Ansprüchen nicht immer auch wirklich genügen. Zweifel an der universellen Richtigkeit des Modells sind daher nur zu verständlich. Es gab sie – auch unter den Verfechtern
der Theorie des rationalen Handelns – immer schon, nicht zuletzt bei John
Stuart Mill (1806-1873), einem der Begründer des ökonomischen Denkens
und des philosophischen Utilitarismus, höchstpersönlich:
„It is not true that the actions even of average rulers are wholly, or anything approaching to
wholly, determined by their personal interest, or even by their own opinion of their personal
interest. I do not speak of the influence of a sense of duty, or feelings of philanthropy, motives never to be exclusively relied on, although (except in countries or during periods of great
moral debasement) they influence almost all rulers in some degree, and some rulers in a very
great degree. But I insist only upon what is true of all rulers, viz., that the character and cour-
314
Situationslogik und Handeln
se of their actions is largely influenced (independently of personal calculation) by the habitual
sentiments and feelings, the general modes of thinking and acting, which prevail throughout
the community of which they are members; as well as by the feelings, habits, and modes of
thought which characterize the particular class in that community to which they themselves
belong. And no one will understand or be able to decipher their system of conduct, who does
not take all these things into account. They are also much influenced by the maxims and traditions which have descended to them from other rulers, their predecessors; and which have
been known to maintain, during long periods, a successful struggle in a direction contrary to
the private interests of the rulers for the time being.“13
Was John Stuart Mill über die Herrscher meinte, läßt sich natürlich erst recht
auf die Alltagsmenschen übertragen. Gleichwohl kann man nicht einfach sagen, daß das Modell des rationalen Handelns mit seinen strengen Axiomen
und mit der starken Annahme der Maximierung und des Marginalprinzips unbrauchbar wäre. Wenigstens als theoretisches Instrument hat es seine Nützlichkeit gegenüber allen seinen Konkurrenten lange und bis auf den heutigen
Tag bewiesen. Und solange es keinen ernsthaften Konkurrenten für eine Theorie gibt, muß man sie – vernünftigerweise – auch dann beibehalten, wenn
man weiß, daß sie – wenigstens in Teilen – falsch ist.
Bevor wir im letzten Abschnitt 8.4 dieses Kapitels ein Konzept der Rationalität skizzieren,
das – den derzeitigen Erkenntnissen zufolge – dem „wirklichen“ Menschen gerechter wird als
die einfache Nutzentheorie der Maximierung der Werterwartung und gleichwohl alle Vorzüge einer erklärenden Theorie des Handelns hat, seien auch einige Gegenevidenzen gegen eine
allzu voreilige Kritik am Modell des homo oeconomicus berichtet. Denn: Vollkommen ohne
empirische Grundlage ist – anders als dies viele Soziologen und Psychologen zu glauben
scheinen – die Theorie des rationalen Handelns keineswegs. Und manche Anomalie und
mancher „Effekt“ auf der Liste oben entpuppt sich bei näherem Hinsehen sogar als eine glänzende Bestätigung der Grundidee, daß die Menschen keine Deppen sind und in ihrem Tun die
Möglichkeiten, die Knappheiten und die Anreize doch recht genau beachten.
Fünf Beispiele wollen wir uns etwas näher ansehen: Das Axiom von der Geordnetheit der Präferenzen, das Marginalprinzip, die „rationale“ Kontrolle von
Affekten, die Vernünftigkeit der Ignoranz, das satisficing bei Herbert A. Simon und das framing aus den Experimenten von Tversky und Kahneman.
13
John Stuart Mill, A System of Logic. Ratiocinative and Inductive, London 1905, S. 539;
Hervorhebung nicht im Original.
Die Logik der subjektiven Vernuft
315
Das „Erwachsen“ der Präferenzordnung
Das erste und wichtigste Axiom der Nutzentheorie ist das der Vergleichbarkeit und der Transitivität der Präferenzen, das von der konsistenten Ordnung
der Präferenzen also (vgl. Abschnitt 8.1). Besonders bei komplexen und vielschichtigen Alternativen ist die Annahme einer konsistenten Präferenzordnung aber durchaus gewagt: Wenn jemand Meg Ryan – warum auch immer –
Marilyn Monroe vorzieht und die wiederum Heike Makatsch, dann ist es keineswegs ausgemacht, daß nicht – aus guten Gründen – Heike Makatsch wiederum vor Meg Ryan präferiert wird, wenn man sich zwischen diesen beiden
zu entscheiden hätte. Die Mädels – und nicht nur sie – sind nun einmal komplex, vieldimensional und unberechenbar. Und sie lassen sich nicht einfach
und eindimensional in eine rationale Ordnung bringen.
Das Problem der Intransitivität ist aber bei weitem nicht derart gravierend,
wie es manche Kritik an der Theorie des rationalen Handelns gerne hätte. Oft
löst sich das Problem der Intransitivität schon dann, wenn die latente Vielschichtigkeit der Alternativen berücksichtigt wird: Haarfarbe, Maße, Talent,
Zeitgeistnähe, Verstand oder Charme zum Beispiel. Die Verletzung des Axioms von der Ordnung der Präferenzen ist außerdem empirisch durchaus nicht
der Normalfall, besonders dann nicht, wenn die „richtige“ Ordnung für einen
Akteur auch wichtig ist. Und manchmal ist es sogar vernünftig und nutzenmaximierend, nicht sonderlich genau auf die inneren Präferenzen zu achten.
Von Arnold A. Weinstein stammt ein Experiment, bei dem ganz verschiedene Objekte in zufälliger Anordnung paarweise verglichen werden sollten.14
Der Wert jedes dieser Objekte betrug etwa drei Dollar. Darunter waren Dinge
wie der Kunstdruck eines Gemäldes von El Greco, ein Paar weiße leichte
Tennistreter, Single-Platten von den Beatles, bunt bedruckte Krawatten, Gutscheine für Vanillemilch, auch drei Dollar in bar. Das Ziel des Experimentes
war es, eventuelle Intransitivitäten in den Präferenzen für diese Objekte bei
Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen festzustellen. Die Ergebnisse der
Paarvergleiche – der Anteil der nach den Regeln der Transitivität richtig vorgenommenen Paarvergleiche – wurden nach dem Alter der Versuchspersonen
geordnet. Und herausgekommen ist das:
14
Arnold A. Weinstein, Transitivity of Preference: A Comparison among Age Groups, in:
The Journal of Political Economy, 76, 1968, S. 307-311.
316
Situationslogik und Handeln
Altersgruppe
9 - 12 Jahre
13 - 16 Jahre
17 - 18 Jahre
Erwachsene (meist Lehrer)
Anteil Transitivität
n
79.2
83.9
88.0
93.5
52
36
46
18
Erstaunlich ist zunächst der hohe Prozentsatz „richtiger“ Präferenzordnungen
auch schon bei der jüngsten Gruppe. Ganz besonders bemerkenswert ist die
systematische Zunahme der „Rationalität“ mit dem Alter. Schon mit 17-18
Jahren verletzen nur noch etwas mehr als 10% der Versuchspersonen die Regeln der transitiven Präferenzen. Und bei Erwachsenen sind es sogar noch
einmal deutlich weniger. Von einer überwiegenden Verletzung des Axioms
der Ordnung der Präferenzen kann, selbst bei den geschilderten vieldimensionalen Objekten, also keine Rede sein.
Wie ließe sich dieser Zusammenhang zwischen Alter und Rationalität aber erklären? Es könnte daran liegen, daß für die erforderlichen inneren Berechnungen gewisse Fertigkeiten benötigt werden, die Kinder einfach noch nicht beherrschen. Plausibler erscheint eine andere Deutung: Niemand kennt, wenn er
auf die Welt kommt, seine Obsessionen und Präferenzen. Das stellt sich erst
allmählich im Verlaufe seiner Erfahrungen mit den vielen Dingen dieser Welt
heraus. Kinder probieren wahrscheinlich in höherem Maße als ältere einfach
aus, was alles so möglich ist, gerade weil sie noch nicht wissen, „wer“ sie
sind. Dieses Probieren aber erzeugt zunächst Zufallswahlen. Und die wiederum müssen zu höheren Anteilen von Verletzungen des Axiomes von der Präferenzordnung führen.„Entwicklung“ und Erwachsenwerden bedeuten also
unter anderem auch: Die Feststellung der eigenen Präferenzen. Dabei sind die
Präferenzen nichts anderes als die personalen Bewertungen für gewisse primäre Zwischengüter in der „privaten“ Produktionsfunktion des Akteurs, die
die sozialen Produktionsfunktionen stets – gewissermaßen – überlagert (vgl.
dazu bereits Abschnitt 3.3). Zunächst wissen Kinder – einmal von einigen
ganz grundlegenden Dingen abgesehen – eben noch nicht, was ihnen persönlich gut tut und was ihnen persönlich gefällt. Das stellen sie erst nach und
nach fest. Wenn sie aber – durch Ausprobieren und leibhaftiges Erleben – gelernt haben, welche Zwischengüter es sind, die für ihre eigene Nutzenproduktion taugen und welche nicht, dann müssen sie nicht mehr immer wieder neue
Dinge ausprobieren. Dann kennen sie die Techniken, mit denen sie ihre Bedürfnisse befriedigen können, und die Güter, die ihnen Spaß machen (vgl. dazu auch Kapitel 9 über das Lernen). Dann haben sie bald auch eine konsistente Ordnung in ihren Präferenzen. Aber dann macht ihnen – oft – auch das Le-
Die Logik der subjektiven Vernuft
317
ben keinen richtigen Spaß mehr. Arnold A. Weinstein hat noch eine andere
Erklärung dafür: Manchmal lohnt es sich einfach nicht, die inneren Präferenzen rational zu ordnen:
„If there is a cost, in effort, in extending a preference ordering, and if this cost exceeds the
expected benefits, it would not be rational for an individual to undertake that extension. In
such a case, non-systematic, rather than ‚utility-maximizing,’ behavior is to be expected.“
(Weinstein 1968, S. 307; Hervorhebung nicht im Original)
Kurz: Wenn der Aufwand für eine „rationale“ Ordnung der Präferenzen den
erwarteten Nutzen dieser Ordnung übertrifft, dann ist es rational, es bei der Intransitivität und beim unsystematischen, nicht-rationalen Handeln zu belassen.
Birds Do it! (Bumble-)Bees Do it!
Vor allem das Maximieren nach dem Marginalprinzip scheint eine besonders
anspruchsvolle Voraussetzung zu sein. Gerade wegen der offenkundigen Begrenzungen der menschlichen Fähigkeiten zur Informationsverarbeitung und
Berechnung hatte Herbert A. Simon ja an die Stelle des Maximizing nach diesem Prinzip das weniger anstrengende Satisficing setzen wollen. Und es ist ja
wohl auch so: Wer könnte schon ganz genau die Alternative finden, an der
Grenzertrag und Grenzverlust sich exakt ausgleichen? Erstaunlicherweise aber scheinen die Selektionsregel des Marginalprinzips schon nichtmenschliche Organismen gut zu beherrschen – Kohlmeisen, Bienen und
Hummeln zum Beispiel.
Die Futtersuche ist für Vögel eine sehr anstrengende Angelegenheit: Durch das Herumfliegen
verbrauchen sie viel Energie. Und dann stellt sich natürlich die Frage: Ab wann lohnt sich eine weitere Suche noch, wenn bereits eine gewisse Menge an Futter gefunden wurde? Das
Marginalprinzip gibt die Antwort: Es wäre optimal und vernünftig, solange weiterzusuchen,
bis die nächste gefundene Futtereinheit gerade noch etwas mehr an Energiegewinn erbringt,
als die Suche danach an Energie kostet. Nach einer Studie des Biologen Richard Cowie tun
Kohlmeisen genau das:15 Sie suchen exakt jene Menge an Futter, bei der sich der Grenzertrag
in Form des Energiegewinns an den Grenzverlust an Energie für eine weitere Futtersuche angleicht. Seine Kollegen Clayton M. Hodges und Larry L. Wolfe untersuchten Bienen und
Hummeln, deren Problem bei der Nektarsuche in ähnlicher Weise darin besteht, daß das Aussaugen des Restnektars bei einer Blüte immer schwieriger wird. Als Optimalpunkt, bei dem
der physiologische Grenzertrag weiterer Saugbemühungen dem physiologischen Grenzaufwand dafür gleicht, berechneten sie einen theoretischen Wert von 1.0 Mikrolitern an in den
Blüten belassenem Restnektar. Die beobachteten Bienen und Hummeln hinterließen im
15
Richard J. Cowie, Optimal Foraging in Great Tits (Parus Major), in: Nature, 268, 1977, S.
137ff.
318
Situationslogik und Handeln
Durchschnitt 1.24 Mikroliter, ein Wert, der innerhalb der Konfidenzintervalle der Beobachtungen blieb.16
Offenkundig ist es für die schwierige Aufgabe der Maximierung nach dem
Marginalprinzip also nicht erforderlich, daß sich die Organismen sonderlich
darum bemühen: Sie können es und tun es einfach oder verhalten sich mindestens so „als ob“. Warum aber können das Kohlmeisen, Bienen und Hummeln
– und praktisch alle anderen Lebewesen auch? Die Antwort liegt sehr nahe:
Das Marginalprinzip ist eine außerordentlich raffinierte Antwort auf das wohl
wichtigste Problem aller lebenden Organismen – die Sicherung der eigenen
Reproduktion. Wer dem Prinzip folgt, sorgt einerseits für die Beschaffung der
– im wörtlichen Sinne – überlebenswichtigen Mittel, strengt sich aber andererseits dabei auch nicht über Gebühr an.17 In einer Welt der übergroßen
Knappheiten wäre die Verschleuderung von Energien bald letal. Evolutionär
erfolgreicher waren daher wohl die Arten, die – warum zunächst auch immer
– dem Marginalprinzip folgten. Die anderen Spezies taten entweder zu wenig
für sich, oder verausgabten sich bald. Und beides war evolutionär nicht gut für
sie. Es wäre schon sehr verwunderlich, wenn sich ausgerechnet homo sapiens
der Vorzüge des Marginalprinzips entledigt hätte. Und wenn ausgerechnet er
mit seinem Verstand das nicht (mehr) könnte, was Kohlmeisen, Bienen und
Hummeln ganz automatisch und ohne jede „Berechnung“ instinktiv beherrschen. Gleichwohl hat die Kritik von Herbert A. Simon ohne Zweifel etwas
für sich: Wenn das „Berechnen“ des Optimalpunktes beim Menschen zu anstrengend ist – eben weil er die genetisch-instinktive Fähigkeit dazu verloren
hat –, dann gehört der Aufwand beim Maximieren auch zu den Kosten, die zu
berücksichtigen sind. Bei Kohlmeisen, Bienen und Hummeln sind die Optimierungskosten gleich null, weil sie „automatisch“ maximieren. Beim Menschen eben nicht. Und deshalb ist es für ihn wohl in der Tat oft vernünftiger,
sich mit weniger als dem Maximum nach dem Marginalprinzip zufrieden zu
geben – womöglich nach den Regeln des Marginalprinzips.
Die Kontrolle der Affekte
Emotionen und Affekte gehören mit zu den sperrigsten Herausforderungen an
die Theorie des rationalen Handelns als „allgemeiner“ Logik der Selektion:
16
17
Clayton M. Hodges und Larry L. Wolfe, Optimal Foraging in Bimblebees: Why is Nectar
Left Behind in Flowers, in: Behavioral Ecology and Sociobiology, 9, 1981, S. 42ff.
Vgl. Eric L. Charnov, Optimal Foraging, the Marginal Value Theorem, in: Theoretical
Population Biology, 9, 1976, S. 130ff.
Die Logik der subjektiven Vernuft
319
Sie gehören einfach nicht dazu. Aber wer wollte ernsthaft bezweifeln, daß
weiteste Bereiche der Gesellschaft und auch des wirtschaftlichen Handelns
davon massiv geprägt sind? Die meisten Morde werden im Affekt begangen.
Wichtigste Entscheidungen werden nach dem Gefühl getroffen. Und die blutigsten Kriege sind die, wo es um religiöse oder nationale Emotionen geht.
Was wäre dazu aus der Sicht der Theorie des rationalen Handelns zu sagen?
Naheliegend wäre wohl dies: Es ist nicht zu bestreiten, daß es Emotionen und
Affekte gibt, die alle „rationalen“ Überlegungen der Menschen überlagern oder gar ausschalten können. Aber selbst bei den noch unglaublichsten Exzessen der Emotionalität sind die Variablen nicht einfach ausgeschaltet, die nach
der Theorie des rationalen Handelns für die Entscheidungen der Menschen
maßgeblich sind.
Von Norbert Elias (1897-1991) stammt eine derartige Hypothese. Seine, in
der Soziologie weithin akzeptierte Idee: Wenn die Konsequenzen des Tuns
unübersichtlicher und teurer werden, dann werden die Menschen vorsichtiger
und „berechnender“. Gibt es dagegen klare Fronten und ist mit Vorsicht,
Nachdenken und „rationaler“ Kalkulation nicht viel zu gewinnen, dann kann
man ungestraft seinen Affekten folgen. Mehr noch: Dann wird es oft buchstäblich lebenswichtig, nicht lange zu überlegen, was man tut – wie im wilden
Westen, in dem nur der überlebte, der am schnellsten zog. Norbert Elias geht
dabei von der These einer Koevolution der gesellschaftlichen Strukturen mit
der psychologischen Verfassung von Menschen aus: Mit dem „Prozeß der Zivilisation“18 in der Gesellschaft verändere sich gleichzeitig die Persönlichkeitsstruktur. Und zwar in der folgenden Weise: Wo es zuvor, etwa im Mittelalter, spontane und affektgeleitete Reaktionen gab – man spuckte auf die Straße, schneuzte sich bei Tisch oder schlug als Ritter ganz spontan und ohne längeres Zögern aufeinander ein –, herrschen nun, etwa in den Intrigantennetzen
und komplizierten „Spannungsbalancen“ der „Höfischen Gesellschaft“19,
„Vorsicht“, „Rationalität“ und „strategische Weitsicht“. Auf den ersten Blick
sieht dies wie eine andere Variante der These aus, daß sich die Menschen mit
der sozialen und institutionellen Umgebung auch in ihrer „Natur“ änderten
und daß der Modus des Handelns – hier: affektuelles versus zweckrationales –
keine Frage der „Wahl“, sondern eine unmittelbare Folge der jeweiligen institutionellen Strukturen sei. Genau das will Norbert Elias aber nicht sagen. Er
will vielmehr verständlich machen
18
19
Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische
Untersuchungen, 1. Band: Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten
des Abendlandes, Frankfurt/M. 1976a, S. VIIIff.
Norbert Elias, Die Höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums
und der höfischen Aristokratie, Frankfurt/M. 1983, S. 178ff.
320
Situationslogik und Handeln
„ ... wie ein viele Menschengenerationen umfassender Prozeß der Zivilisation möglich ist, in
dessen Verlauf sich die Persönlichkeitsstruktur des einzelnen Menschen wandelt, ohne daß
sich die Natur des Menschen wandelt.“ (Elias 1976a, S. LXV; Hervorhebungen nicht im Original).
Unter „Persönlichkeitsstruktur“ ist offensichtlich so etwas gemeint wie eine
generalisierte Neigung für die Wahl eines bestimmten Modus des Handelns –
affektuell-spontane Reaktion hier, rational-kalkuliertes Handelns da. Und diese generalisierte Neigung variiere – so Norbert Elias – mit der Struktur der
sozialen Umgebung: Emotional-spontanes Handeln da, wo die Fronten einfach, die Koalitionen verläßlich und kaum weiterreichende Konsequenzen zu
erwarten waren. Berechnend-strategisches und affektkontrolliertes Handeln
dort, wo die Fronten und Koalitionen „multipolar“, undurchschaubar und instabil sind, und wo wegen einer deutlichen „Verlängerung der Interdependenzketten“ jedes Handeln gründlich überlegt werden muß, um sich nicht
durch leichtfertige Spontaneität schlimme Spätfolgen einzuhandeln.
Welchen Typus oder Modus des Handelns – affektuell oder zweckrational
– die Menschen jeweils wählen, ist danach also deutlich von der sozialen Situation bestimmt, in der sie stehen. Diese Situationen sind ohne Zweifel sehr
verschieden. Aber der Modus wird nach der gleichen Selektionsregel gewählt
wie jedes andere Handeln auch: Welcher Modus ist angesichts der Umstände
der günstigere und erfolgversprechendere? In der Rittergesellschaft der freien
Konkurrenz der Krieger untereinander galt:
„Den Impulsen unmittelbarer nachzugeben und nicht erst auf längere Sicht zu berechnen, gehörte ... zu den Verhaltensweisen, die – selbst, wenn sie zum Untergang des Einzelnen führten, – dem Gesellschaftsaufbau als Ganzem adäquat und daher ‚wirklichkeitsgerecht’ waren.
Der Kampffuror war hier eine notwendige Voraussetzung des Erfolges und des Prestiges für
den Mann des Adels.“20
Und welcher Modus des Handelns ist unter diesen Umständen der „vernünftigste“? Natürlich: das affektuell-irrationale Handeln ohne langes Zögern. Mit
der fortschreitenden Monopolbildung und Zentralisierung von politischer
Macht und Gewalt im Verlaufe des Prozesses der Zivilisation änderte sich
dies allerdings:
„Der veränderte Aufbau der Gesellschaft bestraft jetzt Affektentladungen und Aktionen ohne
entsprechende Langsicht mit dem sicheren Untergang. Und wer nun mit den bestehenden
Verhältnissen, mit der Allmacht des Königs nicht einverstanden ist, muß anders vorgehen.“
(Ebd., S. 383; Hervorhebung nicht im Original)
20
Elias, Norbert, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische
Untersuchungen, 2. Band: Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf zu einer Theorie der
Zivilisation, Frankfurt/M. 1976b, S. 382; Hervorhebungen nicht im Original.
Die Logik der subjektiven Vernuft
321
Und wie müßte man nun – etwa im Gewirr der Intrigen und Beziehungsgeflechte der Höfischen Gesellschaft – tunlichst vorgehen? Natürlich: zweckrational bzw. strategisch.
Man sieht: Es ändern sich also keineswegs die „Natur“ des Menschen und
die grundlegende Art des Umgangs mit sozialen Situationen. Was sich ändert,
ist der Grad der Aufmerksamkeit, das erforderliche Maß an Kalkulation und
die Reichweite der Beachtung von Folgen und Nebeneffekten. Und der Grund
dafür ist auch sehr verständlich: Als Ritter berechnend und zweckrational abzuwarten, wäre ebenso töricht – wenn nicht sofort letal –, wie als Höfling polternd und gerade heraus seinen Affekten nachzugehen.
Das unreflektiert-automatische und das bedacht-rationale Handeln kann
man – mit Norbert Elias und in Anschluß an die Handlungstypen von Max
Weber – also offenkundig als verschiedene Modi der Selektion des Handelns
verstehen, zwischen denen eine „Wahl“ möglich ist (vgl. dazu bereits Abschnitt 6.8). Norbert Elias verband diese „Wahl“ mit typischen gesellschaftlichen Strukturen. Aber gesellschaftliche Strukturen tun nichts. Sie verändern
nur die Randbedingungen des Handelns und der dafür nötigen „Berechnungen“. Und zwar hier die Randbedingungen dafür, ob der eine oder der andere
Modus angemessener ist oder nicht. Wenn man genauer hinsieht und fragt,
warum etwa in der Rittergesellschaft der automatische und in der Höfischen
Gesellschaft der berechnende Modus vorherrscht, dann bietet sich eine erstaunliche Antwort an: Weil es jeweils vernünftiger ist. Und zwar nach den
Regeln der Theorie der rationalen Wahl.
Die Vernünftigkeit der Ignoranz
Einer der wohl gravierendsten Unterschiede zwischen dem allwissenden homo oeconomicus und dem wirklichen Menschen ist dieser: Anders als die
Theorie des rationalen Handelns annimmt, nehmen wirkliche Menschen ihre
Umgebung nur sehr selektiv und nur in ganz kleinen Ausschnitten wahr. Der
weitaus größte Teil der Umstände und Informationen bleibt schlichtweg ausgeblendet. Interessanterweise scheint diese Tendenz zur Ignoranz dann besonders stark zu sein, wenn die Umgebung komplexer und das Entscheidungsproblem angesichts des Wissens und der Kompetenzen des Akteurs
schwieriger werden. Und die Konsequenz: Wenn die Welt (zu) komplex ist,
dann macht sich der Akteur sie gedanklich so einfach, daß er sie (gerade)
noch beherrschen kann. Das sind unter extremer Unsicherheit dann auch sehr
ideosynkratische Muster des früher einmal als sicher erlebten Handelns: der
322
Situationslogik und Handeln
Ruf nach der Mutter, der Griff zur Flasche oder das Verlangen nach geistlichem Beistand zum Beispiel, wenn es sehr eng und ungewiß wird.
Ist das Verschließen der Augen vor den Komplexitäten der Welt eine
Reaktion, die gegen die Theorie des rationalen Handelns spricht? Von Ronald
A. Heiner stammt ein Modell, wonach diese Regression auf einfache Muster
als außerordentlich vernünftige Reaktion auf Unwissen und Ungewißheit und
mit den Mitteln der WE-Theorie erklärbar wird.21 Der Ausgangspunkt der
Überlegungen von Ronald A. Heiner ist der von ihm so genannte C-D-Gap.
Damit ist das Mißverhältnis zwischen der Schwierigkeit eines
Entscheidungsproblems („difficulty“) einerseits und der Kompetenz des
Akteurs, damit fertig zu werden („competence“), andererseits gemeint. Der CD-Gap kann nach dem Typ des Entscheidungsproblems, nach den
Umgebungsverhältnissen und nach den Eigenschaften der Akteure
unterschiedlich groß sein.
Der perfekt informierte homo oeconomicus bezeichnet nach Ronald A. Heiner den Grenzfall
eines C-D-Gap von null. Die ökonomische Nutzentheorie meint ja, gerade mit dieser Annahme den Schlüssel zur Erklärung von Regelmäßigkeiten des Handelns in der Hand zu haben:
Unsicherheiten – also ein C-D-Gap größer als null – könnten danach nur unvorhersagbare
und erratische Irrtümer und Überraschungen erzeugen. Zur Isolation der systematischen Teile
des Handelns müsse daher der Einfluß solcher Unsicherheiten schon von den Annahmen her
ausgeschlossen werden.
Ronald A. Heiner zieht aus der Existenz eines C-D-Gap geradezu den gegenteiligen Schluß: Da die Welt sich stets verändert, wäre gerade das maximierende Handeln, das jeder noch so kleinen Änderung des Optimums folgen
würde, erratisch und unvorhersehbar. Wenn ein Akteur aber – aufgrund seiner
bounded rationality – eben nicht jede Veränderung wahrnimmt, dann bringt
dies eine deutliche Konstanz in sein Verhalten hinein: Wenn ich nicht mitbekomme, daß sich die Benzinpreise fortwährend ändern, dann fahre ich auch
nicht hektisch von einer Tankstelle zur anderen, um meinen Benzinpreisnutzen zu maximieren. Ich bleibe vielmehr Stammkunde bei immer der gleichen
Tankstelle auf dem Weg zur Arbeit. Und ich tue gut daran, weil ich auf diese
Weise viel an Zeit, Nervenkraft und Entscheidungskosten spare und obendrein
meiner Umgebung mit meiner Hektik nicht auf die Nerven gehe. Aber irgendwann wird auch ein Akteur mit einer sehr begrenzten Rationalität und einem hohen C-D-gap sein Handeln ändern und den Chancen der Umgebung
folgen. Aber wann? Ronald A. Heiner formuliert für diesen Wechsel von der
Ausblendung der Umgebungsänderungen zur Aufnahme neuer Informationen
die sog. Reliability Condition. Diese spezifiziert, wann die Inflexibilität des
21
Ronald A. Heiner, The Origin of Predictable Behavior, in: The American Economic Review, 73, 1983, S. 560-595.
Die Logik der subjektiven Vernuft
323
Handelns gegen Umgebungsänderungen aufgegeben wird. Dabei werden die
folgenden Annahmen gemacht.
1. Es gibt bestimmte Umgebungsvariablen e, die die Komplexität des Entscheidungsproblems beschreiben. Zu dieser Komplexität gehören u.a. die Häufigkeit der betreffenden Situation und die Stabilität der Umgebung. Die Kompetenz des Akteurs zur Lösung von
Entscheidungsproblemen wird über die Variable p beschrieben. Dazu gehört u.a. die Fähigkeit des Akteurs, die Eigenschaften der Umgebung richtig zu dechiffrieren und die entsprechenden Schlüsse für sein Tun daraus zu ziehen. Die Variablen e und p bestimmen
den Gap zwischen Komplexität und Kompetenz – den C-D-Gap eben. Die Beziehungen
sind in einer allgemeinen Funktion abgebildet, in der der Grad der Unsicherheit U des
Akteurs von den Variablen p und e abhängig ist: U=u(p-, e+). Die Zeichen + und - bei e
und p sollen anzeigen, daß die Unsicherheit U mit der Komplexität der Umgebung zunimmt und daß sie mit der Kompetenz des Akteurs abnimmt.
2. Der Akteur verfüge nun über ein festes und bewährtes Repertoire von Handlungen: Seine
Gewohnheiten, Rituale, Regeln und Routinen. Eine davon abweichende neue Alternative
würde er vorziehen, wenn er sich sicher sein könnte, daß er dafür das richtige timing träfe.
Er würde sie nicht vorziehen, wenn das timing falsch wäre. Ein Arzt würde beispielsweise
nur dann ein bestimmtes Medikament verordnen, wenn er sicher sein kann, daß der Patient auch genau die Krankheit hat, für die das Medikament gedacht ist. Die Wahrscheinlichkeit für das „richtige“ oder „falsche“ timing einer Entscheidung in Abhängigkeit des
Zustandes der Umgebung seien mit p(e) für das richtige und mit 1-p(e) für das falsche timing angegeben. Die Wahrscheinlichkeiten p(e) und 1-p(e) geben dabei die objektiven
Chancen an, daß ein Akteur mit einer Abweichung von seiner Routine das bessere Ende
erwischt – oder aber nicht. Also: p(e) ist die Wahrscheinlichkeit, daß das Medikament
auch auf die „richtige“ Krankheit trifft, 1-p(e) die Wahrscheinlichkeit dafür, daß die Verordnung sie eben nicht trifft.
3. Wegen seiner Unsicherheit und Unwissenheit wird ein Akteur nun aber in aller Regel
nicht in der Lage sein, die neue Alternative genau zum „richtigen“ Zeitpunkt zu probieren.
