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Einleitung
A. Einführung in die Thematik
Das Thema „Apostasie“ ist der Religionsfreiheit zuzuordnen und als solches Bestandteil der Menschenrechtsdiskussion.1 Der Begriff bezeichnet die Abwendung von einer
Religion, welcher sich der Übertritt zu einem anderen Bekenntnis anschließen kann.2
Aus „christlich-abendländischer“ Perspektive scheint es zunächst wenig nahe liegend
zu sein, in der Freiheit des Religionswechsels – somit in dem Recht auf Apostasie –
ein zentrales Anliegen derjenigen internationalen Bestimmungen zu sehen, welche
Religionsfreiheit garantieren. Im sogenannten „westlichen“ Kultur- und Rechtskreis
herrscht die Vorstellung, dass dieses Menschenrecht in erster Linie dem Schutz vor
Verfolgung und diskriminierenden Maßnahmen aufgrund eines bestimmten religiösen
Bekenntnisses zu dienen bestimmt sei.3 Während dahingehende Negativerfahrungen
hier erst der jüngsten Vergangenheit angehören, ist die Apostasiedoktrin als Straftatbestand im „westlichen“ Strafrecht seit langem nicht mehr existent.4
Hingegen ist aus muslimischer Perspektive die Frage nach der Freiheit des Religionswechsels als immanenter Bestandteil der Religionsfreiheit seit jeher aktuell.
Apostasie im Islam – meist ridda oder irtidad genannt – bezeichnet den „Abfall vom
Islam“, sei es durch Konversion zu einer anderen Religion oder durch ausdrückliche
Ablehnung der Religion.5 Sie ist nach klassischem islamischem Recht mit der Todes1
2
3
4
5
Zur entsprechenden thematischen Einordnung siehe auch Gisch, Apostasie: Abfall vom Islam,
Quelle: IGFM-Zeitschrift Menschenrechte Nr. 1, 2005, abrufbar unter www.igfm.de/?id=476
(Stand: 28.10.2009).
Der Begriff „Apostasie“ leitet sich von den griechischen Wörtern apostasía bzw. apóstasis, „Abfall“, „Verrat“, ab und hatte ursprünglich eine politische Bedeutung im Sinne von Auflehnung oder
Rebellion gegen die bestehende Ordnung. Erst in der jüdisch-hellenistischen Literatur wurde der
Begriff religiös aufgeladen (Abfall von Jahwe) und bezeichnet seitdem einen Abfall vom Glauben.
Auffarth/Bernhard/Mohr, Metzler Lexikon Religion, Gegenwart – Alltag – Medien, Bd. 1, Apostasie, S. 83; Auffarth/Kippenberg/Michaels, Wörterbuch der Religionen, Apostasie, S. 41; Heinemann,
Glaubensabfall, in: Kasper, Walter (Hrsg.), Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 4, S. 696.
Dahingehend auch Schirrmacher, Der Abfall vom Islam – Schariabestimmungen und Praxis, S. 1.
Ein prominentes historisches Beispiel ist insoweit die im Jahre 1478 erfolgte Einrichtung der Inquisition nach dem Ende der Reconquista im Spanien des 8. bis 15. Jahrhunderts, mit dem Ziel,
nur äußerlich konvertierte „Ungläubige“, die insgeheim ihren früheren Glauben praktizierten, aufzuspüren und zu bestrafen. Eine sachliche Analyse dieses Phänomens findet sich beispielsweise
bei Edwards, Die spanische Inquisition, Düsseldorf 2003. Zum Tatbestand der Apostasie nach katholischem Kirchenrecht siehe Sebott, Apostasie, in: von Campenhausen, Axel Frhr./RiedelSpangenberger, Ilona/Sebott SJ, P. Reinhold (Hrsg.), Lexikon für Kirchen und Staatskirchenrecht,
Bd. 1, S. 126 ff.; sowie – unter Einbeziehung historischer Entwicklungsstadien – Althaus, Konversion – Abfall vom Glauben oder Freiheit des Glaubens?, Quelle: Theologische Fakultät der
Universität Trier, abrufbar unter www.theo.uni-trier.de/_downloads/Althaus.pdf (Stand:
28.10.2009).
Brockhaus, Enzyklopädie, Apostasie, Bd. 2, S. 221.
2
Einleitung
strafe bedroht. In Staaten, deren Rechtsordnung sich an der schari’a orientiert, kann
der bekundete Abfall vom islamischen Glauben neben strafrechtlichen Konsequenzen
auch schwere zivilrechtliche Folgen haben. Auf entsprechende Fälle macht insbesondere die Tagespresse seit einigen Jahren wiederholt aufmerksam.6 Nicht selten wird
dort über die Verfolgung und drohende Bestrafung von Personen berichtet, die sich
vom Islam ab- und einer neuen Religion zugewandt haben.7 Auch Menschenrechtsorganisationen weisen seit Jahren auf das Schicksal von Konvertiten in islamischen Ländern hin.8 Bei dem Thema der vorliegenden Untersuchung handelt es sich somit um
ein aktuelles, gesellschaftlich drängendes Problem.
