Die Gartenstraße 43 – Ein klassizistisches Baudenkmal

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Die Gartenstraße 43 – Ein klassizistisches Baudenkmal
Mit freundlicher Genehmigung des Landesdenkmalamtes Tübingen geben wir nachstehend die gutachtliche
Stellungnahme von Frau Dr. Howalt (ehem. Leiterin der Inventarisation beim LDA Tübingen) wieder, mit der die
Eintragung des Gebäudes Gartenstraße 43 als Kulturdenkmal von besonderer Bedeutung befürwortet wurde:
Das bürgerliche Wohnhaus, ein verputzter, dreigeschossiger Bau mit Kniestock, flachem
Satteldach und ausgeschiedenem Giebeldreieck, wurde 1853-55 an jener Straße errichtet,
die unmittelbar vor den Wällen der Stadtbefestigung entlang lief, deren Mauern damals
bereits weitgehend niedergelegt waren.
Das vornehme Gebäude stellt ein in Hinsicht auf Überlieferung, Erhaltungszustand und
Qualität seltenes Beispiel der Wohnhausarchitektur aus der Anfangszeit des sich
emanzipierenden Bürgertums im 19.Jahrhundert dar.
Es war das gehobene, wohlhabende Bürgertum, das sich allgemein am Anfang des
19.Jahrhunderts zuerst außerhalb der in ihrem Befestigungsring eng gewordenen Städte
ansiedelte. Man baute zunächst noch in ihrer unmittelbaren Nähe und nutzte dabei wie auch
in Reutlingen jenen Gartengürtel, der sich vor Wall und Graben, der Stadtbefestigung um
die Städte herumgelegt hatte. Keinesfalls überall wurde diese frühe Bebauung von Anfang
an stadtplanerischen Vorgaben unterworfen wie hier streng gezogenen Baufluchten und
gleichmäßig breiten Wichs, den Abständen zwischen den Gebäuden. Freigestellt war den
Bauherren offenkundig die Ausrichtung der Häuser. Bei der Bebauung außerhalb der
Altstadt wechseln giebelständige Gebäude wie auch Gartenstraße 43 mit traufständigen
beliebig ab.
Ganz allgemein löste sich die außerhalb der Städte entstehende bürgerliche Wohnbebauung
sofort von der innerhalb der Stadtmauern gegebenen geschlossenen Bauweise und bildete
damit zugleich die frühesten Beispiele jener Architekturgattung aus, die im Laufe des
19.Jahrhunderts mit dem Begriff "Villa" belegt wird. Aus den Gartengrundstücken wurden
vielfach kleine bürgerliche Parkanlagen.
Der Bauherr von Gartenstraße 43, ein Louis Müller, war laut Reutlinger Adressbuch von
1859 Kaufmann und "Bankier". Diese berufliche Stellung entspricht der allgemein zu
beobachtenden Tatsache, dass es die wohlhabende, soziale Schicht des Bürgertums war, die
damals aus den Städten herauszog und ihre Häuser am Stadtrand, außerhalb der Mauern
errichtete. Der Bankier Müller gehörte zu den reichen und außerhalb der Stadt begüterten
Reutlinger Familien. Zuvor wohnte er im Stadtinneren in seinem Haus in der
Katharinenstraße.
Zum klassizistischen Baustil, in dem das Gebäude errichtet ist, besaß namentlich die
wohlhabende bürgerliche Schicht verbreitet noch bis weit in die zweite Hälfte des
19.Jahrhunderts hinein eine ausgeprägte Beziehung. Die Gründe dafür müssen in den
kulturgeschichtlichen Umwälzungen durch die sich in Europa ausbreitenden Ideen der
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Französischen Revolution gesucht werden, in deren Folge das Bürgertum rechtlich und
gesellschaftlich einen ganz neuen Rang erlangte; der in jener Epoche die gehobene
Baukunst beherrschende Stil war der Klassizismus, der so für die Architektur des sich
emanzipierenden Bürgertums in besonderer Weise Vorbildcharakter gewann.
Die neue Architektur der Vorstädte bildete jedoch Formen einer klassizistischen Bauweise
aus, die spezifisch und unverwechselbar sind.
Das Charakteristische der Architektur von Gartenstraße 43 liegt in den klaren Umrissen,
den ungegliederten, schlicht verputzten Wandflächen des kubischen Baukörpers; Fenster
und Eingang sind in der Gestaltung wenigen Formen und in der Anordnung konsequenter
Symmetrie unterworfen. Zu diesen Ausgewogenheit schaffenden Elementen treten
einheitliche Sturzhöhen der hohen Fenster, deren Linie auch der hohe Hauseingang
aufnimmt. Im Obergeschoss stehen die mit dekorativem Brüstungsgitter ausgestatteten
Fenster, wie es zur Erbauungszeit üblich geworden war, auf dem klar geschnittenen
Gurtgesims auf. Dazu erhält das Gebäude eine besondere Fassadenbekrönung durch
antikisch gestreckte Dreiecksgiebel über der vollen Frontbreite/ -ein Architekturmotiv, dem
von der Tempelfront herkommend für die klassizistisch ausgerichtete Baukunst immer eine
gehobene Bedeutung eignet.
In jener neuen bürgerlichen Wohnbaukunst des 19.Jahrhunderts findet eine solche
Architekturaustattung nur selten Anwendung. Mit profilierter und mit Zahnschnittfries
verzierter Ortgangleiste liegen die Giebel auf dem identisch gestalteten Traufgesims des
Hauses auf. Wirkungsvoll ist der straßenseitige Giebel im Stil des Klassizismus' auf den
Ecken mit Akroterien besetzt, hier wappenhaltende, geflügelte Fabeltiere, halb Löwe halb
Greif.
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Zu den ruhigen Grundformen des Bauwerks tritt im vorliegenden Fall ein außerordentlich
feiner Bauschmuck.
So besitzen der Eingang und zur Straßenfront hin die schmalen Fenster der Beletage
Verdachungen in Form eines reich geschmückten Gesimses mit fein profilierter
Karnieskante, Konsolen aus langgezogenen Voluten, unterfangen nochmals von zierlicher
Blattform; der Verdachungsaufsatz selbst eine feinteilige Ornamentleiste, betont durch
Palmetten, wobei als Beispiel für den motivischen Reichtum vor dem mittleren Blatt noch
ein Löwenköpfchen erscheint.