Die (bedingte) Wahrscheinlichkeit, daß er bei einem gegebenen Grad an Unsicherheit U
die neue Alternative tatsächlich zum richtigen Zeitpunkt wählt, sei mit r(U) bezeichnet,
wobei U – wie gesagt – eine Funktion von p und e ist. Der aus einer „richtigen“ neuen
Handlung vor dem Hintergrund der Umgebungsvariablen e erwachsende Gewinn sei mit
g(e) bezeichnet. Entsprechend ist w(U) die (bedingte) Wahrscheinlichkeit, daß die neue
Handlung zum falschen Zeitpunkt gewählt wird, und l(e) der dann gegenüber der Routine
drohende Verlust. Im Spezialfall des homo oeconomicus gibt es keine Unsicherheit. Für
ihn sind r(U)=1 und w(U)=0: Er tut immer das Richtige und nie etwas Falsches. Jede Unsicherheit wird hingegen ein r(U)<1 und ein w(U)>0 nach sich ziehen.
4. Ein Akteur wird schließlich eine neue Alternative nur dann der Routine vorziehen, wenn
der erwartete Gewinn aus der „richtigen“ Wahl der neuen Handlung den erwarteten Verlust aus einer „falschen“ Wahl beim Ausprobieren des Neuen übersteigt. Der erwartete
Gewinn aus der richtigen Wahl ist aber nichts anderes als das Produkt der Wahrscheinlichkeit der richtigen Wahl zum richtigen Zeitpunkt mit dem dann eintretenden Gewinn.
Also: r(U)*p(e)*g(e). Der erwartete Verlust aus der falschen Wahl zum falschen Zeitpunkt ist entsprechend w(U)*(1-p(e))*l(e). Gewählt wird eine neue Alternative den Regeln der WE-Theorie entsprechend genau dann, wenn gilt: r(U)*p(e)*g(e)>w(U)*(1p(e))*l(e). Daraus ergibt sich für die Abweichung von der Routine nach Umstellen der
Gleichung die gesuchte Reliability Condition:
324
Situationslogik und Handeln
r(U)/w(U) > l(e)/g(e)*(1-p(e))/p(e).
5. Der Ausdruck r(U)/w(U) auf der linken Seite wird von Ronald Heiner auch als Reliability
Ratio bezeichnet, der Ausdruck l(e)/g(e)*(1-p(e))/p(e) auf der rechten Seite als Tolerance
Limit T(e). Das Tolerance Limit T(e) gibt an, „ ... how likely the chance of selecting an
action under the right conditions must be compared to the chance of selecting it under the
wrong conditions before allowing flexibility to select that action will improve performance.“ (Ebd., S. 566; Hervorhebung nicht im Original) Die Reliability Ratio r(U)/w(U) läßt
sich interpretieren als „ ... the ‚actual’ reliability of selecting an action, in comparison to
the ‚minimum’ required reliability specified by the tolerance limit T(e).“ (Ebd.; Hervorhebung nicht im Original)
6. Damit läßt sich die Frage beantworten, wann sich das Risiko „lohnt“, von der Routine abzuweichen oder – sogar –eine neue Handlung in das Repertoire der Routine aufzunehmen,
also zu lernen: „do so if the actual reliability in selecting the action exceeds the minimum
required reliability necessary to improve performance.“ (Ebd.; Hervorhebung nicht im Original)
7. Aus der Beziehung zwischen der Reliability Ratio und dem Tolerance Limit ergibt sich
für die Übernahme neuer Alternativen eine formal zwar recht triviale, aber inhaltlich
wichtige Folge: Für jedes gegebene Verlust-Gewinn-Verhältnis l(e)/g(e) steigt die
Wahrscheinlichkeit einer im timing falschen gegenüber einer richtigen Entscheidung
(1−p(e)/p(e) mit dem Absinken der Wahrscheinlichkeit des richtigen timing p(e). Damit
aber nimmt mit dem Absinken von p(e) auch die Höhe des „nötigen“ Tolerance Limit T(e)
zu. Also: „Thus, an agent must be more reliable in selecting an action if the right
situations for exhibiting it are less likely.“ (Ebd., S. 567; Hervorhebungen so nicht im
Original). Oder: „Thus, for a given structure of uncertainty, U=u(p,e), which determines
the reliability of selecting a particular action (i.e. which determines the ratio r(U)/w(U)),
the Reliability Condition will be violated for sufficienty small, but positive, p(e)>0.“
(Ebd.)
Kurz: Das Absinken der Wahrscheinlichkeit für die richtige Entscheidung zum
richtigen Zeitpunkt führt zu einer Verfestigung der gewohnten Routinen – und
damit zur stärkeren Vorhersagbarkeit des Handelns der Akteure. Aufgrund
der formalen Struktur der Beziehung ist sogar zu erwarten, daß für eine gewisse Untergrenze der Wahrscheinlichkeit des richtigen Tuns p(e) die erforderliche Reliabilität unendlich groß wird. Man sieht das unmittelbar aus der
Formel für die Beziehung zwischen der Reliability Ratio und dem Tolerance
Limit: Wenn p(e) gegen null geht, dann geht der Ausdruck l(e)/g(e)*(1p(e))/p(e) insgesamt gegen unendlich. Das heißt: Das erforderlich Tolerance
Limit T(e) für eine Abweichung wächst dann über alle Grenzen. Und keine
noch so hohe Reliability Ratio r(U)/w(U) und keine noch so großen Gewinnaussichten g(e) können diese Bedingung erfüllen.
In einem Diagramm lassen sich diese Zusammenhänge zusammenfassen
und leicht erkennen (Abbildung 8.1): Man sieht aus der Abbildung unmittelbar, was geschieht, wenn p(e) kleiner als etwa 0.25 wird: Die Gewinne können noch so hoch, die Verluste noch so extrem, die Umgebung noch so durch-
325
Die Logik der subjektiven Vernuft
sichtig und stabil und die Kompetenz des Akteurs noch so ausgeprägt sein: Er
wird den Verlockungen einer neuen Möglichkeit bei eigener Unsicherheit
nicht folgen und das weiter tun, was sich bisher für ihn bewährt hat.
Das Modell von Ronald A. Heiner legt für das Handeln der Menschen eine
etwas unerwartete Konsequenz nahe: Ein rationaler Akteur „muß“ bei einer
noch nicht einmal extremen Unsicherheit über die Richtigkeit seines Tuns
neue Möglichkeiten ignorieren. Die Anreize, an denen sich der perfekt informierte homo oeconomicus doch so gerne und leicht orientiert, werden vollkommen unwichtig, wenn das Handeln unter Unsicherheit stattfinden muß.
Erst wenn der nicht perfekt informierte homo oeconomicus mehr weiß und
kann und wenn die Umgebung transparenter wird, wird es ratsam, die eingetretenen Pfade zu verlassen. Erst dann kann er sich trauen, rational und maximierend zu handeln. Und zwar: Wenn er vernünftig ist.
T(e) 10
5
Übernahme der
neuen Alternative
Beibehaltung
der Routine
1
p(e)
0
.25
.50
.75
1.0
Abb. 8.1: Tolerance Limit und die Wahrscheinlichkeit des richtigen Zeitpunktes
(nach Heiner S. 567)
326
Situationslogik und Handeln
Satisficing als Maximizing. Oder: Der kluge Umgang mit den knappen Gütern
der Information und der Aufmerksamkeit
Allen Varianten der These von der begrenzten Rationalität der Menschen ist
gemeinsam, daß sie auf die Kosten einer maximierenden Rationalität hinweisen. Maximieren ist nämlich teuer – und das nicht zu knapp. Es erfordert Anstrengungen der Berechnung und des Findens der Entscheidung, Aufmerksamkeit und – nicht zuletzt – die Suche nach und die Verarbeitung von Informationen. Was läge also näher, als diese Kosten in die Gesamtrechnung der
Maximierung einzubeziehen. Genau das ist der Ansatz der sog. Informationsökonomie. Sie besagt: Es lohnt sich nicht immer, das letzte Quentchen an Informationen zu sammeln, das für das Finden des Optimalpunktes nach dem
Marginalprinzip nötig ist. Aber wann man mit der Suche nach neuen Informationen aufhört – diese Entscheidung folgt wieder der Theorie des rationalen
Handelns und dem Marginalprinzip. Suboptimale Zufriedenheit, Trägheit und
X-Effizienz und das Ausblenden von Möglichkeiten sind danach nichts als ein
bei rationalen Akteuren erwartbarer Umgang mit den Kosten von Informations- und Entscheidungsfindung.
Von George J. Stigler und Gary S. Becker stammt eines der bekanntesten Modelle der Informationsökonomie – ganz in der Sprache der ökonomischen Preistheorie.22 Es geht um das
Phänomen des sog. traditionalen Konsumentenverhaltens. Für viele Ökonomen war und ist es
ja ganz erschreckend, wie wenig sensibel viele Konsumenten auf Änderungen in Preisen und
Qualität der Produkte reagieren und sich um Markttransparenz und Preisvergleiche überhaupt
nicht zu kümmern scheinen, auch wenn sie wissen müßten, daß sie anderswo günstiger kaufen könnten. Haben sie alle keinen Verstand oder zu viel Geld? Die Informationsökonomie
sagt: Durchaus nicht. Die Überlegung ist folgende: Ein Konsument kaufe eine Einheit eines
Gutes zu einem Preis pt zum Zeitpunkt t. Der niedrigste Preis für das Gut sei p’t. Um diese
Gelegenheit zu ermitteln, müßte der Konsument sich im Zeitraum t-t0 auf die Suche nach einem besseren Preis begeben, wobei dann p’t eine Funktion des Suchaufwandes wäre. Die
Kosten für die Suche seien C. Diese Kosten können gesenkt werden, wenn die Suche in der
Periode weniger häufig erfolgt, wenn sich also der Konsument „traditional“ verhält. Je länger
diese Periode des Abwartens, um so höher sei der dann gezahlte Preis pt im Vergleich zum
„günstigsten“ Preis p’t. Entsprechend verfällt mit der Länge der Periode des Abwartens die
Annäherung des gezahlten an den minimalen Preis. George J. Stigler und Gary S. Becker zeigen, daß der Konsument über den Preis des Gutes wie gleichzeitig über die Suchkosten dann
minimiert – also: seinen Nutzen maximiert –, wenn die folgende Bedingung erfüllt ist: r =
√2C/d*p’. Dabei ist r die Anzahl der Käufe in einer Periode ohne weitere Suche nach einem
besseren Preis; also: ein Maß für den Verzicht auf das Maximizing, für ein traditionales Konsumentenverhalten also. Nach dieser Minimierungsbedingung nimmt r mit steigenden Suchkosten C, mit sinkendem Bestpreis p’ und mit der sinkenden Erwartung d zu, daß sich die Suche lohnt, weil die Preise ja doch nicht steigen. Es wäre also sogar maximierend rational, sich
22
George J. Stigler und Gary S. Becker, De Gustibus Non Est Disputandum, in: The American Economic Review, 67, 1977, S.82f.; vgl. auch bereits George J. Stigler, The Economics of Information, in: The Journal of Political Economy, 69, 1961, S. 213-225.
Die Logik der subjektiven Vernuft
327
bei hohen Suchkosten und bei geringem und stabilem Preisniveau nicht auf eine dann offensichtlich sinnlose Suche nach dem Minimalpreis zu begeben.
Das traditionale und dumpfen Gewohnheiten folgende Handeln ist also in
Wirklichkeit gar keine Abweichung vom Marginalprinzip, sondern viel eher:
seine Bekräftigung. Die Optimierung erfolgt nun lediglich über alle Kosten
des Handelns – die Such- und Entscheidungskosten C für die „beste“ Lösung
eingeschlossen. Das heißt aber auch: Selbst sehr hohe Such- und Entscheidungskosten „lohnen“ sich unter Umständen – wenn der zu erwartende Ertrag
hoch genug ist, oder, was das Gleiche ist, wenn eine wirklich gute Gelegenheit ohne weitere Suche nach ihr zu entgehen droht. Das wäre der Gewinn über den niedrigen Preis p’ als Ergebnis einer Marktanalyse. Aber auch bei hohen Gewinnaussichten muß ein rationaler Akteur noch nicht unbedingt aus der
Lethargie erwachen. Es hängt auch davon ab, was er erwarten kann, wenn er
nichts tut. Im Modell von Stigler und Becker ist diese default option für den
Status quo der (hohe) Preis p. Und es ist davon abhängig, wie wahrscheinlich
es ist, daß die Suche nach dem niedrigsten Preis auch erfolgreich ist. Das ist
im Modell der Koeffizient d.
Die Entscheidung, nicht zu entscheiden
In der uns vertrauteren Sprache der WE-Theorie haben die beiden Politikwissenschaftler William H. Riker und Peter C. Ordeshook ein ganz analoges Modell entwickelt.23 Sie werden feststellen, daß wir damit schon gearbeitet haben – bei der Erklärung des Bildungsverhaltens in Abschnitt 6.2 und bei der
Analyse der Umstände, unter denen Menschen beginnen, Unsicherheiten zu
vermindern in Abschnitt 6.3. Die grundlegende Überlegung von Riker und
Ordeshook besteht in der Annahme, daß – vor jedem konkreten Handeln – die
Akteure eine Art von innerlicher Filterentscheidung über den Modus ihres
Handelns treffen. Der Filter besteht aus zwei groben Alternativen α1 und α2
dieses Modus des Handelns, zwischen denen zu entscheiden ist.
Dabei ist α1 der eine Modus: die Handlungsalternative „wähle aus dem Set A von Alternativen“. A bildet dabei den Set an Handlungsalternativen 1, 2,...,i,...n, wie er bisher für den Akteur immer in vergleichbaren Situationen nur in Betracht kam. In A ist die bislang bewährte
und routinemäßig bevorzugte Handlungssequenz i enthalten. Es sei dann A’ der Set, der um
eine Alternative n+1 erweitert ist. Die Alternative α2 ist der andere Modus: die innere Entscheidung, auf die Suche nach einer „besseren“ Alternative n+1 zu gehen. Es geht also bei
23
Vgl. William H. Riker und Peter C. Ordeshook, An Introduction to Positive Political Theory, Englewood Cliffs, N.J., 1973, S. 21f.; wir folgen in der Notation des Beispiels den
Autoren.
328
Situationslogik und Handeln
den beiden Modi um die Entscheidung, mehr oder weniger Aufmerksamkeit für eine neue Alternative aufzuwenden, von deren Existenz der Akteur zwar im Prinzip weiß oder die er wenigstens vermutet, die er aber noch nicht genau kennt und jetzt erst einmal erkunden müßte.
Der erwartete Nutzen aus dem ersten Modus, der Beibehaltung des RoutineSets (α1), ist einfacherweise der Nutzen aus der habitualisierten Reaktion i. Es
ist der Nutzen des Status quo. Er tritt (subjektiv) mit Sicherheit ein. Die Entscheidung für den zweiten Modus, die Suche nach einer besseren Alternative
(α2), setzt sich aus drei Komponenten zusammen: die (subjektive) Erwartung
p, eine zu i „bessere“ Alternative mit dem Nutzen U(n+1) auch tatsächlich zu
finden; die mit der komplementären Wahrscheinlichkeit dazu (1-p) gewichtete
Nutzenerwartung für die habitualisierte Reaktion U(i); und die mit der Wahl
von α2 mit Sicherheit auftretenden Suchkosten C. Die EU-Gewichte für die
Wahl einer der beiden groben Alternativen α1 bzw. α2 lauten nach den geschilderten Annahmen dann so:
EU(α1) = U(i);
EU(α2) = pU(n+1) + (1-p)U(i) – C
Das Modell erlaubt nun präzise Angaben über die Bedingungen, wann ein Akteur den Modus seines Tuns wechseln würde. Etwa: Wann er von den eingetretenen Pfaden eines Status quo abzuweichen und seine Aufmerksamkeit auf
neue Möglichkeiten zu lenken beginnt. Eine solche Abweichung findet nach
den Regeln der WE-Theorie natürlich solange nicht statt, wie gilt:
EU(α1)>EU(α2). Daraus ergibt sich ausgeschrieben:
U(i) > pU(n+1) + (1-p)U(i) – C.
Und dann lautet die Bedingung für die Beibehaltung des ersten Modus, für die
Unterdrückung der Aufmerksamkeit und für den Verzicht auf die Suche nach
weiteren Informationen:
U(n+1) – U(i) < C/p.
Drei grundlegende Variablen enthält das Modell: den Anreiz zur Änderung
des Modus U(n+1)-U(i), die Erwartung p, daß die Änderung des Modus erfolgreich sein wird, und die Kosten C der Informationsbeschaffung bzw. der
inneren Aufwendungen für die Aufmerksamkeit. Sie alle drei variieren unabhängig voneinander.
329
Die Logik der subjektiven Vernuft
Beachten Sie auch die Ähnlichkeit der Beziehungen zwischen diesen drei Variablen mit dem
Ergebnis in dem Modell von Stigler und Becker für die Bedingungen eines „traditionalen“
Konsumentenverhaltens oben, wonach die Anzahl der Käufe r in einer Periode ohne weitere
Suche nach einem besseren Preis gemäß der Bedingung √2C/d*p’ mit den Kosten der Suche
ansteigt und mit dem zu erzielenden besseren Preis sowie mit der Erfolgserwartung für die
Suche danach absinkt.
Ein Wechsel des Modus kann auf sehr verschiedene Weise geschehen. Es
reicht meist nicht aus, daß sich nur eine Variable ändert. Wir wollen die Zusammenhänge noch einmal an einem Diagramm allgemein deutlich machen,
auch wenn wir mit ähnlichen Diagrammen in anderen Kapiteln für gewisse
inhaltliche Fragen schon gearbeitet haben (Abbildung 8.2; Symbole im Text).
U(n+1)-U(i)
* S’’
C’
* S’’’
* S’
C
*S
p
0
.50
1
Abb. 8.2: Die Beibehaltung der Routine und die Bedingungen der Aufmerksamkeit
für neue Alternativen
Der Punkt S bezeichne eine gegebene Situation mit p = 0.50 und einer gegebenen Nutzendifferenz U(n+1)-U(i), sowie Abweichungskosten C. Da S unter der Abweichungsschwelle C/p
liegt, bleibt der Akteur ohne jede Aufmerksamkeit für eine Abweichung von i, obwohl es eine positive Nutzendifferenz für die Alternative gibt. Eine Abweichung von der Routine des
ersten Modus wäre – bei gegebenem p – erst zu erwarten, wenn U(n+1) zunähme und/oder
wenn U(i) absinken würde und/oder wenn die Suchkosten C sich verringerten. Wichtig ist
330
Situationslogik und Handeln
insbesondere der Verlauf der Schwellenwertfunktion C/p für die Abweichung von der Routine: Mit sinkendem p steigt die Schwelle zur Aufgabe der Routine C/p zunehmend an. Dies hat
die Folge, daß bei geringem p (vgl. Punkt S’) auch niedrige Kosten C oder ein hoher Nutzenüberschuß bei der neuen Alternative keine Abweichung von der Routine bewirken können.
Das erinnert sehr an den Verlauf des Tolerance Limit in dem Modell von Ronald A. Heiner.
Die Effekte sind auch vergleichbar. Der Punkt S’’ symbolisiert den Fall einer sehr verläßlichen und äußerst attraktiven Alternative zum Status quo. In diesem Fall wird sofort gewechselt. Nur wenn die Verläßlichkeit und die Attraktivität der Alternative wieder deutlich absinken, „regrediert“ der Akteur zum „alten“ Modus der Routine.
Unabhängig von der Variation in U(n+1)-U(i) und p können natürlich auch
die Kosten C steigen oder sinken. Im Diagramm haben wir eine Erhöhung der
Kosten auf C’ eingezeichnet. Der Effekt ist klar: Mit der Zunahme der Kosten
kann ein Wechsel des Modus von der Routine auf die Aufmerksamkeit, der
zuvor stattgefunden hätte, unterbunden werden. Die Effekte der Kostenänderung sind am deutlichsten bei hohen Werten von p. Anders gesagt: Wenn die
Suche nach neuen Möglichkeiten ohnehin unattraktiv ist oder wenig Erfolg
verspricht, machen auch hohe Suchkosten nichts aus. Sie werden aber wichtig, wenn alle anderen Umstände dafür günstig sind: die Anreize des Neuen
und die Wahrscheinlichkeit des Sucherfolges – wie beim Punkt S’’’.
Versprechungen und Drohungen
Das Modell kann für alle möglichen Entscheidungssituationen angewandt
werden, in denen es um einen Wechsel von einem sicheren, aber relativ
schlechten Status quo zu einem riskanten, aber besseren anderen Zustand
geht. Beispielsweise: beim Vertrauen auf eine Versprechung oder bei der
Abweisung von Drohungen. Einem Versprechen kann man mit Vertrauen folgen oder nicht. Folgt man nicht, bleibt es beim Status quo. SQ sei der Ertrag,
den man erhält, wenn der Versprechung nicht gefolgt wird und alles beim alten Zustand bleibt. P sei der (Mehr-)Ertrag, der winkt, wenn man sich auf die
Versprechung einläßt. Die Glaubwürdigkeit des Versprechens sei wieder p. C
seien die Kosten, die entstehen, wenn man dem Versprechen folgt – später zu
zahlende Gegenleistungen oder eine als unangenehm empfundene Verpflichtung dem Versprechenden gegenüber. Die Gleichungen für die Entscheidung,
dem Versprechen zu vertrauen (t) oder nicht (m), lauten dann:
EU(m) = SQ
EU(t) = pP + (1-p)SQ – C.
Die Logik der subjektiven Vernuft
331
Die Übergangsbedingung vom Mißtrauen in das Versprechen auf das Vertrauen ist folglich:
P-SQ > C/p.
Versprechungen „wirken“ nach dem Modell also nur, wenn sie einigermaßen
glaubhaft sind, wenn sie sich gegenüber dem mißtrauischen Status quo lohnen
und nicht allzu viel an Folgekosten mit sich bringen. Sind diese Bedingungen
nicht erfüllt, werden sie ignoriert.
Ganz analog „wirken“ Drohungen. Eine Drohung bedeutet: Es ist Gefahr
im Anmarsch, und wenn ich der Drohung nicht glaube und sie in den Wind
schlage, dann passiert vielleicht etwas Schlimmes. Der Wert des Zustandes
ohne die weitere Beachtung der drohenden Gefahr sei wieder mit SQ bezeichnet. T umfasse die Stärke der Schädigung beim Eintreffen der angedrohten
Tat, und p die Glaubwürdigkeit der Drohung. Die Vorsicht vor der Drohung
bedeute auch sichere Kosten C – etwa die Prämie einer Versicherung oder der
schlichte Aufwand, jetzt aufpassen zu müssen. Bei Vorsichtsmaßnahmen vor
der Drohung – mit den Kosten C – sei der Nutzen SQ nicht gefährdet, wohl
aber beim Ignorieren der Gefahr oder Drohung. EU(t) sei dann die Nutzenerwartung für den Fall, daß die Gefahr ignoriert wird, EU(c) für den Fall, daß
sie beachtet und ihr begegnet werde. Dann gelten die folgenden Nutzenerwartungen:
EU(t) = SQ – pT;
EU(c) = SQ – C.
Die Bedingung für das Ignorieren der Gefahr bzw. der Drohung ist wieder
EU(t)>EU(c). Und entsprechend gilt:
SQ – pT > SQ – C
pT > C.
Und daraus ergibt sich wieder die inzwischen vertraute Ungleichung:
T > C/p.
Einer drohenden Gefahr wird somit nach den gleichen Regeln keinerlei Aufmerksamkeit geschenkt wie Versprechungen oder neuen Möglichkeiten: Die
332
Situationslogik und Handeln
Bedrohung muß eine gewisse Stärke T haben, sie muß mit einem nicht zu
niedrigen p einigermaßen glaubhaft oder wahrscheinlich sein, und die Vorsichtsmaßnahmen auf die Bedrohung C dürfen nicht zuviel kosten.
Der rationale Verzicht auf die Aufmerksamkeit
Stets geht es im Grunde also um die gleiche Angelegenheit: Soll ein vernünftiger Akteur sich um bestimmte Dinge in seiner Umgebung überhaupt kümmern? Soll er sich anstrengen, seine Aufmerksamkeit aktivieren und die Sache „rational“ nach der Art des Maximizing angehen? Oder kann es beim
sparsamen, aber unter Umständen weniger ertragreichen, Modus der automatisch-unreflektierten Reaktion des satisficing bleiben?
Der besondere Verlauf der Abweichungsschwelle sorgt in allen diesen Fällen dafür, daß unwahrscheinliche und/oder unwichtige Alternativen überhaupt nicht beachtet werden. Das ist
schon eine sehr beträchtliche Erleichterung des Alltagshandelns. Wenn es aber ernst wird, ist
eine Abweichung von der behäbigen Ruhe der Routine jederzeit möglich. Die wichtigste soziale Folge der „rationalen“ Unterdrückung von Aufmerksamkeit ist die Entstehung von
Trägheiten und von Verläßlichkeiten des Handelns, weil jetzt eben nicht auf jede kleine Änderung maximierend, hektisch und opportunistisch reagiert wird.
William H. Riker und Peter C. Ordeshook wollten mit ihrem Modell zeigen,
daß das von Herbert A. Simon als grundlegende Alternative zum Maximizing
vorgeschlagene Konzept des Satisficing lediglich ein Spezialfall der einfachen
Theorie des rationalen Handelns ist:
„To refuse to search (that is, merely to satisfy) would be to reject what is known to be better
for what is known to be worse. Certainly Professor Simon is not asking for this, because even
in his terms it is irrational to reject better for worse. As an irrationality, satisficing cannot be
expected to occur.“ (Riker und Ordeshook 1973, S. 23)
Das kann wohl nicht bestritten werden. Riker und Ordeshook fügen ihrer Kritik am Konzept des satisficing von Simon einen bemerkenswerten Satz an:
„Hence, we are back to our original point: unless we ask decision makers to play God, maximizing and satisficing are the same thing.“ (Ebd.)
Damit meinen sie: Woher können die Akteure denn eigentlich wissen, wie
hoch der Wert der besseren Alternative n+1 im Set des Modus α2 ist? Und
wie kommen sie eigentlich auf die Schätzung der Erfolgswahrscheinlichkeit
p? Müßten sie dazu nicht allwissend sein? Und das sind die irdischen Menschen ja sicher nicht.
Die Logik der subjektiven Vernuft
333
Wir sind damit wieder an dem Punkt angelangt, der uns bereits im Zusammenhang mit der
Paradoxie von Ellsberg und dem Problem der Unsicherheit beschäftigt hat (vgl. Abschnitt 7.3
und 8.2): Oft wissen die Menschen tatsächlich nicht einmal das Risiko ihres Tuns. Gleichwohl haben sie gewisse Anhaltspunkte für bestimmte Ahnungen darüber. So ist zwar der
Wert des Status quo wohl stets bekannt. Aber auch, wenn man sonst nichts weiß, gibt es mehr
oder weniger sichere Vermutungen darüber, daß es irgendwo eine Alternative mit einem minimalen besseren Wert als den Status quo geben mag: Etwas Besseres als den Tod finden wir
überall – das wußten die Bremer Stadtmusikanten ziemlich sicher. Nur nicht: Wo und was mit
welchem maximalen Wert auf der nach oben offenen Nutzenskala.
Gott wäre in diesen Fällen in der Tat nicht unsicher. Er würde das objektiv zutreffende Risiko und die beste Alternative kennen. Die Menschen sind immer
über die Dinge besonders unsicher, die sie nicht unmittelbar sehen und erleben. Gleichwohl stellen sie ihre Vermutungen an: Sie schätzen mögliche Werte und Erwartungen und lassen dabei – je nach Vorwissen oder Hinweisen in
der Situation – unterschiedliche Gradabstufungen der Ambiguität zu. Meist
reichen diese vagen Vermutungen nicht aus, um sie aus der Ruhe zu bringen.
Aber wenn es ihnen richtig schlecht geht oder wenn sie ahnen, daß ihnen viel
entgeht, wenn sie jetzt nicht aufpassen, dann wird auch der Bequemste seinen
Hintern erheben und beginnen, sich Gedanken zu machen. Es sei denn, die Erfolgsaussichten sind immer noch zu gering und/oder die Kosten der Suche
nach der besseren Lösung auch jetzt noch entschieden zu hoch.
Framing?
Das Ergebnis des Experimentes von Amos Tversky und Daniel Kahneman
über die asiatische Grippe (vgl. die Abschnitte 7.2 und 8.2) hat selbst viele
Ökonomen, die sonst wirklich nur „Nutzen und Kosten“ kennen, sehr beeindruckt: Daß die sprachliche Formulierung eines Entscheidungsproblems alleine schon so wichtig sein kann, und daß alles offenbar auf das Setzen eines Referenzpunktes ankommt – das ist schon eine ernste Herausforderung an die
einfache Nutzentheorie.
Zwei Erklärungen sind für den Framing-Effekt vorgeschlagen worden. Erstens scheint die
Beziehung zwischen objektiven Werten und dem subjektiv empfundenen Nutzen – etwa von
Geld – nicht linear zu sein. Bei Gewinnen gibt es offenbar einen abnehmenden Grenznutzen
und bei Verlusten – ganz ähnlich – einen abnehmenden Grenzschaden. Und das führt dazu,
daß die Menschen, wenn es um Gewinne geht, vorsichtiger reagieren und bei drohenden Verlusten risikofreudiger werden (vgl. dazu auch noch Abschnitt 8.4). Zweitens könnte die unterschiedliche Reaktion auf die Worte „retten“ und „sterben“ etwas mit der Aktivierung von
Werten, Normen und kulturellen Modellen zu tun haben: 200 schon vor dem Tode Gerettete
setzt man – in unserem Kulturkreis jedenfalls – nicht mehr einem erneuten Risiko aus. Und
wenn es ums Sterben geht, dann sollte jeder noch eine Chance haben.
334
Situationslogik und Handeln
Beide Erklärungen sind etwas gequält, wenngleich vielleicht nicht falsch:
Handeln findet immer in einem Bezugsrahmen statt; und an dem Gesetz des
abnehmenden Grenznutzens oder Grenzschadens ist sicher auch etwas Wahres. Auf jeden Fall aber sieht die herkömmliche Nutzen- bzw. WE-Theorie
mit den Ergebnissen von Tversky und Kahneman und mit den Deutungen der
Ergebnisse ganz alt aus: Mindestens das Axiom der Unabhängigkeit ist gravierend verletzt. Amos Tversky und Daniel Kahneman haben dann auch versucht, eine alternative Theorie zu entwickeln: die Prospect Theory (vgl. auch
dazu noch Abschnitt 8.4). Sie ändert die WE-Theorie in wichtigen Punkten –
und wird dadurch viel komplizierter.
Allein wegen des Verlustes an Eleganz und Einfachheit ist es für eine Theorie aber immer besser, eine auftretende Anomalie im Rahmen ihrer herkömmlichen Annahmen zu beseitigen und möglichst wenig daran zu ändern.
Und noch schöner wäre es, wenn sich zeigte, daß die Anomalie das Ergebnis
eines „Fehlers“ nicht der Theorie, sondern der Experimentalanordnung war.
Haben Tversky und Kahneman einen solchen Fehler gemacht?24
Zunächst muß auf eine wichtige Unterscheidung in den Vorgaben der Programme hingewiesen werden: die sprachliche Präsentation der Programme als Gewinn oder Verlust mit den
Worten „retten“ und „sterben“; und das substantielle Ergebnis als positiv oder negativ in erwarteten Anzahlen von Überlebenden und Opfern. Schon bei der Schilderung der Anordnung
des Experimentes in Abschnitt 7.2 war aber aufgefallen, daß die Vorgaben für die Versuchspersonen, mit denen sie die Erwartungswerte zu „berechnen“ hatten, unvollständig waren.
