09.01.2011 © Martin Lipka Verfahren zur Mandatsverteilung: Ein Überblick Für die rechnerische Mandatsverteilung sind international mehrere Verfahren in verschiedenen Varianten geläufig. In Deutschland konzentriert sich die praktische Verwendung auf die folgenden: Höchstzahlverfahren nach d‟Hondt Divisionsverfahren nach Hare (auch: Hare/Niemeyer) Verfahren nach Sainte-Laguë (auch: Sainte-Laguë/Schepers) in zwei Varianten: o als Höchstzahlverfahren o als Divisionsverfahren Der merkwürdige Name Sainte-Laguë macht selbst Franzosen zu schaffen. Er soll, Nachkommen des Ahnherren zufolge, wie „La Güh“ ausgesprochen werden (also mit der Betonung auf der zweiten Silbe). Obwohl die drei Verfahren meistens dieselbe Sitzverteilung errechnen, kommend im Einzelfall doch gelegentlich kleine Unterschiede im Ergebniss zustande. Die beiden Varianten des dritten Verfahrens kommen hingegen immer zu demselben Resultat, weil es sich nur um zwei Darstellungsweisen auf ein und derselben mathematischen Grundlage handelt. Die beiden Höchstzahlverfahren können neben der Mandatsberechnung auch zur Feststellung einer Reihenfolge bei der Zuteilung von Mandaten herangezogen werden. (Beispiel: Das sogenannte Zugriffsverfahren im neu zusammengetretenen Bundestag bei der Festlegung, welche Fraktion in welchem Ausschuss den Vorsitz führen soll.) Eine sehr detaillierte Darstellung zu alledem findet sich auf der Internetseite des Deutschen Bundestages: http://www.bundestag.de/bundestag/ausschuesse17/azur/index.html Ausgangswerte Wenn im Folgenden von „Stimmenzahl” und „Gesamtstimmen“ die Rede ist, dann sind diejenigen Wählerstimmen gemeint, die als Ausgangswerte in die Berechnung einfließen. Das bedeutet zunächst, dass nur die gültigen abgegebenen Stimmen zählen. (Ungültige Stimmen fallen heraus.) Darüber hinaus bleiben Stimmen unberücksichtigt, wenn sie infolge gesondert defi- nierter Einschränkungen nicht wirksam werden sollen. (Beispiel: 5-ProzentHürde.) Alle hier dargestellten Verfahren beziehen sich auf ein reines Verhältniswahlrecht, und zwar in der Form, dass eine vorweg festgelegte Zahl von Parlamentssitzen im gleichen Verhältnis wie die Stimmenzahlen der Parteien vergeben wird. Die Verfahren sind also nicht anwendbar auf Mehrheitswahlrechte (wie in Großbritannien), aber auch nicht auf Verhältniswahlrechte, bei der sich die Zahl der Parlamentssitze je nach Wahlbeteiligung höher oder niedriger ergibt. (Beispiel: Reichstagswahlen der Weimarer Republik). Das Gleichstands-Problem: Erster Teil Wenn sich bei einer Wahl die Gesamtstimmen im Millionenbereich bewegen, dann ergibt jedes der drei Verfahren in der Regel ein eindeutiges Ergebnis. Wenn sich die Stimmen hingegen im zwei- bis dreistelligen Bereich bewegen (zum Beispiel bei Kommunalwahlen), kann es gelegentlich passieren, dass bei der Zuteilung des letzten Mandates zwei oder mehr Parteien gleichauf liegen, dass also eine sogenannte Mehrdeutigkeit entsteht. Solange der Gleichstand zwischen zwei Parteien nicht genau beim letzten zu verteilenden Sitz auftritt, hat er keine Probleme zur Folge, es sei denn, es käme auf jeden Einzelschritt an – wie etwa beim Zugriffsverfahren. Die Ursache liegt meistens darin, dass zwei Parteien gleich viele Stimmen als Ausgangswerte aufweisen oder dass die Stimmenzahl einer Partei ein Vielfaches der Stimmenzahl einer anderen Partei beträgt. Im ersten Fall kehrt der Gleichstand in regelmäßigen Abständen wieder, egal wie viele Sitze zur Verteilung vorgesehen sind. Im zweiten Fall kommt es um so seltener zum Gleichstand, je größer die vorgegebene Sitzzahl ist. (Zur unterschiedlichen Häufigkeit der Mehrdeutigkeit je nach angewandtem Verfahren wird weiter unten eine Erläuterung folgen.) Wenn nun ein solcher Gleichstand genau beim letzten zu