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Im Erdgeschoss sind die Konsolen der Fensterbänke rund um das Haus aufwändige
Bildungen mit Karnies und Akanthusblatt (teilweise nicht erhalten oder erneuert). Aller
Baudekor bis in die Einzelform in der Erfindung vielfältig und von großer Feinheit der
Ausführung!
Das dekorative Detail, das seine Qualität teilweise überhaupt erst in Nahsicht preisgibt,
enthält den stilkritischen Hinweis, dass das Gebäude seine schöne Ausstattung erst eine
Zeit nach der Jahrhundertmitte erhalten hat. Um 1870 mehren sich in der bürgerlichen
Architektur die Beispiele, wo zu einem wenig gegliederten Baukörper ein sparsam
eingesetzter, aber reich und feinteilig ausgeführter Bauschmuck in wirkungsvollen
Gegensatz tritt.
Diese stilgeschichtlichen Datierungskriterien stützt das zu Gartenstraße 43 vorliegende
Quellenmaterial. Es ist ein Baugesuch vom Februar 1869 erhalten, worin um die Erlaubnis
nachgesucht wird, "das Dach und die Kniestockwand nach nebenstehender
Zeichnung umbauen zu dürfen", (sowie über dem Eingang ein Glasdach anzubringen). In
bestimmten Punkten ist die Erscheinungsform des Gebäudes folglich mit diesem
Bauvorgang von 1869 zu verbinden.
Wie die von einem G.Kiferle (?) signierte Bauzeichnung belegt, hat das Gebäude im
Wesentlichen seiner Erscheinungsform 1869 bereits bestanden und entspricht stilistisch der
im Güterbuch der Stadt Reutlingen aufgeführten Bauzeit 1853/55. Überdies zeigt der
Lageplan eines Baugesuches von 1862 zu einem Gebäude auf dem nördlichen
Nachbargrundstück das Wohnhaus Gartenstraße 43 mit dem noch heute gültigen Grundriss.
Obgleich das Baugesuch von 1869 dies nicht ausdrücklich feststellt, kann es sich bei dem
"Umbau" auf Grund des Baubefundes nur um eine Aufstockung des Gebäudes durch einen
Kniestock gehandelt haben, die möglicherweise praktisch begründet war. Außer, für zwei
kleine Kammern auf der Südseite bietet das heutige Dachgeschoss durch den Kniestock
rundum geräumigen Speicherplatz. Die – wagerechten - Zangenbalken der
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Dachstuhlkonstruktion weisen sämtlich mehrere, mit gleichem Abstand vorgenommene
Einkerbungen auf, die nur als Auflager von Stangen, von Balken zu Balken, gedient haben
können; eine Aufhängevorrichtung, vielleicht für Felle, wie sie die Reutlinger
Lederindustrie nahe legen könnte?
Ob die in der "Zeichnung" (in Wirklichkeit ein auf dem Reißbrett gefertigter Riss) von
1869 dargestellte Gesimsabgrenzung des Kniestocks und seine Gestaltung als breites
Zierband unter der Traufe, wie bei Gebäuden ohne Eckfassungen üblich, ausgeführt war
und heute verloren ist, lässt sich gegenwärtig nicht nachweisen. (Ihr Fehlen tut der
vornehmen Architektur jedoch keinen Abbruch).
Der Bauriss von 1869, bzw. mittelbar die Abweichungen vom heutigen Befund liefern
Datierungsbelege für Baudekor der bürgerlichen Baukunst, die in ihren spezifischen
Erscheinungsformen bisher noch immer keine systematische Untersuchung gefunden hat.
Etwa durch die 1869 vorgesehene Kniestockdekoration mit einfachen Putzfeldern und sog.
geohrte (an den Ecken verbreiterte) Rahmungen der Fensterpaare, eine erst in den 70ger
Jahren häufig nachweisbare Bauzier.
Ebenso ergeben sich aus dem Quellenmaterial für das Aufkommen eines anderen
bezeichnenden Zierelementes zeitliche Anhaltspunkte. So für das Medaillon mit Halbbüste
eines antikisch gekleideten, bärtigen Mannes im Lorbeerkranz, das mit Dekor aus
Eichenzweigen 1869 als Schmuck des straßenseitigen Giebelfeldes anstelle des im Riß
vorgesehenen Flächendekors aus Kreis und seitlichen Dreieckfeldern angebracht worden
ist.
Der sich halbplastisch aus dem Medaillon herabneigende Kopf stellt in qualitätvoller
Ausführung ein Beispiel für eine Bauzier dar, die sich in der bürgerlichen Baukunst der
zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts großer Beliebtheit erfreute. Häufig finden sich auch
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entsprechende weibliche Darstellungen, diese meistens in Verbindung mit männlichen
Pendants.
Inwieweit es sich im Einzelfall um Portraits handelte oder um portraithafte
Personifikationen, lässt sich bisher nur in den seltensten Fällen nachweisen. Aber selbst
wenn Lorbeer und Eichenlaub fehlen, repräsentieren derartige Darstellungen eine hohe
Selbsteinschätzung, die dem Mitbürger öffentlich vorgeführt wird.
Im vorliegenden Fall erweist sich die Büste durch die Lorbeerbekränzung und die
Überhöhung durch antikische Gewandung als ein Emblem für Erfolg und Fähigkeit - hier
des Kaufmanns und Bankiers -. Diese Würdigung unterstützt noch der Giebeldekor aus
Eichenzweigen, die seit dem Anfang des 19.Jahrhunderts emblematisch als Siegeszeichen
verstanden wurden.
Durch ein Emblem wird am Gebäudeäußeren auch auf den Beruf des Hausherrn
hingewiesen, über dem Eingang erscheint .als Teil des Zieraufsatzes der aufwendigen
Türverdachung die Büste von Merkur, dem Gott der Kaufleute, mit dem ihn
kennzeichnenden geflügelten Helm.
Schließlich stellen auch die im Dekor der Fensterverdachungen vorkommenden
Löwenköpfchen zu jener Zeit nicht einfach eine aus der Tradition des Herrschaftsemblems
entwickelte Zierform dar, sondern repräsentieren inhaltlich immer auch eine hohe soziale
Eigendefinition.
Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde Bauschmuck dieser Art wegen seiner Beliebtheit von
zahlreichen Firmen neben anderen Zierelementen schließlich auch serienmäßig hergestellt
und per Katalog vertrieben. Im Zuge dieser Entwicklung ging der inhaltliche Bezug
zugunsten einer eher modischen Bedeutung weitgehend verloren.