Teilweise wurde ihnen explizit und vollständig gesagt, was mit den Programmen zu erwarten
ist, teilweise mußten sich die Versuchspersonen den Rest erschließen. Eigenartigerweise gab
es diese Unvollständigkeit in den Vorgaben immer nur für die „sichere“ Alternative (A oder
C). Und es gab sie in einer merkwürdigen Asymmetrie: In der Gewinn-Formulierung (mit
„retten“ als Vorgabe) wurde das negative Ergebnis ausgelassen, die Anzahl derjenigen nämlich, die sicher nicht überleben würden. Und in der Verlust-Formulierung (mit „sterben“ als
Vorgabe) das positive Ergebnis, die Anzahl derjenigen also, die sicher überleben würden.
Wenn man die von Tversky und Kahneman vorgelegten Vorgaben systematisch unter die
Dimensionen Gewinn/Verlust-Formulierung und positive/negative Ergebnisse in der jeweils
zu erwartenden Anzahl von Überlebenden ordnet, werden die Unvollständigkeit und die Asymmetrie deutlich (vgl. Abbildung 8.3).
24
Die folgenden Überlegungen folgen einem Forschungsbericht von Volker Stocké. Volker
Stocké, Relative Knappheiten und die Definition der Situation. Die Bedeutung von Formulierungsunterschieden, Informationsmenge und Informationszugänglichkeit in Entscheidungssituationen: Ein Test der Framinghypothese der Prospect-Theory am Beispiel
des ‚asian disease problem‘. Zwischenbericht des Forschungsvorhabens „Zum Framing
von Entscheidungssituationen“ (Universität Mannheim), Mannheim 1996, S. 19ff.; Volker
Stocké, Framing oder Informationsknappheit? Zur Erklärung der Formulierungseffekte
beim Asian-Disease-Problem, in: Ulrich Druwe und Volker Kunz, Anomalien in der
Handlungs- und Entscheidungstheorie, Opladen 1998, S. 197-218; vgl. zur allgemeinen
theoretischen Einordnung der Überlegungen in das Problem der Unsicherheit bereits Abschnitt 7.3.
335
Die Logik der subjektiven Vernuft
Frame
Ergebnis
Gewinn
positiv
Verlust
negativ
positiv
?
negativ
Programm
A/C
mit p=1
200 Überlebende
?
B/D
mit p=1/3
600 Überlebende
mit p=2/3
0 Überlebende
mit p=2/3
0 Überlebende
mit p=0
400 Überlebende
mit p=2/3
600 Überlebende
Abb. 8.3: Die Versuchsanordnung beim „Asian-Disease“-Problem von Tversky und
Kahneman
Es ist zu sehen, daß bei den „sicheren“ Programmen ein Teil der Ergebnisnennung fehlt: im
Gewinn-Frame (Programm A) die explizite Nennung des zu erwartenden negativen Ergebnisses, daß eben sicher 400 Personen nicht überleben werden; und im Verlust-Frame (Programm
C) die explizite Nennung des positiven Ergebnisses, daß es sicher 200 Überlebende geben
wird. Die fehlenden Nennungen sind durch Fragezeichen gekennzeichnet. Für die „riskanten“
Programme waren dagegen alle nötigen Informationen vollständig aufgeführt.
Die einfache WE-Theorie geht davon aus, daß sich der gottähnliche homo
oeconomicus die fehlende Information einfach selbst erschließt – und dabei
keinen logischen Fehler macht. Was aber geschieht, wenn die Menschen nicht
ganz gottgleich sind und bei der internen Berechnung der EU-Gewichte bei
den fehlenden Angaben doch – und seien es noch so kleine – Fehler machen?
Wie sähe ein solcher Fehler aber jeweils aus? Die zu ergänzenden richtigen Angaben wären
im ersten Fall (Programm A, Gewinn-Frame, negatives Ergebnis) der Halbsatz „ ... und 400
Personen werden nicht gerettet.“; und im zweiten Fall (Programm C, Verlust-Frame, positives
Ergebnis) der Halbsatz „200 Personen werden nicht sterben, und ... .“ (vgl. Abschnitt 7.2 dazu bereits). Statt der Fragezeichen müßte also für Programm A eingetragen werden: „mit p=0
400 Überlebende“, und für Programm B: „mit p=1 200 Überlebende“. Das steht aber nicht
explizit da. Die Versuchspersonen müssen sich die fehlenden Werte für die Wahrscheinlichkeiten p und für die Zahl der Überlebenden selbst erschließen. Wir wollen optimistischerweise davon ausgehen, daß sie nur Fehler bei der Schätzung der Wahrscheinlichkeiten p machen
und die auch explizit fehlende Anzahl der Überlebenden richtig erschließen.
Welche Fehler in dieser Schätzung von p sind nun zu erwarten, wenn sie denn
gemacht werden? Zunächst ist festzuhalten, daß es Wahrscheinlichkeiten grö-
336
Situationslogik und Handeln
ßer eins und kleiner null ja nicht geben kann. Bei den Programmen A und C
geht es aber genau um das Erschließen dieser beiden Spezialfälle des Risikos
– der Sicherheit: In Programm A gibt es in dem nicht genannten Halbsatz ein
p von 0 für 400 Überlebende und in Programm B in dem nicht genannten
Halbsatz ein p von 1 für 200 Überlebende. Folglich ergibt sich schon für die
bloße Möglichkeit eines Fehlers in den beiden Varianten eine interessante Asymmetrie: Wenn überhaupt Fehler gemacht werden, dann muß die erschlossene Wahrscheinlichkeit dafür, daß 400 Personen überleben, in Programm A
größer als null sein. Und entsprechend muß die Wahrscheinlichkeit dafür, daß
es 200 Überlebende gibt, in Programm B kleiner als eins geschätzt werden.
Den Fehler bei der Schätzung von p kann man mit einem Diskontierungfaktor d – mit 0 ≤ d
≤1 – ausdrücken. Um diesen Faktor werde die Schätzung des nicht genannten „richtigen“
Wertes von p=0 im zweiten Halbsatz für das Programm A verzerrt. Die Verzerrung um den
Faktor d muß dort – wie gesagt – positiv sein, weil p nicht kleiner als null werden kann. In
ganz analoger Weise werde die Schätzung des nicht genannten „richtigen“ Wertes von p=1
im ersten Halbsatz für das Programm C verzerrt. Hier muß – wie ebenfalls schon festgestellt –
die Verzerrung negativ sein, weil es Werte kleiner eins für p nicht gibt. Der Diskontierungsfaktor für das Gewinn-Programm A sei mit dg, der für das Verlust-Programm B mit dl bezeichnet. Für Programm A wird also, wenn ein Fehler gemacht wird, statt p=0 für 400 Überlebende eine geschätzte Erwartung von 0+dg gebildet. Und für Programm C analog statt p=1
für 200 Überlebende eine geschätzte Erwartung von 1-dl.
Schreibt man nun nach diesen Überlegungen (analog zu Abschnitt 7.2 zu den
ursprünglichen EU-Gewichten für die vier Programme mit der Anzahl der jeweils Überlebenden und den entsprechenden Wahrscheinlichkeiten dafür) die
Gleichungen für die EU-Gewichte der vier Programme unter Berücksichtigung des Fehlers d noch einmal vollständig auf, dann ergibt sich:
EUA = 1*200
EUB = (1/3)600
EUC = (1-dl)*200
EUD = (1/3)600
+ (0+dg)*400
+ (2/3)0
+ 0*400
+ (2/3)0
> 200
= 200
< 200
= 200
Nach der vorgeschlagenen Erklärung ist also theoretisch zu erwarten, daß das
Programm A dem Programm B, und das Programm D dem Programm C vorgezogen wird – wenn nur der kleinste Fehler bei der Schätzung der nicht genannten Wahrscheinlichkeit p auftritt. Und genau so haben die Versuchspersonen auch empirisch reagiert: Sie haben, wie Sie oben in Abschnitt 8.2 lesen
konnten, in der Gewinnversion mit 72% dem Programm A vor B den Vorzug
gegeben und in der Verlustversion mit 78% dem Programm D vor C. Das taten sie aber nach den hier berichteten Überlegungen nicht, weil sie von Worten verführt worden sind, sondern weil in der Experimentanordnung bei
Die Logik der subjektiven Vernuft
337
Tversky und Kahneman – zufälligerweise? – beim „retten“ die Angaben für
die Sterbenden fehlten und beim „sterben“ die für die Geretteten; und weil die
Versuchspersonen sich im Erschließen dieser fehlenden Angaben etwas geirrt
haben.
Vieles spricht also dafür, daß die von vielen so umjubelte „Präferenzumkehr“ im Experiment von Tversky und Kahneman keine Folge des sprachlichen und kulturellen Framing war, sondern eines schlichten Fehlers beim Erschließen nicht explizit vorhandener Informationen – und einer, an sich unverständlichen, Nachlässigkeit in der Experimentanordnung. Wenn wir jetzt
noch berücksichtigen, daß es sich für rationale Akteure nicht immer lohnt, zu
rechnen, und daß die (studentischen) Versuchspersonen keinen Grund hatten,
wirklich genau nachzudenken, dann können die Ergebnisse von Tversky und
Kahneman wohl kaum als Widerlegung der WE-Theorie gewertet werden. Im
Gegenteil!
Im Zusammenhang der Untersuchungen von Volker Stocké wurden entsprechend den theoretischen Überlegungen folgerichtig auch Vorgaben mit vollständigen und symmetrischen
Angaben vorgelegt. Außerdem wurde eine unvollständig symmetrische Version getestet, bei
der bei allen vier Programmen jeweils ein Teil der Angaben systematisch symmetrisch fehlte.
Die hier vorgeschlagene Erklärung über die Auswirkung von Fehlern bei unvollständiger
Information sagte für alle Experimente dieser Art, bei denen entweder alle nötigen
Informationen explizit genannt werden oder in denen das Fehlen von Informationen genau
symmetrisch ist, voraus, daß es dann keine „Framing“-Effekte mehr geben dürfe. In allen
Experimenten mit dieser Anordnung verschwanden dann auch die Antwortunterschiede für
die Programme und die Effekte des sprachlichen „Framing“ vollständig (vgl. Stocké 1996, S.
48ff.).
Eine Theorie, die in Schwierigkeiten gekommen ist, steht um so glänzender
da, wenn es ihr bei einer Anomalie nicht nur gelingt, die Anomalie als einen
Kunstfehler bei der Experimentalanordnung zu entlarven, sondern
darüberhinaus mit ihrer Hilfe Vorhersagen machen kann, wie man sogar
analoge „Anomalien“ künstlich erzeugen kann.
Wenn die theoretischen Überlegungen von Volker Stocké nämlich stimmen, dann müßte es
sogar zu einer Umkehrung des Framing-Effektes à la Tversky und Kahneman kommen, sofern die Asymmetrie in den fehlenden Vorgaben gegenüber dem Original umgekehrt wird.
Nun müßte in der Gewinn-Version A der Hinweis auf die 200 mit einem p von eins überlebenden Personen fehlen, und es ist dafür explizit davon die Rede, daß es mit einem p von null
400 Überlebende gibt. Analog wird nun in der Verlust-Version B explizit von 200 sicher Überlebenden (p=1) gesprochen, es fehlt aber nun hier die Angabe, daß es mit einem p von null
400 Überlebende gebe. Die Aufstellung über die in den Vorgaben gebotene Ergebnisinformation von Wahrscheinlichkeiten und Angaben über Überlebende sieht in der „Umkehr“Version also so aus:
338
Situationslogik und Handeln
Frame
Ergebnis
Gewinn
positiv
Verlust
negativ
positiv
mit p=0
400 Überlebende
mit p=1
200 Überlebende
mit p=2/3
0 Überlebende
mit p=2/3
0 Überlebende
negativ
Programm
A/C
B/D
?
mit p=1/3
600 Überlebende
?
mit p=2/3
600 Überlebende
Abb. 8.4: Modifizierte Version des „Asian-Disease“-Experimentes mit „gedrehten“
Effekten
Die Formulierungen für die Fragebögen lauteten (auf Deutsch) entsprechend so:
Programm A:
Programm B:
Programm C:
Programm D:
Es werden 400 Personen nicht gerettet
Es werden mit einer Wahrscheinlichkeit von 1/3 alle gerettet, und mit einer
Wahrscheinlichkeit von 2/3 wird niemand gerettet
Es werden 200 Personen nicht sterben
Es wird mit einer Wahrscheinlichkeit von 1/3 niemand sterben, und mit einer Wahrscheinlichkeit von 2/3 werden alle sterben
Wieder wird angenommen, daß die Versuchspersonen die fehlenden Angaben fehlerhaft ergänzen. Nun wird allerdings beim Programm A von der Sicherheit der 200 Überlebenden der
Faktor dg abzuziehen, und entsprechend beim Programm C bei der Erwartung von null für
400 Überlebende der Faktor dl hinzuzufügen sein. Daraus ergeben sich die folgenden EUGewichte:
EUA = (1-dg)*200
EUB = (1/3)600
EUC = 1*200
EUD = (1/3)600
+ 0*400
+ (2/3)0
+ (0+dl)*400
+ (2/3)0
< 200
= 200
> 200
= 200
Folglich müßten die Versuchspersonen jetzt in der Gewinnversion das riskante Programm B
und in der Verlustversion das sichere Programm C vorziehen – ganz im Gegensatz zu den Ergebnissen von Tversky und Kahneman und der von ihnen entwickelten Erklärung dafür, der
sog. Prospect Theory (vgl. dazu noch Abschnitt 8.4).
Empirisch ergab sich bei dieser Vorgabe des Tversky-KahnemanExperimentes die folgende Verteilung (Tabelle 8.2; nach: Stocké 1996, S. 55).
Die Fallzahlen waren jeweils ca. 100. Zum Vergleich haben wir auch noch
339
Die Logik der subjektiven Vernuft
Tabelle 8.2: Ergebnis des Framing-Experimentes mit „gedrehter“ Unvollständigkeit
der Vorgaben
empirische Ergebnisse
Programm
NutzenErwartung
Original
Replikation
„gedrehte“
Replikation
A
B
<200
200
72%
28%
50%
50%
32%
68%
C
D
>200
200
22%
78%
25%
75%
59%
41%
einmal die Zahlen für das Originalexperiment bei Tversky und Kahneman,
sowie das Ergebnis einer genauen Replikation von deren Experimemt aufgeführt. Schon die einfache Replikation von Tversky und Kahneman erbrachte
einen geringeren „Effekt“ des Framing; deren deutliches Resultat ist im übrigen von keiner späteren Replikation mehr erreicht worden.
Wie die theoretische Erwartung nahelegte, entschieden sich die Versuchspersonen bei der „gedrehten“ Replikation jetzt im Gewinn-„Frame“ mehrheitlich
für die riskante Alternative B und im Verlust-„Frame“ für das sichere Programm C. Dieses Ergebnis ist eigentlich sensationell: Keine Rede mehr von
Risikoaversion bei Gewinn und von Risikofreudigkeit bei Verlust! Und wo ist
der Framing-Effekt geblieben? Und was hatte man sich darüber nicht alles für
Gedanken gemacht!
Die Resultate sind eine ernste Anomalie für die Hypothesen über das Framing als Anomalie der Nutzentheorie – und ein glänzender Sieg der herkömmlichen WE-Theorie. Aber sie bestätigen gleichzeitig – empirisch wie
vor allem theoretisch! – eine andere Vermutung: Menschen sind zwar durchaus rational und folgen, wie man sieht, den Gesetzen der WE-Theorie – wenn
sie die dazu nötigen Informationen haben. Aber sie sind – anders als der gottähnliche homo oeconomicus – nur recht unvollkommen in der Lage, sich die
fehlenden Informationen zu beschaffen oder durch Nachdenken richtig zu erschließen. Deshalb ist das, was sie konkret sehen, hören, fühlen und besitzen,
so wichtig – auch für ihre „rationalen“ Kalkulationen.
340
8.4
Situationslogik und Handeln
Subjektive Vernunft und begrenzte Rationalität
Die – gegen-gegenreformatorischen – Ergebnisse in Abschnitt 8.3 sind ein
deutlicher Hinweis darauf, daß Menschen nicht grundsätzlich außerstande
sind, nach den Regeln der WE-Theorie rational zu handeln, daß nicht alles,
was wie eine Anomalie aussieht, auch wirklich eine ist – und daß die Nutzentheorie auch von ihrem unmittelbaren empirischen Gehalt her nicht einfach zu
verwerfen ist. Zwei Modifikationen des Göttlichkeitsmodells des homo oeconomicus scheinen aber unumgänglich zu sein: Die Anerkennung der subjektiven Vernunft der Menschen und die ihrer Grenzen der Rationalität.
Die erste Modifikation knüpft an das Konzept des subjektiven Sinns eines jeden Handelns
nach Max Weber, an das Thomas-Theorem und an die Unterscheidung von Konstruktionen
erster und zweiter Ordnung bei Alfred Schütz an (vgl. Kapitel 2 und 6 dazu ausführlich): Es
sind die subjektiven Bewertungen und die subjektiven Erwartungen, die das Handeln bestimmen – und nicht die objektiven Werte und Wahrscheinlichkeiten. Kurz: Die WE-Theorie
müßte als Theorie der subjektiven Wert-Erwartung formuliert werden. Die zweite Veränderung zieht eine wohl unabweisbare Konsequenz aus den Anomalien und Paradoxien der Nutzentheorie: Menschen sind über die Welt nicht vollständig im Bilde, und die für eine „rationale“ Entscheidung nötigen Informationen sind knapp und nur unter hohem Aufwand zu erlangen. Und im Erschließen fehlender Informationen ohne weitere Hilfe machen die Menschen oft Fehler, gelegentlich ganz entsetzliche sogar. Kurz: Menschen haben keine vollkommene, sondern nur eine sehr begrenzte Rationalität. Herbert A. Simon sprach, wie wir
schon aus Abschnitt 8.2 wissen, von der bounded rationality der wirklichen Menschen.
Um die subjektive Vernunft und die begrenzte Rationalität geht es in dem nun
folgenden Abschnitt. Dabei soll jedoch nicht vergessen werden: Die Vernunft
bleibt stets – wenigstens: auch – eine der Eigenschaften des menschlichen
Handelns. Es wird darauf ankommen, die verschiedenen Aspekte der menschlichen Existenz miteinander in Verbindung zu bringen, ihre Grenzen und Unzulänglichkeiten, ebenso wie ihre Fähigkeiten und Begabung zu sinnhaftem
und überlegtem Tun. Wie das gehen kann, soll zum Schluß dieses Abschnittes
skizziert werden.
8.4.1 Subjektive Vernunft
Kaum eine Annahme prägt die soziologischen Vorstellungen über das Handeln mehr als diese: Menschen leben nicht in einer „objektiven“ Umgebung,
sondern in einer – symbolisch vermittelten – subjektiven Sinnwelt. Nur diese
ist für das Denken, Fühlen und Handeln wichtig. Jedes Handeln ist daher alleine vom subjektiven Sinn geprägt, den der Akteur damit verbindet. Es sind
eben nicht die objektiven Werte und Wahrscheinlichkeiten, die sein Tun be-
Die Logik der subjektiven Vernuft
341
bestimmen, sondern seine subjektiven Ziele und subjektiven Alltagstheorien,
wie sich diese Ziele erreichen lassen.
In Kapitel 6 haben wir bereits gesehen, daß die Subjektivität des Handelns dessen „objektive“
und kausale Erklärbarkeit nicht ausschließt. Der praktische Syllogismus war ein Beispiel dafür, wie das gehen kann: Es müssen die „tatsächlichen“ subjektiven Vorstellungen und Bewertungen der Menschen in die Randbedingungen der Handlungserklärung eingehen – und
nicht einfach die „objektiven“ Werte und Wahrscheinlichkeiten. Alfred Schütz hatte diesen
Unterschied mit seinem Konzept von den Konstruktionen erster und zweiter Ordnung und
Anthony Giddens mit seinem Hinweis auf die doppelte Hermeneutik der Sozialwissenschaften betont. Und William I. Thomas hatte eine Hypothese darüber entwickelt, woher die subjektiven Ziele und Vorstellungen kommen: aus der Definition der Situation. In dieser Allgemeinheit kann das alles nicht bestritten werden. Aber auch das gilt dann: Die Regel zur Selektion des Handelns bleibt auch mit der Subjektivierung die gleiche: Maximierung. Der einzige
Unterschied ist, daß nun auf der Grundlage von subjektiven Bewertungen und Erwartungen
maximiert wird. Kurz: Es ändern sich mit der Subjektivierung die Randbedingungen in der
Nutzentheorie, nicht aber die Selektionsregel.
So weit, so gut. Im Zusammenhang mit der Diskussion des Thomas-Theorems
waren wir aber auch schon auf ein ärgerliches Problem gestoßen: Wie will
man der Willkürlichkeit begegnen, mit der den Menschen ihre subjektiven
Ziele und Überzeugungen untergeschoben werden können, wenn die objektiven Umstände nicht die relevanten Randbedingungen sind? Das Konzept der
sozialen Produktionsfunktionen war ein Versuch, die Subjektivität des Handelns zu „objektivieren“ und so die Beliebigkeit des Konzeptes der Definition
der Situation einzugrenzen: Die subjektiven Ziele und Überzeugungen der
Menschen folgen den objektiven institutionellen und kulturellen Gegebenheiten. Die aber sind relativ leicht, auch von einem externen Beobachter, feststellbar. Die Formulierung von Brückenhypothesen ist nichts anderes als das.
Das St. Petersburg Paradox
Die Entdeckung der Subjektivität der Gründe des Handelns ist beileibe keine
Erfindung der Soziologen gewesen. Die statistische Entscheidungstheorie ist
selbst bald auf das Problem gestoßen. Dabei ging es aber um etwas anderes
als um die kulturellen und institutionellen Variationen in den Zielen und Vorstellungen, in den Weltbildern und Sinnwelten der Menschen. Es ging um die
Feststellung von „universalen“ Abweichungen zwischen den objektiven Werterwartungen, etwa für Lotterien, bei denen es etwas zu gewinnen gab, oder für
unangenehme seltene Ereignisse, gegen die man sich versichern könnte. Die
Entdeckung des sog. St. Petersburg Paradoxons war einer der Anlässe, über
den Unterschied zwischen objektiver Wert-Erwartung und subjektiven
Nutzen-Erwartungen nachzudenken. Es stammt von dem Statistiker Daniel
342
Situationslogik und Handeln
niel Bernoulli (1700-1782), einem der Erfinder der WE-Theorie (vgl. Abschnitt 7.1 dazu bereits).25
Bei dem St. Petersburg-Spiel soll der Akteur eine sog. mehrstufige Lotterie beurteilen. Es
geht um eine faire Münze mit 50% Wahrscheinlichkeit für Kopf oder Zahl. Bei Zahl erhält
der Spieler, sagen wir, zwei DM, bei Kopf wird die Münze noch einmal geworfen. Kommt
die Zahl im zweiten Spiel, gewinnt der Spieler 22=4 DM. Kommt wieder Kopf, wird die
Münze wieder geworfen – und so weiter. Der objektive Erwartungswert EV für die Lotterie
ist dann:
EV = 0.5*2 DM + 0.25*4 DM + 0.125*8 DM + ... .
= Σ (0.5)i*2i DM
= unendlich.
Der objektive Erwartungswert für das St. Petersburg-Spiel ist also unendlich. Wenn man einem Spieler 1 Million DM sicher anbieten würde, müßte er dennoch die Lotterie wählen, weil
unendlich ja unendlich viel mehr ist als 1 Million. Was würden Sie aber wohl tun, wenn ihnen bei einem solchen Spiel 1 Million DM angeboten würde? Wahrscheinlich dies: Sofort die
Million nehmen und raus aus dem Spielsalon! In Experimenten geben Studenten das St. Petersburg Spiel meist schon für 20 DM ab.
Das St. Petersburg Paradox ist offensichtlich wieder ein Fall der Risikoscheu
und des Besitztumseffektes. Wie könnte man es erklären?
Subjektive Bewertungen: Von der EV- zur EU-Theorie
Daniel Bernoulli schlug eine uns inzwischen recht geläufige Erklärung vor:
Zwischen dem objektiven Wert der Auszahlungen in DM und dem subjektiv
empfundenen Nutzen, den jede einzelne Mark im Innern des Akteurs stiftet,
besteht kein linearer Zusammenhang, sondern ein konkaver: Der subjektiv
empfundene Nutzen sinkt mit jeder weiteren Einheit des objektiven Wertes.
Anders gesagt: Es gibt einen abnehmenden Grenznutzen. Und dann ist irgendwann ein Zuwachs von „unendlich“ weniger wert als ein bestimmter sicherer Betrag, den ich jetzt bekomme.
25
Daniel Bernoulli, Specimen Theoriae Novae de Mensura Sortis, in: Commentarii Academiae Scientiarum Imperialis Petropolitanae, 5, 1738, S. 175-192; übersetzt von Louise
Sommer, in: Econometrica, 22, 1954, S. 23-36.
343
Die Logik der subjektiven Vernuft
U(V)
linear
konkav
konvex
V
Abb. 8.5: Konvexe, konkave und lineare Verläufe von Nutzenfunktionen in
Abhängigkeit des objektiven Wertes.
Der Zusammenhang zwischen dem objektiven Wert und dem subjektiven
Nutzen könnte in einer Funktion beschrieben werden – in einer Nutzenfunktion, die an die Stelle der Wertfunktion für die Präferenzen der Akteure tritt.
Allgemein also: U=f(V), oder kurz: U(V). Aus der Wert-Erwartung wird dann
eine Nutzen-Erwartung, statt EVi=Σpij*Vj wird nun EUi=Σpij*Uj berechnet,
aus den EV-Gewichten für die Alternativen werden EU-Gewichte. In den Beispielen in Kapitel 7 haben wir, weil es so geläufig geworden ist, immer schon
mit dem Nutzen, mit den Nutzenerwartungen bzw. mit den EU-Gewichten gearbeitet.
Daniel Bernoulli nahm an, daß der subjektiv empfundene Nutzen des Gewinns mit den objektiven Auszahlungen nur noch logarithmisch ansteige und
daher den konkaven Verlauf hat, der den abnehmenden Grenznutzen wiedergibt. Natürlich könnte die Nutzenfunktion auch einen konvexen Verlauf haben. Dann hätten wir es mit einem zunehmenden Grenznutzen zu tun. In Abbildung 8.5 haben wir die drei möglichen Verläufe von Nutzenfunktionen –
konvex, konkav, linear – schematisch eingezeichnet.
344
Situationslogik und Handeln
Welche Nutzenfunktion bei den Menschen zutrifft, ist natürlich eine empirische Frage. Genau darum geht es bei den empirischen Nutzen-„Theorien“:
Herauszufinden, welche empirischen Verläufe die Nutzenfunktionen haben
und – gegebenenfalls – zu erklären, wann und warum die Menschen unterschiedliche Verläufe „wählen“. Etwa: Wann sie risikoscheu und wann sie risikofreudig werden.
Subjektive Erwartungen: Die SEU-Theorie
Mit der Subjektivierung des Wertes zum Nutzen wurde aus der EV-Theorie
die EU-Theorie. Aber nicht nur die Bewertungen der Menschen weichen von
den objektiven Werten ab, auch die Erwartungen.
Versicherungen, beispielsweise, „lohnen“ sich vom Standpunkt eines rationalen Akteurs
nicht, weil der Erwartungswert jeder Versicherung negativ ist. Die Versicherungen machen ja
ihre Gewinne, wie man sieht. Und die holen sie sich über die Prämien. Trotzdem sind die
Menschen subjektiv nicht dumm, wenn sie sich gegen seltene, aber schlimme Dinge versichern. Einer der Gründe ist wohl: Sie überschätzen das objektive Risiko beispielsweise für
eine Überschwemmung. Mit dieser Überschätzung steigt wegen der höheren subjektiven
Wahrscheinlichkeit der Erwartungswert. Und dann lohnt sich plötzlich die Versicherung –
aus der Sicht des, im Vergleich zum objektiven Risikos, etwas zu ängstlichen Akteurs. „Objektiv“ lohnt es sich nicht. Und genau das ist das Geschäft der Versicherungen.
Wie bei den Nutzenfunktionen können derartige Abweichungen der personalen subjektiven Erwartungen von den überpersonalen objektiven Wahrscheinlichkeiten für bestimmte Ereignisse auch als Funktion geschrieben werden.
Geläufig geworden ist die Gewichtung der objektiven Wahrscheinlichkeiten p
mit einem Gewicht w, das die betreffende Abweichung der subjektiven
Erwartungen von den objektiven Wahrscheinlichkeiten wiedergeben soll.
Also: Die subjektive Erwartung ist gleich w(p). Aus der objektiven
Nutzenerwartung wird so eine subjektive Nutzenerwartung. Statt EUi=Σpij*Uj
wird nun SEUi=Σw(pij)*Uj berechnet. Die EU-Gewichte für die Alternativen
werden zu SEU-Gewichten. Die derartig modifizierte Nutzentheorie wird
daher auch SEU-Theorie genannt.
Frank P. Ramsey war wohl der erste Statistiker, der die Idee der subjektiven Erwartung in die
Entscheidungstheorie eingeführt hat. Der Begriff der „personalen“ Wahrscheinlichkeit wurde
von Leonard J. Savage popularisiert (vgl. dazu schon Kapitel 7). Und mit Ward Edwards und
dessen Konzept der Gewichtungsfunktion w(p) hat das Konzept seinen festen Platz in der
Entscheidungstheorie gefunden.26
26
Frank P. Ramsey, Truth and Probability, in: David H. Mellor (Hrsg.), Foundations. Essays
in Philosophy, Logic, Mathematics and Economics. F. P. Ramsey, London und Henley
Die Logik der subjektiven Vernuft
345
Welchen genauen Verlauf die Gewichtungsfunktion der subjektiven Erwartungen für die objektiven Wahrscheinlichkeiten hat, ist wieder – wie bei den
Nutzenfunktionen – eine empirische Frage. Vieles spricht dafür, daß im Großen und Ganzen die Menschen nicht sehr daneben liegen, wenn sie objektive
Wahrscheinlichkeiten einschätzen – sofern sie darüber einigermaßen informiert und nicht vollkommen unsicher sind. Nur für sehr seltene und fast sichere Ereignisse gibt es offenbar deutlichere Abweichungen (vgl. dazu gleich unten mehr im Zusammenhang mit der sog. Prospect Theory). Eines scheint aber
auf jeden Fall zuzutreffen: Daß sich die subjektiven Wahrscheinlichkeiten für
wechselseitig ausschließende und exhaustive Ereignisse nicht unbedingt zu
eins addieren.
