Staat und Religion: ihr Verhältnis aus buddhistischer Sicht

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TITELTHEMA
S.H. der Dalai Lama spricht im Oktober 2001 erstmals im Plenum des Europaparlaments.
Staat und Religion:
ihr Verhältnis aus
buddhistischer Sicht
Welche Verbindungen sind Staat und Religion in der Geschichte eingegangen, wie
unterscheiden sich die Vorstellungen in West und Ost? Welche Rolle spielen die
Religionen im Zeitalter der Globalisierung? Oliver Petersen geht den Fragen nach
und plädiert für eine Trennung von Staat und Religion sowie für eine Einmischung
religiöser Menschen in die Politik.
von Oliver Petersen
S
eindeutig sei. Im Kern geht es um die Frage, ob die
Religion den modernen säkularen Staat akzeptiert oder ob
sie einen religiösen Staat fordert und somit das westliche
Staatsmodell der Moderne ablehnt, vielleicht sogar
bekämpft.
Eine Säule der modernen westlichen Gesellschaft ist
die Differenzierung zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Kräften wie zwischen Religion und Staat, Religion
TIBET BUDDHISMUS
und
eit den Anschlägen vom 11. September 2001 sind
Diskussionen über das Verhältnis von Staat und
Religion entbrannt. Religiöse Vertreter, die sich dem
Dialog widmen wie die Hamburger Bischöfin Jepsen
mussten für ihre Aussagen Kritik einstecken. Der Berliner
Bischof Huber äußerte die Auffassung, dass es vielleicht
naiv sei, mit den Moslems zu vertrauensvoll umzugehen,
da ihr Bekenntnis zur Trennung von Staat und Kirche nicht
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Hobbes: „Der Mensch ist des Menschen Wolf”
Der englische Philosoph Thomas Hobbes (15881697) hat in England den „starken Staat” gefordert
– den so genannten Leviathan –, der selbst nicht
religiös gebunden ist, aber Religion toleriert oder
akzeptiert, unterstützt, ohne parteiisch zu sein.
Dieser starke Staat hat wie eine Art Monster das
Gewaltmonopol und kann die verschiedenen
Kräfte der Gesellschaft dominieren. Dies dient
letztlich dem Frieden, da sich die Menschen ohne
staatliche Struktur gegenseitig vernichten würden.
Hobbes Ausspruch dazu ist: „Der Mensch ist des
Menschen Wolf”. Diese Überlegungen hatten großen Einfluss auf die Moderne und den säkularen
Staat. Es entwickelte sich die Vorstellung eines
Staates, der nicht religiös gebunden ist, ohne antireligiös zu sein.
TIBET BUDDHISMUS
und
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Jens Nagels
und Wissenschaft. Diese Unterscheidung, die sich im
Westen durchgesetzt hat, ist in nicht-westlichen Gesellschaften, teilweise auch in der islamischen Welt umstritten, und sie war auch in Europa lange Zeit nicht gegeben.
Dies hatte eine Kette von Bürgerkriegen im Namen der
Religion nach sich gezogen.
Im Westen gibt es zwei Modelle für einen säkularen
Staat: Der laizistische Staat wie in Frankreich seit der
Revolution oder in der Türkei seit Atatürk weist jede
Beeinflussung durch die Religion zurück und erklärt sie zur
Privatsache. Nach dem anderen Modell, für das
Deutschland ein Beispiel ist, lassen sich Staaten von religiösen Wertvorstellungen ausdrücklich beeinflussen, etwa in
der Verfassung. Die Religion wird nicht als reine
Privatsache betrachtet, sondern fließt ins öffentliche Leben
ein. Allerdings genießen alle Religionen den Schutz des
Staates. Vor dem Hintergrund dieser Vorstellungen ist die
Debatte zu sehen, ob Lehrer religiöse Symbole wie
Kopftücher oder Kutten tragen und im Klassenzimmer
christliche Kreuze aufgehängt werden dürfen. In
Frankreich ist all dies verboten.