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Der Stil der aufwändigen Türverdachung weist daraufhin, dass im Zuge des Umbaus
offenbar auch ornamentaler Baudekor erneuert oder überhaupt erst angebracht worden ist.
(Im Riss ist der Eingangsdekor durch das projektierte Glasdach verdeckt). So zeigt die
klassizistische Portalgestaltung Dekorelemente, die erst in den 1860er Jahren gebräuchlich
werden wie etwa das auf dem Gebälkbrett erscheinende Motiv des auf der Spitze.
stehenden Quadrats zwischen entsprechend eingeschlitzten, langen Rechteckfeldern.
Darüber hinaus entstehen um diese Zeit im bürgerlichen Umfeld die ersten historistischen
Kompositionen aus Motiven geschichtlich verschiedener Vorlagen, die anfangs mit einer
aus heutiger Sicht eigentümlichen Naivität vorgenommen werden. Am Reutlinger Haus ist
dafür die aufwändige Eingangsverdachung ein Beispiel, wo der Dekor klassizistische
Akanthusblätter mit Rocaillen verbindet.
Zur Rückseite des Hauses hin entwickelt sich das - massiv in sorgfältig behauenen
Sandsteinquadern aufgeführte – Kellergeschoss im abfallenden Wallgelände zum
Vollgeschoss. Hier besitzt das Gebäude einen zweiten Zugang, ein Eingangstor mit breitem
Gewände und opulenten Zwickelbossen am Sturz. Seitlich in der Fensterachse
des Obergeschosses, je ein verhältnismäßig großes, annähernd quadratisches Fenster mit
leichtem Segmentbogen der Sandsteinfassung.
Die Ostseite des Hauses ist keine Nebenansicht, sondern ist mit ansprechender Gestaltung
auf den ehemals bis zur Kaiserstraße durchlaufenden, parkartig angelegten Garten
ausgerichtet. In der Beletage eine geschosshohe, von Pfeilern unterteilte Dreiergruppe von
Fenstertüren (die äußeren heute fest eingebaut), die zu einer eingezogenen Loggia gehören;
vor der mittleren Doppeltür ein aufwändig gestalteter, gusseiserner Flachbalkon über
zierlichen eisernen Stützvoluten. Ein Balkon in der Beletage gehört zu den repräsentativen
baulichen Ausstattungselementen, die ihrer Bedeutung gemäß gemeinhin die Straßenfront
eines Hauses zieren. Wie die Brüstungsgitter der Fenster so hat auch das Geländer des
Balkons etwas von der Art einer reichen Bordüre aus gleichmäßig schmalen, Zierformen
bildenden "Bändern" und floralen Schmuckelementen, außer Blütenformen, Weinlaub und
Trauben. Dem Ziermotiv der Trauben, das auch in allen Brüstungsgittern erscheint, ist
offensichtlich eine inhaltliche Bedeutung unterlegt.
In der Mitte der Gartenfassade werden die Hauptelemente von einem Blendfeld gefasst: im
ersten Obergeschoss ein gekuppeltes Zweierfenster, in der Beletage darüber die bündig
eingefügte, ursprünglich ganz zu öffnende Loggienfront; vor allem aber wird durch diese
Gliederung das Souterrain-Tor in die Gesamtgestaltung der Fassade miteinbezogen, indem
das Blendfeld im Erdgeschoss mit dem leichten Rücksprung der mächtigen
Seitenquaderung ansetzt.
In dieser Gestaltungsweise findet sich in der bloßen Form ein Hinweis auf die Bedeutung
des Souterrain-Eingangs, der offensichtlich mehr als nur ein Kellereingang war.
Es gehört zu den Besonderheiten von Gartenstraße 43, dass hier ein bürgerlich-städtisches
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Wohnhaus über seine formalgeschichtliche Bedeutung hinaus in seltener Weise
wirtschaftliche Verhältnisse und mit ihnen zusammenhängende Abläufe und Ansprüche
greifbar macht.
Ließen sich schon im Hinblick auf die Art des Handelsgutes, das auf dem Speicher des
Hauses offenkundig hängend untergebracht war, Vermutungen anstellen, so finden sich am
Haus deutlichere Hinweise auf eine andere Ware, nämlich Wein, allein in den überall im
Gitterdekor wiederkehrenden Motiven Weinlaub und Trauben. Das Souterrain-Tor, der
Größe nach mögliche Einfahrt für Karren und Kutsche, erschließt einen geräumigen, durch
Holzstützen dreischiffig unterteilten Raum, an dessen Stirnseite mittig ein Kellerhals in
einen die gesamte Hausbreite einnehmenden, hohen
Gewölbekeller hinabführt. Auch dieser als Weinlager geeignete Keller spricht dafür, daß
der "Kaufmann" Müller u.a. Weinhändler war, was überdies die umfangreichen Weingüter
in der Umgebung von Reutlingen nahelegen, die sich in seinem Besitz nachweisen lassen.
Das durch seine verhältnismäßig großen Fenster gut belichtete Erdgeschoss, in der Mitte
mit Kopfsteinen gepflastert, im übrigen mit großen Sandsteinplatten ausgelegt, erlaubt ganz
allgemein, als Raum interpretiert zu werden, wo Waren in Augenschein genommen
wurden; andere Funktionen, wie etwa die der Warenlagerung, schließen die Gegebenheiten
aus.
Die Grundrißgestaltung des Gebäudes Gartenstraße 43 ist charakteristisch für die innere
Organisation von städtischen Bürgerhäusern jener Zeit, weist jedoch darüber hinaus einige
interessante Besonderheiten auf.
Der Hauseingang an der Gartenstraße führt in einen sog. "eingezogenen" Treppenaufgang
zum ersten Obergeschoss und hier - abgeschlossen durch eine Geschoss hohe Flügeltür mit
Oberlicht - auf einen breiten, bis zur rückwärtigen Seite des Hauses durchlaufenden
Mittelflur. Er erschließt die Zimmer, auf der linken Seite in bezeichnender Lage ehemals
auch eine Küche. Der Grundriss wiederholt sich entsprechend im Stockwerk darüber.
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Als innenarchitektonische Besonderheit des Gebäudes endet der Mittelgang hier in der
Beletage jedoch vor einer durch Pfeilerarchitektur abgegrenzten Loggia, die bereits
Erwähnung gefunden hat, und mit ihrer Wandmalerei im Folgenden noch Gegenstand der
Betrachtung sein wird.