Die Prospect Theory
Der am bekanntesten gewordene Versuch einer „neuen“ WE-Theorie unter
Berücksichtigung der „wirklichen“ Verläufe von Nutzen und Erwartungen
stammt von den beiden bereits mehrfach angesprochenen Psychologen Daniel
Kahneman und Amos Tversky: die von den Autoren so genannte Prospect
Theory.27 Die objektiven Werte sind in der Prospect Theory mit x, die objektiven Wahrscheinlichkeiten mit p angegeben. Die Werte x folgen einer Bewertungsfunktion ν(x), die Wahrscheinlichkeiten p einer Gewichtungsfunktion
π(p). Der „Wert“ V für eine bestimmte Handlungsoption ist dann:
Vi=Σπ(pi)*ν(xi) über alle Folgen i des Handelns.
Drei Besonderheiten behauptet die Prospect Theory dann: einen besonderen Verlauf der Bewertungsfunktion, einen besonderen Verlauf der Gewichtungsfunktion für die Wahrscheinlichkeiten und den sog. Reflection Effect.
Alle drei Sachverhalte sind in den beiden Abbildungen 8.6a und b enthalten.
Wir gehen sie der Reihe nach durch.
27
1978 (zuerst: 1926), S. 58- 100; Leonard J. Savage, The Foundations of Statistics, New
York 1954, S. 27ff.; Ward Edwards, The Theory of Decision Making, in: Psychological
Bulletin, 4, 1954, S. 380-417.
Daniel Kahneman und Amos Tversky, Prospect Theory: An Analysis of Decision under
Risk, in: Econometrica, 47, 1979, S. 263-291; vgl. auch die Zusammenfassung bei Robert
P. Abelson und Ariel Levi, Decision Making and Decision Theory, in: Gardner Lindzey
und Elliot Aronson (Hrsg.), Handbook of Social Psychology, Band 1: Theory and Method, 3. Aufl., New York 1985, S. 246ff.
346
Situationslogik und Handeln
a) Die Bewertungsfunktion
ν(x)
b) Die Gewichtungsfunktion
1.0
+
π(p)
0.5
-
Gewinne
Verluste
+
x
-
0
0.5
p
1.0
Abb. 8.6: Bewertungs- und Gewichtungsfunktion für die Wahrscheinlichkeiten bei
der Prospect Theory nach Kahneman und Tversky.
Die Eigenart der Bewertungsfunktion bei der Prospect Theory ist, daß sie unterschiedliche Verläufe hat, je nach dem, ob es sich um Gewinne oder Verluste handelt. Im Gewinnbereich ist die Funktion konkav: Es gibt einen abnehmenden subjektiven Grenznutzen für „objektive“ Gewinne – etwa in DM. Im
Verlustbereich ist sie dagegen konvex. Hier sinkt der subjektive Grenzschaden mit der Zunahme der objektiven Verluste. Und es steigt der Nutzenzuwachs mit der Verringerung der objektiven Verluste. Das ergibt zusammen
eine S-förmige Nutzenfunktion mit dem Wendepunkt im Nullpunkt von x
bzw. ν. Allerdings sind die Verläufe asymmetrisch: Der Nutzen nimmt – bei
gleichen objektiven Veränderungen – im Verlustbereich stärker ab als im Gewinnbereich zu. Und die Folge (siehe auch unten): Im Gewinnbereich müßten
die Akteure deutlich risikoavers, im Verlustbereich risikofreudig werden.
Wohlgemerkt: bei Lotterien mit der gleichen objektiven Wert-Erwartung. Und
das wird ja auch beobachtet: Michael Kohlhaas wurde immer waghalsiger, je
tiefer er in der Tinte saß; und Onkel Dagobert ist um so geiziger, je höher der
Pegel in seinem Geldspeicher steht.
Die Gewichtungsfunktion hat einen auf den ersten Blick sehr eigenartigen
und auch unstetigen Verlauf. Sichere Ereignisse werden objektiv richtig geschätzt: Was objektiv unmöglich ist, ist es auch subjektiv, ebenso wie bei Er-
Die Logik der subjektiven Vernuft
347
eignissen, die eine Wahrscheinlichkeit von 1 haben. Die Funktion hat aber
sowohl bei sehr kleinen wie bei sehr großen Wahrscheinlichkeiten eine
Sprungstelle: Sehr kleine Wahrscheinlichkeiten werden überschätzt, sehr große dagegen unterschätzt. Kurz vor null und kurz vor eins ist die Funktion
nicht definiert. Kahneman und Tversky vermuten, daß die Entscheider hier
gleich auf die „sicheren“ Stellen – null bzw. eins – switchen oder die Wahrscheinlichkeiten entweder unter- oder überschätzen. In einem weiten Bereich
verläuft die Gewichtungsfunktion dann fast parallel zu den objektiven Wahrscheinlichkeiten, allerdings im größten Bereich unterhalb der objektiven
Wahrscheinlichkeit. Das heißt, daß bei nicht zu seltenen, aber nicht sicheren
Ereignissen die Akteure die wirklichen Wahrscheinlichkeiten unterschätzen,
ihnen aber gleichwohl folgen.
Mit dem Reflection Effect ist gemeint, daß der Wendepunkt der S-förmigen
Bewertungsfunktion nicht „objektiv“ festliegt, sondern verändert werden kann
– je nachdem, in welchen objektiven Werten die Gewinn- oder Verlustzone
definiert ist. „Nutzen“ kann ja als zusätzlicher Gewinn zu einem bereits vorhandenen Besitz oder als Verringerung eines bestehenden Verlustes, und
„Schaden“ als verlorener Besitz oder als zusätzlicher Verlust entstehen. Kahneman und Tversky meinen, daß der Wendepunkt der Gewinn- und Verlustzone durch sprachliche Symbole, durch ein semantisches und symbolisches
„framing“ also, gesetzt werden könne. Das Experiment über die asiatische
Grippe war zum Nachweis dieses Framing-Effektes gedacht: Es ging einmal
um „retten“ und „Gewinn“, ein anderes Mal um „sterben“ und „Verlust“. Und
die Versuchspersonen reagierten tatsächlich so, wie die Prosepct Theory es
nach der Bewertungsfunktion vorhersagt: Sie wurden risikofreudig, wenn es
um das Sterben, und vorsichtig, wenn es um das Retten ging (siehe dazu aber
auch das Ergebnis in Abschnitt 8.3).
Was erklärt die Prospect Theory?
Die Verläufe der Funktionen für die subjektiven Bewertungen und Erwartungen wurden von Daniel Kahneman und Amos Tversky nicht irgendwie „theoretisch“ abgeleitet, sondern sind die Zusammenfassung der empirischen Ergebnisse einer Unzahl von Experimenten zur Entscheidung unter Risiko – einschließlich jenes Experimentes über die asiatische Grippe, mit dem wir uns
bereits ausführlich beschäftigt haben. Die Annahmen der Prospect Theory sollen vor allem die verschiedenen Anomalien der Nutzentheorie erklären helfen,
beispielsweise den Besitztumseffekt, die Versicherung gegen seltene Unglücke, die Teilnahme an Lotterien mit sehr geringen Wahrscheinlichkeiten, aber
348
Situationslogik und Handeln
auch sehr großen Gewinnen, und die Umkehrung der Risikoeinstellung mit
dem sprachlichen Framing eines Entscheidungsproblems als Gewinn oder
Verlust.
Mit den Annahmen der Prospect Theory werden derartige Effekte in der Tat erklärbar, der
Besitztumseffekt beispielsweise. Der besagt ja, daß Akteure einen sicheren Gewinn einer riskanten Lotterie mit dem gleichen Erwartungswert vorziehen. Die Gewichtungsfunktion für
die Erwartungen (Abbildung 8.6b) zeigt, warum das meist so ist: Der sichere Gewinn wird
mit eins gewichtet, die riskante Auszahlung aber subjektiv meist mit einem Wert, der unter p
liegt. Nur bei sehr kleinen Wahrscheinlichkeiten dreht sich der Effekt um: Jetzt werden die
Wahrscheinlichkeiten subjektiv überschätzt. Nun beginnen sich die Menschen Sorgen zu machen und schließen Versicherungen ab. Und es wird auch Lotto gespielt, obwohl man „objektiv“ den Einsatz auch gleich in die nächste Pfütze werfen könnte.
Mit der S-förmigen Nutzenfunktion läßt sich auch leicht die – angeblich – unterschiedliche Risikoeinstellung bei Gewinn oder Verlust ableiten.
Wir gehen davon aus, daß einem Akteur G die folgende Lotterie angeboten wird: Er bekommt 100 DM sicher oder aber die 50%-Chance, entweder nur 50 DM zu gewinnen oder
150 DM. Einem anderen Akteur L wird dagegen angedroht, daß er entweder sicher 100 DM
verlieren werde, ober aber mit 50% Wahrscheinlichkeit sogar 150 DM oder nur 50 DM verliert. Jeweils vom sicheren Ausgangspunkt – 100 DM Gewinn oder Verlust – aus gerechnet,
sind die beiden Lotterien der WE-Theorie nach jeweils vollkommen gleich.
Nach der Prospect Theory müßten sich die beiden Akteure G und L jedoch
vollkommen unterschiedlich verhalten: G müßte den sicheren Gewinn mitnehmen, L aber die riskante Option wählen. An der Bewertungsfunktion der
Prospect Theory läßt sich leicht zeigen, warum (Abbildung 8.7).
Auf der waagerechten Achse sind die objektiven Auszahlungen in DM eingetragen: 50, 100
und 150 DM im Gewinnbereich, –150, –100 und –50 bei den Verlusten. Die senkrechte Achse beschreibt die subjektiven Nutzenwerte. Der Einfachheit halber – und weil es am Ergebnis
prinzipiell nichts ändert – nehmen wir einen symmetrischen Verlauf der Nutzenfunktion an.
Und sofort wird erkennbar, was geschieht: Durch den konkaven Verlauf der Nutzenfunktion
im Gewinnbereich zählt der mögliche Gewinn von zusätzlich 50 DM zu den bereits sicheren
100 weniger als der auch mögliche Verlust an Nutzen, wenn es gegenüber den 100 DM nur
50 DM gibt. Die Differenz a ist kleiner als die Differenz b. Und ganz analog gilt das Gegenteil für den Verlustbereich: Die Verringerung des sicheren Verlustes von 100 DM auf nur 50
DM zählt mehr als die drohende weitere Verschlechterung auf –150 DM. Die Differenz c ist
größer als die Differenz d.
349
Die Logik der subjektiven Vernuft
U
+
a
b
-
150
100
50
50
100
150
+ DM
c
d
Abb. 8.7: Die Erklärung der Risikoeinstellung bei Gewinn und Verlust in der
Prospect Theory
Da die Maximierungsregel auch für die Prospect Theory weiter gilt, werden
im Sinne dieser Theorie subjektiv rationale Akteure bei Gewinnen risikoavers,
bei Verlusten dagegen risikofreudig handeln: Spieler, die schon viel verloren
haben, würden einen noch höheren Verlust geringer bewerten als den deutlichen Nutzenzuwachs, der ihnen winkt, wenn sie durch einen Gewinn den bereits eingetretenen Verlust verringern können.
Die – von Tversky und Kahneman angenommenen – Framing-Effekte aus dem Experiment
über die asiatische Grippe erklären sich leicht aus beiden Eigenschaften der Prospect Theory.
Im Gewinnframe werden zunächst 600 Tote suggeriert, von denen durch das Programm A
noch 200 sicher gerettet werden und durch das Programm B 600 mit einer Wahrscheinlichkeit
von 1/3. Im Verlustframe dagegen gibt es zunächst 600 Überlebende, von denen dann noch
bei Programm C 400 mit Sicherheit sterben und bei Programm D 600 mit einer Wahrscheinlichkeit von 2/3. Gemäß der Bewertungsfunktion der Prospect Theory nach Abbildung 8.6a
gilt wegen des abnehmenden Grenznutzens im Gewinnframe aber: 1*ν(200)>(1/3)ν(600);
und
wegen
des
abnehmenden
Grenzschadens
im
Verlustframe
dagegen:
1*ν(−400)<2/3*ν(−600). Das aber ergibt exakt die Präferenzen A>B und C<D. Durch die
Erwartungsfunktion (Abbildung 8.6b) werden diese Tendenzen nur noch verstärkt: Bei Sicherheit hat auch π den Wert 1, wohingegen für die Risiken von 1/3 und 2/3 gilt: π(1/3)<1/3
und π(2/3)<2/3. Im Gewinnframe wird dadurch der ohnehin schon kleinere Gewinn für die
riskante Option B gegenüber der Option A noch etwas weiter abgewertet, und im Verlustframe der ohnehin bereits geringere Verlust für die riskante Option D gegenüber der Option C
noch etwas stärker vermindert. Voilà! ..., wenn es sie denn gäbe, die Framingeffekte.
350
Situationslogik und Handeln
Die Risikoeinstellung ist somit keine besondere „Haltung“ oder „Einstellung“,
die zu den Nutzenüberlegungen irgendwie von außen hinzu käme, kein „Typ“
des Handelns und kein mentales Modell, das die Grundregel der Maximierung
verändert. Sie ist eine Folge der Gestalt der Bewertungsfunktion bei Gewinnen und Verlusten und der Erwartungsfunktion für Sicherheit und Risiko für
das Verhalten selbst. Eine ganz andere Frage ist natürlich, wie es kommt, daß
Menschen die gleiche „objektive“ Situation mal als Verlust und mal als Gewinn sehen. Darauf geben Daniel Kahneman und Amos Tversky mit ihrem
etwas dunklen Hinweis auf das sprachliche Framing der Entscheidungssituation und den Reflection Effect leider keine weitere Antwort. Ist also vielleicht
doch etwas dran am Thomas-Theorem und an der symbolisch gesteuerten Orientierung, die jeder Handlung vorausgeht?
8.4.2 Begrenzte Rationalität
In Abschnitt 8.3 hatten wir, wie Sie sich erinnern werden, auf der Grundlage
empirischer Ergebnisse eine andere Erklärung der Framing-Effekte von
Tversky und Kahneman vorgeschlagen: Wenn Menschen nicht wissen, was
Sache ist, dann machen sie Schätzungen – und liegen ohne weitere Hilfe oft
sehr daneben. Stehen ihnen die nötigen Informationen dagegen zur Verfügung, dann verhalten sie sich durchaus „rational“ und ohne besondere Beeinflussung durch objektiv irrelevante Aspekte der Situation. Gleichwohl gibt es
solche Vorgänge wie das Framing: Ein Fleck auf dem Smoking, das etwas zu
schrille Lachen oder ein peinlicher Versprecher verändern die Situation – es
sei denn, man wüßte sicher, daß es sich anders verhält.
Die Widerständigkeit des Framing gegen Veränderungen in den „objektiven“
Anreizen
Ein deutlicher Hinweis darauf, daß das sprachliche Framing auch bei starken
Veränderungen der objektiven Situation weiterhin wirksam ist, wurde in einigen weiteren Variationen des Tversky-Kahneman-Experimentes gefunden
(vgl. Stocké 1996, S. 56ff.).
Dabei wurde die asymmetrisch-unvollständige Originalversion von Tversky und Kahneman
beibehalten, weil ja nur bei dieser der Framing-Effekt auftrat. Die Veränderung bestand jetzt
darin, daß die objektiven Auszahlungen systematisch variiert wurden. Nun war in der sicheren Gewinn-Version A nicht von sicheren 200 Überlebenden die Rede, sondern von 201, 210,
250 oder gar 300. Entsprechend wurden in der riskanten Verlust-Version jeweils 399, 390,
350 oder nur 300 zu erwartende Opfer genannt. Für die Alternativen B bzw. D blieb dagegen
351
Die Logik der subjektiven Vernuft
die Vorgabe – und damit der Erwartungswert – gegenüber dem Original unverändert. Dadurch verschob sich die objektive Nutzenerwartung schrittweise zugunsten der Alternativen
A bzw. C, während vorher ja Indifferenz herrschte. Zu erwarten war jetzt, daß A gegenüber B
noch stärker bevorzugt würde. Aber es wäre auch zu erwarten gewesen, daß nun in der Verlustformulierung die riskante Alternative D gegenüber der risikoaversen Alternative C ihren,
aus dem sprachlichen Framing hervorgehenden, Vorsprung verlieren müßte, weil sie doch
zunehmend erkennbar objektiv die schlechtere ist.
Das Ergebnis der so veränderten Experimente (mit Fallzahlen wieder von ca.
100) steht in Tabelle 8.3.
Tabelle. 8.3: Der Einfluß der Veränderung bei den objektiven Auszahlungen im
Tversky-Kahneman-Experiment über die asiatische Grippe; jeweils
Anteil Entscheidung für Alternative A bzw. C
Anteil Entscheidungen für Alternative A bzw. C
Frame
„Gewinn“
„Verlust“
Anzahl von erwarteten Überlebenden
A gegen B
C gegen D
Differenz
72
50
53
55
61
64
22
25
32
36
40
48
50
25
21
19
21
16
200 (Original)
200 (Replikation)
201
210
250
300
Zum Vergleich haben wir in der ersten Zeile noch einmal das Ergebnis des
Originalexperimentes bei Tversky und Kahneman und in der zweiten Zeile
das der Replikation dieses Experimentes aufgeführt (vgl. auch Tabelle 8.2).
Die Ergebnisse mit den veränderten Auszahlungen stehen darunter. Das wichtigste Resultat aber: Es gibt den „Framing“-Effekt weiterhin. Und er bleibt
auch erhalten, wenn sich die objektiven Auszahlungen ändern. Die Differenz
zwischen sicherer und riskanter Option bei Gewinn- versus Verlustformulierung verringert sich kaum, auch wenn die Anzahl der zu erwartenden Überlebenden auch für C deutlich ansteigt. Ist von „sterben“ die Rede, soll offenkundig niemand so bald ins sichere Verderben geschickt werden, auch wenn
sich für alle die Chancen des Überlebens verschlechtern. Allerdings ändert
sich die „Basis“ der Entscheidung in die erwartete Richtung: Je mehr Perso-
352
Situationslogik und Handeln
nen „objektiv“ überleben, um so deutlicher fällt in beiden Varianten, der sicheren wie der riskanten, die Entscheidung zugunsten dieses Programms. Nur
eben: Der Unterschied zwischen den Formulierungen als Gewinn und Verlust
bleibt – auch bei ganz extremer Verschiebung der objektiven Auszahlung.
Offenkundig spielen also bei den Entscheidungen der Menschen tatsächlich nicht nur „Nutzen und Kosten“ und „rationale“ Erwägungen und Berechnungen eine Rolle, sondern – wenigstens: auch – ganz andere Mechanismen:
das durch Symbole gesteuerte „Einschalten“ von Modellen des „richtigen“
Handelns in einer Situation, auch ganz gegen die „objektiven“ Anreize und
Möglichkeiten.
Bounded Rationality
Genau dies ist der, in Abschnitt 8.2 bereits angesprochene Ansatzpunkt, den
Herbert A. Simon mit dem Konzept der begrenzten Rationalität, der bounded
rationality, als Alternative zum Göttlichkeitsmodell der reinen Nutzentheorie
vorschlägt.
Mit dem Begriff der bounded rationality meint Simon die starke Selektivität und die Begrenztheit des Wissens der Menschen einerseits und ihre nur sehr beschränkten Fähigkeiten
zur Aufnahme und Verarbeitung von Informationen andererseits. Das Handeln könne eben
wegen dieser Begrenzungen der Maxime des maximizing nicht folgen, sondern begnüge sich
– vernünftigerweise – mit dem satisficing. Von Simon stammt in diesem Zusammenhang
auch die Unterscheidung von substantieller und prozeduraler Rationalität.28 Damit meinte er,
daß eine angemessene Theorie des menschlichen Handelns schon in ihren Prämissen mehr
auf die tatsächlichen Fähigkeiten und auf die tatsächliche Vernünftigkeit des Menschen eingehen müsse. Menschen handelten wegen der Grenzen in ihrer Fähigkeit zur Informationsverarbeitung nur in Ausnahmefällen maximierend und so im Sinne der Axiome der Nutzentheorie substantiell rational. Aber sie handelten bei allen ihren Begrenzungen in Wissen und
Informationsverarbeitung keineswegs unvernünftig, sondern prozedural rational.
Begrenzte Rationalität heißt dabei also keineswegs, daß die Menschen dumm
seien, keinen Verstand hätten oder nicht über die Folgen ihres Tuns nachdenken könnten oder würden. Im Gegenteil: Angesichts der Umstände ihrer Begrenzungen ist dann das, was sie empirisch tun, in hohem Maße verständig
und nachvollziehbar – „reasonable“, wie Herbert A. Simon es nennt:
„The rational person of neoclassical economics always reaches the decision that is objectively, or substantively, best in terms of the given utility function. The rational person of cogniti-
28
Vgl. Herbert A. Simon, From Substantive to Procedural Rationality, in: Spiro J. Latsis
(Hrsg.), Method and Appraisal in Economics, Cambridge u.a. 1976, S. 129-148.
Die Logik der subjektiven Vernuft
353
ve psychology goes about making his or her decisions in a way that is procedurally reasonable in the light of the available knowledge and means of computation.“29
Wir hatten mit der Darstellung einiger Einzelheiten der sog. Informationsökonomie, mit den Besonderheiten des Handelns unter Unsicherheit und mit der
Rekonstruktion der Idee des satisficing durch William H. Riker und Peter C.
Ordeshook (in Abschnitt 8.3) gesehen, daß das durchaus auch durch die Brille
der Nutzentheorie selbst so gesehen werden kann.
„Wirkliche“ Entscheidungen
Herbert A. Simon geht – in seinen späteren Arbeiten – über die einfache informationsökonomische Interpretation der bounded rationality hinaus. Er skizziert dabei, auf der Grundlage von Ergebnissen und Einsichten u.a. der kognitiven Psychologie und der biologischen Evolutionstheorie, die Umrisse eines
Verhaltensmodells, in dem – unter anderem – auch die Frames ihren Platz
haben (Simon 1993, S. 27-45). Der Ausgangspunkt ist eine Bestandsaufnahme
des „wirklichen“ Entscheidungsprozesses (ebd., S. 27f.).
Danach sind erstens die allermeisten Entscheidungen keine besonders weitreichenden Entscheidungen. Der Blick beschränkt sich vielmehr auf meist sehr wenige, spezielle und voneinander als unabhängig angesehene Aspekte. Es werden für die Entscheidungen auch keine
umfangreichen Szenarien entwickelt, Wahrscheinlichkeiten geschätzt und mit Präferenzen in
Verbindung gebracht. Es gibt vielmehr nur eine ganz generelle Vorstellung über eine grobe
Richtung, über einen grundlegenden Stil und über die wichtigen Dinge in der allernächsten
Zukunft. Bei der Betrachtung einer Alternative kommen andere Verwendungen der verfügbaren Mittel meist gar nicht in den Sinn. Die Aufmerksamkeit ist ganz auf den einen bestimmten Aspekt fokussiert. Eine übergreifende Nutzenfunktion für alle Aspekte gibt es wahrscheinlich nicht, oder sie spielt zumindest keine systematische Rolle bei den Überlegungen.
Schließlich wird – unter Umständen! – ein Teil der Anstrengungen darauf verwendet, Informationen zu sammeln und die „wahren“ Präferenzen herauszufinden. „Unter Umständen“
heißt: Diese zusätzlichen Aktivitäten werden nur bei folgenschweren Entscheidungen stattfinden und dann, wenn Gelegenheit und genügend Zeit dafür ist.
Das zur Nutzentheorie alternative Verhaltensmodell der bounded rationality
gibt damit deren wohl problematischste Annahme endgültig auf (Simon 1993,
S. 29f.): Daß die Menschen bei ihren Entscheidungen alles – alle Alternativen, alle Wünsche, alle Erwartungen, alle Folgen ihres Tuns – bedenken würden oder gar könnten. Das wäre schon technisch nicht möglich: Die „objektive“ äußere Welt der Menschen ist, wie das All, chaotisch, fast leer und äu29
Herbert A. Simon, Rationality in Psychology and Economics, in: Robin M. Hogarth und
Melvin W. Reder (Hrsg.), Rational Choice. The Constrast between Economics and Psychology, Chicago und London 1986, S. 27.
354
Situationslogik und Handeln
ßerst komplex. Es gibt Myriaden von Variablen, die sich gegenseitig beeinflussen könnten, es aber meist nicht tun. Dagegen ist die subjektive innere
Welt der Menschen, ihre Sinnwelt also, strukturiert, ausgefüllt und, bei aller
möglichen Vielfalt, einfach. Wirkliche Entscheidungsprobleme sind daher
meist relativ simpel, naheliegend und dringend, aber in typischer Weise vorstrukturiert und daher auf eine relativ einfache Weise zu lösen. „Rational“
muß dabei nicht überlegt werden. Das wird erst notwendig, wenn die vorstrukturierten Vereinfachungen nicht mehr greifen – oder wenn plötzlich doch
sehr viel auf dem Spiele steht. Aber dann ist es auch vernünftig, nicht bei den
einfachen vorfabrizierten Lösungen der bounded rationality stehen zu bleiben,
sondern „rational“ nach besseren Lösungen zu suchen. Alfred Schütz hat eine
ganz ähnliche Konzeption der Rationalität des Alltagshandelns entwickelt
(vgl. dazu noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
Das so skizzierte Verhaltensmodell gibt es nicht aus purem Zufall oder aus
einem Versehen der Evolution. Im Gegenteil. Es spiegelt eine tiefe Vernunft
des ökonomischen Umgangs mit knappen Mitteln wider: die Vernunft, sich in
einer nicht einfachen und im Prinzip unfreundlichen Umgebung auf die jeweils nächst-wichtigen Dinge zu konzentrieren und einmal erfolgreiche und
erprobte Lösungen zu habitualisieren, sich zu merken und bei der nächsten
„passenden“ Gelegenheit wieder hervorzuholen und zu benutzen. Das Verhaltensmodell der bounded rationality entstammt der Welt der frühen Evolution
des homo sapiens, der Welt der Höhlenmenschen und ihrer Vorfahren:
„In dieser Welt passierte meistens sehr wenig, doch von Zeit zu Zeit mußte etwas unternommen werden, um mit dem Hunger fertigzuwerden, vor Gefahren zu fliehen oder Schutz vor
dem kommenden Winter zu finden. Die Rationalität konnte sich auf eines oder wenige Probleme zur gleichen Zeit konzentrieren, in der Erwartung, daß auch für andere, neu auftauchende Probleme genügend Zeit vorhanden wäre.“ (Simon 1993, S. 30; Hervorhebungen nicht im
Original)
Eine außerordentlich wichtige Funktion haben bei dieser fallweisen und anlaßbezogenen Konzentration auf ein Problem die Emotionen der Menschen.
Emotionen sind unwillkürliche, auch somatische, Reaktionen auf typische Situationen. Sie
sind eng mit den grundlegenden Präferenzen und Bedürfnissen verbunden und tief in dem inneren Erlebnis der Nutzenproduktion verankert. Sie sind eine Art von Kurzschluß zwischen
der äußeren Situation und der inneren Erlebniswelt: Stolz bei der Erreichung eines Zieles, das
man sich vorgenommen hatte; Ärger und Frustration, wenn es schiefgegangen ist; Trauer bei
Verlust eines geliebten Objektes; Empörung, wenn legitim geltende Regeln verletzt werden;
Angst bei Unsicherheit; Neid bei vermeintlicher oder wirklicher Zurücksetzung – unter anderem.30
30
Vgl. Zu den verschiedenen Arten und den Funktionen von Emotionen: Theodore D. Kemper, Toward a Sociology of Emotions: Some Problems and Some Solutions, in: The Ame-
Die Logik der subjektiven Vernuft
355
Emotionen binden die Fokussierung auf einen bestimmten Aspekt der Situation noch einmal auf eine ganz besonders widerständige und „heiße“ Weise.
Aber, wie wir bereits bei den Mechanismen der Kontrolle von Affekten gesehen haben, geschieht dies nicht ohne Bezug auch zu den unemotionalen, rationalen, „kalten“ Aspekten der Situation. Kurz: Bei aller Einfachheit und bei
aller spontanen Fokussierung der Entscheidungen treten die „rationalen“ Aspekte der Situation zwar in den Hintergrund, bleiben aber latent stets präsent.
Sie können sich jederzeit aus dem Hintergrund wieder nach vorne drängen.
Und zwar dann, wenn es neue fokussierende Aspekte gibt oder wenn die Konzentration auf das eine Problem schließlich doch zu viel zu kosten beginnt,
etwa weil die Lösung anderer, letztlich ebenso wichtiger Probleme dabei liegen bleiben würde.
Wiedererkennung und Unterbrechung
Das Verhaltensmodell der bounded rationality kennt nicht nur eine Art der Selektion einer bestimmten Alternative, sondern mindestens zwei. Die erste, für
die allermeisten Situationen übliche Art, ist die Wiedererkennung typischer
Muster und die daran sich anschließende Reaktion. „Paßt“ ein Muster der Objekte einer Situation mit einem im Gedächtnis gespeicherten Muster für diese
Situation, dann reagieren menschliche Akteure – wie konditionierte Tauben
oder Ratten – ganz spontan, intuitiv und automatisch darauf – und zwar in der
Weise, wie das bis dahin in ähnlichen Situationen gelernt worden ist und üblich war, mit allen dazu gehörigen Emotionen, die die betreffenden Situationen dann noch einmal auf die ihnen eigene Weise fest rahmen.
Die Wiedererkennung von Mustern und die spontane Reaktion darauf ist
ohne Zweifel ein ganz anderer Mechanismus als der der „rationalen“ Wahl. Es
ist ein Vorgang der „Identifikation“ der Objekte einer neuen Situation mit
vorhandenen Erwartungen. Spontan kann nur ein „vorbereiteter“ Verstand reagieren (Simon 1993, S. 37). Derart wiedererkannt werden dabei typische
Muster von typischen Situationen und darin typischen Handlungen.
Die gedanklichen Muster der Situationen und Handlungen sind im Gedächtnis der Akteure
gespeichert und gedanklich mit dem Auftreten bestimmter Objekte verbunden, mit denen die
Akteure die Modelle assoziieren – den Symbolen. Sie bilden den Bezugsrahmen seiner
Orientierung in der Situation, ohne dessen Aktivierung ein sinnhaftes und verständliches
Handeln nicht möglich wäre. Die Muster für die Modelle stammen nicht von den Akteuren,
sondern werden – in einem oft mühsamen und langwierigen Prozeß der Sozialisation –
American Sociologist, 13, 1978, S. 30-41; Robert H. Frank, Passions Within Reason. The
Strategic Role of the Emotions, New York und London 1988, Kapitel 6: Telltale Clues, S.
114-133; Jürgen Gerhards, Soziologie der Emotionen. Fragestellungen, Systematik und
Perspektiven, Weinheim und München 1988, Teil II insbesondere.