Die Schaffung von säkularen, neutralen Staaten, entworfen u.a. nach dem Modell von Hobbes, hat dazu
geführt, dass die religiös motivierten Bürgerkriege in
Europa zurückgegangen sind. Darüber hinaus haben sich
in der Moderne die Bereiche Wissenschaft, Religion und
Kunst differenziert. Dies hat seit der Renaissance und der
ihr folgenden Aufklärung zu einer Explosion des Wissens,
der Freiheit und der Kreativität geführt. Kant definierte
dabei die Aufklärung mit dem Ausspruch: „Habe Mut,
dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!”
In Tibet, vor der Besetzung durch China, gab es eine
Verflechtung aller Lebensbereiche mit der Religion. Die
Kunst beispielsweise stand immer im Dienste der Religion.
Andere Ausdrucksweisen der Kunst sind traditionellen
Tibetern eher fremd. Musik etwa ist für sie entweder sakral
oder reines Vergnügen. Ansätze für eine moderne
Die Lehre des Buddha zielt auf die Transformation des
Einzelnen. Der Einzelne steht jedoch in Wechselbeziehung zur
Gesellschaft.
Wissenschaft gab es in Tibet nicht, das intellektuelle Leben
konzentrierte sich ganz auf den Buddhismus und das, was
in diesem Rahmen als Wissenschaft des Geistes verstanden werden kann, aber ohne empirische Untersuchungen. Auf die Wahrnehmung der Entwicklung der äußeren
Welt wurde kein Augenmerk gelegt.
In Tibet, in China und in der moslemischen Welt gab
es keine Aufklärung und keine industrielle Revolution.
Gleichzeitig war Tibet reich an dem, woran es der modernen säkularen Kultur nach dem Siegeszug der Naturwissenschaften und ihrer über alle Maßen gehenden
Eroberung aller Lebensbereiche mangelte: Spiritualität.
RELIGION UND GESELLSCHAFT:
EINE WECHSELWIRKUNG
Kerngedanke des Buddhismus ist, dass alle Wesen Glück
wünschen und kein Leiden und dass die eigentlichen
Ursachen für Glück und Leiden in uns selbst zu finden
sind. Deshalb kommt es darauf an, den eigenen Geist zum
Positiven zu entwickeln, weil sich daraus Glück ergibt. Im
religiösen Kontext sind Staat und Politik nur Randthemen.
Im Buddhismus gelten die religiösen Regeln oder
Ratschläge, die der Buddha gab, nicht als Gesetze für ein
Land, sondern als Richtschnur für den Einzelnen.
Trotzdem empfahl der Buddha, sich nicht gegen die
Landesgesetze zu stellen, sofern diese dem Dharma nicht
widersprechen. Der indische Philosoph Någårjuna erteilte
sogar in seiner Schrift Ratnåvalï Ratschläge für einen
König, wie er das Land im Einklang mit dem Dharma
regiert (s. auch Seite 16 in diesem Heft).
Am Rande bemerkt, akzeptieren auch Praktizierende
des Islam die Gesetze eines nicht islamischen Landes, zumindest solange sie nicht im Widerspruch zu den eigenen
religiösen Gesetzen stehen. Meine islamischen Freunde in
Deutschland sagen zum Beispiel, dass sie das Grundgesetz
der Bundesrepublik Deutschland anerkennen. Es stünde
nicht im Widerspruch zum Islam und ein Moslem sei dazu
verpflichtet, sich an die Gesetze des Landes zu halten.
Der Buddhismus beschäftigt sich im Allgemeinen weniger mit Staat und Gesellschaft als mit der Transformation
des Einzelnen. Alles, was ein Einzelner tut, hat jedoch
auch einen Effekt auf die Gesellschaft. Gleichzeitig wirkt
der Zustand der Gesellschaft auf die Religion und die
Praktizierenden zurück. Religiöse Geisteshaltungen schlagen sich in äußeren Handlungen nieder. Tiefgehende Veränderungen in einer Gesellschaft hin zu mehr Frieden und
Umweltschutz sind überhaupt nur möglich, wenn
Menschen zunächst eine Veränderung in sich selbst hervorbringen.