In seinem rückwärtigen Bereich wird der Mittelgang auf der Nordseite von einem alle
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Stockwerke miteinander verbindenden, offenen Treppenaufgang berührt. Er beginnt im
Souterrain in der nordöstlichen Raumecke mit einer von der östlichen Außenwand
abgerückten, steinernen Treppe, die in gefälliger Breite in gegenläufigem Verlauf in das
erste Obergeschoss hinaufführt, dort neu am Mittelgang ansetzt und, nun in Eichenholz
ausgeführt, in gleicher, bequem zu begehender Anlage die Beletage und sodann gewendelt
den (ehemals nicht abgeschlossenen) Speicher erschließt.
Wiederum sagt hier das Gebäude durch seine architektonischen Einrichtungen etwas über
Abläufe in einem bürgerlichen Wohngebäude aus: der keineswegs in üblicher Weise als
einfache Speicherstiege errichtete obere Aufgang ins Dachgeschoss kennzeichnet ebenso
wie der bequeme Treppenabschnitt im Souterrain das gesamte Treppenhaus als Anlage, die
man offensichtlich mit Kunden benutzte.
Seine hervorragende Bedeutung besitzt das Gebäude Gartenstraße 43 vor allem auch in
seiner innenarchtitektonischen Ausgestaltung, die in Art und Qualität, sowie in der
Erhaltung außergewöhnlich ist.
Es stellt bereits eine Ausnahme dar, dass so gut wie alle Zimmertüren noch aus der
Erbauungszeit stammen, kenntlich an den nur aus quadratischen oder aus quadratischen mit
mittleren Rechteckfeldern bestehenden Türblättern und den glatten Türrahmen mit
knappem Abschlussprofil. In seltener Weise besitzen einige Türen noch die originalen
klassizistischen Messingtürklinken, - Kostbarkeiten der Überlieferung aus einem
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Bürgerhaus - klein und handlich, der Griff am verdickten Kopf mit Blatthaube und Knopf
verziert, der Rücken mit einem Akanthusblatt als Verzierung belegt.
In allen Räumen hat das Gebäude sowohl den originalen Deckenstuck als auch die Böden
bewahrt, die in den Haupträumen als Tafelparkett verlegt sind. Im ersten Obergeschoss
befindet sich zudem im nordwestlichen Eckzimmer eine besonders gestaltete Raumdecke
und in der Loggia und im Treppenhaus hervorragende, in bürgerlichen Wohnhäusern des
frühen und mittleren 19.Jahrhunderts selten erhaltene Wand- und Deckenmalereien.
Als Ausgestaltung des Raumes, den man durch den Haupteingang zuerst betritt, soll die
Betrachtung mit dem Wand- und Deckendekor des Treppenhauses beginnen:
Hier hat sich in einem bürgerlichen Wohnhaus aus der Mitte des 19.Jahrhunderts eine
Wandgestaltung im sogenannten "pompejanischen Stil" erhalten.
Als Reflex auf die ersten spektakulären Ausgrabungen der 79 n.Chr. beim Ausbruch des
Vesuv verschütteten Städte Pompeji und Herculaneum entstanden um die Mitte des 18.
Jahrhunderts überall in Europa Wandgestaltungen im Stil jener Aufsehen erregenden Funde
antiker Raumkunst. Gegen .Ende des Jahrhunderts lagen bereits zahlreiche Stichwerke vor,
die das aufgefundene Formengut antiker Wohnkunst bekannt machten. Es war vornehmlich
die gehobene, adlige Schicht, die sich schon durch die frühen Ausgrabungsfunde zu
eigenen Raumausgestaltungen im "pompejanischen Stil" anregen ließ. Besaßen die
Ausgrabungen in Pompeji und Herkulaneum im 18.Jahrhundert einen noch verhältnismäßig
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geringen Umfang, so setzte am Anfang des 19.Jahrhunderts die Freilegung vor allem von
Pompeji umfassend und planmäßig ein. Und erst jetzt gewannen, begünstigt durch den
inzwischen blühenden Klassizismus der Kunst, die durch Zeichnungen, Beschreibungen
und Dichtung verbreiteten Vorstellungen von antiken Wohn- und Lebensverhältnissen
umfassenden Einfluss auf die europäische Innenarchitektur. In Deutschland erreicht die
klassizistische Raumgestaltung im "pompejanischen Stil" ihren Höhepunkt in der ersten
Hälfte des 19.Jahrhunderts, wesentlich befördert durch den Einfluss der großen Baumeister
und Innenarchitekten Leo Klenze, München und Karl Friedrich Schinkel, Berlin.
Allerdings sind in bürgerlichen Wohnhäusern Beispiele von Wandmalereien im
pompejanischen Stil im Gegensatz zu der reichen Überlieferung aus dem Bereich der
herrschaftlichen Baukunst kaum nachzuweisen. Ebensowenig besteht bisher darüber ein
Überblick, ob Wandgestaltungen dieser Art in der bürgerlichen Wohnkultur überhaupt
selten vorkamen oder nur selten erhalten sind. So handelt es sich bei den Wandmalereien
im Treppenhaus von Gartenstraße 43 um einen in seiner Seltenheit außerordentlich
bedeutsamen Bestand:
Über gemaltem Täfersockel in bräunlicher Farbgebung stehen auf braungrünlichem Grund
auf jeder Seite je vier hochrechteckige Bildfelder in warmen „pompejanischen“ Rot, wobei
zwei schmale ein breites Feld zwischen sich nehmen; oberhalb der Treppe nach
Unterbrechung durch eine Tür noch einmal ein .schmales Bildfeld. In der Mitte der Flächen
in der für den "pompejanischen Stil" bezeichnenden schwebenden Haltung je ein Putto,
beziehungsweise in den breiteren Feldern je zwei einander zugewandte, weibliche Figuren
in antikisierenden, flatternden Gewändern.
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Unter dem oberen Rand hängen scheinbar an den Zwickelrosetten befestigte, reich
zusammengestellte Früchtefestons mit Ampelgehängen, Bändern und Schleifen. Alle
Motive sind als leicht ins Ocker gebrochene Grisaillen ausgeführt. Ein breiter .Rand aus
hell-blaugrünen Streifen mit Kreisornament in den Zwickeln und eine äußere, ockerfarbene
Ornamentleiste fassen die roten Bildfelder dekorativ ein.