356
Situationslogik und Handeln
werden – in einem oft mühsamen und langwierigen Prozeß der Sozialisation – gelernt (vgl.
dazu auch Kapitel 9). Sie sind Teil der Identität des Menschen und das Ergebnis von Prozessen der Institutionalisierung (vgl. dazu bereits Kapitel 1, sowie Band 5, „Institutionen“, und
Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
Die gesellschaftlichen Institutionen und die kulturellen Muster und Symbole
versorgen im wesentlichen den in seinen Fähigkeiten so eingeschränkten Akteur mit der nötigen Sicherheit auch seines Selbst. Im Schutze dieser Sicherheit wären eine rationale Berechnung und die peinlich genaue Beachtung von
Konsequenzen ganz und gar abwegig. Sie würden nur eine irrationale Verschwendung des knappen Gutes der Aufmerksamkeit bedeuten – sofern die
gedanklichen Modelle mit den beobachtbaren Eigenschaften der Situation
„passen“ und die Folgen eines „falschen“ Handelns nicht unübersehbar kostspielig werden.
Die unbedingt-spontane Reaktion der gut passenden Wiedererkennung ist
jedoch nicht die einzige denkbare Art der Entscheidung. Die Nutzentheorie ist
ja – wie wir in Abschnitt 8.3 gesehen haben – nicht komplett ohne jeden
Wirklichkeitsbezug. Menschen können – und wollen manchmal – auch „rational“ handeln: Wenn sie Grund dazu haben und es ihnen nicht allzu schwer
gemacht wird. Einen Grund für eine rationale Art der Entscheidungsfindung
haben sie unter zwei Umständen: Wenn sie in der Situation nichts oder nicht
wie gewohnt oder wie erwartet wiedererkennen, so daß sie ohne Bedenken
spontan reagieren könnten; und wenn ihnen bei einer Fehlentscheidung viel
entgehen würde. Dann wird die spontane Reaktion gehemmt.
Nun gibt es einen anderen Mechanismus der Entscheidung: die Unterbrechung der spontanen Reaktion. Jetzt wird eben nicht mehr unbedacht „reagiert“, sondern – mehr oder weniger – überlegt und abgewogen und „ausgewählt“. Nun werden auch andere Aspekte bedacht, Folgen erwogen und sogar
„rational“ kalkuliert. Und dann werden – wieder: unter Umständen, nicht unbedingt – auch neue Lösungen gesucht, Informationen gesammelt und Schlüsse gezogen. Wer vorher ein gutes Buch über die rationale Entscheidungstheorie gelesen und verstanden hat, wie das von Eisenführ und Weber (1993), wird
dabei auch nur wenige Fehler machen – trotz seiner stets weiter bestehenden
bounded rationality. Dann wird die Art der Entscheidung gewechselt – von
der spontanen Reaktion zur bedachten Reflektion.
Noch einmal: Modell und Modus
Bei den „wirklichen“ Entscheidungen der Menschen geht es also im Prinzip
um zwei Vorgänge, auf die wir in Abschnitt 6.8 über die Optimierung der Ori-
Die Logik der subjektiven Vernuft
357
entierung bereits hingewiesen haben: Erstens gibt es die Selektion eines bestimmten Musters oder, wie wir besser sagen sollten, eines Modells der Situation und des Handelns – Retten oder Sterben, Sicherheit oder Risiko. Die Selektion erfolgt über einen Prozeß der Muster-Wiedererkennung dieses Modells. Und zweitens findet die Selektion der Art oder, wie wir erneut besser
sagen wollen, des Modus der Entscheidungsfindung statt – unbedingt-spontan
versus reflektiert-rational.
Eine komplette Theorie des menschlichen Entscheidungshandelns, die die
bounded rationality ernst nimmt, aber auch die Fähigkeiten des Menschen zu
Sinn und Verstand und rationaler Berechnung nicht außer Acht läßt, müßte
beide Selektionen – die von Modell und Modus – beinhalten. Was nun nur
noch fehlt, wäre dies: ein theoretisches Modell dafür, wann genau die Akteure
welches Modell einer Situation und Handlung „wählen“ und wann sie dem
spontanen oder dem reflektierten Modus der Entscheidung den Vorzug geben
– und nach welcher Logik der Selektion sie das tun. Herbert A. Simon hat ein
solches Modell nicht mehr formuliert.
***
In drei, insgesamt und je für sich recht langen, Kapiteln haben wir ein für die
soziologischen Erklärungen zentrales, aber in der schließlichen
soziologischen Analyse dann nicht mehr vordringliches Thema ausführlich
behandelt: Das Handeln der Menschen und seine Erklärung. Verhältnismäßig
weniger vordringlich ist das Thema deshalb, weil die eigentliche
soziologische Arbeit, wie wir bereits an den Beispielen zur Anwendung der
WE-Theorie gesehen haben, in der Formulierung der Brückenhypothesen und
in den Aggregationen der Handlungen zu kollektiven Folgen besteht. Die
Soziologie ist eben keine (kognitive) Psychologie und keine statistische oder
ökonomische Entscheidungstheorie. Ihre Aufgaben liegen woanders. Und
alles, was für sie wichtig ist, ist, daß sie die Ergebnisse der mit der Erklärung
des menschlichen Handelns speziell befaßten Disziplinen beachtet. Was aber
bleibt dann? Dieses wohl:
1. Menschen handeln in der Tat nicht einfach nach den einfachen Regeln der WE-Theorie,
obwohl die WE-Theorie für viele Erklärungsprobleme der Soziologie schon eine sehr gute
und sehr brauchbare Annäherung darstellt. Die Versuche zur einfachen „empirischen“
Anreicherung der WE-Theorie – wie die Prospect Theory – sind keine gute Lösung: Sie
sind „theoretisch“ nicht begründet und für die Zwecke der soziologischen Erklärung meist
zu kompliziert.
2. Menschen leben in subjektiven Sinnwelten, in denen die ansonsten chaotische und fast
leere Welt der objektiven Dinge institutionell und kulturell vereinfacht und vorstrukturiert
ist. Diese Sinnwelt besteht insbesondere aus fertigen und sozial verankerten und geteilten
358
Situationslogik und Handeln
Modellen von typischen Situationen und für ein darin typisches Handeln. Diese Modelle
sind gedanklich mit bestimmten Anzeichen in der Situation verbunden, deren Existenz die
Modelle „auslöst“. Diese Anzeichen werden auch als Symbole bezeichnet. Vor allem sie
steuern normalerweise die Selektion des Handelns – über den Mechanismus der Wiedererkennung typischer Muster des Modells der Situation und des dazugehörigen Handelns.
3. Die Entscheidungen der Menschen können nach verschiedenen Modi getroffen werden.
Die beiden wichtigsten Modi sind das erwähnte Wiedererkennen eines bestimmten Modells und die spontan-automatische Reaktion darauf einerseits; und die reflektiertrationale Unterbrechung der Reaktion und das „Berechnen“ der Folgen des Handelns andererseits. Das „rationale“ Handeln nach den Regeln der WE-Theorie ist daher nur ein bestimmter Modus der Entscheidungsfindung, manchmal sogar geleitet durch ein kulturelles
Modell der Zweckrationalität als Norm.
4. Handeln setzt damit stets zwei, dem eigentlichen Handeln vorgängige, simultane Selektionen voraus: die Selektion eines bestimmten Modells (für Situation und Handeln) und die
Selektion des Modus, mit dem die Entscheidung für das Handeln selbst getroffen wird.
5. Meist sind die Situationen für die Menschen deutlich vorstrukturiert und einfach. Es geht
meist nur um ein dominierendes Problem und nur um ein damit verbundenes und gut verankertes Modell der Situation und des Handelns. Dann ist die Wiedererkennung eines bestimmten Modells kein besonderes Problem, und der Modus der spontanen Wiedererkennung ist dann naheliegend. Erst wenn es mehrere „oberste“ Ziele gleichzeitig oder Störungen der gewohnten Situation oder nur schlecht verankerte Modelle gibt, wird der Modus der rationalen Reflektion „lohnend“.
6. Auch beim einfachen Wiedererkennen spielen die Anreize und die Kosten stets eine wichtige Rolle, wenngleich meist nur latent und im Hintergrund. Mit dem Ansteigen der Opportunitätskosten von „falschen“ Entscheidungen nimmt aber die Neigung zu, es auch bei
deutlicher Wiedererkennung nicht einfach bei der spontanen Reaktion zu belassen, sondern den Modus der rationalen Reflektion zu benutzen.
Es käme nun darauf an, für dieses, von der einfachen Nutzentheorie doch
deutlich abweichende Konzept der Logik der Selektion unter Beachtung der
bounded rationality der Menschen ein – möglichst einfaches und möglichst
präzises – theoretisches Modell zu entwickeln. Einstweilen werden wir uns
für die allermeisten zu lösenden soziologischen Fragen mit der einfachen WETheorie begnügen können. Sie erlaubt bereits in hohem Maße das, was Max
Weber als Aufgabe der Soziologie ansah: Das soziale Handeln der Menschen
deutend zu verstehen und dadurch in seinem Ablauf und in seinen Wirkungen
ursächlich zu erklären. Und das ist schon etwas! Aber vielleicht geht die Anwendbarkeit der WE-Theorie ja noch weiter. Warum soll sie nicht auch die
Selektionen des homo rationalis von Professor Simon erklären können – die
Selektion des Modells der Situation und des Modus der Entscheidungsfindung? In Band 6 über „Sinn und Kultur“ dieser „Speziellen Grundlagen“ werden wir ein Konzept vorstellen, wie das in der Tat geht.
Kapitel 9
Lernen
Die Wert-Erwartungstheorie liefert die Erklärung für das Handeln der Akteure
in Situationen. Die beiden grundlegenden Variablen dabei sind die Erwartungen und die Bewertungen. Erwartungen und Bewertungen sind ihrerseits die
zentralen Bestandteile der Identität der Akteure im Moment des Handelns. Sie
werden, wie wir in Kapitel 5 noch etwas abstrakt zusammengefaßt haben, im
Verlaufe der Biographie erworben oder durch Wahrnehmungen der Objekte in
der Situation geschätzt. Der Erwerb von Erwartungen und Bewertungen durch
unmittelbare „Erlebnisse“ des Akteurs wird ganz allgemein als Lernen bezeichnet.
9.1
Grundkonzepte der Lerntheorie
In seinem Buch „A Night to Remember“ über den Untergang der Titanic berichtet der Autor Walter Lord auch vom Schicksal einiger Überlebender, die
ihm halfen, die Geschehnisse über den bloßen Ablauf hinaus besser zu verstehen. Dabei erwähnt er unter anderem die folgende Begebenheit:
„For instance, Mrs. Noel MacFie (then the Countess of Rothes) tells how – while dining out
with friends a year after the disaster – she suddenly experienced the awful feeling of cold and
intense horror she always associated with the Titanic. For an instant she couldn´t imagine
why. Then she realized the orchestra was playing ‚The Tales of Hoffmann‘, the last piece of
after-dinner music played that fateful Sunday night.“1
Lernen ist, so können wir jetzt schon allgemein festhalten, die Ausbildung
von Assoziationen: Wer „Child in Time“ öfters oder eindringlich zu einer
wirklich wilden Gelegenheit hörte, wird innerlich die 70er Jahre wieder fühlen, sobald die alte Platte läuft, ähnlich wie die einstigen melancholischen Gefühle wieder erstehen, wenn John Lennon sein „Imagine“ singt, oder wie das
1
Walter Lord, A Night to Remember, New York u.a. 1955, S. 143f.
360
Situationslogik und Handeln
der Mrs. Noel MacFie mit „Hoffmanns Erzählungen“ und ihrer Erinnerung an
die eisige Nacht zum 15. April 1912 geschah. Es ist wie bei einer Musikkassette, die öfters hintereinander gehört wurde: Noch ehe ein bestimmtes Lied
ganz verklungen ist, hört man, ganz automatisch, innerlich schon den Beginn
des nächsten – die Melodie, den Text und die besondere Stimmung, die es
umgibt. Aber nicht nur Musik- und Textsequenzen, Gefühle und innere Bilder
können auf diese Weise assoziiert werden: Wenn die Fische einige Male hintereinander an schattigen Stellen besonders gut beißen und an sonnigen eben
nicht, dann weiß ein Angler schließlich, wo er wahrscheinlich erfolgreicher
sein wird und wo nicht. Und er wird sich danach richten, wenn er wieder am
See unterwegs ist (vgl. dazu bereits Abschnitt 6.1).
Beide Vorgänge gehören zum Lernen. Es ist einerseits die Ausbildung der
Assoziation von Eigenschaften der Situation und deren Bewertung – wie bei
der Assoziation von Hoffmanns Erzählungen mit dem kalten Schauder der
Eisnacht im Atlantik. Und es ist andererseits die Entstehung der Assoziation
von Situation, Handlung und Erfolg, wie beim Angler am See, der sich
schließlich eben nicht mehr in die Sonne setzt, wenn er Fische fangen will.
Welche Dinge sind dabei aber wichtig? Und, insbesondere, welchen Gesetzen
folgt das Lernen? Die Antwort auf diese Fragen gibt die sog. Lerntheorie.2 Sie
hantiert mit einer Reihe von Begriffen, die – wenigstens teilweise – schon fast
in die Alltagssprache eingegangen sind.
Reiz und Reaktion
Das Lernen verbindet gewisse Eigenschaften einer Situation mit bestimmten
Reaktionen des Organismus. Die beim Lernen bedeutsamen Eigenschaften der
Situation werden Reiz oder Stimulus (Plural: Stimuli), die Reaktionen des Organismus darauf auch Response genannt. Die Reaktion auf die Reize bzw. die
Stimuli der Situation kann sowohl äußerlich sichtbar wie intern, unwillkürlich
wie bewußt sein. Sie kann aus Verhalten wie aus Handeln jeder Art bestehen
(vgl. dazu bereits Abschnitt 6.1). Auch Wahrnehmungen und Orientierungen
2
Eine kurze Übersicht zur Theorie des Lernens mit Hinweisen auch auf die klassischen
Experimente und auf die verschiedenen Entwicklungsrichtungen findet sich bei Andrzej
Malewski, Verhalten und Interaktion: die Theorie des Verhaltens und das Problem der
sozialwissenschaftlichen Integration, 2. Aufl., Tübingen 1977, Kapitel III: Elemente einer
Verhaltenstheorie, S. 45-71. Für eine ausführlichere Darstellung vgl. Karl-Dieter Opp,
Verhaltenstheoretische Soziologie. Eine neue soziologische Forschungsrichtung, Reinbek
1972, Kap. III, S. 31-112. Eine Darstellung der aktuellen Forschungen und der Verbindungen zu kognitiven Vorgängen findet sich bei: Barry Schwartz und Daniel Reisberg,
Learning and Memory, New York und London 1991, insbesondere Teil 1 und 2.
Lernen
361
können zu diesen Reaktionen gehören. Und sogar das Lernen selbst – nämlich
die innere „Entscheidung“ eines Organismus eben diese und nicht jene Reaktion nach einem Reiz zu zeigen und als Disposition abzuspeichern – könnte
als eine spezielle Art der Reaktion interpretiert werden.
Vor allem aber werden zwei Sachverhalte verbunden: innerlich erlebte Bewertungen der Reize der Situation und bestimmte Erwartungen, daß in einer
Situation mit bestimmten Reizen ganz bestimmte Reaktionen erfolgreich sind
oder nicht. Kurz: Die Reize werden mit Bewertungen U und Erwartungen p
assoziiert. Das Lernen ist der Vorgang, der dorthin führt (vgl. dazu noch die
Zusammenfassung am Schluß des Abschnitts 9.2).
Belohnung und Bestrafung
Die Stimuli werden vom Organismus jeweils bewertet. Diese Bewertung kann
drei unterschiedliche Arten haben: positiv, neutral und negativ. Ein positiv
bewerteter Stimulus wird auch Belohnung oder Verstärker, ein negativ bewerteter Stimulus auch Bestrafung, Deprivation oder aversiver Stimulus genannt.
Ein Stimulus, der weder als belohnend noch als bestrafend erlebt wird, wird
als neutraler Stimulus bezeichnet.
Belohnungen und Bestrafungen sind in bestimmter Weise logisch miteinander verbunden: Die Vorenthaltung einer Belohnung wirkt wie eine Bestrafung bzw. wie eine Deprivation. Und die Beseitigung einer Bestrafung wird
umgekehrt als Belohnung erlebt. Anhand des Modells von Tversky und Kahneman über Gewinne und Verluste jeweils in der Gewinn- oder Verlustregion
kann man sich diese logische Verbindung leicht klar machen (vgl. Abbildung
8.6a in Abschnitt 8.4): Die Verminderung eines Verlustes in der Verlustregion
wird als gewinnbringend und belohnend erlebt. Und die Verringerung des
Gewinns in der Gewinnregion ist verlustreich und bestrafend.
(Un-)Bedingtheit
Einige Stimuli haben eine positive oder negative Bewertung bereits unmittelbar, von „Natur“ aus und ohne jede weitere „Bedingung“ für einen Organismus – wie Nahrung oder liebevolle Zuwendung in positiver bzw. Informationsüberfülle oder soziale Mißachtung in negativer Hinsicht. Derartige Stimuli
mit einem unmittelbaren Bezug zu den „natürlichen“ Bedürfnissen der Akteure werden auch als unbedingte Stimuli bezeichnet. Positiv oder negativ bewertete Stimuli, die ihre Bewertung nicht unmittelbar mit sich bringen, aber diese
362
Situationslogik und Handeln
Eigenschaften später auf irgendeine Weise erworben haben, nennt die Lerntheorie bedingte Stimuli, weil sie von bestimmten gesellschaftlichen oder individuellen Verhältnissen abhängig sind – insbesondere, weil sie durch eine
individuelle Lerngeschichte des Organismus „bedingt“ werden.
Unbedingte Stimuli sind manchmal mit bestimmten Reaktionen so verbunden, daß bei ihrem Auftreten unmittelbare, reflexartige Reaktionen durch den
Organismus gezeigt werden. Reaktionen, die auf diese Weise mit unbedingten
Stimuli verbunden sind, heißen daher auch unbedingte Reaktionen. Hunde,
die ein Kotelett sehen oder riechen, schnappen reflexartig danach, vor Katzen
ziehen sie ebenso automatisch den Schwanz ein. Reaktionen, die nur in
Verbindung mit bedingten Stimuli auftreten, werden entsprechend als
bedingte Reaktionen bezeichnet. „Hoffmanns Erzählungen“ war für Mrs. Noel
MacFie ein solcher bedingter Reiz: Erst nach der Nacht des Untergangs der
Titanic empfand sie den kalten Horror, wenn das Stück erklang, vorher nicht.
Dieses Phänomen, daß „an sich“ neutrale Merkmale der Situation allein
durch bestimmte Vorgänge eine zuvor nicht vorhandene neue Bewertung erhalten, erklärt bereits im Prinzip, wie unterschiedliche Muster von Geschmack, Vorlieben und Werten für Dinge, Handlungsweisen oder auch Ideen, wie Kultur allgemein also, zustandekommen. Wie läßt sich aber erklären, daß es zu solchen Assoziationen kommt?
9.2
Zwei Mechanismen
Die Lerntheorie unterscheidet zwei grundlegende Mechanismen der Bildung
von Assoziationen: das klassische Konditionieren und das instrumentelle Lernen. das klassische Konditionieren ist der Mechanismus, der den Erwerb von
Präferenzen und Bewertungen erklärt. Über das instrumentelle Lernen entstehen die Alltagstheorien und die Erwartungen der Menschen über die Welt.
Das klassische Konditionieren
Das klassische Konditionieren ist das klassische Beispiel der Lerntheorie. Allgemein bekannt geworden ist es durch den Pavlovschen Hund – so benannt
nach dem russischen Pionier der Lerntheorie, Ivan P. Pavlov (1849-1936):3
Ein Hund reagiert auf einen Glockenton oder auf das Ticken eines Metronoms
3
Ivan P. Pavlov, Conditioned Reflexes: An Investigation of the Physiological Activity of
the Cerebral Cortex, Oxford 1927, S. 13ff.; vgl. die Zusammenfassung bei Schwartz und
Reisberg 1991, S. 43ff.
Lernen
363
so wie auf ein Stück Fleisch, das ihm zum Fressen vorgelegt wird: mit einer
reflexartigen Speichelabsonderung. Wie kommt es dazu?
Der Grundvorgang
Auf Glockentöne oder Metronome reagiert ein Hund – zunächst – gar nicht,
außer er erschrickt vielleicht. Glockentöne und das Ticken eines Metronoms
sind für ihn zunächst nur neutrale Stimuli: „an sich“ uninteressante Geräusche. Wenn nun einige Male der Glockenton oder das Ticken gleichzeitig mit
einem Stück Fleisch aufgetreten ist, dann reagiert der Hund schließlich auch
auf den Glockenton oder das Ticken genauso wie auf ein Stück Fleisch –
selbst wenn er gar kein Fleisch bekommt. Aus dem zunächst neutralen Stimulus des Glockentons bzw. des Tickens ist allmählich ein bedingter positiver
Stimulus geworden. Und die zuvor unbedingte Reaktion der Speichelabsonderung ist nun eine bedingte Reaktion, die keineswegs jeder Hund aufweist. Der
so „konditionierte“ Hund kann also nicht mehr unterscheiden, was genau die
positive Bewertung auslöst. Er präferiert und „interpretiert“ Glockentöne und
Tickgeräusche nun genauso wie ein Stück Fleisch. Und er reagiert darauf in
genau der gleichen reflexartigen Weise mit verstärktem Speichelfluß.
Dieser Vorgang der klassischen Konditionierung läßt sich auf die folgende
Weise schematisieren (Abbildung 9.1): Der unbedingte Stimulus löst zunächst, „natürlich“, eine bestimmte unbedingte Reaktion aus. Nun wird der
unbedingte Stimulus einige Male mit einem neutralen Stimulus gemeinsam
präsentiert. Nach dem Gesetz der klassischen Konditionierung übernimmt der
zunächst neutrale Stimulus die Eigenschaften des unbedingten Stimulus: Er
löst die gleiche, nunmehr bedingte Reaktion aus. Er selbst wird dadurch zum
bedingten Stimulus.
Selbstverständlich können bestimmte Dinge über die Konditionierung auch
mit negativen Bewertungen belegt werden: Die Abneigung vor Schlangen,
Professoren oder dem Rollbrettfahren ist nicht angeboren. Sie wird jeweils
erworben, wenn man schlechte Erfahrungen damit macht.
364
Situationslogik und Handeln
unbedingter Stimulus
unbedingte Reaktion
unbedingter Stimulus
neutraler Stimulus
bedingter Stimulus
bedingte Reaktion
Abb. 9.1: Die Übertragung einer Bewertung von einem unbedingt bewerteten auf
einen neutralen Stimulus über den Prozeß der klassischen Konditionierung
Sekundäre Verstärkung
Die Stimuli, die ohne jede weitere Bedingung für den Organismus einen Belohnungswert haben, werden auch als primäre Verstärker bezeichnet. Die über die Assoziation mit primären Verstärkern entstandenen neuen, als belohnend erlebten bedingten Stimuli heißen entsprechend sekundäre Verstärker. In
ihrer weiteren Wirkung sind die sekundären Verstärker – nach der erfolgreichen Konditionierung also – von den primären Verstärkern kaum mehr zu unterscheiden. Im Ernstfall – etwa bei starkem Hunger und bei Andauern des
Nahrungsentzugs – helfen aber alle sekundären Verstärkungen nicht viel: Von
Glockentönen und dem Ticken eines Metronoms wird niemand satt. Und nicht
nur ein Hund wird dann wieder auf die Ebene des unmittelbaren Funktionierens seines biologischen Organismus zurückgeworfen: Er regrediert dann entsprechend zu Reaktionen, die seinen primären Bedürfnissen näher sind.
So läßt sich im Prinzip das Phänomen der Werte-Hierarchie von Abraham H. Maslow erklären. Abraham H. Maslow hatte, wie wir schon aus Abschnitt 4.1 wissen, die These aufgestellt, wonach Menschen eine Rangordnung von Bedürfnissen von „unten“ nach „oben“ in
der Weise hätten, daß als Basis die physischen Bedürfnisse (nach Nahrung, Schlaf und Sexualität zum Beispiel), darüber alle möglichen weiteren sozialen Bedürfnisse (wie nach Sicherheit und sozialer Anerkennung) und ganz oben das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung
Lernen
365
stünden.4 Will man alle nicht-physischen Bedürfnisse nicht auch als unbedingte Deprivationen verstehen, dann sind die darüber gelagerten Bedürfnisse nur über die Entstehung bedingter Deprivationen zu erklären: Das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung würde also im Zusammenhang der Erfüllung der primären physischen und psychischen Bedürfnisse gelernt. Da
die höher angesiedelten Bedürfnisse aber nur „sekundär“ sind, würde auf deren Einlösung
auch dann eher verzichtet, wenn es eng wird. Wahrscheinlich ist die Theorie von Maslow aber ohnehin nicht haltbar. Es gibt zahllose Fälle der nachhaltigen Sublimierung der physischen Bedürfnisse wie die der fast selbstzerstörerischen Kraft von übergeordneten Werten,
denen ein Akteur auch durch die größten physischen Entbehrungen hindurch folgt. Mit dem
Konzept der sozialen Produktionsfunktionen und den beiden Grundbedürfnissen nach physischem Wohlbefinden und sozialer Anerkennung entgeht man diesen Schwierigkeiten leicht:
Die soziale Anerkennung ist schon ein „primäres“ Bedürfnis. Und alle anderen, „darüber“
angesiedelten Bedürfnisse sind entweder die Folge sekundärer Verstärkung, oder sie sind über die sozialen Produktionsfunktionen definiert, werden zu sozial definierten Präferenzen für
gewisse primäre Zwischengüter – und zerfallen oder wandeln sich unmittelbar mit der Änderung der sozialen Produktionsfunktionen. Das „Bedürfnis“ nach einem Leninorden sank in
der ehemaligen DDR im Jahre 1989 jedenfalls ohne jede Konditionierung ganz drastisch.
Mit der Konditionierung sind im Grunde der Entstehung und Änderung von
Präferenzen und abgeleiteten Bedürfnissen keine Grenzen gesetzt. Es kommt
alles auf die Lerngeschichte an.
Zwei Folgen der Konditionierung
Die Konditionierung hat zwei wichtige Folgen. Die eigentlich neutralen Stimuli können erstens als „Stellvertreter“ für die primären Belohnungen und als
Signal für eine positiv oder negativ zu bewertende Situation insgesamt fungieren. Sie sind dann Symbole für andere, mitunter nicht unmittelbar präsente Elemente der Situation: Künftige Ereignisse werden antezipiert, latente Eigenschaften erschlossen und eventuell bestehende Lücken der Gesamt-Situation
über gedankliche und emotionale Assoziationen überbrückt. Konditionierungen sind damit erste Schritte zur Herausbildung von ganzen „Gestalten“ und
symbolisch strukturierten Situations-Komplexen, die nur insgesamt und nicht
in ihren Einzel-Elementen bewertet werden. Dadurch werden einerseits – eventuell lebensnotwendige – Reaktionen frühzeitiger als notwendig oder angebracht erkannt. Und andererseits wird die Ausbildung symbolisch gesteuerter Schemata, Drehbücher und „Handlungen“ für „fertige“ soziale Situationen
in zusammenhängender und sinnhafter Weise möglich.
Oft kann der Organismus dann nicht mehr auseinanderhalten, was dabei Ursache und was
Wirkung ist. Lernen bedeutet lediglich die Herstellung von einfachen Assoziationen zwischen
4
Abraham H. Maslow, Motivation and Personality, New York, Evanston und London
1954, S. 83ff.
366
Situationslogik und Handeln
Situationselementen und Reaktionen – und nicht unbedingt auch das Erlernen der „Kausal“Richtung. Hanno Buddenbrook, der etwas schwächliche und ängstliche Sohn von Thomas
Buddenbrook in Thomas Manns Roman, war – wie üblich – nicht vorbereitet in die Lateinstunde gekommen, hatte aber mit Hilfe seines Freundes Kai die Verse des Ovid fließend ablesen können und dafür ein Lob des getäuschten Lehrers erhalten. Anschließend hatte Hanno
das ihn erst etwas irritierende, dann aber immer sicherere Gefühl, daß er wirklich gut war und
fleißig gelernt habe. Hanno starb übrigens kurz darauf – weniger an Typhus als an mangelnder Lebenstüchtigkeit.
Zweitens entstehen über den Vorgang des klassischen Konditionierens neue
Präferenzen: Was vorher ein neutrales Ding war, wird jetzt zum Objekt der
Begierde, der Furcht oder der Abscheu. So ist zu erklären, wie ganz unterschiedliche Kulturen mit sehr unterschiedlichen „tastes“ entstehen: Warum
Franzosen lieber Kaffee, Briten eher Tee und Chinesen keine Milch mögen,
zum Beispiel. Damit kann auch erklärt werden, daß Menschen sogar Vorlieben für Dinge entwickeln können, die zuvor ganz und gar uninteressant waren, als unwichtig oder gelegentlich sogar als lästig und unangenehm erschienen sind, zum Beispiel klassische Musik, moderne Kunst oder die innerweltliche Askese. Variationen im Geschmack, in den Werten und damit die mehr
oder weniger groben Unterschiede von Menschen und Gruppen in ihren Vorlieben sind die Folge von Variationen in den Lern-Biographien von Kollektiven von Menschen. Daß jemand Karl Moik, die Beatles oder Michael Jackson
mag oder nicht, hängt also nicht von unterschiedlichen genetischen Strukturen, von einer besonderen Begabung oder von der aktuellen Situation ab, sondern davon, ob er mit Musik von Karl Moik, den Beatles oder Michael Jackson in Berührung gekommen ist – und dabei nachhaltig und oft genug good
(or bad) vibrations gehabt hat.
Internalisierung
Über Konditionierungen können nicht nur gewisse Folgen des Handelns, sondern sogar das Handeln selbst einen eigenen Belohnungswert erhalten. Der
„wirkt“ auch dann, wenn das Handeln vom Akteur als wenig erfolgversprechend oder sogar kostenträchtig und riskant angesehen wird. Eine Großmutter
geht schließlich aus eigenem Bedürfnis zur Kirche – und nicht, weil es das
Gebot der Kirche dazu gibt oder weil sonst die Nachbarn reden. Dazu ist sie,
in jungen Jahren und nicht ohne gewissen Nachdruck, einmal konditioniert
worden. Derartiges gilt für jede Norm, die „internalisiert“ worden ist: Wenn
die Befolgung einer Norm immer gemeinsam mit einem primären Verstärker
auftritt, dann übernimmt nach einiger Zeit die Normbefolgung selbst den Belohnungswert der primären Verstärker.
Lernen
367
Werte, Normen und Rollen können so zu einem „inneren Bedürfnis“ des
Menschen werden. Sie gewinnen durch ihre Internalisierung über den Prozeß
der Konditionierung ihren typischen „Eigenwert“ – „unbedingt“ und unabhängig von ihrer instrumentellen Bedeutung für die anderen Ziele des Akteurs. Der Weg ist dann, wie wir bereits vorher im Zusammenhang des Konzeptes der Wertrationalität festgestellt haben, schon das Ziel (vgl. Abschnitt
6.7). Und die inneren Bewertungen gehen dabei als eigene Nutzenterme des
betreffenden Handelns selbst in die Bewertungsvektoren der Akteure ein. Die
Menschen wollen dann das schon, was sie sollen. Und sie tun dann aus eigenem inneren Antrieb die Dinge, wozu sie zweckrational kaum zu bewegen
gewesen wären.