verteilenden Sitz eintritt, dann ist ein eindeutiger Abschluss der Mandatszuweisung nicht möglich. Denn es gibt dafür bei keinem der drei Verfahren eine rechnerische und insofern unstrittige Lösung. Zwar kann man zusätzliche mathematische Modifikationen an den Verfahren vornehmen, die die Häufigkeit von Gleichständen weiter verringern. Doch würde dies auf Kosten der mathematischen Klarheit gehen – und zumindest im Falle des „gerechtesten“ Verfahrens, nämlich Sainte-Laguë, auf Kosten der „Gerechtigkeit“. Gleichstände wegen gleicher Stimmenzahl sind natürlich ohnehin systemimmanent und folglich nie zu verhindern. Also muss dem Dilemma auf andere Weise abgeholfen werden. Zum Beispiel: Man lost den letzten Sitz unter den gleichauf liegenden Parteien aus. (Beispiel: Bundeswahlgesetz, § 6 Abs. 2 Satz 4) Man erhöht für die Dauer der Legislaturperiode die Sitzzahl ausnahmsweise so, dass alle gleichauf liegenden Parteien zum Zuge kommen. (Was, wohlgemerkt, zwar die Sitzzahl ändert, aber die „Gerechtigkeit“ der Zuweisung wieder herstellt.) Man schlägt die noch nicht zugeteilten Mandate nach anderen Gesichtspunkten zu. (Zum Beispiel in Richtung der stärksten oder der schwächsten Parteien). Man organisiert ein Duell zwischen den konkurrierenden Abgeordneten in spe. (Wenn schon nicht auf Pistolen, dann wenigstens als Fernsehduell.) Man unterzieht die konkurrierenden Kandidatinnen und Kandidaten einer öffentlich-rechtlichen Casting-Show („Deutschland sucht den Diätenstar“, mit dieter Bohlen, kurz „mdB“.). Das Losverfahren bei der Bundestagswahl ist weniger drastisch, als es auf den ersten Blick scheint, weil für die unterlegene Seite mit hoher Wahrscheinlichkeit ein automatischer Ausgleich auf der Ebene der Landeslisten herausspringt. Trotzdem ist man in der Bundestagsverwaltung mit dem Losentscheid nicht restlos zufrieden, sondern grübelt auch dort über Alternativen nach. Wer Ausschau hält, welche Lösung am ehesten die Zustimmung der unmittelbar betroffenen „Gleichständler“ finden könnte, dem bietet die Einrichtung von zusätzlichen Sitzen vermutlich die friedlichste und auch allgemein verträglichste Lösung, wohingegen die Casting-Show gewiss die öffentlichkeitswirksamste wäre. Verfahren nach d’Hondt Dies Verfahren wurde in anderer Darstellungsweise, aber auf identischer mathematischer Grundlage 1792 von dem amerikanischen Politiker Thomas Jefferson (1743 – 1826) dem späteren dritten Präsidenten der USA, vorgeschlagen. Hierzulande wurde es in der Form des „Divisorverfahren mit Abrundung“ unter dem Namen des belgischen Juristen Victor d‟Hondt (1841 – 1901) bekannt. Weitere Bezeichnungen sind „Hagenbach / Bischoff“ (Schweiz) und „Bader / Ofer“. Die d‟Hondt-Variante der Sitzzuteilung nach Höchstzahlen hat in Deutschland eine lange Tradition. Auch das Sainte-Laguë-Verfahren kann nach Höchstzahlen dargestellt werden, ist aber mathematisch nicht identisch. Andere Höchstzahlen-Varianten brauchen hier nicht thematisiert zu werden. Das klassische d‟Hondt-Verfahren beginnt damit, dass die Stimmenzahl jeder Partei nacheinander durch die Divisoren 1; 2; 3; … geteilt wird. Anschließend werden die so errechneten Quotienten aller Parteien verglichen. Das erste Mandat wird dem höchsten Quotienten (der „Höchstzahl“) zugeordnet, das zweite dem zweithöchsten, das dritte dem dritthöchsten, und so weiter, bis alle Sitze verteilt sind. Die Schwäche des Verfahrens liegt darin, dass es große Parteien begünstigt und kleine Parteien benachteiligt, insbesondere wenn die Abstände zwischen den Stimmenzahlen sehr groß sind. Verfahren nach Hare / Niemeyer Auch das „Quotenverfahren mit Restausgleich nach größten Bruchteilen“ ist in den USA um 1790 vorgeschlagen worden, und zwar von dem Minister Alexander Hamilton (1755/57 – 1804). Die