Die Putti stellen an ihren Attributen erkennbar verschiedene Künste dar: dem Eingang
zunächst erscheint auf der rechten Seite mit Stift und Pergament mit dem Grundriss einer
Kirche wohl die Geometrie, sodann die Baukunst mit einem Kirchenmodell und die Musik
mit einer Laute; auf der linken Seite ist die Bildhauerkunst mit einer Skulptur dargestellt,
die Malerei mit Palette. Dem Lautenspieler gegenüber erscheint noch einmal eine
Darstellung der Musik, nun mit Posaune. Die Auswahl der Künste aus der
ikonographischen Überlieferung ist frei und subjektiv, wie es für den bürgerlichen
Bildungsumkreis im.19.Jahrhundert bezeichnend ist. So muss auch ohne Quellenhinweise
vorerst offen bleiben, warum sich zweimal ein Emblem auf den Kirchenbau bezieht und
zweimal die Musik dargestellt wird.
Das größere Bildfeld der rechten Treppenhauswand zeigt eine der beiden weiblichen
Figuren mit einem Stoffballen unter dem Arm. Ihrem mit der Geste der Versonnenheit
dastehenden Gegenüber (in der Hand ein Nähzeug?) hält sie eine Spindel entgegen. Das
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Attribut des Stoffballens weist deutlich auf eine allegorische Darstellung des
Textilgewerbes hin, wobei hier vorerst die Frage nicht beantwortet werden kann, ob dazu
ein unmittelbarer wirtschaftlich-beruflicher Bezug vorlag, oder
allgemein das schon damals in Reutlingen blühende Textilgewerbe die Begründung für
dieses Bildmotiv lieferte. In jedem Fall wird hier einem der wesentlichen Gewerbe- und
Wirtschaftszweige der Stadt in der Ausstattung eines der bedeutendsten Reutlinger
Bürgerhäuser des 19.Jahrhunderts künstlerisch Referenz erwiesen. Im entsprechenden,
gegenüberliegenden Bildfeld personifizieren zwei ähnliche, in antikisierenden, flatternden
Gewändern einander gegenüberstehende weibliche Figuren den Handel. Diese Bedeutung
ist an den Attributen der linken Figur, dem geflügelten Merkurstab und dem Segelschiff
ablesbar. Die rechte Figur hält Buch und Schreibfeder in den Händen und personifiziert in
freier, reizvoller Emblemerfindung die charakteristische Tätigkeit des Kaufmanns, Waren
zu registrieren und Buch zu führen.
Der dekorativ ornamentale Teil des Wandschmucks ist reine Schablonenmalerei, erkennbar
an der gleichförmigen Ausführung und der exakten Formwiederholung vor allem bei
spiegelbildlich verwendeten Motiven, überdies an den vielfach zum Bestandteil des
Einzelmotivs gewordenen Stege. Die schablonierte Ausführung ist wesentlich an dem
kompaktem Charakter der Zierleisten und Flächenmuster beteiligt. Über der Wandmalerei
liegt als Abschluss ein kräftigeres Ornamentband mit dem klassizistischen Motiv des sog.
"Laufenden Hundes" in Graugrün und Grauocker, begrenzt durch eine dunkle Profilleiste.
Darüber leitet eine helle, mit stehenden Ovalmotiven ornamentierte Deckenkehle zur
Raumdecke über. Der Deckenspiegel selbst mit geometrischen Feldern aus langem Oval,
Zwickel- und Querfeldern, aus eingezogenen Umrissen gebildete Zwischenfelder, in die
breite Ornamentstreifen eingelegt sind - also eine mehrschichtig erdachte
Flächenkomposition. Alle Felder werden von einfarbigen Rändern und markanten
Ornamentleisten eingefasst und durch breite Stege voneinander getrennt, in denen
ambivalent auch der graugrüne
Deckengrund gesehen werden kann, in den die Flächen eingelegt sind. In reizvollem
Kontrast zu den kompakten Flächenornamenten schmücken graphisch-zarte Zierformen aus
Voluten und Palmetten die Schmalseitenfelder und das Deckenoval, wo sie etwa das
plastisch aus Akanthusblättern gelegte Rundornament üppig umfassen, wo wohl immer eine
Lampe aufgehängt war.
Die Motive des Deckendekors sind zum überwiegenden Teil künstlerisch eigenständige
Weiterentwicklungen des maßgeblichen Vorbildes klassizistischer Dekorformen, die im
Ornament des Laufenden Hundes und in den Palmetten- und Akanthusmotiven noch
unmittelbar in Erscheinung treten. Wie anfangs dargelegt, ist die bis weit in das
19.Jahrhundert hinein bewahrte Affinität zu Formen des Klassizismus für die bürgerliche
Baukunst bezeichnend. Aber bei der Gestaltung des Dekors wird aus einer Vielfalt von
Motiven geschöpft, die nicht künstlerisch auseinander entwickelt, sondern mit Geschmack
"zusammengestellt" werden, kleinteilige und großzügige, zarte und kompakte Muster in
abgetönter Farbzusammenstellung von warmem Graugrün, Ocker und Rostrot. Große
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Bedeutung haben kompakt gemusterte Flächen. Hierin deuten sich ebenfalls bereits
Merkmale historischer Formerfindung an.
Der Grad der eigenständigen Weiterentwicklung klassizistischer Dekorformen, die
morphologisch nur noch durchscheinen, gibt einen Hinweis auf die Entstehung der
Treppenhausausmalung keinesfalls früher als in den 1870er Jahren.
Damit liegt der Schluss nahe, dass die gesamte malerische Ausstattung des Treppenhauses
zeitlich mit den Umbaumaßnahmen im oberen Teil des Hauses 1869 in Zusammenhang
gebracht werden kann.
Noch anderer Innendekor des Hauses weist durch seinen Stil darauf hin, dass im Zuge jener
Maßnahmen auch die Räume eine neue Innenausstattung erhalten haben.
Die auf dem stilkritischen Umweg über die Dekorerfindung mögliche Datierung auch der
"pompejanischen" Wandfelder ist von umso größerer Bedeutung, als weder datierte noch
undatierte Vergleichsbeispiele aus der bürgerlichen Baukunst jener Jahrzehnte zur Zeit
nachweisbar sind.
Auch die nicht mit Hilfe von Schablonen ausgeführten Motive der Wandfelder im
pompejanischen Stil sind nicht in freiem malerischen Vorgang gestaltet; verschiedene
Details, nicht zuletzt eine gewisse Naivität in der Darstellungsweise verraten, dass es sich
auch bei dieser hübschen Malerei um Arbeiten nach Vorlage handelt. Dabei ist
festzuhalten, dass in der Geschichte der dekorativen Wandmalerei das Arbeiten nach
Vorlagen das übliche ist. Welche Vorbilder dem Hausherrn von Gartenstraße 43 vor Augen
standen und welche Vorlagen benutzt worden sind, liegt zur Zeit noch im Dunkeln. Hier
bedarf es noch eines eigenen Forschungsganges, um das wahrscheinlich im herrschaftlichen
Kunstbereich zu suchende Vorbild und das diese Kunst vermittelnde Vorlagenwerk
nachzuweisen.