Mit der Internalisierung wird die Reaktion selbst also als eine Belohnung
empfunden, so daß die Menschen sich mit der Reaktion unmittelbar „identifizieren“ und im Tun selbst unabhängig von jedem äußeren „Zweck“ eine innere Lust verspüren. Dies wird Friedrich A. Tenbruck wohl auch gemeint haben,
als er Ralf Dahrendorf vorhielt, daß die Menschen sich mit ihren Rollen auch
„identifizieren“ und nicht nur nach den äußeren Sanktionen schielen (vgl. Abschnitt 3.1). Er dürfte aber kaum dabei bedacht haben, daß er dann die Annahme machen muß, daß Menschen die Normen in genau der gleichen Weise
internalisieren, wie der Pavlovsche Hund die inneren Reaktionen auf den Glockenton oder auf das Metronom erwirbt.
Das instrumentelle Lernen
Beim klassischen Konditionieren werden Bewertungen von Reizen erworben,
die zuvor neutral waren. Beim instrumentellen Lernen entstehen Erwartungen,
wo vorher Unsicherheit und Ignoranz herrschte. Es bildet sich auch hier eine
Assoziation: die als erfolgreich und problemlösend empfundene Verbindung
zwischen einer bestimmten Reaktion und einer als problematisch empfundenen typischen Situation. Andrzej Malewski erläutert das Konzept an einem
Kind, dem man einen gewünschten Gegenstand versagt hat – etwa den Kauf
eines Spielzeugautos nach einem langen Samstag in der City.
Das ist ohne Zweifel eine für alle Beteiligten sehr problematische Situation. Sie ist für das
Kind durch einen negativ bewerteten Stimulus, eine Deprivation also, gekennzeichnet: kein
Auto. Und folglich: großes Lamento. Natürlich ist dem Kind zur Beseitigung seiner Deprivation ein ganzes Arsenal von alternativen Reaktionen vorstellbar und möglich: stummes Fügen, Schreien, Trampeln und Um-sich-Schlagen – oder auch das Eintreten in einen argumentativen Diskurs mit den Eltern, zum Beispiel.
368
Situationslogik und Handeln
Die als problematisch empfundene Situation sei durch den Stimulus Sp gekennzeichnet, hier: die Entbehrung eines gewünschten Spielzeugs. Die möglichen Reaktionen darauf – stummes Fügen, Trampeln, Schreien und so weiter
– seien R1, R2, ... Rk, ... Rm. Diese verschiedenen Reaktionen auf das Problem
Sp werden zuerst ganz ungezielt, zufällig und versuchsweise – nach „trial and
error“ – erfolgen. Das Kind weiß anfangs eben noch nicht, womit es Erfolg
haben wird. Das kann sich aber bald ändern: Wenn der gewünschte, als Belohnung gewertete Gegenstand mehrmals nach genau einer bestimmten Reaktion – sagen wir: mit Rk – tatsächlich erlangt wird, und wenn somit die Reaktion Rk als ein wirksames Mittel zur Beseitigung der Deprivation erlebt wird,
dann wird genau diese Verbindung von dieser Reaktion zu genau dieser Art
von Situation verstärkt: Wenn Sp, dann Rk zur Lösung des Problems. Die Lösung des Problems wird als Belohnung empfunden. Und je öfter mit Rk in einer Situation Sp die als Belohnung empfundene Problemlösung auftritt, um so
wahrscheinlicher wird die Selektion von Rk, sobald es wieder eine problematische Situation mit der Eigenschaft Sp gibt.
Es sei bei dem geschilderten Beispiel jedoch auch nicht vergessen, daß das Schreien, Trampeln und wohl besonders ein altkluger Diskurs für die Eltern auch eine problematische Situation ist, aus der sie nur herauskommen, wenn sie dem Kind geben, was es will, oder es zum
Verzicht zu erziehen versuchen. Mit dem Kauf des Autos erstirbt der Krach; und das wird
ohne Zweifel von den Eltern als belohnend empfunden. Auf diese Weise kann auch die
Nachgiebigkeit der Eltern durch das Nachlassen der Belästigungen systematisch verstärkt
werden. Nicht immer kann in solchen Situationen reziproken Ärgers geklärt werden, wer wen
verstärkt.
Der Vorgang des instrumentellen Lernens wird treffenderweise auch als „Lernen am Erfolg“ bezeichnet. Dazu gehört selbstverständlich auch, daß Reaktionen, die zu einer Vergrößerung des Problems führen und deren Folgen als
bestrafend empfunden werden, vermieden werden. Der Vorgang kann schematisierend wie in Abbildung 9.2 zusammengefaßt werden.
Die Verstärkung bezieht sich beim instrumentellen Lernen also – anders
als beim klassischen Konditionieren – nicht auf die Herstellung einer
bewertenden Assoziation zwischen verschiedenen Elementen der Situation,
sondern auf die Herstellung einer kognitiven Verbindung zwischen
bestimmten Handlungen und dem Effekt der Problemlösung. Es entsteht ein
Wissen etwa der Art: Immer, wenn ich in der als problematisch empfundenen
Situation Sp die Handlung Rk wähle, dann wird sich das bestehende Problem
lösen. Diese subjektive Kausalhypothese entspricht genau dem subjektiven
Glauben eines Akteurs i in dem Modell der Logik des Handelns in Abschnitt
6.4, nämlich daß zur Erreichung des Zieles Z das Handeln H notwendig sei:
(Z → H)i.
369
Lernen
Reaktionen (R 1, R 2, ..., Rk , ..., Rm)
Stimulus SP
Rk
Stimulus SP
Belohnung
Reaktion Rk
Abb. 9.2: Der Vorgang der Verstärkung beim instrumentellen Lernen
Die Entstehung des Wissens und der Werte
Über die Konditionierung nehmen Objekte Bewertungen an, die zuvor neutral
waren. Sie ist damit einer jener Vorgänge, durch den die Werte des Bewertungsraumes U belegt werden, der ja für die Berechnung der EU-Gewichte
und für die Erklärung des Handelns bekannt sein muß. Andere Mechanismen
gibt es auch: die Wahrnehmung der Empfindungen anderer oder die Übernahme von Informationen über den „Wert“ gewisser Objekte. Daß beim
Schachspiel die Dame besonders wertvoll ist, lernt man mit den Spielregeln.
Aber ohne Zweifel ist das handgreifliche „Erleben“, das die Konditionierung
begleitet, ein ganz besonders nachhaltiger Mechanismus der Assoziation von
Stimulus und bewertender Reaktion.
Das instrumentelle Lernen erklärt dagegen die Entstehung von subjektiven
Kausalhypothesen, von Wissen und von Alltagstheorien über die Strukturen
der Welt. Mit dem instrumentellen Lernen läßt sich also die Entstehung des
Erwartungsraumes P erklären, dessen Einträge neben den Werten des Bewertungsraumes U für die Bestimmung der WE-Gewichte bei der Erklärung des
Handelns nach der WE-Theorie benötigt werden. Auch hierfür gibt es ohne
Zweifel weitere Mechanismen: wieder die Wahrnehmung, auch die Imitation
und das Vertrauen auf eine verläßliche Kompetenz, sogar das gedankliche
Durchspielen geeigneter Mittel. Aber auch jetzt gilt wieder, daß nichts so
lehrreich ist wie die eigene, zuweilen schmerzliche, Erfahrung, und daß man
schließlich vor allem aus selbst erlebtem Schaden klug wird.
370
9.3
Situationslogik und Handeln
Einzelheiten und Regelmäßigkeiten
Für die Herstellung von Assoziationen zwischen Stimuli und Reaktionen gibt
es eine Reihe von präzisen Gesetzmäßigkeiten. Für das Verständnis dessen,
wie menschliche Akteure – und lebende Organismen allgemein – mit ihren
Problemen und den Vorgaben der Umwelt umgehen, sind sie ungemein wichtig – und interessant.
Das Effektgesetz
Die wichtigste lerntheoretische Hypothese ist das sog. Effektgesetz. Es wurde
von Edward L. Thorndike nach einer Serie von Experimenten über die Intelligenz von Tieren, insbesondere mit Katzen und Hunden, aufgestellt. In seiner
ersten Fassung von 1911 lautet es so:
„Von verschiedenen, auf die gleiche Situation ausgeführten Reaktionen, werden jene, die
beim Tier von Befriedigung begleitet sind oder auf die schnell eine Befriedigung erfolgt, bei
sonst gleichen Bedingungen fester mit der Situation verknüpft, so daß bei Wiederholung der
Situation sich mit hoher Wahrscheinlichkeit auch dieselben Reaktionen wiederholen; bei jenen Reaktionen, die von Unbehagen begleitet sind oder auf die schnell Unbehagen folgt, wird
unter sonst gleichen Bedingungen ihre Verbindung zur Situation geschwächt. Bei Wiederholung der betreffenden Situation besteht daher eine geringere Auftretenswahrscheinlichkeit
dieser Reaktionen. Je größer die Befriedigung oder das Unbehagen, um so ausgeprägter die
Verstärkung oder Schwächung der Verbindung.“5
Deutlich erkennt man das Grundprinzip, das nicht nur für Hunde und Katzen
gilt: Es werden genau jene Reaktionen verstärkt, die der Organismus als nützlich empfindet, und jene werden abgeschwächt, die als nicht zuträglich erlebt
werden. Es regiert – ganz offenbar – auch bei der Übernahme von Wissen und
Werten das Nutzenprinzip. Nur wird jetzt nicht gehandelt, „um“ ein nützliches
Ziel „zu“ erreichen, sondern es wird in bestimmter Weise reagiert, „weil“ in
der Vergangenheit genau diese Reaktion selektiv als nutzenstiftend erlebt
wurde. Kurz: Beim gelernten Verhalten treibt die biographisch geprägte Vergangenheit, beim intentionalen Handeln die imaginierte Zukunft – auf der Basis der gelernten Bewertungen und Erwartungen.
Das Effektgesetz ist nicht speziell nur auf eine bestimmte Art des Lernens
anwendbar. Klassisches Konditionieren und instrumentelles Lernen sind aber
ohnehin nicht so verschieden, wie es zunächst scheinen mag. In beiden Fällen
5
Edward L. Thorndike, Animal Intelligence. Experimental Studies, New York 1911, S.
244; die deutsche Übersetzung folgt John W. Atkinson, Einführung in die Motivationsforschung, Stuttgart 1975, S. 195.
Lernen
371
wird ja eine Assoziation dadurch verstärkt, daß in einer als neutral oder deprivierend erlebten Situation eine Belohnung und eine Reaktion gleichzeitig auftreten. Es hat gleichwohl ein langer Streit darüber getobt, welcher Vorgang
elementarer sei (vgl. Malewski 1977, S. 47ff.): das klassische Konditionieren
oder das instrumentelle Lernen. Und in der Tat ist es zumindest in Experimenten sehr schwierig, die jeweils „reinen“ Bedingungen für ein Lernen am Erfolg und für die Übertragung von Bewertungen auf neutrale Stimuli zu trennen – zumal ja die Reaktionen selbst immer auch Situationselemente sind, auf
die hin „konditioniert“ werden kann, wenn Belohnungen auftreten.
Wir wollen diesen Streit hier nicht weiter führen, sondern – der Einfachheit
halber – die nomologischen Bedingungen vor allem des instrumentellen Lernens und die grundlegenden Thesen der allgemeinen Verhaltenstheorie kurz
zusammenfassen. Dabei sollen vier Bereiche angesprochen werden: die Bedingungen für die Verstärkung einer Reaktion, Generalisierung und Diskriminierung von Situations-Stimuli und Reaktionen, die Regelmäßigkeiten der Extinktion, der (Wieder-)Abschwächung von einmal erlernten Reaktionen also,
und die lerntheoretische Erklärung von inneren Konflikten.
Verstärkung
Die Bedingungen für die Verstärkung einer Reaktion haben – das war im Effektgesetz deutlich gemacht worden – vor allem mit zwei zentralen Variablen
zu tun: mit dem Wert der verstärkenden Belohnung und mit der zeitlichen
Kontiguität der Reaktion und des Auftretens der Belohnung. Je stärker die belohnende Wirkung der Reaktion, je häufiger der gesamte Vorgang der Verstärkung und je regelmäßiger das Eintreten der Belohnung auf die Reaktion
erfolgt sind, um so größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß mit dem Stimulus in
einer Situation auch wieder das entsprechende Verhalten auftritt. Später auftretende, gleich wertvolle Belohnungen sind für die Verstärkung weniger
wirksam als zeitlich unmittelbar erfolgende Belohnungen. Und wird die gleiche Belohnung kurz mehrmals hintereinander verabreicht, dann schwächt sich
deren verstärkende Wirkung ab, weil ihr relativer Wert für die Problemlösung,
aufgrund des Gesetzes vom abnehmenden Grenzertrag der Belohnung, sinkt
(vgl. dazu auch schon Abschnitt 6.1 und die fünf Hypothesen von George C.
Homans).
Aus diesen Bedingungen läßt sich eine interessante übergreifende Hypothese ableiten: Die Verstärkung selbst ist eine Art von mentaler Selektion
durch den Akteur. Der lernende Akteur „entscheidet“ sich innerlich aufgrund
erlebter Ereignisse und Zusammenhänge für eine bestimmte Kausal-
372
Situationslogik und Handeln
Hypothese darüber, für welche Reaktion es wohl am nützlichsten erschiene,
sie – sozusagen – abzuspeichern. Es ist genau die Reaktion, für die der Wert
der Belohnung einerseits und die Wahrscheinlichkeit, daß die Belohnung auch
wirklich eintritt, gemessen an der Häufigkeit des bisherigen „Erfolges“ und an
der zeitlichen Kontiguität, andererseits am höchsten sind. Auf der Grundlage
der allgemeinen Prinzipien der Logik der Selektion nach der WE-Theorie wäre dann zu erwarten, daß solche Stimulus-Response-Verbindungen (S-RVerbindungen) vorzugsweise verstärkt werden, bei denen das Produkt des
Wertes der Belohnung und der Erwartung, daß sie auch nach der Reaktion tatsächlich auftrete, am höchsten ist (siehe dazu noch unten zum Phänomen des
latenten Lernens in Abschnitt 9.4).
Generalisierung und Differenzierung
Über das Lernen werden bestimmte Elemente der Situation – die Stimuli bzw.
die Verstärker – und bestimmte Reaktionen miteinander verbunden. Keine Situation und keine Reaktion ist aber mit einer anderen vollständig identisch.
Und viele Situationen und Reaktionen sind zwar verschieden, weisen aber
dennoch mehr oder weniger starke Ähnlichkeiten auf. Leicht ist vorstellbar,
daß diejenigen Organismen besonders im Vorteil sind, die es angesichts dieser
„Komplexität“ der Welt geschafft haben, alle ihnen zuträglichen S-RVerbindungen zu selegieren, die zwar nicht identisch, aber mehr oder weniger
ähnlich sind. Und andererseits: die S-R-Verbindungen zu unterscheiden, die
sich in ihrer Zuträglichkeit deutlich unterscheiden, auch wenn sie gemeinsame
oder ähnliche Merkmale aufweisen. Der erste Vorgang wird als Generalisierung, der zweite als Differenzierung bezeichnet. Generalisierung und Differenzierung können sich auf die Stimuli einerseits und auf die Reaktionen andererseits beziehen.
Stimulus-Generalisierung liegt dann vor, wenn bestimmte Reaktionen auf
eine Klasse ähnlicher Situations-Elemente zu dem ursprünglich verstärkten
Stimulus erfolgen: Der Hund liebt nicht nur Glockentöne und das Ticken eines Metronoms, sondern auch Klavierspiel und ein Mandolinen-Orchester.
Ein verständigungsbereiter Diskurs wird nicht nur beim Ertrotzen eines Spielzeugautos, sondern auch für Speiseeis, das Ansehen von Pornofilmen und eine
unstandesgemäße Heirat versucht. Meist wird eine verstärkende Wirkung eines (belohnenden) Stimulus in dem Maße kleiner, wie die Ähnlichkeit zum
„eigentlichen“ Stimulus abnimmt.
Das Phänomen der Generalisierung gilt auch für die Wirksamkeit der verstärkenden Stimuli selbst: für die Belohnungen und damit für die Wirksamkeit
Lernen
373
von Verstärkungen. Ähnliche Arten der Belohnung verstärken eine Reaktion
auch, aber ebenfalls in dem Maße schwächer, wie der verstärkende Stimulus
vom ursprünglichen Stimulus abweicht: Statt eines Spielzeugautos tut es –
manchmal –auch ein kleines Flugzeug, und statt Speiseeis tun es zur Not auch
Dickmanns Mohrenköpfe.
Es gibt in diesem Zusammenhang eine interessante Klasse von Verstärkern, die geeignet sind, ganz verschiedene S-R-Verbindungen herzustellen,
weil sie über alle Menschen und über alle Situationen hinweg als belohnend
und wertvoll empfunden werden. Derartige Verstärker werden auch als generalisierte Verstärker bezeichnet. Zu ihnen zählen unter anderem das Geld, die
Macht und die Liebe. Und der Grund dafür ist leicht nachvollziehbar: Wem
Geld, Macht oder Liebe nach einer Reaktion angeboten werden, der kann damit nahezu beliebige, ihm wertvolle Güter und Handlungen kaufen, erzwingen oder erpressen – unter Ausnutzung des Opportunismus, der Ohnmacht
oder der Passion des anderen. Onkel Dagobert liebt das Geld zwar offensichtlich um seiner selbst willen, aber viele andere akzeptieren es eben bereitwillig
und ganz zwanglos als „Belohnung“, auch wenn sie sonst sehr unterschiedliche Vorlieben haben.
An dieser Stelle wird aber bereits deutlich erkennbar, wie begrenzt die Lerntheorie zur Erklärung des menschlichen Handelns ist. Geld, Macht und Liebe „wirken“ als generalisierte „Verstärker“ keineswegs darüber, daß die Akteure erst einmal auf sie konditioniert werden müssen: Man „weiß“ vielmehr schon bald, daß Geld, Macht und Liebe hochwirksame Zwischengüter sind, über die man andere Akteure veranlassen kann, die eigentlich interessierenden
primären Objekte bereitzustellen. Es sind, um etwas vorwegzugreifen, generalisierte Medien
der Transaktion (vgl. dazu u.a. auch noch Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, und
Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Und wegen dieser „Nähe“ der
generalisierten Güter Geld, Macht und Liebe zu den primären Objekten der Begierde sind sie
auch für nahezu jedermann nützlich – auch bei sehr unterschiedlichen privaten „Präferenzen“
(vgl. dazu bereits Kapitel 3, sowie zur „kognitiven“ Interpretation von Verstärkern weiter unten Abschnitt 9.4).
Für die Reaktions-Generalisierung sind die Überlegungen ähnlich: Die Verstärkung bezieht sich auch auf einander ähnliche Reaktionen. Die ReaktionsWahrscheinlichkeit sinkt auch hier im Maße der Abweichung dieser Ähnlichkeit von der ursprünglichen Reaktion. Statt eines herrschaftsfreien und kompetenten Diskurses werden beispielsweise auch – mehr oder weniger ernst
gemeinte – Schmeicheleien und Versprechungen, aber – zunächst wenigstens
– keine Handgreiflichkeiten vorgebracht.
Stimulus-Differenzierung bedeutet, daß in einer Klasse von zunächst ähnlich erscheinenden Situationselementen bzw. Verstärkern genau die UnterMenge deutlich unterschieden wird, bei der ganz andere Erfahrungen gemacht
werden. Wenn der Pavlovsche Hund auf Glocken-, Triangel- und Hausgong-
374
Situationslogik und Handeln
Schläge immer das Stück Fleisch, bei Klavier- und Spinett-Anschlägen aber
einen Stromschlag erhält, dann wird er diese „Feinen Unterschiede“ schon
bald bemerken, peinlich genau beachten und entsprechend reagieren. Und analog kommt es auch zu einer Reaktions-Differenzierung: Wenn Diskurse nur
dann auch zur Verständigung führen, wenn ansonsten die Stimmung gut und
die Ressourcen der Eltern reichlich sind, dann wird das rationale Trotzköpfchen genau darauf achten, ob diese Bedingungen gegeben sind, wenn es etwas
erreichen will.
Generalisierung und Differenzierung von Stimuli und Reaktion sind wichtige Prozesse der evaluativen und kognitiven Ordnung der subjektiven Welt.
Beides birgt Risiken und ist nicht ohne Kosten zu haben. Wer Situationen und
Reaktionen generalisiert, spart viel Aufwand einer genaueren SituationsAnalyse und Reaktions-Selektion. Wer aber zu grob generalisiert, vergibt
auch Chancen und kommt möglicherweise in (tödliche) Gefahren, wie der Eskimo, der eben nicht zweiundzwanzig Schneesorten unterscheiden kann und
deshalb in die Gletscherspalte gefallen ist. Wer Situationen und Reaktionen
differenziert, reagiert sicher effizienter. Aber nicht immer lohnt dieser Aufwand – wie für den normalen Mitteleuropäer, der nur Neu- und Pappschnee
unterscheiden können muß.
Am günstigsten wäre es daher wohl, eine „optimale“ Mischung von Generalisierung und Differenzierung zu selegieren. Und zwar so, daß der jeweilige
Ertrag der Verfeinerung von Situations-Unterscheidung und Reaktionsgenauigkeit die Kosten genau aufwiegt, die diese Differenzierung mit sich bringt.
Wahrscheinlich ist jene Aufteilung der „Strukturen der Lebenswelt“ die
klügste, bei der der „relevante“ Nahbereich sehr genau differenziert, und der
immer weniger wichtige Fernbereich des Alltagshandelns immer gröber und
immer generalisierender betrachtet wird. Jedenfalls kommt Alfred Schütz zu
dem Ergebnis, daß genau dies der Hintergrund der ganz besonderen Rationalität des Wissens in der alltäglichen Lebenswelt sei. Die Lerntheorie sagt, daß
eine solche optimale Aufteilung in Differenzierung und Generalisierung die
Folge eigener Verstärkungs-Erfahrungen sei. Schön wäre es freilich, wenn die
Problemlösungen des Alltags darauf nicht festgelegt wären und wenn es flexiblere und bei einem Fehler weniger letale Formen der Selektion einer
optimalen Mischung von Generalisierung und Differenzierung gäbe.
Extinktion
Einmal erlernte Reaktionen können auch wieder abgeschwächt werden. Die
Lerntheorie spricht in diesem Fall auch von Extinktion, von der Löschung der
Lernen
375
S-R-Verbindung also. Die Löschung erfolgt im wesentlichen ganz analog zur
Verstärkung: Wenn ein zuvor stets belohntes Verhalten nicht mehr belohnt
wird, dann verschwindet allmählich die Stimulus-Reaktions-Verbindung. Bei
einer nachhaltig auftretenden Bestrafung geht die Löschung natürlich besonders rasch voran.
In diesem Zusammenhang wurde ein äußerst interessantes Phänomen
beobachtet: die sog. Löschungsresistenz bei intermittierender Verstärkung.
Damit ist das Folgende gemeint: Wenn auf eine Reaktion in einer bestimmten
Situation nicht immer, oder nicht regelmäßig, eine Belohnung erfolgt war,
dann braucht es eine sehr lange Zeit, bis ein so „intermittierend“ verstärktes
Verhalten wieder verschwindet. Glücksspieler, Angler und mittelmäßige
Schlagersänger, die einmal einen großen Hit und irgendwann noch einmal
einen kleineren hatten, wissen, was gemeint ist. In einem Experiment mit
Ratten beispielsweise wurden diese durch intermittierende Verstärkung dazu
gebracht, bis zu zweitausendmal einen Hebel zu drücken – auch wenn sie nur
mit einem zuvor konditionierten Summen und mit dem Verschwinden eines
Hindernisses, aber nicht mehr mit einem Primär-Verstärker belohnt wurden.6
Den Fluch der intermittierenden Verstärkung teilen diese Ratten unter
anderem mit Jean Löring und seiner glücklosen Fortuna, die ab und zu ein Pokalendspiel oder dergleichen erreicht, und mit dem normalen Wissenschaftler,
der sich seiner Erfolge auch nicht sicher ist und dem nichts Schlimmeres
passieren kann, als ab und zu einmal eine gute Besprechung der Ergebnisse
seiner Bemühungen zu erhalten:
„Der schöpferisch Arbeitende, der, ohne sich Ruhe zu gönnen, tätig ist und bisweilen Belohnungen in Gestalt von Anerkennungen oder Titeln erhält, erinnert in geradezu verblüffender
Weise an das Verhalten der Ratten in den Experimenten von Zimmerman.“ (Malewski 1977,
S. 70).
So ist es. In der Tat. Gott sei’s geklagt.
Innere Konflikte
Eine Situation kann selbstverständlich auch widersprüchliche Elemente enthalten: Sie kann sowohl aus belohnenden wie aus bestrafenden Reizen bestehen. Und auch die Reaktionen können wiedersprüchliche Folgen haben: Es
können gleichzeitig Belohnungen und Bestrafungen mit ihr auftreten. In
derartigen Fällen tritt ein „Selektions“-Problem auf: Soll die widersprüchliche
Situation durch ein bestimmtes Verhalten geändert werden oder nicht? Und
6
Donald W. Zimmerman, Durable Secondary Enforcement. Method and Theory, in: Psychological Review, 64, 1957, S. 373-383.
376
Situationslogik und Handeln
tuation durch ein bestimmtes Verhalten geändert werden oder nicht? Und was
soll man tun, wenn die damit zu erreichende neue Situation genauso belohnend, genauso bestrafend oder genauso widersprüchlich ist? Alle diese Fälle
hatten wir bereits in Abschnitt 7.3 unter dem Problem des inneren Konfliktes
in einem anderen theoretischen Zusammenhang kennengelernt. Ähnlich wie
dort können drei Grundkonstellationen unterschieden werden: der Konflikt
zwischen zwei gleich belohnenden Situationen, die mit einer Reaktion zu erreichen sind, als Appetenz-Appetenz-Konflikt; der Konflikt zwischen gleich
bestrafenden Reaktionen als Aversions-Aversions-Konflikt; und der Konflikt,
der auftritt, wenn mit einer Reaktion eine Situation erreicht wird, die zugleich
als belohnend und bestrafend erlebt wird, der Appetenz-Aversions-Konflikt.
Ähnlich wie die Handlungstheorie sagt nun auch die Lerntheorie, daß bei
Konflikten das Verhalten von der relativen Stärke der jeweiligen „Tendenzen“
abhängt.
Eine interessante Einzelheit sei in diesem Zusammenhang noch berichtet: Bei Annäherung an
eine Situation, die sowohl belohnende wie bestrafende Elemente enthält, wächst die Tendenz
zur Vermeidung schneller als die Tendenz zur Annäherung. Als Folge davon gibt es einen
stabilen Abstand vom Ziel, der nicht unterschritten wird, weil dann die Furcht vor der Bestrafung die Belohnungserwartung überwiegt. Diese Asymmetrie von Verlust- und Gewinnerwartung entspricht im übrigen dem asymmetrischen Verlauf der Nutzen- und SchadensFunktionen bei Tversky und Kahneman, über die in Abschnitt 8.4 berichtet worden war.
Ansonsten werden gerade hier die große Ähnlichkeit zwischen den Aussagen
der Lerntheorie und der WE-Theorie erkennbar. Und das ist ja auch kein
Wunder: Die Belohnungen und Bestrafungen werden – für gewisse Reaktionen und unter bestimmten Reiz-Bedingungen der Situation – innerlich erwartet. Es wird die Reaktion „gewählt“, die den höchsten erwarteten Belohnungswert aufweist. Und wenn es Belohnungen und Bestrafungen gleichzeitig
gibt, dann wird das als ein unangenehmer innerer Konflikt erlebt. Es ist der
gleiche Konflikt, den jeder Käufer durchmacht, der ja nicht nur ein interessantes Produkt ersteht, sondern dafür auch seine Brieftasche plündern muß.
9.4
Lernen und Handeln
Einige Einzelheiten des Effektgesetzes und der Lerntheorie waren uns bereits
in Abschnitt 6.1 begegnet: Bei der Besprechung der fünf grundlegenden Verhaltenshypothesen von George C. Homans. Dort war auf eine – angeblich –
besondere Stärke der Lerntheorie gegenüber allen Theorien des Handelns hingewiesen worden: Daß sie den Erwerb und die Ausführung von Reaktionen in
einem Akt theoretisch zusammenführe: Mit dem Erlernen eines Verhaltens
Lernen
377
werde gleichzeitig die Wahrscheinlichkeit seines Auftretens in einer Situation
erklärt. Daher glaubte Homans, mit seinen fünf Hypothesen nicht nur das
Handeln seines Anglers, sondern auch das Erlernen von dessen Erwartungen
und Bewertungen erklärt zu haben. Aber ist es ratsam, den Erwerb der Bewertungen und der Erwartungen und die Selektion des Handelns in eine Theorie
unterzubringen? Sehen wir uns zuvor einmal an, was der Mensch – und andere „intelligente“ Lebewesen – über das bloße „Reagieren“ hinaus noch können.
Das S-R und das S-O-R-Modell
Das klassische Konditionieren, aber auch das Reagieren nach dem instrumentellen Lernen sieht äußerlich wie eine reichlich passive Angelegenheit des
Organismus aus: Allein die zeitliche Kontiguität von neutralen und von primären Stimuli entscheidet, welchen Wert die neutralen Stimuli erhalten und
wie der Organismus in bestimmten Situationen reagiert. Der Organismus
selbst tut anscheinend nichts Besonderes dazu: Die Situation bzw. der Stimulus S löst die Reaktion R unmittelbar und reflexartig aus. Der Akteur reflektiert nicht weiter, sondern „reagiert“ nach Maßgabe seiner VerstärkungsBiographie und bei Auftreten des entsprechenden Stimulus. Das Modell der
unmittelbaren, passiven Reaktion R auf einen Stimulus S wird auch als S-RModell bezeichnet (siehe Abbildung 9.3; vgl. dazu bereits Abschnitt 6.1).
Dieses Reflex-Modell des Verhaltens als Grundlage soziologischer Erklärungen ist in der „handlungstheoretischen“ Soziologie immer sehr skeptisch
betrachtet worden. Schon bei der einfachsten Konditionierung ist der Organismus ja nicht unbeteiligt. Sekundäre Verstärkungen erfolgen nur insoweit,
als die anderen Funktionen des Organismus nicht beeinträchtigt werden. Die
Internalisierung von Bewertungen muß daher immer auch schon als eine Selektion durch den Organismus selbst angesehen werden – und nicht nur als die
schiere kausal ablaufende „Prägung“ aufgrund einer äußerlichen Mechanik.
Auch das Lernen ist, so können wir festhalten, eine Aktivität des Organismus.
Er „entscheidet“ sich innerlich, was er übernimmt und was nicht. Und dann
„entscheidet“ er sich davon noch einmal unabhängig, ob er in einer bestimmten Weise in einer Situation reagiert oder nicht.