In den angesprochenen Konstellationen wird in der Regel der betreffende islamische Staat beschuldigt, Menschenrechte verletzt zu haben. Ebenso schwer dürfte allerdings die Tatsache wiegen, dass in denjenigen Fällen, in denen eine Gerichtsverhandlung wegen Apostasie ausbleibt, der betreffende Konvertit dennoch mit etlichen gesellschaftlichen Konsequenzen rechnen muss. Häufig muss er ins Ausland fliehen,
wird von seiner Familie ausgestoßen oder sogar von ihr getötet, um die „Schande“ des
Abfalls von der Sippschaft „abzuwaschen“.9 Währenddessen sind Staaten, in denen es
zu solchen Übergriffen kommt, in der Regel völkerrechtlich verpflichtet, einen friedlichen Religionswechsel zu gewährleisten. Zahlreiche islamische Länder haben internationale Menschenrechtserklärungen unterzeichnet, allen voran die „Allgemeine Menschenrechtserklärung“ der Vereinten Nationen aus dem Jahre 1948.10 Vor diesem HinGisch, Apostasie: Abfall vom Islam, Quelle: IGFM-Zeitschrift Menschenrechte Nr. 1, 2005, abrufbar unter www.igfm.de/?id=476 (Stand: 28.10.2009); von der Wense, Religionsfreiheit ist fundamentales Kernstück des Kanons der bürgerlichen und politischen Freiheitsrechte, Quelle:
IFGM, Juli 2006, abrufbar unter www.igfm.de/?id=587 (Stand: 28.10.2009).
7 Zu den jüngsten Aufsehen erregenden Fällen gehörte beispielsweise der des heute im italienischen
Asyl lebenden afghanischen Konvertiten A. Rahman. Stellvertretend für die umfangreiche Berichterstattung in der Tagespresse im März 2006 siehe Dahlkamp/Koelbl, Afghanistan’s Human
Rights Desaster, Quelle: Der Spiegel, Beitrag vom 27. März 2006, abrufbar unter
www.spiegel.de/international/spiegel/0,1518,408103,00.html (Stand: 28.10.2009).
8 Vorrangig ist hier die christlich norwegische Menschenrechtsorganisation Forum 18 zu nennen,
die sich auf Grundlage von Artikel 18 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zum Ziel
setzt, religiöse Freiheit für alle Menschen zu etablieren. Einzelheiten abrufbar unter
www.forum18.org (Stand: 28.10.2009). Siehe im Übrigen entsprechende Meldungen von Organisationen wie Human Rights Watch, Amnesty International oder der Internationalen Gesellschaft
für Menschenrechte, abrufbar unter den jeweiligen Internetadressen www.hrw.org,
www.amnesty.de und www.igfm.de (Stand: 28.10.2009).
9 Schirrmacher, Der Abfall vom Islam – Schariabestimmungen und Praxis, S. 8; von der Wense,
Religionsfreiheit ist fundamentales Kernstück des Kanons der bürgerlichen und politischen Freiheitsrechte, Quelle: IFGM, Juli 2006, abrufbar unter www.igfm.de/?id=587 (Stand: 28.10.2009);
sowie dahingehend auch die Deutsche Bischofskonferenz in ihrer Arbeitshilfe Nr. 236 vom 24.
August 2009, Christus aus Liebe verkündigen, Zur Begleitung von Taufbewerbern mit muslimischem Hintergrund, S. 24.
10 Von der Wense, Religionsfreiheit ist fundamentales Kernstück des Kanons der bürgerlichen und
politischen Freiheitsrechte, Quelle: IFGM, Juli 2006, abrufbar unter www.igfm.de/?id=587
(Stand: 28.10.2009); Schirrmacher, Der Abfall vom Islam – Schariabestimmungen und Praxis,
S. 1. Unter den beteiligten islamischen Staaten enthielt sich einzig Saudi Arabien zusammen mit
Südafrika und sechs seinerzeit kommunistischen Staaten der Stimme. Dem abschließenden Entwurf der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zugestimmt hatten hingegen insgesamt fol6
B. Ziel und Zweck der Untersuchung/Methodologie
3
tergrund fragt sich, wie diejenigen muslimischen Staaten, welche die in Rede stehenden Menschenrechtsverletzungen selbst begehen oder zumindest dulden, diesen Widerspruch zwischen Anspruch und Realität rechtfertigen.11
B. Ziel und Zweck der Untersuchung/Methodologie
Die vorliegende Untersuchung beabsichtigt, einen Beitrag zur Aufklärung der Hintergründe zu leisten und die durchaus komplexe Problematik möglichst authentisch und
vollständig zu erfassen. Begleitet wird dieses Unterfangen von dem Anliegen, einen
Dialog zwischen „dem Westen“ und „der islamischen Welt“ voranzutreiben und eine
Alternative zu der Unversöhnlichkeit zu bieten, mit der sich beide Seiten im 21. Jahrhundert scheinbar mehr denn je begegnen. Für wichtig und unerlässlich wird dabei der
Hinweis gehalten, dass die nachfolgenden, durchaus kritischen Ausführungen in dieser
Studie nicht das Ziel oder den Zweck verfolgen, „den Islam an sich“ als Religion zu
diskreditieren. Ohne Rücksicht auf bestehende soziale, politische und wirtschaftliche
Verhältnisse wird diese Religion häufig pauschal als eine in sich geschlossene, homogene und unveränderliche Macht dargestellt – so radikal anders, dass es möglich wird,
sie als historische Gegenspielerin anzusprechen. Bei einer solchen Sichtweise steht auf
der einen Seite der rationale, humanistisch geschulte Demokrat und auf der anderen
Seite der fanatisierende, mittelalterliche „homo islamicus“. Auf dieser Ebene, so stellte
Lüders als Redakteur im Politressort der ZEIT bereits im Jahre 1998 fest, bleibt
schließlich als Dialogform nur noch der von Huntington beschriebene „clash of civilizations“.12
gende Staaten: Afghanistan, Argentinien, Australien, Belgien, Bolivien, Brasilien, Burma, Kanada, Chile, China, Kolumbien, Costa Rica, Kuba, Dänemark, die Dominikanische Republik, Ecuador, Ägypten, El Salvador, Äthiopien, Frankreich, Griechenland, Guatemala, Haiti, Island, Indien,
Iran, Irak, Libanon, Liberien, Luxemburg, Mexiko, die Niederlande, Neuseeland, Nicaragua,
Norwegen, Pakistan, Panama, Paraguay, Peru, die Philippinen, Siam (Thailand), Schweden, Syrien, die Türkei, Großbritannien, die Vereinigten Staaten, Uruguay und Venezuela. Quelle: Yearbook of the United Nations 1948-49, S. 535.