In der modernen westlichen Philosophie ist, anders als
noch in der Antike, ein Vakuum in Bezug auf die
Entwicklung persönlicher Weisheit entstanden. Auch die
Aufklärung mit ihrer fast ausschließlich verstandesmäßigen
Orientierung konnte die spirituelle Orientierung nicht
wirklich liefern. Ebenso wenig kann die Naturwissenschaft
mit ihrem verstreuten Detailwissen Sinn und moralische
Ausrichtung im Alltag vermitteln. Sie ist dafür auch gar
nicht zuständig. Das Christentum hat in den letzten
Jahrhunderten seine mystische, meditative Dimension vernachlässigt. Unter diesen Umständen kann die buddhistische Geistesschulung einen wichtigen Beitrag zur Verbreitung spiritueller Werte in der Gesellschaft leisten.
Auch Politiker und säkulare Philosophen wie Habermas
erkennen heute die Wertebildung der Religion für eine
harmonische Entwicklung der Gesellschaft an, auch wenn
sie persönlich nicht religiös sind.
Der Buddha stellte innere Werte in den Vordergrund und
nicht den gesellschaftlichen Rang oder die Abstammung.
Aus der Sicht des Buddha müsste man Brahmane nicht
durch Geburt werden, wie in Indien üblich, sondern
durch reines Verhalten. Wer sich wie ein Brahmane verhält, was gleichbedeutend mit dem Befolgen einer guten
Ethik ist, wäre demnach Brahmane.
Buddha lehrte die Könige seiner Zeit die Nachteile der
weltlichen Macht und deren Unbeständigkeit. Es gab das
Ideal des Dharmaraja, eines Königs, der im Einklang mit
dem Dharma lebt und regiert. Das war die Art, wie
Religion und Staat sich ursprünglich im Buddhismus
begegneten. Mönche sollten sich nicht den Königen unterwerfen. Gaben Mönche Unterweisungen, wie es etwa am
Hof chinesischer Kaiser geschah, sollten diese nicht niedriger sitzen als der König. Selbst der große Kaiser Aœoka,
der ganz Indien unter seiner Herrschaft einte und zum
Buddhisten wurde, galt nicht als ein Gott.
In den Ländern des Mahåyåna-Buddhismus gab es
zeitweise eine enge Verbindung von Religion und Politik.
Dies ist vor dem Hintergrund des Hauptziels dieses Weges
zu sehen, zum Wohle aller Wesen die Buddhaschaft zu
verwirklichen. Im so genannten Goldglanz-S•tra, einer
wichtigen Mahåyåna-Lehrrede, kümmern sich Götter um
den Königssohn. In Ländern, in denen sich das Mahåyåna
ausbreitete, schrieben buddhistische Könige Geschichte.
In Nordwestindien entwickelte sich während der
Kuæa¶a-Dynastie unter König Kaniæka eine Art buddhokratische Herrschaft; der König selbst wurde als
Bodhisattva betrachtet. Dieses Modell hat sich von Indien
weiter nach China, Tibet, Korea und Japan verbreitet und
Lasst uns in Ruhe und Gelassenheit
zu unserem wahren Selbst erwachen,
zu wahrhaft mitfühlenden Menschen werden,
unsere Fähigkeiten ergründen und gebrauchen,
entsprechend unserer jeweiligen Berufung.
Das Leid erkennen im Einzelnen und in der
Gemeinschaft und seine Ursache.
Und die Richtung kennen lernen,
die Geschichte nehmen sollte.
Einander als Geschwister die Hand reichen
hinaus über Grenzen von Rasse,
Nation, Klasse und Geschlecht.
Lasst uns voll Mitgefühl geloben,
die tiefe Sehnsucht des Menschen
nach der Befreiung wahr werden zu lassen,
und eine Welt zu schaffen, in der jeder
leben kann in Wahrheit und Fülle.
Hoseki Shinichi Hisamatsu
TIBET BUDDHISMUS
und
Der 5. Dalai Lama (1617-82) war nicht nur eine religiöse Authorität,
sondern auch ein einflussreicher politischer Führer. Der heutige Dalai
Lama versucht, religiöse und politische Macht wieder zu entflechten.