378
Situationslogik und Handeln
Stimulus (S)
Reaktion (R)
Abb. 9.3: Das S-R-Modell der Verbindung von Situation und Reaktion
Kurz: Der Organismus mit seinem Gedächtnis, aber auch mit seiner Fähigkeit
zur Wahrnehmung und Interpretation von Symbolen und von auch gänzlich
neuen Situationselementen, zum logischen Schließen und zur Bildung von
Regeln, zu Kreativität und Findigkeit, sowie zur „Wahl“ zwischen Alternativen bildet eine intervenierende Instanz zwischen dem Stimulus der Situation
und der Reaktion. Das entsprechende Modell, das dies ausdrücklich berücksichtigt, wird das S-O-R-Modell genannt, weil sich der „Organismus“ (als
„O“) zwischen den Stimulus „S“ und die Reaktion „R“ (aus Abbildung 9.2)
schiebt.
Stimulus (S)
Reaktion (R)
Organismus (O)
Abb. 9.4: Das S-O-R-Modell der Verbindung von Situation und Reaktion
Der wichtigste Unterschied des S-O-R-Modells zum einfachen S-R-Modell ist
der, daß damit systematisch der Erwerb von Eigenschaften und die Ausführung einer Reaktion unterschieden werden. Es ist – so sei doch angemerkt –
genau die Unterscheidung, die auch das Grundmodell der soziologischen Erklärung macht. Die Verbindung zwischen Situation und Reaktion erfolgt über
zwei Schritte: von der Situation auf den Akteur und vom Akteur auf das Handeln. Das S-R-Modell behauptet dagegen einen Kurzschluß: Die Reaktion
folge unmittelbar und ohne jedes selektierende Zutun des Organismus.
Lernen
379
Latentes Lernen
Mit dem S-O-R-Modell wird systematisch zwischen dem Erwerb von Bewertungen und Erwartungen und der Ausführung eines Handelns unterschieden.
Das S-R-Modell kennt – so wie George C. Homans mit seiner Verhaltenstheorie – diese Unterscheidung nicht. Sie wurde zuerst von Edward C. Tolman
vorgeschlagen, der ja auch einen der wichtigsten Beiträge zur Entwicklung
der WE-Theorie geliefert hat. Er wurde dazu von einem Ergebnis angeregt,
das den sehr behavioristisch gesonnenen Lerntheoretikern seiner Tage größtes
Kopfzerbrechen bereitete: das Phänomen des latenten Lernens.
Der Psychologe Hugh C. Blodgett stellte in einem im Jahre 1929 durchgeführten Experiment
fest, daß hungrige Ratten, die bei jedem Versuch mit Futter belohnt wurden, bei ihren Durchgängen durch ein Labyrinth eine typische allmähliche Abnahme von „Fehlern“ und eine Verringerung der Suchzeit aufwiesen.7 Andere Ratten wurden ohne Futterbelohnung durch das
Labyrinth geschickt. Diese hatten, weil sie ja kein richtiges Ziel hatten, nur eine sehr geringe
Abnahme bei Fehlern und Suchzeiten im Durchgang durch das Labyrinth. Wenn man diesen
Ratten anschließend aber auch eine Futterbelohnung anbot, dann zeigten sie bereits beim ersten Versuch nach der ersten Belohnung eine drastische Verminderung in den Fehlern und den
Suchzeiten (vgl. Abbildung 9.5).
Die Gruppe 1 in dem Experiment waren Ratten, die sofort belohnt wurden,
Gruppe 2 bestand aus Ratten, die nach dem 7. Tag, und Gruppe 3 aus solchen,
die nach dem 3. Tag belohnt wurden, und das Ergebnis: Je länger die Ratten
ihr Terrain auch ohne besonderen Grund erkundet hatten, um so steiler war ihre Lernkurve.
Was war geschehen? Offensichtlich war der Erwerb einer Art von kognitiver Landkarte des Labyrinthes nicht davon abhängig, ob die Ratten darauf
verstärkt wurden oder nicht. Vielmehr hatten sie sozusagen im Vorbeigehen
ein „latentes“ Wissen erworben, das sie dann nutzen konnten, als es darauf
ankam. Das scheinbar nutzlose Umherstreifen war anscheinend doch ganz
nützlich gewesen. Nach dem Effektgesetz hätte etwas ganz anderes herauskommen müssen: Die später „verstärkten“ Ratten hätten eine ähnliche Reaktionsfunktion des Fehlerabfalls haben müssen – nur eben später beginnend.
Hier aber vermindern sich – nach der unverstärkten Phase des latenten Lernens – die Fehler schlagartig schon nach der ersten Belohnung. Man könnte es
auch so sagen: Die Ratten haben „latent“ eine Alltagstheorie erworben, die sie
bei einer Änderung der Opportunitätsstrukturen sogleich findig und intelligent
einsetzen und mit der sie eine unmittelbare Maximierung des erwarteten Nutzens erreichen. Schon Ratten „verhalten“ sich also offensichtlich nicht (im
7
Hugh C. Blodgett, The Effect of the Introduction of Reward upon the Maze Performance
of Rats, in: University of California Publications in Psychology, 4, 1929, S. 113-134.
380
Situationslogik und Handeln
Sinne der „Lern“-Theorie), sondern „handeln“, indem sie ein latent erworbenes Wissen für die Nutzung der Möglichkeiten in der Situation flexibel verwenden.
3,0
Fehlerzahl
2,5
2,0
Gruppe I
Gruppe III
Gruppe II
1,5
1,0
0,5
0
0
1
2
3
4
5
6
7
8
9
Anzahl der Tage
Abb. 9.5: Das Phänomen des latenten Lernens (nach Blodgett 1929, S. 120)
Die Reflexion der Reaktion
Die wichtige Besonderheit ist also die, daß sich eigenständige kognitive und
evaluative Prozesse zwischen die Situation und die Selektion der Reaktion
schieben. Der „Organismus“ im S-O-R-Modell ist nur eine Kurzbezeichnung
für alle diese Prozesse. In der WE-Theorie wird der „Organismus“ über die
Erwartungen und Bewertungen sowie über die Evaluation und schließliche
Selektion einer Alternative berücksichtigt. In der interaktionistischen Rollentheorie ist damit die Subjektivität, die Identität, die Kombination der ver-
Lernen
381
schiedenen „Me’s“ und des „I“ der Person gemeint. Die entwicklungspsychologische Sozialisationstheorie spricht vom moralischen Bewußtsein, das sich
zwischen die Situation und die Ausführung eines Tuns legt, und Jürgen Habermas, der gute, von der Fähigkeit zu Reflexion und kommunikativer Vergewisserung. Menschen sind, wie in groben Zügen auch schon die Tiere, die
etwa Edward C. Tolman oder H. C. Blodgett untersuchten, eben keine blinden
Deppen, keine willenlosen Marionetten und keine verantwortungslosen Automaten.
Ausführung und Erwerb
In der handlungstheoretisch orientierten Soziologie ist die von Edward C.
Tolman zuerst vorgenommene Trennung von Erwerb von Erwartungen und
Bewertungen und der Ausführung einer Handlung eine geläufige Meinung.
Alfred Schütz nennt – zum Beispiel – die Motive, die bei der Ausführung einer Handlung bedeutsam sind, bezeichnenderweise dann auch Um-zu-Motive:
Die nicht verstärkten Ratten liefen nach der ersten Belohnung besonders rasch
durch das Labyrinth, „um“ schnell an das begehrte Futter „zu“ gelangen. Ein
Mörder erschlägt sein Opfer, „um“ – mangels anderer Chancen – rascher an
einen Geldbetrag „zu“ gelangen. Und dazu muß das Produkt von Wissen und
Anreiz vergleichsweise hoch sein, und die Situation muß auch die entsprechenden Chancen bieten. Dies ist der „a-historische“, immer geltende Teil der
Logik der Selektion.
Davon deutlich zu unterscheiden ist die „historische“ oder „biographische“
Frage nach dem Erwerb der Erwartungen und Bewertungen im Laufe des Lebens und der Sozialisation. Dieser Erwerb geschieht sicher auch über Lernen:
latentes Lernen (für die Erwartungen und die „cognitive map“ allein schon
durch Zusehen und Wahrnehmen), instrumentelles Lernen (mindestens als
Folge einer durch die Belohnungen forcierten und gezielten Aufmerksamkeit
für die Wirksamkeit der Alternativen) und mitunter durchaus auch über das
klassische Konditionieren (insbesondere für den Erwerb der Bewertungen und
Präferenzen). Die so entstandenen Muster an Erwartungen und Bewertungen
nennt Alfred Schütz die Weil-Motive. Sie umschreiben die Ergebnisse der
Lernbiographie eines Akteurs: das latente Wissen um die inneren Verschlungenheiten des Labyrinthes bei den Ratten; oder die mühsam im Rahmen des
Absitzens von Vorstrafen erworbene Kenntnis von Techniken des Raubmordes, ohne die eine solche (Un-)Tat ein höchst unvernünftiges und ineffizientes
Unterfangen wäre, für das auch bei entsprechenden Gelegenheiten in einer Si-
382
Situationslogik und Handeln
tuation das EU-Gewicht für den Mord und damit das entsprechende Um-ZuMotiv viel zu gering geblieben wäre.
Mit dem Phänomen des latenten Lernens wurde selbst für das Verhalten
von Ratten nachgewiesen, daß sie viel findiger und reflektierter agieren als
die (behavioristische) Lerntheorie es sich hat träumen lassen. Offensichtlich
ist bei allen einigermaßen aufnahmefähigen Organismen die „Penetration“ der
Situation in den „Organismus“ keineswegs als eine passive Konditionierung,
Prägung oder Verstärkung zu denken, sondern als ein selbst, mindestens in
gewissem Grade, vom Akteur gesteuerter und mehr oder weniger selektiv gehandhabter Vorgang, eine Art von Selbstsozialisation also.
Imitation
Das latente Lernen besteht in einer Art von en passant-Aufnahme von Informationen über die jeweilige Umgebung. Diese Informationen werden aber
nicht immer auch genutzt, sondern erst, wenn es sich „lohnt“. Und sie werden
ganz offenkundig auch ohne jede weitere „Verstärkung“ aufgenommen. In einer Situation könnte es zum Beispiel auch andere Akteure geben, die sich vor
dem Hintergrund bestimmter problematischer Situationen ganz erfolgreich
verhalten. Die von diesen „Modellen“ der Problemlösung verfolgten Strategien könnte sich ein Akteur, der „Beobachter“, schon einmal – mehr oder weniger gezielt – für spätere Verwendungen merken. Das Verhalten des Modells
kann der Beobachter also wahrnehmen und – ohne weitere eigene Erfahrungen – für Versuche einer eigenen, erfolgreichen Problemlösung in vergleichbaren Situationen nutzen.
Ein derartiges Verhalten in Orientierung an Beobachtungen eines Modells
wird auch als Imitation bezeichnet. Es kann allgemein als Ergebnis des Lernens aus den Erfahrungen anderer, als „stellvertretendes“ Lernen verstanden
werden.
Die Erklärung von Imitationen wurde zunächst ganz im Rahmen der herkömmlichen Lerntheorie und des Effektgesetzes versucht: Die Beobachter
müssen auf das imitative Verhalten hin verstärkt werden. Die Psychologen
Neal E. Miller und John Dollard haben zum Beispiel in verschiedenen Experimenten in der Tat herausgefunden, daß Ratten imitierende Reaktionen auf
das Verhalten von Modell-Ratten dann verstärkt zeigten, wenn sie dafür belohnt wurden, daß sie die Modelle genau imitierten.8 Ratten, die aber dafür
8
Vgl. Neal E. Miller und John Dollard, Social Learning and Imitation, New Haven, Conn.,
und London 1941, S. 109ff.
383
Lernen
belohnt wurden, daß sie genau das Gegenteil von dem taten, was ihre Modelle
zeigten, ließen die imitierenden Reaktionen alsbald sein (vgl. Abbildung 9.6).
100
80
Imitation belohnt
imitierende 60
Reaktion
in %
40
Nicht-Imitation belohnt
20
0
2.
4.
6.
8.
10.
12.
14. Tag
1. Versuch am
ersten Tag
Abb. 9.6: Die Verstärkung imitierender Reaktionen bei Ratten
(nach Miller und Dollard 1941, S. 110)
Noch in durchaus nicht veralteten Lehrbüchern der Sozialpsychologie wird
dieses Ergebnis als ein Beleg dafür gewertet, daß die „Versuchstiere auf die
Imitation anderer Versuchstiere konditioniert werden können.“9 Wäre aber
nicht die folgende Erklärung viel plausibler und der wirklich erstaunlichen
Intelligenz der Ratten viel angemessener? Nämlich: Die Ratten sind nicht
konditioniert worden, sondern haben nur relativ schnell aufgrund ihrer Beobachtungen eine Regel erschlossen, unter welchen Bedingungen Erfolg oder
Mißerfolg zu erwarten sind. Und die Orientierung an dieser Regel, nicht aber
die mechanische Konditionierung auf ein fixiertes Verhalten, entscheidet, ob
das Verhalten eine Imitation oder eine Nicht-Imitation ist. Das, was nach
außen wie eine Konditionierung aussieht, ist – mindestens zu einem
9
So: Martin Irle, Lehrbuch der Sozialpsychologie, Göttingen, Toronto und Zürich 1975, S.
236; Hervorhebung so nicht im Original.
384
Situationslogik und Handeln
erheblichen Teil – nichts anderes als die Oberfläche der intelligenten
Herausbildung und Selektion einer Regel, die aber nur dann angewandt wird,
wenn der Beobachter des Modells, die kluge Ratte, sich davon etwas
verspricht.
Die Theorie der Imitation ist später immer stärker in diese aktive, kognitive
und intelligente Richtung hin verändert worden: Es werden Zeichen, Hypothesen, Rezepte, cognitive maps und das Handeln anderer beobachtet und
wahrgenommen, in Regeln übersetzt und durch die eigenen Handlungen dann
– mehr oder weniger – als „richtig“ oder als „falsch“ erlebt und somit „gelernt“. Das instrumentelle Lernen fungiert mehr als der letzte harte Test dieser
Regeln am eigenen Leibe denn als eine „Verstärkung“ in dem passivistischen
Sinne des Effektgesetzes.
Lernen am Modell
Dieses alles bezieht sich aber immer nur auf den Erwerb der kognitiven Strukturen. Die Ausführung der eigentlichen Handlung ist – so haben wir gesehen –
davon logisch und empirisch deutlich abgetrennt. Diese Trennung wird in der
Theorie des Lernens am Modell bzw. des Lernens durch Beobachtung, wie sie
etwa auf O. Hobard Mowrer oder auf Albert Bandura und Richard H. Walters
zurückgeht, auch experimentell nachhaltig bestätigt.10
Beispielsweise:11 Kindern wurden verschiedene Modelle aggressiven Verhaltens vorgestellt.
Drei Gruppen wurden unterschieden: Eine Gruppe wurde dafür belohnt, daß sie das jeweilige
Modell komplett imitierte. Eine andere Gruppe wurde nicht belohnt, aber auch nicht bestraft.
Und die dritte Gruppe wurde für das Imitieren bestraft. Es zeigte sich – einigermaßen erwartungsgemäß – daß bei Bestrafung der Anteil der Imitationen deutlich absinkt. Anschließend
wurde untersucht, ob sich die Kinder auch noch an ihre jeweiligen Handlungen erinnern
konnten. Und es zeigte sich nun, daß sich die Kinder auch bei Bestrafung der Imitation sehr
wohl gemerkt hatten, wie das Verhalten der „Modelle“ ausgesehen hatte: Die „richtigen“ Erinnerungen bei den Kindern aus der „bestraften“ Gruppe waren sogar leicht höher als bei den
beiden anderen Gruppen. Mit anderen Worten: In der ersten Phase des Experimentes wurden
die Modelle auch dann erworben, wenn es eine negative Verstärkung, eine Bestrafung gab.
10
11
O. Hobart Mowrer, Learning Theory and the Symbolic Processes, New York und London
1960, Kapitel 3: Learning Theory and Language Learning: The Problem of ‚Imitation‘, S.
70-116; Albert Bandura und Richard H. Walters, Social Learning and Personality Development, New York u.a. 1963, S. 52ff.
Das folgende Experiment berichtet Albert Bandura, Influence of Models‘ Reinforcement
Contingencies on the Acquisition of Imitative Responses, in: Journal of Personality and
Social Psychology, 1, 1965, S. 589-595.
Lernen
385
Das Ergebnis belegt und bestätigt alle die Resultate die sich auch schon bei
den Ratten-Experimenten zum latenten Lernen so nachhaltig zeigten: Situationen wirken keineswegs nur über das unmittelbare Erleben und über – mühselige – Verstärkungen oder Extinktionen, sondern auch über Wahrnehmungen,
über (für das Erleben: stellvertretende) Zeichen und Symbole, über „Modelle“, die beobachtet, intelligent und kreativ „interpretiert“ und keineswegs
sklavisch nachgeäfft werden. Und die Ausführung von Handlungen ist –
schon bei Ratten und kleinen Kindern – dann eine noch ganz andere Angelegenheit von manchmal erschreckender Raffinesse, strategischer Impulshemmung und Findigkeit.
Imitation und Lernen am Modell haben, auch darauf waren wir in Abschnitt 6.1 schon gestoßen, einige gewaltige Vorteile für die flexible und kostensparende Anpassung gerade bei sich rasch wandelnden Umgebungen. Die
Nachahmung eines Modells, das offensichtlich kompetent ist und weiß, wie
man in einer selbst undurchschaubaren Umgebung erfolgreich agiert, erspart
eigene mühselige Versuchs-und-Irrtums-Prozeduren. Und wenn das Modell
offensichtlich wenig Erfolgversprechendes tut, dann ist es vernünftig, ihm
nicht mehr zu folgen. Wenn ein Modell sich sogar systematisch irrt, dann hilft
die Rekonstruktion des Algorithmus dieses Irrtums bei der Entwicklung einer
eigenen Regel für ein Handeln, das das Modell nur als Taktgeber für eine
ganz eigene Regel ausnutzt. Von blinder Imitation kann dann sicher keine Rede mehr sein, wohl aber von geschickter Ausnutzung der verfügbaren Informationen der Situation für die eigenen Zwecksetzungen.
Natürlich ist das Beobachten und auch das intelligente Nachahmen von
Modellen nicht ohne Risiko des Scheiterns, wenn man es selbst ausprobiert.
Das ist der Preis für die Flexibilität und für die Kostenersparnis gegenüber der
Sicherheit der eigenen Erfahrungen. Konditionierungen und instrumentelles
Lernen überzeugen die Organismen sehr zuverlässig, aber langsam. Imitation
und Lernen am Modell geht schnell, relativ preiswert, aber immer mit dem
Risiko der Unsicherheit, daß das Rezept nicht (sofort) gelingt. Und sei es:
weil die Durchführung selbst gewisse Fertigkeiten voraussetzt, deren Motorik
erst einmal mühselig gelernt werden muß.
Lernen als „Entscheidung“
Spätestens mit dieser Unsicherheit wird die Orientierung an Modellen, denen
man folgen möchte, aber auch eine Frage der Selektion: Soll man eigene Erfahrungen machen oder ein Modell imitieren? Und wenn Imitation: Welches
Modell soll es denn sein? Damit sind wir an einem wichtigen Punkt ange-
386
Situationslogik und Handeln
langt: Die „Interpenetration“ von Situation und Akteur erscheint selbst –
schon von der Frage der wirkenden Mechanismen her gesehen – als ein Vorgang der aktiven Selektion von Erwartungen und Bewertungen durch den Akteur, der zwar von der Ausführung der overten Handlungen unabhängig, aber
nach der gleichen Logik der Selektion erfolgt wie diese. Anders gesagt: Akteure „entscheiden“ sich innerlich auch für oder gegen die Abspeicherung von
Erfahrungen und für oder gegen bestimmte Modelle und Orientierungen ihres
„Verhaltens“.
Die Frage nach einer „Entscheidung“ zwischen alternativen Modellen
drängt sich dann besonders nachhaltig auf, wenn die Welt nicht mehr einfach
strukturiert ist und – etwa – nur aus Helden und Erfolgsmenschen einerseits
oder aus Schurken und Versagern andererseits besteht, sondern wenn es verschiedene und widersprüchliche Modelle gibt und wenn deren „Erwartungswert“ nicht eindeutig in die eine oder andere Richtung weist.
Beispielsweise: Ein Modell ist sehr zuverlässig, erreicht aber nur mäßige Erfolge. Ein anderes
Modell hat nicht immer Erfolg, wenn aber ein Erfolg eintritt, dann ist dieser sehr groß. Ein erfolgreiches und zuverlässiges Modell zeigt ein Verhalten mit einem hohen Schwierigkeitsgrad, bei dem die erfolgreiche Imitation unwahrscheinlich erscheint. Und ein anderes Modell
scheint leicht zu imitieren, aber der Ertrag ist offenkundig nur recht gering. Und so weiter.
Woran soll man sich dann halten? Die Antwort ist nicht schwer: Speichere das
Modell des Handelns in einer bestimmten Situation ab, das für die Lösung eines Problems dort am nützlichsten und am erfolgreichsten erscheint! Kurz:
Maximiere auch beim Lernen die Wert-Erwartung der für das Lernen möglichen Alternativen! Die WE-Theorie ist also offenbar wirklich eine ganz allgemeine Angelegenheit. Sie kann sogar das Entstehen ihrer eigenen Randbedingungen erklären helfen: die Übernahme bestimmter Bewertungen und Erwartungen. Sie ist eine Super-Theorie. Super!
Kapitel 10
Die „Logik“ der Situation
Der besondere Charme der soziologischen Methode lag in der Vorstellung,
soziale Strukturen unmittelbar aus sozialen Strukturen über gewisse soziologische Gesetze erklären zu können: Die protestantische Ethik erschafft den
Kapitalismus, die Industriegesellschaft die Kleinfamilie und der Klassenkonflikt die Revolution, sowie letztendlich die klassenlose Gesellschaft – beispielsweise. Wir wissen inzwischen, daß die Suche nach solchen soziologischen Gesetzen eine etwas zu hoffnungsfrohe Vorstellung war. Wir wissen
aber auch, daß die soziologische Methode einen durchaus haltbaren und beachtenswerten Kern hatte: Es gibt – unter Umständen – eine „Logik“ der Entstehung sozialer Strukturen aus sozialen Strukturen. Nur: Sie geht ihren „logischen“ Weg nicht über den einen Schritt eines soziologischen Strukturgesetzes, sondern immer nur über die drei Schritte einer soziologischen Erklärung,
oft in längere Sequenzen hintereinander geschaltet. Wie eine solche, mit dem
Modell der soziologischen Erklärung aufgebaute, übergreifende „Logik“ der
Entstehung von Strukturen aus Strukturen aussieht, wird in dem nun folgenden Kapitel gezeigt. Beginnen wollen wir mit einer etwas genaueren Besprechung des Konzeptes der Situationslogik von Karl R. Popper, das wir ja in der
Einleitung schon kurz erwähnt hatten.
10.1 Das Konzept der Situationslogik
Unter Situationslogik wird von Karl R. Popper ganz allgemein die „logische“
Verknüpfung der gesellschaftlich strukturierten Handlungsumstände von Akteuren mit typischen Folgen des dadurch induzierten Handelns verstanden.1 Es
sind danach eben nicht die inneren Antriebe der Menschen, die die gesellschaftlichen Prozesse hervorbringen, sondern die – materiell, institutionell
1
Karl R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Band 2: Falsche Propheten. Hegel, Marx und die Folgen, 5. Aufl., München 1977 (zuerst: 1945), S. 114ff.
388
Situationslogik und Handeln
und kulturell geprägten – gesellschaftlichen Strukturen, und zwar über die dadurch strukturierten Interessen, Motive und Kognitionen der Menschen und
ihr daran wiederum „logisch“ anschließendes Handeln. Wenn man genauer
hinsieht, besteht das Konzept der Situationslogik exakt aus jenen drei elementaren Schritten, die den drei elementaren Schritten einer soziologischen Erklärung entsprechen. Wir gehen sie der Reihe nach durch.
Die Objektivität der situationellen Bedingungen
Der erste Aspekt des Konzeptes der Situationslogik ist die materiell, institutionell und kulturell bestimmte objektive „Logik der Situation“, an der die Akteure ihr Handeln orientieren. Die erste Aufgabe der soziologischen Analyse
ist daher deren Rekonstruktion und Modellierung. Sie bedeutet bereits ein
„Verstehen“ der Akteure – ohne sie selbst zu fragen! Denn dieses Verstehen
ist nach Popper ein grundsätzlich objektives Verstehen, da es an den objektiv
gegebenen Eigenschaften der Situation anknüpft. Das heißt aber,
„ ... daß es eine rein objektive Methode in den Sozialwissenschaften gibt, die man wohl als
die objektiv-verstehende Methode oder als Situationslogik bezeichnen kann. Eine objektivverstehende Sozialwissenschaft kann unabhängig von allen subjektiven oder psychologischen
Ideen entwickelt werden. Sie besteht darin, daß sie die Situation des handelnden Menschen
hinreichend analysiert, um die Handlung aus der Situation heraus ohne weitere psychologische Hilfe zu erklären. Das objektive ‘Verstehen’ besteht darin, daß wir sehen, daß die Handlung objektiv situationsgerecht war.“2
Mit dem Hinweis auf das objektive Verstehen wird betont, daß es nicht notwendig und nicht ratsam ist, bei der Beschreibung der Situation auf die Subjektivitäten und die individuellen Ideosynkrasien der Menschen einzugehen,
sondern nur die „objektiven“ Merkmale der Situation zu betrachten, die für
das Handeln der Menschen unverrückbare Gegebenheiten auch dann sind,
wenn die Menschen dies einstweilen nicht sehen oder nicht wahrhaben wollen. Alle geltenden sozialen Regeln – Normen, Verbote, rechtliche Bestimmungen – gehören dazu, ebenso wie die eher materiellen oder technischen
Beschränkungen und Möglichkeiten des Handelns und die kulturellen Rahmungen und Strukturierungen der Definition der Situation. In Teil A haben
wir diesen Schritt der „Objektivierung“ der Definition der Situation ausführlich besprochen, insbesondere im Zusammenhang mit dem Konzept der sozialen Produktionsfunktionen (vgl. dazu gleich auch noch den Abschnitt 10.2).
2
Karl R. Popper, Die Logik der Sozialwissenschaften, in: Theodor W. Adorno u.a., Der
Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, 10. Aufl., Darmstadt und Neuwied 1982
(zuerst: 1969), S. 120; Hervorhebungen im Original.
Die „Logik“ der Situation
389
Die Trivialität des situationsgerechten Handelns
Der zweite Teil des Argumentes von der objektiven Kraft der Situationslogik
bezieht sich auf die im obigen Zitat zuletzt angesprochene Selektionsregel eines „situationsgerechten“ Handelns. Popper meint, daß dieser Teil der Situationslogik derart selbstverständlich und so trivial sei, daß man ihn getrost vernachlässigen könne:
„Eine Erklärung aus der Situation allein ist natürlich nie möglich; wenn wir erklären wollen,
warum ein Mensch beim Überqueren der Straße den Fahrzeugen in bestimmter Weise ausweicht, so werden wir vielleicht über die Situation hinausgehen müssen; wir werden Bezug
nehmen müssen auf seine Beweggründe, auf einen ‘Instinkt’ der Selbsterhaltung, auf einen
Wunsch, Schmerzen zu vermeiden. Aber dieser psychologische Teil der Erklärung ist sehr oft
trivial im Vergleich zu der detaillierten Bestimmung seiner Handlungen durch das, was man
die Logik der Situation nennen könnte; ... .“ (Popper 1977, S. 122f.; Hervorhebung so nicht
im Original)
Die Regeln der situationsgerechten Selektion des Handelns sind für Popper
also derart offensichtlich, daß darüber nicht viel zu sagen wäre – außer der
ihm selbstverständlichen Annahme, daß die Logik der Selektion die „rationale“ Ausführung der Vorgaben der Logik der Situation beinhalte. Dies sei aber
keine „psychologische“ Gesetzmäßigkeit und keine empirische Eigenschaft
des menschlichen Organismus, sondern eine Vorgabe, die in das Konzept der
„Logik“ der Situation selbst eingeschlossen sei:
„Die Methode der Anwendung einer Situationslogik auf die Sozialwissenschaften beruht auf
keiner psychologischen Annahme über die Rationalität (oder eine andere hervorstechende Eigenschaft) der ‘menschlichen Natur’. Im Gegenteil: Wenn wir von ‘rationalem Verhalten’
oder ‘irrationalem Verhalten’ sprechen, so meinen wir damit ein Verhalten, das der Logik der
Situation entspricht oder nicht.“ (Ebd., S. 123; Hervorhebungen nicht im Original)
Die „Logik“ der Situation beruht nach Popper also in ihrem zweiten Schritt
gerade darauf, daß sich das Handeln der Menschen streng der Logik einer rationalen Selektion des Handelns fügt – und darüber dann fest der Logik der
objektiven Vorgaben der Situation folgt. Die Befolgung dieser Selektionsregel
sei daher keine Frage einer psychologisch verankerten, empirisch-deskriptiven
Eigenschaft der menschlichen Natur. Aus dieser fast schon apriorisch anmutenden Begründung für die rationale Logik der Selektion des Handelns ergibt
sich dann auch der Eindruck der Trivialität dieser Regel des Handelns: Alles,
was „rational“ ist, ist „logisch“. Und alles was „logisch“ ist, ist ja in gewisser
Weise tatsächlich selbstverständlich, apriori einsehbar und daher trivial und
eigentlich nicht weiter erwähnenswert. Und das stimmt ja auch: Wenn man
die situationalen Randbedingungen kennt und die Logik etwa der WE-Theorie
390
Situationslogik und Handeln
darauf anwendet, dann „folgt“ das Handeln einfach, trivial und logisch aus der
Berechnung der EU-Gewichte und der Maximierungsregel.