11 Dahingehend auch die Hinterfragung von Schirrmacher, Der Abfall vom Islam – Schariabestimmungen und Praxis, S. 1.
12 Lüders, Den Islam nicht verteufeln, Quelle: ZEIT dokument, Heft 1 (1998), S. 19. Huntington,
The Clash of Civilizations? Foreign Affairs 1993, S. 22 ff. Bezeichnenderweise – und nach hiesigem Verständnis zutreffend – hat Huntington den vorgenannten Titel seiner Studie in ihrer ursprünglichen, in der Zeitschrift Foreign Affairs abgedruckten Fassung noch mit einem Fragezeichen versehen, während er den Titel seiner später in Buchform herausgegebenen Thesen schlicht
als Tatsache formulierte (The Clash of Civilizations, New York 1996). Huntingtons These vom
„Zusammenprall der Kulturen“ soll im Übrigen in einer im September 2009 erschienenen Kurzstudie („Kultur und Konflikt in globaler Perspektive“) entkräftet worden sein, die die Bertelsmann
Stiftung beim Institut für Politische Wissenschaft der Universität Heidelberg in Auftrag gegeben
hat. Danach würden zwischenstaatliche Konflikte durch kulturelle Gegensätze zwar oftmals verstärkt, letztgenannte seien zumeist jedoch nicht als deren Ursache anzusehen. Siehe dazu die Berichterstattung der Bertelsmann Stiftung, Kulturelle Konflikte treten häufiger auf – der „Kampf
der Kulturen“ findet trotzdem nicht statt, abrufbar auf der Webseite der Bertelsmann Stiftung, Gütersloh, unter www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xchg/SID-2315A5B5-09FBEC9A/bst/hs.xsl/
4
Einleitung
Im Rahmen einer ehrlichen Auseinandersetzung mit „dem Islam“ ist jede Art der
Verklärung allerdings ebenso deplaziert. Auch die vielfach vorgeschlagenen Konzepte
eines „dialogischen Verstehens“, des „von innen Verstehens“ oder des „Nachfühlens“,
die im Rahmen der öffentlichen Diskussion beispielsweise von theologischer Seite
vorgeschlagen werden,13 können im Rahmen einer rechtlichen Analyse keine Grundlage für eine Auseinandersetzung bieten. Insofern kritisiert die tscherkessischstämmige
Sozialwissenschaftlerin Kelek zu Recht, dass es sich bei dieser im interreligiösen Dialog, in der Migrationsforschung und der praktischen Sozialarbeit weit verbreiteten
Vorgehensweise um keine analytische, sondern eher um eine therapeutische Methode
handele, um sich dem Islam zu nähern, der nicht distanziert „von außen“ betrachtet,
nicht „an sich“, sondern einfühlend, von innen, „in sich“ erklärt werden solle.14 In den
genannten Disziplinen mag diese Methodik ihre Berechtigung haben.15 Aus dem
Blickwinkel einer juristischen Analyse mit der Zielsetzung, nicht in der (empathischen) Erkenntnis zu verharren, sondern Handwerkszeug für praktikable, umsetzbare
Lösungsmodelle zu liefern, kann sie jedoch nicht hilfreich sein. Kelek geht sogar so
weit, zu behaupten, dass der Versuch einer Annäherung mit Hilfe der Instrumente der
Einfühlung und der Werbung um Verständnis beispielsweise die Diskussion um den
Islam in Deutschland lange Zeit blockiert und die multikulturelle Integrationspolitik
habe scheitern lassen. Diese Art des „Kulturrelativismus“, der „verstehenden Soziologie“ hat sich in ihren Augen als verantwortungslos und wissenschaftlich nicht haltbar
erwiesen. Die soziale Verantwortung des Wissenschaftlers entstehe vielmehr aus der
Erkenntnis, „soziales Handeln deutend [zu] verstehen und dadurch in seinem Ablauf
und in seinen Wirkungen ursächlich [zu] erklären“.16 Dies muss auch Ausgangspunkt
für eine rechtswissenschaftlich angelegte Untersuchung mit „interdisziplinären Einschlägen“ wie der vorliegenden sein, die sich mit dem Islam in seiner Eigenheit als
soziale, als lebensbestimmende, als rechtliche und als politische – um Machterhalt und
13
14
15
16
87813.htm (Stand: 28.10.2009). Siehe ebenso die entsprechende Berichterstattung von di Blasi,
Kultur oder Kampf, Quelle: Hannoversche Allgemeine, Beitrag vom 16. September 2009, S. 9.