BUDDHISTISCHE HERRSCHER
Aus: Wisdom and Compassion, New York 1991
TITELTHEMA
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dpa
Friedensgebet von Vertretern der großen Weltreligionen 1987 in Assisi: Zur wirtschaftlichen Globalisierung muss eine Vernetzung
auf geistigen und spirituellem Gebiet kommen.
ist selbst in Theravåda-Länder wie Sri Lanka übergegangen. Dort bezeichneten sich ab dem 4. Jahrhundert singhalesische Könige als herabgestiegene Bodhisattvas, um
Macht und Ansehen zu steigern. Nach den Quellen, die
wir über den historischen Buddha haben, hat der historische Buddha allerdings nicht von Dharma-Königen
gesprochen und eine derartige Synthese von Spirtualität
und weltlicher Macht auch nicht befürwortet.
In der tibetischen Geschichte gab es eine enge
Verflechtung von politischer und religiöser Macht. Ab dem
5. Dalai Lama beispielsweise wurde das tibetische Oberhaupt mit dem Buddha Avalokiteœvara identifiziert. Diese
Vorstellung ist vom ursprünglichen Buddhismus in seiner
Entstehungszeit weit entfernt. Der jetzige Dalai Lama sieht
seine angestammte Rolle als Oberhaupt von ganz Tibet
kritisch und möchte sie in einem zukünftigen freien und
demokratischen Tibet nicht mehr innehaben. In der
Ansprache anlässlich seines 70. Geburtstages betonte der
Friedensnobelpreisträger, dass es besser für das tibetische
Volk sei, wenn er schon im Exil die aktive Politik den
gewählten Volksvertretern überlasse.
Obwohl nicht auszuschließen ist, dass ein Erleuchteter
die politische Macht ergreift, birgt doch das System der
Engagierter Buddhismus
Ein internationaler Kreis buddhistischer Mönche,
Nonnen und Laien hatte 1989 das „Internationale
Netzwerk Engagierter Buddhisten”(INEB) gegründet,
das heute in über 30 Ländern arbeitet. Ziel ist es, zu
einer „globalen, gewaltfreien und solidarischen Kultur
des Erwachens” beizutragen. Das Netzwerk leistet
praktische Arbeit für Menschen in wirtschaftlicher Not,
engagiert sich in der Friedensarbeit, veranstaltet weltweit Konferenzen und organisiert Workshops zu den
dringenden gesellschaftlichen Problemen unserer Zeit.
Zu den prominenten Vertretern zählen heute
Maha Ghosananda und Sulak Sivaraksa aus der
Theravåda-Tradition, S.H. der Dalai Lama aus dem
tibetischen Buddhismus und Thich Nhat Hanh als
Vertreter des Zen. In Deutschland ist das „BuddhaNetz” eine Arbeitsgemeinschaft innerhalb der
Deutschen Buddhistischen Union.
TIBET BUDDHISMUS
und
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Verquickung von weltlicher und religiöser Macht
Gefahren. Die Risiken des Missbrauchs sind groß. Meiner
Ansicht nach steht die Vermischung von weltlicher und
religiöser Macht nicht im Einklang mit dem Buddhismus
und lässt sich nicht aus den Quellen herleiten. Moderne
Formen des Buddhismus wie der Engagierte Buddhismus
empfehlen, solche Politikvorstellungen besser nicht in die
Tat umzusetzen. Auch einige Tibeter lehnen heute die
Rückkehr zum alten System ab, allen voran der Dalai
Lama selbst. Entsprechend hat er im Exil bereits in den
60er Jahren eine demokratische Verfassung begründet
und durch die Einsetzung eines Premierministers sogar
seine eigene Machtposition beschnitten. Die Tibeter
haben heute eine demokratische Exil-Verfassung und ein
Parlament. Der Dalai Lama sagt sinngemäß: Wenn die
Institution des Dalai Lama in der Moderne keine
Bedeutung mehr hat, würde sie mit seiner Person enden
können.
RELIGIÖSE UNTERSCHIEDE
NICHT VERWISCHEN
Zur Frage des Verhältnisses von Staat und Religion gibt es
zwei extreme Positionen. Die einen fordern einen religiösen Staat, andere sind der Auffassung, die Religion sollte
überhaupt keinen Einfluss auf die Politik haben.