hiesige Bezeichnung verweist auf den britischen Juristen Thomas Hare (1878 – 1956) und den deutschen Mathematiker Horst Friedrich Niemeyer (1931 – 2007). Die Gesamtzahl der Stimmen aller Parteien wird durch die Zahl der zu vergebenden Sitze geteilt und mit der Stimmenzahl jeder einzelnen Partei multipliziert. Das Ergebnis, auch als „Quote“ bezeichnet, wird in zwei Schritten verwertet: Im ersten Schritt die Quote auf die nächste ganze Zahl abgerundet. Jeder Partei werden entsprechend viele Mandate zugeteilt. Die Stellen nach dem Komma bleiben hier also noch unberücksichtigt. Im zweiten Schritt wird der Verbleib der noch nicht vergebenen Sitze ermittelt. Dazu werden die Nachkomma-Anteile verglichen. Dem höchsten Nachkomma-Anteil wird das erste Restmandat zugeordnet, dem zweithöchsten das zweite, und so weiter, bis alle Restmandate verteilt sind. Dieses Verfahren verhält sich gegenüber der Stärke der Parteien neutral, bevorzugt also weder die großen noch die kleinen Parteien. Es führt aber in bestimmten, wenngleich sehr seltenen Fällen zu irritierenden Ungereimtheiten. (Beispiel: Das „Alabama-Paradoxon“, bei dem für eine Partei 1 Stimme mehr 1 Mandat weniger zur Folge hat.) Am Rande sei erwähnt, dass Hare / Niemeyer zur Ermittlung einer Reihenfolge nicht geeignet ist. Die Einbindung dieses Verfahrens in meinen Mandatsrechner ist derzeit nicht geplant, aber auf längere Sicht nicht ausgeschlossen. Verfahren nach Sainte-Laguë / Schepers: Höchstzahlverfahren 1832 schlug der amerikanische Senator Daniel Webster (1782 – 1852) eine Verbesserung von „Jefferson‟s method“ vor. Ein in der mathematischen Grundlage identisches Verfahren ist in Europa verknüpft worden mit dem Namen des französischen Mathematikes Jean-André Sainte-Laguë (1882 – 1950). Über Hans Schepers war nur herauszubekommen, dass er, Physiker der Ausbildung nach, in den 1970er Jahren Leiter der Gruppe Datenverarbeitung in der Bundestagsverwaltung gewesen ist. Das Verfahren nach Sainte-Laguë kommt mit mehreren Varianten einher. Die beiden wichtigsten sind auf verschiedene Weise charakterisiert worden: Methode der hälftigen Bruchteile Methode der ungeraden Zahlen Divisorverfahren mit Standardrundung Nicht nur diese Beschreibungsansätze schrecken ab, sondern auch die kuriose Namensgebung. Und doch ist das Vorgehen nicht viel komplizierter als bei d‟Hondt oder Hare / Niemeyer. Die Höchstzahlvariante läuft nach dem gleichen Muster ab wie bei d‟Hondt. Der einzige Unterschied besteht in der Reihe der nacheinander abgerufenen Divisoren: o Entweder 0,5; 1,5; 2,5; … und so weiter. Man spricht hier von der „Methode der hälftigen Bruchteile“ o Oder die ganzzahlige Divisoren-Reihe 1; 3; 5; … , also die „Methode der ungeraden Zahlen“. Diese hat die gleiche Mandatsverteilung zum Resultat. Die Verbesserung gegenüber d‟Hondt ist nicht auf den ersten Blick erkennbar. Der springende Punkt ist, dass dort einer Partei das erste Mandat erst dann zugeteilt wird, wenn der volle Mindestsatz (1,0) erreicht ist. Bei Sainte-Laguë hingegen genügt schon die „halbe Miete“. Man könnte auch sagen: Ab 0,5 wird aufgerundet. So kommt beispielsweise eine kleine Partei eher an ihr erstes Mandat, und die Verteilung der Wählerstimmen wird nach allen Gesichtspunkten „gerecht“, d. h. mit der höchstmöglichen Proportionalität und Konsistenz abgebildet. Das Gleichstands-Problem: Zweiter Teil Die aus den ungeraden Zahlen bestehende Reihe 1; 3; 5; … hat noch einen interessanten Nebenaspekt: Sie lässt erahnen, warum Sainte-Laguë sehr viel weniger Gleichstände produziert als d„Hondt. Allein schon der Ausschluss aller geraden Zahlen als Divisoren führt zu einem höheren Anteil „krummer“ Quotienten. Hinzu kommt der nunmehr viel höhere Anteil von Primzahlen unter den Divisoren. (Wenn