Interessanter Weise befindet sich diese besondere innenarchitektonische Ausstattung nicht
in einem Zimmer oder Salon, sondern im Treppenhaus, in jenem durch eine Flügeltür gegen
das übrige Haus abgegrenzten Raum, den ein Besucher zuerst betritt.
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Die beiden sich auf dem Treppenpodest gegenüberliegenden (bereits erwähnten) Türen sind
breiter und höher als diejenigen im übrigen Haus und führen in die großen vorderen
Eckräume des ersten Obergeschosses, die durch ihre Ausstattung eine besondere und
repräsentative Funktion erkennen lassen. Da beide Türen außerhalb des Wohnbereiches
liegende Sonderzugänge darstellen, ist die Vermutung erlaubt, dass es sich hier um die
Geschäftsräume des Kaufmanns und Bankiers handelt. So hängt wahrscheinlich auch die
ungewöhnliche Ausmalung des Treppenhauses im pompejanischen Stil und mit
allegorischen Darstellungen der Künste, des Handels und des (Textil-)Gewerbes mit seiner
praktischen Funktion als "Entree" für diesen Geschäftsbereich zusammen?
Im nordwestlichen Eckzimmer möchte man auf Grund des einer gewissen distingierten
Strenge nicht entbehrenden Ausstattungscharakters das eigentliche Geschäftszimmer, das
Kontor, erkennen. Der Raum besitzt ein edles, diagonal verlegtes Parkett aus konzentrisch
aufgebauten und mit dunkler Intarsialeiste verzierten, quadratischen Tafeln.
Von der Wandausstattung sind nur die Brüstungspaneele unter den Fenstern erhalten. Zu
vermuten ist ein ehemaliges halbhohes Wandtäfer und darüber eine Wandverkleidung oder
Bemalung, die zum Charakter der Zimmerdecke passte, die mit einem Dekor in braunen
Farbtönen über breiten dunkelbraunen Kehlprofilen ansetzt.
Bei der Deckengestaltung dieses Zimmers handelt es sich um eine reiche, mit
Ornamentmalerei kombinierte Scheinintarsia, deren Echtheit hier durch gemalte
Holzmaserungen oder durch
gegeneinander scheinbar mit Rand abgesetzte, von Stegen durchzogene Ornamentflächen
künstlerisch vorgespiegelt und durch plastisch aufgelegte Zierelemente aus Holz bekräftigt
wird. Die feinteiligen Zierelemente sind bei einer solchen Scheinintarsia naheliegender
Weise mit Schablonen ausgeführt.
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Die hier angewandte Surrogattechnik ist bereits aus der Renaissance überliefert und
gewinnt als gültige künstlerische Form der Wandgestaltung in der zweiten Hälfte des
19.Jahrhunderts mit dem wachsenden Interesse an reich ausgestatteten Räumen ihre
vielleicht geschichtlich größte Bedeutung.
Motivisch wird das großzügige Deckenornament zunächst von den breiten,
holzimitierenden Rahmenflächen bestimmt, die den großen, in bräunlich melierter
Farbgebung angelegten Innenspiegel doppelt einfassen, wobei das innere Element an
Schmal- und Längsseite eine von breitem Steg mit dem äußeren Rahmen verbundene
Halbkreis- und Kreisform ausbildet. Als Randeinfassung werden erhaben vortretende,
dunkelfarbige Profilleisten aus Holz verwendet, in der Wirkung des Deckendekors
ausdrucksvoll mitsprechende Elemente, ebenso wie die aus Holz geschnitzten oder
gedrechselten Zierknäufe, die als markante Betonung der Kreisflächen und der Dekorecken
benutzt werden.
Noch kontrastreicher als im Deckendekor des Treppenhauses werden großflächige
Elemente mit graphisch zartlinig gestalteten, feinteiligen Schmuckformen aus Voluten und
Pflanzenmotiven ausdrucksvoll miteinander kombiniert. Diese Ornamente füllen den
Zwischenraum zwischen den Rahmenelementen und bilden den Schmuck im Zentrum des
Deckenspiegels, wo sie an einer dunkelfarbigen Kreisfläche (wo die Lampe aufgehängt
wurde) ansetzen und in braun, ocker und weiß sternförmig ausgreifen.
Im Gegensatz zum Treppenhaus hat sich der Dekorstil dieses Eckzimmers von der in der
bürgerlichen Baukunst lange bewahrten Affinität zu klassizistischen Vorbildern gänzlich
gelöst. Die den Deckendekor charakterisierende Kombination von großzügigen Formen,
wie dem Rahmenwerk, das sich im weitesten Sinne an der Kunst der Renaissance orientiert,
und filigranhaften, morphologisch in gleicher Weise klassizistischen wie barocken oder
Vorbildern des Rokoko nachfolgenden Schmuckelementen ist kennzeichnend für die
Gestaltungsweise bereits des Historismus, der die Kunst der zweiten Hälfte des
19.Jahrhunderts beherrscht. Das hier im Deckendekor durchscheinende Vorbild der
Renaissance, ein Stil, der in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts in zunehmenden Maße
für die Verwirklichung repräsentativer Anliegen der Architektur geeignet erschien, lässt
hier an eine Entstehung eher einige Jahre nach dem Umbaudatum 1869 denken, mit dem
bisher auch innenarchitektonischer Schmuck des Hauses in Verbindung zu bringen war.
Vergleichsbeispiele für eine so qualitätvolle und reiche Surrogatkunst aus der Zeit nach der
Mitte des 19.Jahrhunderts wie sie die Deckenausführung des nordwestlichen Eckzimmers
im Erdgeschoss des Gebäudes zeigt, sind in der bürgerlichen Baukunst selten erhalten.
Auch in diesem Fall steht noch aus, das benutzte Vorlagenwerk nachzuweisen, das hier zur
Verfügung gestanden hat.
Es gehört zu den Besonderheiten des Hauses Gartenstraße 43, dass fast alle Räume mit
schmuckvollem Deckenstuck ausgestattet sind, der sich überdies in keinem Fall formal
wiederholt.