Tatsächlich sind in manchen Ländern der Welt Religionen
sehr dominant, und auch in den säkularisierten Gesellschaften gewinnen sie wieder an Einfluss. Religion ist nicht
nur eine private Angelegenheit. Religionsvertreter etwa
setzen sich für Menschenrechte und Demokratie ein oder
beteiligen sich an der Diskussion um die Gentechnik.
Gerade aus religiösen Kreisen, insbesondere von Christen,
wird heutzutage darauf hingewiesen, dass Menschenrechte, Demokratie, Pluralismus und Toleranz positive
Werte sind.
Wenn Religionen diese Werte unterstützen, leisten sie
einen wichtigen Beitrag hin zu einer menschlicheren
Gesellschaft. Es wäre verkehrt, wenn religiöse Menschen
gar nichts mehr mit der Gesellschaft und dem Staat zu tun
haben wollten. Ich sehe es heutzutage als eine Pflicht religiöser Menschen, sich für mehr Menschlichkeit in der
Gesellschaft einzusetzen.
Die Politik verfolgt weltliche Interessen und manchmal
auch einfach nur den eigenen Machterhalt. Konzerne sind
TITELTHEMA
DIE MENSCHHEIT
ALS GROSSE
FAMILIE
ERKENNEN
In der Evolutionsforschung gibt es neue, interessante
Studien: Danach hat die Menschheit einen gemeinsamen
Ursprung. Früher dachte man, dass verschiedene menschliche Rassen verschiedene Vorläufer haben. Diese Sicht
scheint überholt zu sein. Wir kommen alle aus einer
Wurzel und haben wohl alle den gleichen Stammbaum.
Auch der Dalai Lama scheint dieser Ansicht zu sein, er
beginnt seine Reden meist mit den Worten „Brüder und
Schwestern...”. Überall auf der Welt drücken Menschen
Glück und Leid ähnlich aus. Sie lächeln oder runzeln die
Stirn, sie wollen alle das Gleiche: Glück erleben und
Leiden vermeiden. Sie schätzen Freundlichkeit und verabscheuen Gewalt. Auf diese grundlegenden Gemeinsamkeiten müssen die Religionen hinweisen, denn daraus entstehen Harmonie und Frieden. Diese zu fördern ist eine
ihrer Aufgaben in der Weltgemeinschaft.
Der Dalai Lama betont, wie wichtig es für Politiker ist,
sich mit Spiritualität zu beschäftigen. Wenn ein Politiker
nichts von menschlichen Tugenden weiß, kann das einen
negativen Effekt auf die Menschen haben, die er regiert. Das
Individuum schreibt Geschichte, das Bemühen um eine
gerechte Gesellschaft ohne Entwicklung des Einzelnen ist
nicht möglich.
Letztlich beruht alles Handeln auf dem Geist, der
Motivation. Deshalb brauchen wir spirituelle Werte, die
bewusst und auch auf gesellschaftlicher Ebene gepflegt werden. Wir müssen der Globalisierung ein menschliches Antlitz
geben, durch ein Gefühl der universellen Verantwortung, wie
es S.H. der Dalai Lama vertritt. Heute findet die
Globalisierung nur auf materieller Ebene durch eine
Vernetzung unter dem Einfluss von Telekommunikation und
Verkehrsmitteln statt. Was fehlt, ist eine geistige Vernetzung
in Form globaler Werte und globalen Rechtes. Diese einzufordern ist eine Aufgabe religiöser Menschen, die sich in
grundlegenden Werten einig sind. Sie dürfen, ja müssen sich
mit ihrer Sachkenntnis in moralische und spirituelle Fragen
einmischen.
Die Ereignisse des 11. September 2002, der Irak-Krieg mit
seinen endlosen Folgen zeigen die Dringlichkeit einer vom
Dalai Lama oft geforderten Weltordnung des Mitgefühls und
der Gerechtigkeit. Das ist ein langer Prozess, den man geduldig vollziehen muss.