Die unintendierten Folgen des absichtsvollen Handelns
Popper nennt ein drittes Element der Situationslogik, von dem her gesehen es
geradezu absurd erscheinen muß, bei der Erklärung der sozialen Prozesse auf
die psychischen Eigenschaften der menschlichen Akteure Bezug zu nehmen:
Die sozialen Prozesse und gesellschaftlichen Institutionen sind so gut wie nie
das unmittelbare Ergebnis bewußter Planung, sondern „ ... in der Regel das
indirekte, unbeabsichtigte und oft unerwünschte Beiprodukt solcher Handlungen.“ (Ebd., S. 118; Hervorhebung so nicht im Original)
Diesen Aspekt der von den Vorlieben und der bewußten Planung unabhängigen Situationslogik verdeutlicht Popper unter anderem so:
„ ... zwar mögen manche Leute behaupten, eine Vorliebe für die Berge und die Einsamkeit sei
psychologisch erklärbar, aber die Tatsache, daß, wenn zu viele Menschen die Berge lieben,
sie dort keine Einsamkeit genießen können, ist keine psychologische Tatsache; ... .“3
Es ist also die unentrinnbare Eigenlogik der unintendierten Folgen, die dafür
sorgt, daß sich die sozialen Prozesse oft genug auch gegen die Absichten,
Wünsche und Bedürfnisse der Menschen nachhaltig durchsetzen – so wie es
Robert K. Merton mit der Geschichte von der Last National Bank geschildert
hat, bei der die ängstlichen Kunden ja sicher nicht wollten, daß die Bank
wirklich und ausgerechnet durch ihr Tun zusammenbricht. Gerade das Studium „der unbeabsichtigten Rückwirkungen unserer Pläne und Handlungen“
(Popper 1977, S. 119) sei die wohl wichtigste Aufgabe der Soziologie:
„Things always turn out a little bit differently. We hardly ever produce in social life precisely
the effect that we wish to produce, and we usually get things that we do not want into the bargain. Of course, we act with certain aims in mind; but apart from these aims (which we may
or may not really achieve) there are always certain unwanted consequences of our actions;
and usually these unwanted consequences cannot be eliminated. To explain why they cannot
be eliminated is the major task of social theory.“4
Zur Erklärung der unentrinnbaren Eigendynamik sozialer Prozesse nimmt
Popper dann an, daß sich die drei Elemente – die Objektivität der Situation,
3
4
Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, 4. Aufl., Tübingen 1974a (zuerst: 1960), S.
124; Hervorhebung nicht im Original.
Karl R. Popper, Towards a Rational Theory of Tradition, in: Karl R. Popper, Conjectures
and Refutations. The Growth of Scientific Knowledge, 5. Aufl., London 1974b (zuerst:
1963), S. 124; Hervorhebungen nicht im Original.
Die „Logik“ der Situation
391
die trivial-apriorische Regel des rational-situationsgerechten Handelns und die
Eigendynamik der unintendierten Folgen – zu einer festgefügten Einheit einer
übergreifenden sozialen Logik zusammenschließen ließen. Die Einheit der
drei Elemente macht dann das Konzept der Situationslogik aus. Ihre Rekonstruktion für die beobachtbaren sozialen Prozesse – warum etwa in den 60er
Jahren an den amerikanischen Universitäten die Studentenproteste an den besseren Hochschulen begannen – ist die spezifische Aufgabe der Soziologie, eine Aufgabe, die ihr niemand nehmen kann, die aber auch kein anderes Fach in
dieser Weise wahrnehmen könnte.
10.2 Was ist „logisch“ an einer Situation?
Was ist nun aber derart „logisch“ an einer Situation, daß die Akteure letztlich
gar nicht anders können, als den Vorgaben der Strukturen zu folgen und auch
ihre subjektiven Orientierungen danach zu richten? Wir greifen das Beispiel
der Studentenproteste an den amerikanischen Universitäten aus Kapitel 1
noch einmal auf, um die besondere Kraft der „Logik“ der Situation zu verstehen. Es geht wieder um die Professoren und um die Frage, warum diese sich
in zwei deutlich unterscheidbare Gruppen – die forschenden Cosmopolitans
und die lehrenden Locals – getrennt und auf die schlechteren und die besseren
Universitäten selektiv verteilt haben, was dann, über einige andere Umstände,
die Unruhen gerade an den besseren Universitäten auslöste.
Die grundlegende Situation
Professoren besetzen gewisse Positionen in der Institution der Universität.
Diesen Positionen sind bestimmte Erwartungen zugeordnet: die Rolle eines
Professors. Die Besonderheit der Rolle eines Professors ist, daß sie – mindestens – zwei, im Prinzip gleichrangige, Rollenelemente enthält: Forschung und
Lehre. Und genau dies erzeugt, wenn wir davon ausgehen, daß beide Rollenelemente nicht gleichzeitig auszufüllen sind, ein Entscheidungsproblem: Forschung oder Lehre?
Die primären Zwischengüter
Das Handeln der Professoren ist, wie jedes Handeln, nichts anderes als Nutzenproduktion – organisiert um die in ihrem „System“ jeweils geltenden pri-
392
Situationslogik und Handeln
mären und indirekten Zwischengüter und gesteuert über die Gestalt der sozialen Produktionsfunktionen (vgl. dazu Kapitel 3 insgesamt). Um die Rekonstruktion der sozialen Produktionsfunktionen geht es in erster Linie bei der
Analyse der „Logik der Situation“ – dem ersten Schritt in dem Konzept der
Situationslogik. Das ist hier nicht schwer: Die primären Zwischengüter der
Professoren, die Ressourcen und Leistungen also, für die sie unmittelbar soziale Wertschätzung und physisches Wohlbefinden erlangen können, sind die
beiden (kulturellen) Ziele, die über ihre Position und ihre Rolle im System der
Universitäten definiert sind: exzellente Forschung und eine gute Lehre. Diese
Ziele seien mit Zr (für research) und Zt (für teaching) abgekürzt und bezeichnet.
Wir wollen annehmen, daß der input an Forschungsleistungen und an guter Lehre bzw. an
den vorweisbaren Symbolen dafür, wie etwa Nobelpreise oder gute Lehrbewertungen, die
Bedienung der beiden Bedürfnisse in der üblichen Form erzeugt: monoton steigend und mit
abnehmendem Grenzertrag. Wiederum der Einfachheit halber sei angenommen, daß die Effizienz der beiden Produktionsfunktionen dafür gleich ist – obwohl wahrscheinlich im System
der Universitäten eine gute Forschung mehr angesehen ist als eine engagierte Lehre. Dabei
sei – erneut vereinfachend – davon ausgegangen, daß es einen gemeinsamen Maßstab zum
Vergleich von Zr und Zt gibt. Dieser Maßstab ist der über die Erfüllung der beiden Ziele produzierbare Nutzen U. Damit können die beiden primären Zwischengüter sogar verglichen
werden: Wieviel an Beliebtheit bei Studenten und lokalen Größen – etwa – wiegt einen Artikel in der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie oder einen Nobelpreis auf?
Die Ergebnisse der Modellierung ändern sich aufgrund dieser Vereinfachungen im Prinzip
nicht. Änderungen ließen sich leicht einbauen, wenn es dafür zwingende Hinweise gibt.
Über diese, nicht allzu waghalsigen, Annahmen können die beiden primären
Zwischengüter Forschung Zr und Lehre Zt einfacherweise und unmittelbar mit
dem Nutzen U bewertet werden.
Die „Produktion“ von Lehre und Forschung
Exzellente Forschung und eine gute Lehre müssen, wie alle primären Zwischengüter, produziert werden. Die dafür erforderlichen indirekten Zwischengüter sind die in Kapitel 3 bereits ausführlich beschriebenen typischen Orientierungen und die damit verbundenen Handlungen des Kosmopolitismus und
des Lokalismus. Wir wollen sie als Xc (für cosmopolitan) und als Xl (für local) bezeichnen. Kosmopolitismus und Lokalismus sind somit keine bloßen
„Haltungen“, die die Professoren auch sein lassen könnten, sondern die institutionell und insbesondere auch technisch definierten Mittel, die nötig sind,
um überhaupt an die Ziele Zr und Zt heranzukommen. Es geht, im Anschluß
an das elementare System einer Situation in Kapitel 1, also um die Kontrolle
der Mittel und um deren Effizienz zur Erzeugung des jeweiligen Zieles. Nun
393
Die „Logik“ der Situation
wird der spezielle Verlauf der jeweiligen sozialen Produktionsfunktionen
wichtig, die beschreiben, in welchem Ausmaß eine bestimmte Menge der indirekten Zwischengüter Xc und Xl die primären Zwischengüter Zr und Zt erzeugen.
Die Analyse des Hochschulsystems in Kapitel 3 hatte ergeben, daß die Effizienz der lokalen
Orientierung für die Lehre deutlich höher ist als für die Forschung. Und umgekehrt: Daß die
Effizienz der kosmopolitischen Orientierung für die Forschung deutlich höher ist als für die
Lehre. Dieses Ergebnis der Situationsanalyse der Professoren im System der Wissenschaft
und der Universitäten können wir hier übernehmen: Wer gute Forschung treiben will, muß
sich kosmopolitisch verhalten, wer gut lehren will, muß lokal orientiert sein. Ansonsten seien
wiederum möglichst einfache Annahmen gemacht: Die Produktionsfunktionen sind monoton
steigend und haben einen abnehmenden Grenzertrag.
Die Produktion der Forschung
Die Produktion der Lehre
Zt
Zr
f(X c)
Z rc
g(X 1 )
Z r1
xc
x1
X c , X1
h(X 1)
Z tc
i(X c)
Z t1
xc
x1
X c , X1
Abb. 10.1: Die unterschiedliche Effizienz der sozialen Produktionsfunktionen für
Lehre und Forschung
Wir haben also zwei Ziele, und für jedes dieser Ziele gibt es zwei Mittel und
zwei Produktionsfunktionen. Die sich daraus ergebenden vier Produktionsfunktionen lauten allgemein: Zr=f(Xc) und Zr=g(Xl) bzw. Zt=h(Xl) und
Zt=i(Xc). Sie sind in Abbildung 10.1 dargestellt. Wenn es um die Forschung
geht, ist die kosmopolitische Orientierung effizienter als die lokale Orientierung. Für die Lehre ist das umgekehrt. Es kommt also darauf an, für das
jeweilige Ziel jeweils das „richtige“ Mittel zu finden. Die Abbildung zeigt
deutlich, was mit der objektiven „Logik“ der Situation gemeint ist: Jeder
könnte zwar eine bestimmte Menge x des jeweiligen Mittels einsetzen, aber
wenn ein Professor die „falsche“ Orientierung und das „falsche“ Handeln
394
Situationslogik und Handeln
Professor die „falsche“ Orientierung und das „falsche“ Handeln wählt, dann
produziert er das betreffende primäre Zwischengut und den damit zusammenhängenden Nutzen wesentlich ineffizienter als bei einer „richtigen“ Orientierung und einem „richtigen“ Handeln.
Das Modell
Wir wollen nun die verbale und die graphische Darstellung in die Sprache der
WE-Theorie überführen. Denn nur mit einem logischen oder kausalen Argument kann es eine „‚Logik‘ der Situation“ geben. Und nur mit einem Anschluß der Situationsbeschreibung an die „triviale“ Theorie des rationalen
Handelns geht es mit der Situationslogik weiter. Die Modellierung folgt der in
Kapitel 7 allgemein dargestellten Art der Beschreibung einer Situation in der
Sprache und in der Logik der WE-Theorie.
Die Alternativen
Die Alternativen sind die im gegebenen institutionellen Feld definierten Rollenerwartungen. Hier sind es zwei: die kosmopolitische und die lokale Orientierung. Es sind die Mittel Xc und Xl, die die Akteure in ihrem Handlungsfeld
im Prinzip unter Kontrolle haben und einsetzen könnten – wenngleich wegen
der Knappheiten, nicht zuletzt an Zeit, nicht gleichzeitig.
Die Ziele und ihre Bewertungen
Die institutionell bedeutsamen Folgen des Einsatzes der Alternativen sind die
Forschung und die Lehre, die Realisierung der Ziele Zr und Zt also. Ihre Bewertung ergibt sich aus der damit möglichen Nutzenerzeugung. Es gilt also
beim Erreichen der beiden Ziele jeweils die Bewertung U(Zr) und U(Zt). Wir
wollen annehmen, daß die maximal erreichbare Bewertung bei 100 Nutzeneinheiten liegt. Der Vektor U des Bewertungsraumes lautet in unserem Beispiel dann, auch schon in konkreten Werten, so:
U(Zr)
U
=
100
=
U(Zt)
100
Die „Logik“ der Situation
395
Dieser Vektor der Zielbewertungen gelte für beide Gruppen gleichermaßen.
Darin spiegelt sich die Annahme wider, daß es institutionell keinen Unterschied in der Bewertung guter Forschung oder guter Lehre geben soll. Und
wir wollen, vielleicht empirisch nicht ganz korrekt, auch annehmen, daß die
Professoren selbst die Forschung und die Lehre als primäres Zwischengut
gleich bewerten.
Die Erwartungen
Die Matrix der Erwartungen ordnet die Alternativen den bewerteten Folgen
eines Handelns über Wahrscheinlichkeiten zu. Das sieht für den gegebenen
Fall in abstrakter Weise und für alle Professoren zusammen so aus:
P
Zr
Zt
Xc
pcr
pct
Xl
plr
plt
=
Gemäß dem elementaren System einer Situation (vgl. Kapitel 1) ist die Erwartung pij, daß ein bestimmtes Mittel i zu einem bestimmten Ziel j führe, das
Produkt aus der Kontrolle ci über das Mittel und der kausalen Effizienz eij dieses Mittels zur Realisierung des Zieles: pij=ci*eij. Wenn wir – zunächst – davon ausgehen, daß die Professoren im Prinzip alle gleichermaßen Cosmopolitans und Locals sein können, wenn sie also die beiden Mittel gleichermaßen
perfekt unter Kontrolle haben, dann werden die Erwartungen nur von den Effizienzen bestimmt. Die Effizienzen der Mittel sind aber, wie die Verläufe der
sozialen Produktionsfunktionen in Abbildung 10.1 zeigen, für die beiden Ziele jeweils deutlich unterschiedlich: Mit der gleichen Menge an Xc wird deutlich mehr von Zr erzeugt als mit Xl – und umgekehrt. Die unterschiedliche Effizienz der sozialen Produktionsfunktionen kann in einem Koeffizienten zwischen 0 und 1 ausgedrückt werden, der – im Groben wenigstens – die unterschiedliche Produktivität jeweils wiedergibt. Der Einfachheit halber nehmen
wir für die Modellierung dieser Unterschiede bei unseren (nicht-linearen)
Produktionsfunktionen einen Wert von e=0.80 an, wenn für ein Ziel das „richtige“ Mittel eingesetzt wird, und einen Wert von e=0.20, wenn es das „falsche“ Mittel ist. Daraus ergibt sich, weil ja die Kontrolle c über die einsetzbare Menge des Mittels jeweils mit eins angenommen wird, die folgende PMatrix des Wissens über die Eignung des Einsatzes der Alternativen für die
Erreichung der Ziele:
396
Situationslogik und Handeln
Zr
Xc
Zt
pcr=ec pct=ect
0.80
0.20
0.20
0.80
r
P
=
=
Xl
plr=elr plt=elt
Die Matrix gibt in der Sprache der WE-Theorie wieder, was im Diagramm der
sozialen Produktionsfunktionen zu sehen ist: Kosmopolitismus ist für die Erzeugung guter Forschung deutlich effizienter als der Lokalismus, und lokale
Aktivitäten wiederum sind geeigneter für die Organisation einer guten Lehre
als die kosmopolitische Abwesenheit.
Gruppenunterschiede
Allerdings beschreibt die Matrix die Bedingungen für die Hochschulen und
die Professorenschaft lediglich insgesamt, noch nicht aber für die beiden Teilgruppen der Forscher und der Lehrer. Und es geht ja eigentlich um die Bestimmung der typisch unterschiedlichen Logik der Situation für diese beiden
Teilgruppen. Der entscheidende Schritt der Modellierung ist die Berücksichtigung von systematischen Unterschieden zwischen den beiden Gruppen.
Nun wird die Kontrolle der verschiedenen Akteure über die Mittel bedeutsam.
Denn genau das war ja das Ergebnis der Situationsanalyse der Professoren aus Kapitel 3 gewesen: Man kann nicht alles machen, muß sich auf eine Teilrolle konzentrieren und hat jeweils auch ein unterschiedliches Talent für die Forschung oder die Lehre. Durch zunehmende
Habitualisierung und, nicht zuletzt, auch durch die Tendenz, den inneren Konflikt zu vermeiden, daß beide Teilrollen nicht gleichzeitig gleich gut erfüllt werden können, drängt es die
professoralen Esel von Buridan schließlich zu einem der beiden Heuhaufen der Orientierung.
Und einmal bei einem der Heuhaufen angekommen, können sie schließlich nur noch von diesem fressen. Es kommt zu einem Prozeß der „Pfadabhängigkeit“ und der unumkehrbaren
Spezialisierung, wonach schließlich das jeweils andere Mittel gar nicht mehr zur Verfügung
steht: Wer in seiner Fakultät immer abwesend ist, hat kein soziales Kapital und findet kein
Gehör vor Ort; und wer nie zu Kongressen fährt, versinkt draußen allmählich ins Vergessen
und bekommt später erst recht keine Einladungen mehr. Kurz: Es gibt eine Vorgeschichte der
Situation und eine Biographie der Akteure, die festgelegt haben, was jetzt möglich ist und
was nicht.
Mit der nach der Analyse der „objektiven“ Situation unumgänglichen Spezialisierung der Hochschullehrer auf eine bestimmte Orientierung und Tätigkeit
– Kosmopolitismus oder Lokalismus – steht die jeweils andere Alternative al-
397
Die „Logik“ der Situation
so schließlich nicht mehr zur Verfügung. Der Koeffizient für die Kontrolle einer Ressource c, der im allgemeinen Modell noch für alle mit eins angenommen wurde, muß daher bei der jeweils auf eine Teilrolle spezialisierten Gruppe für die jeweils andere Teilrolle auf null gesetzt werden. Zur Beschreibung
der Logik der Situation für die beiden Gruppen, der Cosmopolitans und der
Locals, müssen also jeweils gesonderte P-Matrizen angegeben werden, die
diese strukturell bedingten Unterschiede in der Kontrolle der Mittel wiedergeben:
Cosmopolitans
Zr
Locals
Zt
Xc 0.80 0.20
Pc
=
Xc
Pl
Xl
0
0
Zr
Zt
0
0
=
Xl
0.20 0.80
In den beiden P-Matrizen spiegelt sich die beschriebene Spezialisierung wider: Die Locals haben schließlich keine Kontrolle mehr über die kosmopolitische Alternative, und die Cosmopolitans umgekehrt nicht mehr über die lokale Alternative. Gleichwohl können sie auch in dem ihnen jeweils „fremden“
Bereich durch ihre jeweilige Haltung etwas erreichen: Auch ein lokal orientierter Lehrer schreibt ja gelegentlich noch etwas Bemerkenswertes, etwa für
eine Festschrift; und auch ein kosmopolitischer Forscher vermag, bei aller
Abwesenheit, bei den Studenten noch etwas zu bewirken. Nur ist das jeweils
nicht so wirksam wie beim „richtigen“ Handeln.
Die Gewichtung der Alternativen
Die unterschiedliche „Logik“ der Situation für die beiden Gruppen ergibt sich
aus den Unterschieden der objektiven „Tendenzen“, in die die Akteure durch
die Situationsvorgaben und das Gesetz des Handelns gebracht werden. Über
die Situation haben wir jetzt alles Nötige beisammen. Es fehlt nur noch die
Bestimmung der EU-Gewichte für die Alternativen bei den beiden Teilgruppen nach der WE-Theorie. Jeweils gibt es zwei EU-Gewichte für die beiden
Alternativen Xc und Xl für die beiden Gruppen der Kosmopoliten c und der
Locals l: EU(cc) und EU(cl) bei den Kosmopoliten für ein kosmopolitisches
oder lokales Handeln, und entsprechend EU(lc) und EU (cc) für die Locals.
Diese Rechnung ergibt, wenn wir die oben angenommenen Werte der beiden
398
Situationslogik und Handeln
P-Matrizen und des U-Vektors nehmen, „trivialerweise“ für die beiden Gruppen:
Cosmopolitans
Locals
EU(cc) = 0.80*100 + 0.20*100 = 100
EU(cl) =
0*100 +
0*100 =
0
EU(lc) =
0*100 +
0*100 =
0
EU(ll) = 0.80*100 + 0.20*100 = 100
Das ist die „Logik“ der Situation für die Professoren in den beiden Teilgruppen: Sie wollen genau das, was sie können. Sie ist von bestechender Einfachheit und von einer zwingenden Kraft. Und sie beruht auf einem sanften, aber
wirksamen Zwang: Die Akteure würden sich selbst sehr schaden, wenn sie sie
mißachten oder sogar bewußt gegen sie optieren würden.
Soziale Lage und soziale Klassen
Die besondere „Logik“ der Situation ergibt sich in unserem Beispiel aus der
unterschiedlichen Verteilung der Kontrolle und aus der unterschiedlichen Effizienz der Mittel. Die Bewertung der Ziele war gleich. Das muß nicht so sein:
Die Gruppen können sich auch in den Zielen und in deren Bewertungen, also
in ihren Interessen unterscheiden. Meist ist das empirisch auch so.
Ganz allgemein kann gesagt werden, daß die Orientierungen und psychischen Eigenheiten
der Akteure in den verschiedenen Gruppen um so deutlicher voneinander verschieden sind, je
stärker die jeweiligen EU-Gewichte die Alternativen zwischen den Gruppen diskriminieren.
Und es kann auch angenommen werden, daß die Menschen sich in den jeweiligen Gruppen
ihrer Interessen, ihrer Sache und ihrer „Identität“ umso sicherer sind, je weiter der EU-Wert
der zweitbesten Alternative von der Alternative mit der höchsten Nutzenerwartung abweicht.
In den EU-Gewichten spiegeln sich also die Gruppenunterschiede einer Gesellschaft ebenso
wie die subjektiven Sicherheiten der Akteure, daß sie jeweils das Richtige tun, wider. Je deutlicher die Unterschiede zwischen den Gruppen und je höher die Sicherheiten der Akteure,
umso weniger Varianz ist deshalb auch zwischen der objektiven und der subjektiven Definition der Situation zu erwarten.
Bei dieser Art der Modellierung einer typischen „Logik“ der Situation wird
also unterstellt, daß die Akteure den objektiven – materiellen, institutionellen
und kulturellen – Vorgaben der Logik der Situation auch wirklich folgen und
keine davon besonders abweichende subjektive Definition der Situation vornehmen. Ihre subjektive Welt entspricht den objektiv geltenden sozialen Produktionsfunktionen. Das Gesetz des rationalen Handelns ist auch für diese
Annahme die Grundlage: Die Menschen würden sich merklich ins eigene
Die „Logik“ der Situation
399
Fleisch schneiden, wenn sie sich den Luxus einer von der objektiven Logik
der Situation abweichenden Situationsdefinition leisten würden.
Die „Logik“ der Situation ergibt sich aus der, so wollen wir es nennen, jeweiligen gesellschaftlichen Lage der Akteure: aus der typischen Situation, in
der sich die Akteure befinden und innerhalb deren Rahmen sie die Probleme
ihres Alltags lösen müssen. Ihrer gesellschaftlichen Lage können die Akteure
nicht einfacherweise entfliehen. Sie prägt, was sie wollen, was sie können und
wie sie die Welt dann auch subjektiv sehen. Kurz: Die gesellschaftliche Lage
spiegelt die objektive „Logik“ der Situation wider und strukturiert die subjektive Definition der Situation.
Gruppen in einer typischen gesellschaftlichen Lage werden auch als soziale
Kategorien bezeichnet. Wenn sie sich sowohl in ihren typischen Interessen,
wie in der Kontrolle bestimmter Ressourcen systematisch unterscheiden,
spricht man auch, wie wir schon in Abschnitt 4.3 gesehen haben, von sozialen
Klassen (vgl. dazu auch noch Kapitel 12 und Band 2, „Die Konstruktion der
Gesellschaft“, dieser " ausführlich). Die Cosmopolitans und die Locals bilden
in diesem Sinne je für sich eine besondere soziale Klasse – innerhalb der übergreifenden sozialen Klasse der Professoren mit ihren gemeinsamen Interessen und Möglichkeiten, etwa daran, daß sie ihre Pension ungeschmälert erhalten, daß ihnen niemand in ihre Forschungen hineinredet und sie nicht immer nur dicke Lehrbücher schreiben müssen.
10.3 Soziologische Gesetze und die „Wirkung“ von Variablen
Mit der „Logik“ der Situation wird verständlich, warum die individuellen Akteure, obwohl die gesamte Art der Erklärung am Handeln von menschlichen
Individuen anknüpft, in ihren psychisch-ideosynkratischen Eigenschaften nahezu bedeutungslos werden: Die Logik der Situation strukturiert ihre Interessen und ihr Wissen objektiv und bestimmt in der daran anschließenden Logik
der Selektion über die triviale Regel des rationalen Handelns das, was sie tun.
Der Akteur ist in dieser Sicht nichts anderes als eine Art von Platzhalter für
seine gesellschaftliche Lage, für typische Erwartungen und Bewertungen also,
die über die sozialen Produktionsfunktionen bestimmt sind und über gewisse
Brückenhypothesen in den U-Vektor und die P-Matrix überführt werden. Er
ist nur ein anonymer und typischer Repräsentant seiner gesellschaftlichen Lage und darüber dann, sozusagen, lediglich eine Matrix und ein Vektor von typischem Wissen und typischen Werten – und eben kein lebendiges Wesen aus
Fleisch und Blut und einer unergründlichen inneren Unendlichkeit in seiner
Seele. Außerdem ist der Akteur die mechanische Rechenmaschine für die Be-
400
Situationslogik und Handeln
gesellschaftliche Lage
soziale Produktionsfunktionen
„Logik“
der
Situation
Brückenhypothesen
„Akteur“:
U-Vektor
P-Matrix
EUmax
Handeln
Abb. 10.2: Die „Logik“ der Situation
stimmung der EU-Gewichte und, natürlich, der blinde Agent des Handelns,
der brav, situationsgerecht und verläßlich das tut, was ihm die „Logik“ der Situation vorschreibt – gerade eben, weil er seinen Nutzen maximieren will.
Im Rahmen des Modells der soziologischen Erklärung ist die „Logik“ der
Situation also eine Art von Kurzschluß, der die beiden „logischen“ Schritte
der Logik der Situation und der Logik der Selektion zu einer Einheit zusammenfaßt (vgl. Abbildung 10.2): Die gesellschaftliche Lage und die Prägung
aus der Biographie bestimmen unmittelbar das Handeln.
Genau das aber hat die Soziologie immer gemeint, wenn sie von der Strukturierung des Handelns durch die sozialen Strukturen sprach, von den sozialen
Tatsachen, von der Bedeutungslosigkeit der Individuen, von den ehernen Gesetzen der gesellschaftlichen Strukturen und von den soziologischen Gesetzen
„sui generis“. Und falsch ist das ja nicht, wie Popper in seiner Verteidigung
der Autonomie der Soziologie gegen den Psychologismus gezeigt hat: Es gibt
eine „Logik“ der Situation, die sich über die individuellen Ideosynkrasien
hinweg durchsetzt (vgl. dazu auch noch das folgende Kapitel 11 über den
„Kontext des Handelns“).
Mit der „Logik“ der Situation ist die kollektive Ebene der sozialen Strukturen jedoch noch nicht erreicht, auf die sich auch das Konzept der Situationslogik von Popper bezieht. „Richtige“ soziologische Explananda ergeben sich
erst, wenn die individuellen Handlungen wieder zu kollektiven Sachverhalten
aggregiert werden – und sei es auf eine noch so einfache Weise, wie es etwa
die Berechnung von Mittelwerten oder Kovarianzen ist (vgl. dazu noch das
folgende Kapitel 11 und Abschnitt 10.4). Feste Kovariationen zwischen Ty-
Die „Logik“ der Situation
401
pen von Situationen und Typen kollektiver Folgen der „Logik“ der Situation
sind die Strukturgesetze, nach denen die Soziologie so sehr sucht – beispielsweise: daß es höhere Selbstmordraten in Regionen mit einem höheren Anteil
von Protestanten gibt. Die Zusammenhänge des Modells der Studentenproteste aus Kapitel 1 sind auch nichts anderes als eine Kette solcher situationslogischer „struktureller“ Zusammenhänge. Auch dabei sind die kollektiven Folgen meist nichts als einfache statistische Aggregationen der zuvor erklärten
individuellen Handlungen.
Das gilt ohne Zweifel für die ersten Glieder der Sequenzkette des Modells in Abbildung 1.1:
Die Reputation der Universitäten zieht die angesehenen Professoren an und ergibt so unmittelbar eine typisch unterschiedliche personelle Besetzung der Universitäten in Anteilen berühmter Professoren. Die Transformation besteht in diesem Fall aus einer einfachen Aufsummierung der bekannteren und der unbekannteren Professoren zu relativen Häufigkeiten
an den jeweiligen Universitäten. Diese Verteilung angesehener und weniger bekannter Professoren erzeugt dann eine typische Verteilung von eher forschenden und eher lehrenden Professoren und darüber wiederum eine typische Verteilung von Cosmopolitans und Locals an
den besseren und an den weniger exzellenten Universitäten. Die damit einhergehende unterschiedliche Anwesenheit vor Ort bringt die stärkere durchschnittliche Vernachlässigung der
Studenten hier und eine höhere Betreuungsrate dort zustande. Und dies erzeugt wiederum –
unter der Annahme, daß die Anwesenheit der Professoren den Studenten nicht gänzlich egal
ist – unterschiedliche durchschnittliche Grade an Unzufriedenheit und Frustration an den beiden Typen von Hochschulen.
Häufig lassen sich solche Zusammenhänge auch als „Wirkung“ von „Variablen“ der sozialen Umgebung in einem Aggregat von Akteuren feststellen:
Gewerkschaftsmitgliedschaft und Arbeiteranteil im Wohnbezirk, so könnte
man beispielsweise in einem soziologischen Artikel lesen, „erklären“ zusammen soundsoviel Prozent an Varianz im Wahlverhalten, wobei die Gewerkschaftsmitgliedschaft ein deutlich höheres beta-Gewicht aufweise als der Arbeiteranteil und es einen leichten, nicht signifikanten Interaktionseffekt zwischen den beiden unabhängigen Variablen gebe. Die Technik der multivariaten Analyse ist in der Tat ein nützliches Instrument zur statistischen Aggregation der individuellen Handlungen und Dispositionen zu Kovarianzen, zur
Schätzung der Gewichte der Situationsmerkmale und für die „Erklärung“ der
„Varianz“ in den abhängigen Variablen des Handelns, Denkens und Fühlens
der Menschen. Die empirische Soziologie wird daher nicht ohne Grund in
weiten Teilen als eine Spielart dieser Vorstellung betrieben: Gesucht wird
nach dem Satz an „Variablen“, mit dem sich möglichst viel an „Varianz“ bei
der betrachteten abhängigen Variable „erklären“ läßt. Wir wollen diese Ansicht als Variablen-Soziologie bezeichnen. Sie ist eine Spielart der Suche nach
soziologischen Strukturgesetzen. Der Unterschied zur klassischen Soziologie
ist freilich der, daß diese Gesetze bei den Eigenschaften der individuellen Akteure gesucht werden, die – oft genug – außerdem wie isolierte Monaden be-
402
Situationslogik und Handeln
handelt werden, jede für sich statistisch „unabhängig“ aus einer „Grundgesamtheit“ zu einer Stichprobe gezogen (vgl. dazu auch noch Abschnitt 11.1
im folgenden Kapitel).
In Abbildung 10.3 haben wir die „Situationslogik“ der soziologischen
Strukturgesetze und die Annahme der Variablen-Soziologie über die „Wirkung“ der Variablen auf das Handeln in einem Schema skizziert.
soziologische Strukturgesetze/
K
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