Das südwestliche Eckzimmer in der Beletage zeichnet sich vor allem durch sein
aufwändiges Tafelparkett aus, bei dem in einem Mittenspiegel ähnlich wie im "Kontor"
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quadratische Felder diagonal verlegt, jedoch mit erlesenem Effekt um Randbreite
gegeneinander verschoben sind. Um das Mittelfeld des Parkettbodens verläuft ein
dreiteiliger Randstreifen aus Quadraten und Fischgrätmuster und dazwischen einem
kostbaren Intarsia-Ornament aus dunklen Holzstreifen, die sich Quadrate und Rhomben
bildend als "Bänder" übereinander legen.
Auch in diesem Raum ist eine wahrscheinlich ehemals vorhandene besondere
Wandausstattung nicht mehr erhalten. (Die Innenseite der Flügeltür ist heute glatt
aufgedoppelt).
Kostbar wie das Parkett ist der Deckendekor, hier aus Stuck. In der Deckenmitte eine
große, achtzackige Sternform aus feinteilig sich auseinander entwickelnden
Früchteständern, Bändern und Blattformen, die den ganzen Raum dekorativ zu bestimmen
vermag. Als Wandabschluss und Randfassung des Deckenspiegels ein tief ansetzendes
mehrteiliges Band aus Profilleisten und eine Schattenkehle bildenden Rundstäben, darüber
ein feines Rankenornament aus Blüten und Blättern, zur Innenfläche hin durch eine zarte
sog. Eierstab-Leiste begrenzt. In den eingezogenen Ecken ein zierliches Zwickelelement in
Form eines Akanthusblattes.
Im Unterschied zu den vorderen Räumen der Beletage besteht der Deckenschmuck in den
sich nach der Gartenseite anschließenden Zimmern vorwiegend aus der Verzierung des
Deckenrandes, wobei in immer anderer Form Ornamentstege und Friese mit Profilleisten zu
einem linearen Randschmuck gebündelt werden. Mit großem Abwechslungsreichtum
bestehen die Zierleisten aus verschiedenen floralen Motiven, aus Blüten und Blattwerk,
darunter das klassizistische Akanthusblatt, sowie aus Voluten oder Variationen des
klassizistischen Eierstabmotivs. In einem der Räume der Beletage, vielleicht war es ein
Salon, bilden die Ornamentstege zusätzlich einen Deckenspiegel mit geometrisch
gebrochenem Umriss aus, ein Deckenschmuck, der wahrscheinlich ursprünglich auch eine
farbliche Fassung besaß. In Deckenmitte erscheint gelegentlich ein nur kleines Dekormotiv.
Die Vollständigkeit des erhaltenen Deckenstucks und die Abstufungen im dekorativen
Gesamtaufwand veranschaulichen in seltener Weise in einem Bürgerhaus aus der Mitte des
19.Jahrhunderts eine funktionale Rangabfolge der Räume, wobei hier besonders durch die
künstlerischen Unterschiede im Ausstattungscharakter die gehobene, repräsentative
Bedeutung der vorderen/ zur Straße hin ausgerichteten Räume deutlich werden.
Die als Mitteldekor des Deckenstucks benutzten, charakteristischen Sternformen geben
einen Hinweis darauf, dass das klassizistische Gebäude diesen Raumschmuck nachträglich
und ebenfalls wohl im Zusammenhang mit den Baumaßnahmen 1869 erhalten hat:
Unmittelbar vergleichbare zentrale Stuckmotive finden sich in Haupträumen der Villa
Laiblin in Pfullingen, die 1872 errichtet und mit Sicherheit unmittelbar danach auch
ausgestattet worden ist.
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In beiden Fällen handelt es sich um seltene Beispiele bürgerlicher Innenarchitektur. Die
angenäherten Entstehungsdaten zeigen, dass es sich bei den feinteiligen, aus historisch
vorgegebenen Motiven schöpferisch entwickelten Stuckformen um die
innenarchitektonische Entsprechung zum Stil des oben bereits charakterisierten/
gleichzeitig aufkommenden Bauschmucks handelt.
Einen überraschenden und seltenen Fund innenarchitektonischer Ausgestaltung eines
Bürgerhauses aus der Mitte des 19.Jahrhunderts brachten restauratorische
Freilegungsarbeiten 1988/89 ans Tageslicht. Es handelt sich um die vollständige dekorative
Ausmalung der Loggia, die auf Grund der Qualität ihrer Ausgestaltung zu den schönsten
und historischinteressantesten Räumen des Hauses gehört.
Die Loggia ist gegen den Mittelflur durch eine ihrer Fensterfront entsprechende
Pfeilerarchitektur aus Holz abgegrenzt, die hier einen mittleren breiten und zwei seitliche
schmale Durchgänge bildet. Bei der Restaurierung wurde an den Holzelementen unter
jüngeren Anstrichschichten die Fassung eines zartgrauen Marmorsurrogats freigelegt, sowie
an den Schmalseiten des Raumes eine in
gleicher Art ausgeführte Scheinarchitektur, bei der Pilaster die Wand in ein breites
Mittelfeld und schmale Seitenfelder gliedern. Rund um den Raum liegt über dieser
Architektur eine niedrige, von den wirklichen oder gemalten Pilasteraufsätzen unterteilte
Wandzone. Alle von der Architektur gebildeten kleinen und großen Felder sind
phantasievoll und reich in klassizistischem Stil dekorativ ausgemalt.
An den mit ihrer Malerei den Raum bestimmenden Schmalseiten nimmt unten zunächst ein
scheingetäfelter Sockel von der Höhe der Pilasterpostamente die Gestaltung der
Türbrüstung auf.
Darüber steht in der Mitte in rechteckigem Rahmen ein dominierendes rundbogiges Feld in
hellem Ocker, nur seitlich verziert mit einem sich aus einer Groteske am unteren Rand
entwickelnden, feinen bräunlichen Blattornament. Dazu in apartem Gegensatz ein nur
kleines Ornamentfeld mit Weiß auf Schwarz, ähnlich wirksam wie die oberen
Rechteckzwickel mit weißem Olivenzweig auf schwarzem Grund. Die schmalen
Wandfelder rechts und links fassen das Mittelfeld seitlich mit einem kräftigen
Grisaillendekor aus vegitabilen Ampelgehängen auf rostrotem Grund. In der oberen
Wandzone steigert sich der Dekor im motivischen Reichtum und Farbigkeit. Hier erscheint
vor allem phantasievolle Groteskenmalerei, ziselierte Motive zwischen Pflanze und Tier,
die Zierkartuschen begleiten und halten.