mich die Erinnerung an meinen eigenen Mathematikunterricht nicht ganz trügt, hat das mit der Zerlegung in Primfaktoren zu tun, also mit solchen Konzepten wie dem „kleinsten gemeinsamen Vielfachen“ bzw. dem „größten gemeinsamen Teiler“, kurz „kgV“ und „ggT“.) Nur gegen einen Gleichstand wegen gleicher Stimmenzahl ist weder bei dieser noch bei der folgenden Sainte-Laguë-Variante ein Kraut gewachsen. Verfahren nach Sainte-Laguë / Schepers : Divisionsverfahren Oberflächlich betrachtet, läuft der Rechengang ganz ähnlich wie HareNiemeyer ab. Der Trick besteht darin, durch Probieren einen Divisor zu finden, der, auf die Stimmenzahlen aller Parteien angewandt, genau die richtige Gesamtzahl von Mandaten ergibt. Probieren bedeutet hier: Man teilt die Gesamtzahl der Stimmen durch die Zahl der zu verteilenden Sitze, um einen Quotienten zu erhalten, der anschließend für die Stimmenzahl jeder Partei als Divisor eingesetzt wird. Das Resultat jeder Partei wird kaufmännisch auf die nächste ganze Zahl aufbzw. abgerundet und gibt so die Zahl der Mandate an, die sich bei diesem Divisor ergibt. Die Nachkomma-Anteile sind zunächst unwichtig, können aber in einigen, zum Glück seltenen Fällen zum Problem werden, nämlich falls sich Gleichstand ergibt. Wenn die Summe der errechneten Mandate schon beim ersten Versuch mit der Gesamtzahl der zu verteilenden Sitze übereinstimmt – Bingo! Normalerweise geht aber jetzt erst die Eingrenzung los: Wenn die Summe zu viele Mandate ergibt, setzt man den Divisor herauf, wenn zu wenige, setzt man ihn herab. So gelangt man schließlich zum Ziel – einem Zahlenwert, der, als Divisor eingesetzt, die richtige Summe verteilter Mandate ergibt. Tatsäch- lich handelt es sich meist um ein Intervall, innerhalb dessen jeder Zahlenwert zum gewünschten Resultat führt. Es kann aber auch der seltene Fall eintreten, dass es den gerade beschriebenen Zielbereich mit eindeutigem Ergebnis nicht gibt. Dann kommt trotz aller Eingrenzungsbemühungen keine Punktlandung zustande, sondern die Summe der verteilten Mandate pendelt um die Zielmarke (Gesamtzahl der Sitze) herum. Die Ursache liegt darin, dass zwei oder mehrere Parteien zufällig bei dieser Marke auf Gleichstand gelandet sind, beispielsweise weil Stimmengleichheit vorliegt. Dies ist anhand der Nachkomma-Anteile nachprüfbar, denn bei jeder der gleichauf liegenden Parteien lautet die erste – und einzige! – Nachkomma-Stelle „5“ (als Bruch geschrieben: ½) . Zur Begründung ohne mathematische Details muss hier reichen, dass beim kaufmännischen Auf- und Abrunden die 5, die ja genau die Mitte markiert, vereinbarungsgemäß immer aufgerundet wird, obwohl die mathematisch sauberste Lösung wäre, sie abwechselnd auf- und abzurunden. Ein Programm zum Vergleich von d’Hondt und Sainte-Laguë Im Bundeswahlgesetz wird auf das Divisionsverfahren nach Sainte-Laguë Bezug genommen. Diese Variante bietet in der Praxis den Vorteil der kompakten Berechnung. Die Höchstzahl-Darstellung hat ihr gegenüber aber vier Vorteile, die für die praktische Verwendung allemal interessant sind: Sie eignet sich zur Festlegung einer Reihenfolge. Sie gibt unmittelbare Auskunft, wenn zum Vergleich das Resultat bei einer angenommenen niedrigeren Sitzzahl überprüft werden soll. Sie vermittelt eine übersichtliche Gleichstands-Kontrolle, weil die Ursache unmittelbar zutage tritt. Sie bietet die Möglichkeit, den parallelen Ablauf zur d‟Hondt-Berechnung Schritt für Schritt zu demonstrieren. Im Internet werden diverse kleine Mandatsverteilungs-Programme zur freien Nutzung angeboten. Ich habe aber keines gefunden, das diese vier Punkte in die Darstellung einbezogen hat. Die Lücke hoffe ich mit meinem Mandatsrechner zu schließen. Martin Lipka P.S.: Ein Dank geht an Wikipedia, für vielseitige Auskünfte!