So beispielsweise von Küng: „Heute muss es darum gehen, so gut wir können, von innen her zu
verstehen [Hervorhebung von Küng], warum Muslime Gott und Welt, Gottesdienst und Menschendienst, Politik, Recht und Kunst mit anderen Augen sehen, mit anderem Herzen erleben als
etwa Christen.“ Küng, Islam, Geschichte, Gegenwart, Zukunft, S. 54. Ebenso zitiert bei Kelek, Islam, Religion und Politik. Eine Religion als politische Bewegung. Vorlesung anlässlich der Mercator-Professur 2006 an der Universität Duisburg-Essen am 16. November 2006, S. 15.
Kelek, Islam, Religion und Politik. Eine Religion als politische Bewegung. Vorlesung anlässlich
der Mercator-Professur 2006 an der Universität Duisburg-Essen am 16. November 2006, S. 15.
Insoweit weist auch Kelek durchaus einlenkend auf die unterschiedlichen Intentionen vorhandener Methoden hin: Nur da es Küng beispielsweise um die Herausarbeitung der grundlegenden
geistlichen Gemeinsamkeiten der Buchreligionen, nicht um die Herausarbeitung ihrer Unterschiede gehe, sei er bereit, die Plattform rationaler Erkenntnis zu verlassen. Siehe Kelek, Islam, Religion und Politik. Eine Religion als politische Bewegung. Vorlesung anlässlich der MercatorProfessur 2006 an der Universität Duisburg-Essen am 16. November 2006, S. 15, Fn. 13.
Kelek, Islam, Religion und Politik. Eine Religion als politische Bewegung. Vorlesung anlässlich
der Mercator-Professur 2006 an der Universität Duisburg-Essen am 16. November 2006, S. 16,
mit dem Hinweis auf die dahingehenden Thesen des Soziologen Max Weber.
B. Ziel und Zweck der Untersuchung/Methodologie
5
-ausbau ringende – Realität befasst, ohne vorhandene zivilisatorische Unterschiede
leugnen zu wollen.17
Der Versuch der Erarbeitung einer interkulturellen Gesprächsgrundlage über Menschenrechte verlangt dennoch Behutsamkeit. Dem Gegenüber gerecht zu werden setzt
zunächst voraus, den Partner im Gespräch in seiner Eigenständigkeit anzuerkennen.
Zugleich darf die Eigenständigkeit des Gegenübers nicht kulturalistisch zu einer unüberbrückbaren „Andersheit“ stilisiert werden, da dies wenig Freiraum für geistige
Entwicklung und kommunikativen Austausch ließe.18 Insoweit sind die in der Wissenschaft – meist in Anlehnung an die vorgenannte Huntingtonsche These – wiederholt zu
findenden, vergleichenden Analysen zwischen „dem Islam“ (schlechthin) und „dem
Westen“ (schlechthin) meist von folgenden Erkenntnissen geprägt:
Teilweise besteht die Tendenz, beide Rechtstraditionen, insbesondere aber „die islamische“ auf ein statisches, geradezu monolithisches Konstrukt zu reduzieren. Tatsächlich aber wird zu zeigen sein, dass auch sie – ebenso wie das von europäischen
Einflüssen geprägte „westliche“ Rechtsdenken – dynamischen und pluralen Traditionen entstammt. In der Auseinandersetzung mit dem Islam in Bezug auf die Menschenrechte gilt es zudem, überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, dass es auch im Kontext dieser Religion inzwischen eine ganze Reihe unterschiedlicher Abhandlungen zu diesem
Thema gibt.19 Menschenrechte sind seit Jahrzehnten bereits zum Gegenstand einer innerislamischen Diskussion geworden, die sich zwischen integralistischer Apologetik
einerseits und selbstkritischer Reformbereitschaft andererseits bewegt.20 Aus der Tatsache, dass eine solche Debatte stattfindet (jedenfalls dort, wo die politischen Verhältnisse einen halbwegs offenen Meinungsaustausch ermöglichen), folgert Bielefeldt zu
Recht, dass sich kulturalistische Kategorien, die die politische Arena nach der Manier
Huntingtons in geschlossene kulturelle „Welten“ – Orient und Okzident – aufteilen, als
gleichermaßen wirklichkeitsfremd wie aufklärungsfeindlich erweisen.21 Hinzu kommt,
dass ein so geprägtes Vorverständnis auch die Lösung von Rechtsproblemen erschwert, wenn es nicht offen gelegt wird.22
Im Übrigen wird den Verfassern vergleichender Analysen vorgeworfen, nicht selten
einen spitzfindigen Orientalismus an den Tag zu legen, indem sie das „westliche Sys17 Diese Unterschiede leugnen zu wollen, liefe nach Einschätzung des Historikers und israelischen
Gesandten in Berlin, Lewy, auf Selbstbetrug hinaus. Lewy, Nimm meine Schuld auf dich, Wie tief
ist der politische Riss zwischen Orient und Okzident? Die Religionsgeschichte gibt Antworten.
Quelle: Die ZEIT vom 16. Januar 2003, S. 7.