Den oberen Abschluss der Wände bildet kein gemaltes oder wirkliches architektonisches
Horizontalelement, sondern rein dekorativ motiviert ein Ornamentband aus
triglyphenartigen Senkrechtstreifen und Rosetten, abgesetzt durch eine Profilleiste. Eine mit
zartem Palmettenfries geschmückte Voute leitet zur Deckenfläche über. Hier erscheint auf
ockerfarbenem Grund zwischen Zierflächen ein großes Oval, hinter dessen
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schuppenförmigem Randornament plötzlich realistisch gemalte Ranken hervorwachsen und
die Fläche phantasievoll als obere Raumöffnung definieren, über der ein zartblauer Himmel
steht.
Den erlesenen und heiteren Charakter der dekorativen Wandmalerei kennzeichnet die
lockere Kombination von flächigem Schmuck, der in Schablonenmalerei hergestellt ist, mit
malerisch ausgeführten Dekormotiven prägt der reizvolle Wechsel zwischen klar
nebeneinandergesetzten Schmuckformen, etwa der Ornamentfriese, und feinziselierten,
reich erdachten Groteskenmotiven, die in den oberen Zierfeldern und im Deckendekor
erscheinen. Zur Erlesenheit des Wanddekors trägt wesentlich auch die
Farbzusammenstellung von gebrochenen Ockertönen, von Rotocker, Rostrot und
komplementärem Graugrün und Blau bei, wobei diese Farbtöne überdies im systematischen
Wechsel kombiniert werden.
Die künstlerische Nähe sowohl der Einzelform wie des gesamten Wandaufrisses zu
Wanddekorationen des Klassizismus weist daraufhin, dass es sich beim Wandschmuck der
Loggia um die früheste erhaltene innenarchitektonische Ausgestaltung des Hauses handelt.
Ohne dass die Wandgestaltung im Ganzen mit der großen höfischen Innenarchitektur des
Klassizismus verglichen werden könnte, wird der Wandaufriss hier in ähnlicher Weise
durch drei horizontale Streifen mit einer dominierenden Mittelzone zwischen niedrigem
Sockel und schmalen, oberen Dekorfeldern
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bestimmt, eine Aufrissgliederung, die der gestalterischen Gepflogenheit allgemein des
Klassizistischen Wanddekors in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entspricht.
Kennzeichnend für die dekorative Wandmalerei dieses Zeitraums ist auch die Bedeutung
der Rahmung, durch die Motive und Zierflächen wie in den Grund eingelegt wirken. In
nachschöpfender Handhabung dieses Prinzips ist in der Gartenstraße die Rahmung mit
nachdrücklicher formaler Wirkung mehrteilig aus ornamentierten und einfarbigen Streifen
gebildet, was den Wandschmuck von der höfischen Wandkunst in charakteristischer Weise
unterscheidet. Vielleicht ist in dem Maß an Eigenständigkeit der künstlerischen Erfindung
gegenüber dem anzunehmenden ursprünglichen Vorbild aus dem herrschaftlichen Bereich
auch ein zeitlicher Aspekt enthalten.
Ein anderer Datierungsanhalt für diese seltene klassizistische Wanddekoration aus
bürgerlichem Umfeld findet sich unter den Wappen, die in den oberen Wandfeldern als Teil
der Verzierung erscheinen, wobei nur die Wappenembleme von Reutlingen und
Sindelfingen eindeutig sind; es scheint, als seien die meisten Wappen lediglich
Weitläufigkeit suggerierend als dekoratives Accessoire verstanden und frei erfunden.
Jedoch dem im mittleren Zierfeld über der Fensterfront ins Auge fallenden Wappen mit
dem Rademblem der Müllerzunft dürfte ebenfalls eine reale Bedeutung als Familienwappen
des Hausherrn Louis Müller zukommen, was allerdings bisher nicht nachgewiesen werden
konnte.
1862 meldete dieser das Siegelemblem eines Löwen an, der ein Schild mit dem Buchstaben
M hält, heraldisch mit Sicherheit eine Erfindung des 19.Jahrhunderts, die sich für den
Bankier und Kaufmann damals geschäftlich angeboten haben könnte.
Grenzt das ab 1862 benutzte und im Dekor der Loggia (noch) nicht auftretende
Wappenzeichen die Entstehung der Loggienausmalung als Datum ante quem ein, was auch
die stilistischen Kriterien nahe legen?
Es bedarf auch hier noch der Untersuchung, welche Vorbilder oder Vorlagen für den
ungewöhnlichen und seltenen Wandschmuck maßgeblich waren. Dass die dekorative
Ausgestaltung der Loggia nicht das Werk freier Erfindung eines begabten
Dekorationsmalers ist, sondern einem Vorlagenwerk folgt, verrät ein beinahe belustigender
Sachverhalt: An beiden Schmalseiten der Loggia präsentiert eine opulente Schriftkartusche
das Wort SALVE, eine durch die Ausgrabungen in Pompeji in Mode gekommene
Begrüßungsinschrift, die sich im Eingangsbereich eines Hauses an den Besucher richtet, in
einer Loggia der Beletage jedoch nicht nur ungewöhnlich, sondern sinnlos ist.
Offensichtlich ist hier eine unvollkommene bürgerliche Bildung einem inhaltlichen
Missverständnis aufgesessen, so dass der Verwendung einer sonst geeigneten und
qualitätvollen Vorlage nichts im Wege stand.
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Das in mehrfacher Hinsicht bedeutende Gebäude repräsentiert in Qualität und Form
umfassend und anschaulich bürgerliche Architektur des frühen und mittleren
19.Jahrhunderts, belegt soziale und wirtschaftliche Verhältnisse des in den Jahrzehnten
nach der französischen Revolution zu einem neuen gesellschaftlichen Stand aufgestiegenen
Bürgertums und lässt darüber hinaus am Beispiel eines Bauherrn aus der gehobenen
Schicht der Stadt Reutlingen den Rahmen erkennen, in dem Ansprüche an Kunst und
Bildung verwirklicht werden. Da aus der fraglichen Epoche des 19. Jahrhunderts jedenfalls
im Bereich Baden-Württembergs keine vergleichbaren weiteren Bürgerhäuser dieser Art
und dieses Erhaltungszustandes erhalten sind, handelt es sich darüber hinaus um ein
außerordentlich seltenes architektur- und kulturgeschichtliches Belegbeispiel.
Dr. Howalt
Tübingen, April 1995
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