Carl Friedrich von Weizsäcker hat der Hoffnung Ausdruck
verliehen, dass sich eine Menschheit im 21. Jahrhundert entwickeln möge, welche die Kenntnisse der modernen Naturwissenschaft mit dem praktizierten Mitgefühl der Christen
und der mystischen Weisheit der Buddhisten vereint. Diese
drei Grundpfeiler des Wissens sollten wir Menschen in uns
zum Blühen bringen.
Wir werden als Menschen erst dann ganz und vollständig
sein, wenn wir unser religiöses Wissen auch praktisch im
ganz normalen Alltag umsetzen, mit Geduld, liebevoller
Zuwendung und mitfühlendem Verhalten innerhalb der
Gesellschaft. Auf diese Weise eignen wir uns auch Wissen
der äußeren Welt an und nehmen teil an der Entwicklung
eines sinnvoll organisierten Staates und einer menschlichen
Gesellschaft. Mehr und mehr geht es darum, die eigene religiöse Praxis von Mitgefühl und Wertschätzung der anderen
Wesen, ob Mensch oder Tier, in die Gesellschaft einzubringen. So haben wir die Chance, die Menschheit – uns selbst
also – in Bewusstheit und Achtsamkeit zu einer mitfühlenden
globalen Werteordnung zu führen.
Literaturtipps
Michael von Brück, Whalen Lai: Buddhismus und
Christentum – Geschichte, Konfrontation,
Dialog bei C.H.Beck, München 1997
Hans Küng/Karl-Josef Kuschel: Erklärung zum
Weltethos, Piper 1993
Die Deklaration des Parlaments der Religionen,
Piper, München 1993
Die Friedensgebete von Assisi bei Herder Freiburg,
Basel, Wien 1987
TIBET BUDDHISMUS
und
ganz auf Profitstreben ausgerichtet, von ihnen ist keine
menschliche Weltordnung zu erwarten. Es gibt ein Vakuum, was
Fragen der ethischen Ausrichtung, Orientierung und
Sinnstiftung betrifft. Die Religionen sind daher aufgerufen,
etwas für die menschlichen Bedürfnisse zu tun. Sie können ein Gegengewicht zum herrschenden Trend schaffen,
der den Menschen zunehmend zum Anhängsel von wirtschaftlichen und technischen Prozessen der Globalisierung
macht, was sich beispielsweise in Begriffen wie „humanes
Kapital” und „Ich-AG” niederschlägt. Die Regierungen
haben sich vielfach schon aus der Verantwortung herausgezogen und lassen die „global player“ gewähren.
Trotz der Konflikte, die Religionen in der Geschichte
ausgelöst haben, sind sie diejenigen, die von ihrem Wesen
her aufrichtig am Wohl der Menschen interessiert sind. Sie
entdecken im Dialog zunehmend gemeinsame Ausrichtungen auf Werte wie Liebe, Geduld, Toleranz, Vergebung, die Ethik des Nichtverletzens und der Genügsamkeit. Allen Religionen ist daran gelegen, dass neben der
Entwicklung des Verstandes auch emotionale Fähigkeiten
des Herzens zum Tragen kommen.
Als Buddhisten fordern wir keine neue Superreligion,
in der alle Strömungen nur noch ein und dieselbe Religion
sind, sondern einen religiösen Pluralismus. Damit Religionen der gesamten Menschheit dienen können, muss es
unterschiedliche Religionen geben, so dass für jeden
etwas dabei ist, das auf seine Bedürfnisse und Fähigkeiten
zugeschnitten ist. Mittlerweile gibt es auch ein Weltparlament der Religion – ein eindrucksvoller Beweis dafür,
dass Religionen sich zunehmend auch auf demokratische
Strukturen einigen können.
Die glücklichste Beziehung zwischen Religion und
Staat wäre ein Engagement für lebenswichtige Fragen des
Friedens und der Abrüstung, der sozialen und politischen
Gerechtigkeit und der Umweltbelange. Wenn Religionen
hier harmonisch auftreten, werden sie auch wieder ernst
genommen und können Einfluss geltend machen.
Besonders in der Problematik der Gewalt zwischen ethnischen Gruppen, an Schulen und im Drogenmissbrauch
können Religionsvertreter hilfreich zur Seite stehen.
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