18 Bielefeldt, Menschenrechte in der islamischen Diskussion, S. 1.
19 Bielefeldt, Menschenrechte in der islamischen Diskussion, S. 1.
20 Insbesondere auf letztere Tatsache wird in der wissenschaftlichen Literatur wiederholt hingewiesen, oftmals mit dem Ausdruck des Bedauerns, dass dieser Diskussionsbestandteil in der „westlichen Welt“ kaum wahrgenommen werde. Siehe beispielsweise Bielefeldt, Menschenrechte in der
islamischen Diskussion, S. 1; sowie Schirrmacher, Der Abfall vom Islam – Schariabestimmungen
und Praxis, S. 11. Ebenso Flores, Die innerislamische Diskussion zu Säkularismus, Demokratie
und Menschenrechten, in: Ende, Werner/Steinbach, Udo (Hrsg.): Der Islam in der Gegenwart,
S. 620 (633 f.).
21 Bielefeldt, Menschenrechte in der islamischen Diskussion, S. 13, m.w.N. auf Al-Azmeh, Die Islamisierung des Islams. Imaginäre Welten einer politischen Theologie, Frankfurt a.M. 1996, S. 10.
22 Rohe, Der Islam – Alltagskonflikte und Lösungen, Rechtliche Perspektiven, S. 15.
6
Einleitung
tem“ als Beurteilungsmaßstab heranziehen, anhand dessen die Angemessenheit und
Kompatibilität des islamischen „anderen“ beurteilt werde.23 Im Rahmen der vorliegenden Studie wird zwar nicht dahingehend argumentiert, dass islamische Rechtsvorstellungen per se eine erstrebenswerte Alternative zum internationalen Völkerrecht verkörpern, noch, dass sich diejenigen Rechtsmodelle, die zeitgenössische islamische
Staaten anzubieten haben, von vornherein durch Menschlichkeit und Güte auszeichnen. Da nach internationalem Verständnis – trotz des innerislamisch existenten Diskurses – in der Praxis nicht weniger islamischer Staaten nach wie vor schwerste Menschenrechtsverletzungen im Raume stehen, welche die Verursacher mit islamischen
Rechtsgrundsätzen rechtfertigen, muss ein Blick auf die Hintergründe vielmehr schonungslos ausfallen. Auch bleibt den Verfassern rechtsvergleichender Untersuchungen
mit „westlichem“ Ausbildungshintergrund bereits um der Bildung von Axiomen wegen gar nichts anderes übrig, als das ihrem Kulturkreis eigene Rechtsverständnis wenigstens zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen zu erklären. Jedenfalls ausgehend
von der Prämisse, dass Menschenrechte universell sind, ihnen ein jeweils religionsneutraler Schutzbereich zuzuerkennen ist – mithin der Geltungsanspruch des Rechts
vor den jedweder Religion gestellt wird –, müssen sämtliche Folgerungen daraus nach
hiesigem Verständnis als methodisch zutreffend anerkannt werden.24 Vorzugswürdig
scheint dennoch ein Dialog unter dem Vorzeichen der selbstkritischen Bereitschaft des
„Westens“ zu sein, seinen „der islamischen Welt“ übergeordneten Blickwinkel zu
überwinden. Insoweit ist Strawson zuzustimmen, nach dessen Auffassung es sich bei
dieser Haltung nicht nur um ein erstrebenswertes Ideal handelt, sondern um eine
Grundvoraussetzung zur Schaffung ausgeglichener Verhältnisse zwischen beiden Seiten. Nichts trägt aus seiner Sicht mehr zur Destabilisierung dieses Verhältnisses bei,
als islamisch geprägten Gesellschaften ihre Legitimierung zu nehmen. Dies gilt insbesondere in einer Zeit, in der sie – und dies ist nicht zu verkennen – ihrerseits mit Bedrohungen von islamistischer Seite konfrontiert werden.25 Auch entspricht es der hiesigen Überzeugung, dass sich eine fortschreitende Verbesserung des internationalen
Menschenrechtsschutzes und die Suche nach Bündnisgefährten für die Verwirklichung
der Menschenrechte im islamischen Rechtskreis langfristig nur über eine ehrliche und
aktive Auseinandersetzung mit letztgenanntem erreichen lassen. Ohne ein fundiertes
Hintergrundwissen um die vorhandenen islamischen Menschenrechtskonzeptionen,
den innerislamischen Diskurs und „das islamische Recht“ als solches sowie um vorhandene Unterschiede zum „westlichen“ Kultur- und Rechtskreis wird dies nicht mög-
23 Cockayne, Islam and international humanitarian law: From a clash to a conversation between civilisations, IRRC 2002, S. 597.
24 Gestützt werden diese Überlegungen im Übrigen von F. Müller, dem zufolge „sprachliche wie
inhaltliche Vorverständnisse (…) in ihrer produktiven Funktion als Bedingung und Voraussetzung
von Verstehen allgemein wie vor allem auch in der Rechtsarbeit gesehen werden [müssen].“ F.
Müller, Juristische Methodik, S. 165.
25 Strawson, Encountering Islamic Law, Vortrag anlässlich der Critical Legal Conference, die vom
9. bis 12. September 1993 im New College, Oxford, abgehalten wurde. Quellen: University of
East London (U.K.) und International Islamic University Malaysia, Kuala Lumpur (Malaysia),
abrufbar unter www.iiu.edu.my/deed/lawbase/jsrps.html (Stand: 28.10.2009).
C. Bedeutung der Religionsfreiheit für das Individuum
7
lich sein. Die Entscheidung darüber, ob er diese und die vorhergehenden Überlegungen teilt, muss freilich dem Leser überlassen bleiben.
C. Bedeutung der Religionsfreiheit für das Individuum
Die Frage, weshalb sich gerade eine Auseinandersetzung mit der Freiheit des Religionswechsels für die dargelegten Zwecke eignen soll, lässt sich schlicht damit beantworten, dass es sich bei diesem Thema geradezu um einen Brennpunkt in der Auseinandersetzung mit dem Islam handelt. Die Anerkennung dieses Rechts als immanenter
Bestandteil der Religionsfreiheit gehört neben der Frage nach der Stellung der Frau,
dem sogenannten ÷ihƗd, und dem Problem der Körperstrafen bis dato zu den zentralen
Konfliktherden, an denen sich das spannungsgeladene Verhältnis zwischen den internationalen Menschenrechten und dem Islam entlädt und eine Lösung nach einer bisweilen sowohl bei Muslimen als auch bei Nicht-Muslimen zu findenden Einschätzung
zweifelhaft scheinen lässt.26 Die generelle Frage nach der Religionsfreiheit zeichnet
sich durch ein besonders hohes Konfliktpotential aus, vermutlich auch deshalb, weil
sie sämtliche der angesprochenen Streitpunkte tangiert, wenn nicht gar in sich vereint.
Schwartländer fasst ihren immensen Einfluss auf die Geschichte der Menschenrechte
wie folgt zusammen:
„Es kann indessen nicht geleugnet werden, dass gerade das Recht auf Religionsfreiheit in der
Geschichte häufig, ja fast in der Regel den herrschenden Religionen abgerungen werden
musste und vielen noch immer ein Stein des Anstoßes ist. Das galt für das Christentum bis in
die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein, für den Islam gilt es im Allgemeinen bis heute. Zu den
elementaren Unrechtserfahrungen, von denen das Menschenrechtsdenken seinen Ausgang
nimmt, gehören insbesondere diejenigen Erfahrungen von Diskriminierung, Gewissenszwang, ja Bedrohung an Leib und Leben, die gläubigen Menschen in christlichen und islamischen Ländern angetan wurden, sei es dass man sie als ,Ungläubige‘ oder ,Andersgläubige‘
diskriminierte, sei es dass man sie als ,Abweichler‘ vom wahren Glauben oder als ,Verräter‘
verfolgte, wenn sie aus Überzeugung den Glauben wechselten. Es ist der Aufstand des Gewissens, der sich hier als Recht des Menschen artikuliert und sich gegen die Gewalt wendet,
die Menschen durch Menschen im Namen der ,wahren Religion‘ angetan wird.“27
Hinzu kommt, dass das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit in all
seinen Ausdrucksformen den Menschen als Individuum in seiner tiefsten Existenz betrifft. Es spielt keine Rolle, ob man sich für einen religiösen Menschen hält oder nicht,
26 Stellvertretend für dahingehende Schlussfolgerungen auf nicht-muslimischer Seite siehe beispielsweise Busse/Honecker, Gottes- und Weltverständnis in Islam und Christentum, EZWInformation Nr. 123 (1993), S. 18, 22. Stellvertretend für eine muslimische Einschätzung siehe
z.B. die aus dem Jahre 2001 stammende Feststellung des irakischen Oppositionspolitikers Scheich
Muhammad Ali – ein schiitischer Muslim – der zufolge „die islamische Lehre hinsichtlich der
Menschenrechte ihrem Wesen nach der westlichen Auffassung ähnlich“ sei – „abgesehen jedoch
von einigen Unterschieden, die etwa die rechtliche Stellung der Frau, die Meinungsfreiheit und
auch die Religionsfreiheit betreffen.“ Zitat bei Schwarz, Die Prager Weltethik, Das „Forum 2000“
über den nahöstlichen Terrorismus, FAZ vom 18. Oktober 2001. Zur Kategorisierung der vier genannten Problemfelder siehe im Übrigen Rohe, Der Islam – Alltagskonflikte und Lösungen,
Rechtliche Perspektiven, S. 41.
27 Schwartländer, Einleitung, in: Schwartländer, Johannes (Hrsg.), Freiheit der Religion, Christentum und Islam unter dem Anspruch der Menschenrechte, S. 13 (28).
8
Einleitung
um dennoch die Funktion von Religion für den einzelnen Menschen zu begreifen –
namentlich, dass gerade Religion etwas ist, das den einzelnen Menschen in seinem
Innersten erfassen und ihn allein als Individuum mit etwas verbinden kann, das außerhalb dieser Welt steht, seinem Dasein einen Sinn verleihen, ihm ein Ziel geben, ihm
Trost, Kraft und Hoffnung spenden kann.28 Das religiöse Erlebnis ist individuell und
persönlich. Gerade diese Merkmale verleihen der Religionsfreiheit unter den Menschenrechten eine besonders sensible Stellung und machen sie so zerbrechlich.
D. Aufbau der Untersuchung
Die Untersuchung ist in fünf Kapitel aufgeteilt. Sie beginnt im ersten Kapitel mit einer
Darstellung des Prüfungsmaßstabs für Apostasie: Nach einem kurzen Überblick über
die universelle Konzeption der UN-Menschenrechte, ihre Bedeutung, die wesentlichen
vorhandenen Rechtsgrundlagen sowie einer Überprüfung der Effektivität ihrer
Schutzmechanismen erfolgt eine detaillierte Betrachtung der universell angelegten
Religionsfreiheit selbst. Die auch hier zunächst allgemein aufgeworfenen Fragen nach
Begriff, Umfang und Inhalt, Bedeutung und Stellung dieses Menschenrechts in der
internationalen Ordnung, sowie einer kurzen Abgrenzung zum Verbot der religiösen
Diskriminierung, führen schließlich zu einer Betrachtung der Verankerung der Religionsfreiheit in den insoweit wichtigsten Konventionen des internationalen Menschenrechtsschutzes. Untersucht werden Artikel 18 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte aus dem Jahre 1948, Artikel 18 des Internationalen Pakts über Bürgerliche
und Politische Rechte von 1966, die einschlägigen Bestimmungen aus der Erklärung
über die Beseitigung aller Formen von Intoleranz und Diskriminierung aufgrund der
Religion oder der Überzeugung aus dem Jahre 1981 sowie aus dem Übereinkommen
über die Rechte des Kindes von 1989. Der Schwerpunkt des Augenmerks liegt dabei
auf der Frage nach einer jeweils wirksamen Verbürgung der Freiheit des Religionswechsels. Dargelegt wird zum einen, welche Haltung die bei den Entwurfarbeiten zu
diesen Übereinkommen beteiligten islamischen Staaten speziell zur Wahlfreiheit eingenommen haben; zum anderen wird überprüft, ob und inwieweit die betreffenden
Bestimmungen ihrem Schutz in der Praxis gerecht werden können. Nach einer anschließenden Problematisierung der Frage, ob und inwieweit es einen gewohnheitsrechtlich anerkannten völkerrechtlichen Mindeststandard der Religionsfreiheit gibt,
schließt das Kapitel mit einer Bestandsaufnahme zum internationalen Schutz religiöser
Minderheiten mit Blick auf das Problem der Apostasie im Rahmen von Artikel 27 des
Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte.
Im zweiten Kapitel erfolgt eine Darstellung der Konzeption der Menschenrechte in
islamisch geprägten Staaten und ihrer Haltung zur Religionsfreiheit. Hier werden wesentliche Vorstellungen dieses Rechtskreises zum Umgang mit Apostasie sowie die
Hintergründe herausgearbeitet, die das bereits angesprochene Spannungsverhältnis zu
den universellen Menschenrechten erzeugen. Von vornherein sei vermerkt, dass eine
Untersuchung dieses Konflikts nicht in der Form einer klassischen Rechtsvergleichung
28 Kimminich, Religionsfreiheit als Menschenrecht, Untersuchung zum gegenwärtigen Stand des
Völkerrechts, S. 11.
D. Aufbau der Untersuchung
9
erfolgen kann. Hintergrund ist die Tatsache, dass der islamische Rechtskreis keine
Trennung von Staat und Religion vorsieht. Da der Islam zwar Rechtsvorschriften enthält, jedoch nur zu einem geringen Teil eine Rechtsordnung verkörpert, ist es von
vornherein nicht möglich, seine religiösen und rechtlichen Vorschriften, sofern sie sich
denn mit Eindeutigkeit finden lassen, den internationalen Rechtsvorschriften gegenüberzustellen.29 Die Frage, ob und inwieweit Kollisionsfälle auftreten, kann daher nur
mit Rückgriff auf die Grundlagen des Islams in ihrer rechtlichen Dimension beantwortet werden. Bereits aus diesem Grund werden zunächst die Grundstrukturen sowie die
wesentliche Entwicklung des islamischen Rechts dargestellt, gefolgt von einer Veranschaulichung des vielschichtigen Spektrums der im islamischen Rechtskreis vorhandenen Menschenrechtskonzepte. Es wird gezeigt, dass hier maßgebliches Gewicht der
schari’a und ihrer jeweiligen Auslegung zukommt. Im Anschluss werden die wichtigsten bis heute von muslimischer Seite erarbeiteten „islamischen Menschenrechtserklärungen“ untersucht, namentlich die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte im Islam aus dem Jahre 1981, die Erklärung der Menschenrechte im Islam von 1990 und als
weitere Menschenrechtsinitiative die Arabische Charta der Menschenrechte in den
Fassungen aus den Jahren 1994 und 2004. Anhand der in diesen Erklärungen zu findenden Aussagen zur Religionsfreiheit wird nicht nur geschildert, unter welchen Voraussetzungen sich konservative Muslime eine Verbürgung von Religionsfreiheit im
Rahmen einer Konvention vorstellen, sondern auch, welche Charakteristika ihres Verständnisses zu Kollisionen mit den internationalen Menschenrechten führen und die
Akzeptanz letzterer auf muslimischer Seite erschweren.
Im dritten Kapitel erfolgt eine umfassende Analyse der Apostasiedoktrin. Beleuchtet werden ihre theoretischen Grundlagen – Tatbestandsvoraussetzungen, schariatische
Legitimierung der Todesstrafe, Strafzweck der Doktrin sowie kritische Überlegungen
zeitgenössischer reformorientierter Muslime – und ihre Umsetzung in der Praxis, sowohl aus der historischen Perspektive als auch anhand von drei aktuellen Länderportraits (Sudan, Ägypten und Tunesien). Die Auswahl dieser Staaten ist insoweit repräsentativ, als sich die rechtlichen Konsequenzen wegen eines Religionswechsels vom
Islam an dem jeweiligen Rang orientieren, den die schari’a in den ausgewählten
Rechtsordnungen einnimmt. Dahingehende Unterschiede haben zur Folge, dass sich
die rechtlichen Konsequenzen für betroffene Konvertiten unterschiedlich äußern können. Das Kapitel schließt mit einer unverzichtbaren Darstellung des Zusammenhangs
von Apostasie und der Stellung religiöser Minderheiten im islamischen Rechtskreis.
Dieser Konfliktbereich steht mit der Thematik der vorliegenden Arbeit bereits deshalb
in enger Verknüpfung, da auch solche religiöse Minderheiten, die sich vom Islam abgespalten haben, ohne den islamischen Glauben als solchen aufzugeben, des Glaubensabfalls bezichtigt werden. Dieses Phänomen lässt sich mit dem Begriff der „Grup-
29 Rohe, Der Islam – Alltagskonflikte und Lösungen, Rechtliche Perspektiven, S. 17. Fikentscher
resümiert aus der Beobachtung, dass ein Regel-Ausnahme-Denken, ein Generalisieren und Konkretisieren, ein Denken in Normen, Subsumtion, Tatbestand und Rechtsfolge nicht stattfinden,
dass das islamische Recht „ein Beleg für eine hoch entwickelte juristische Dogmatik fragmentierter Denkweise“ sei. Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Bd. I: Frühe
und religiöse Rechte, Romanischer Rechtskreis, S. 319.
10
Einleitung
penapostasie“ treffend beschreiben.30 Insofern wird auf die Situationen der Ahmadiyya
in Pakistan und der Baha’i im Iran eingegangen.
Im vierten Kapitel soll ausgelotet werden, wo juristische Lösungsansätze liegen
könnten, um ein lebbares Recht auf Apostasie auch im islamischen Rechtskreis Wirklichkeit werden zu lassen. Zentrales Anliegen ist dabei die Erarbeitung einer Perspektive, die ein Festhalten an der Universalität der Menschenrechte ermöglicht,31 ohne die
eigene kulturelle Identität der Muslime vollständig in Frage zu stellen. Behandelt werden innovative Reformansätze, die auch innermuslimisch diskutiert werden, und die
sich zwischen säkularistischen Positionen einerseits und einer historisch-kritischen
Rechtsauslegung der schari’a-Quellen – allen voran des Korans – andererseits bewegen. Die Betrachtung erfolgt unter Einbeziehung der Problematik, dass reformorientierte Überlegungen als solche – u.a. wegen der fehlenden Trennung von Religion und
Staat – als Angriff auf das Tabu Religionskritik und somit ihrerseits als Apostasie gedeutet werden könnten. Während die Ausführungen zu den Befürwortern eines strikten
Laizismus nur skizziert werden, liegt der Schwerpunkt der Analyse auf dem Instrument der kritischen Koraninterpretation – hier insbesondere der von Taha und AnNa’im entwickelten Methode – und der Überprüfung ihres Reformpotentials für eine
Neudeutung der Religionsfreiheit im Sinne universeller Maßstäbe. Die Betrachtung
mündet zum Ende des vierten Kapitels in der Einschätzung, dass der islamische
Rechtskreis in der Theorie durchaus über Reformpotential verfügt. Die praktische Umsetzung erfordert jedoch eine Entwicklung, die von den Muslimen selbst vollzogen
werden sollte.
Das fünfte Kapitel fasst die Ergebnisse der Untersuchung thesenartig zusammen.
E. Terminologische Schwierigkeiten
Die im Rahmen der vorliegenden Arbeit teilweise erfolgte Verwendung der Begriffe
„westlich“ und „islamisch“ ist dazu prädestiniert, auf Einwände zu stoßen. Nicht zuletzt im Interesse des globalen Geltungsanspruchs der internationalen Menschenrechte
ist es jedoch Anliegen der Verfasserin, von kulturalistischen Kategorien weitgehend
Abstand zu nehmen. Dort, wo dennoch von „christlich-abendländischen“ oder „westlichen“ in Abgrenzung zu „islamischen“ Perspektiven die Rede ist, ist dies lediglich auf
heuristische Motive zurückzuführen.32 Insbesondere die Verwendung des Adjektivs
„islamisch“ soll kein inhaltliches Werturteil bedeuten, sondern seinen jeweiligen Bezug aus Gründen der Darstellbarkeit lediglich in ein bestimmtes kulturelles und geopo30 Siehe Tellenbach, Die Apostasie im islamischen Recht, S. 12.
31 Zu einer vertieften Auseinandersetzung mit der Universalität der Menschenrechte als solche kann
auf das nach wie vor repräsentative Werk von Kühnhardt, Die Universalität der Menschenrechte,
Studie zur ideengeschichtlichen Bestimmung eines politischen Schlüsselbegriffs, München 1987,
verwiesen werden. Eine anschauliche Auseinandersetzung aus rechtlicher Perspektive – unter zusätzlicher Einbeziehung der Huntingtonschen Thesen – nimmt weiterhin Petersohn, Islamisches
Menschenrechtsverständnis unter Berücksichtigung der Vorbehalte muslimischer Staaten zu den
UN-Menschenrechtsverträgen, S. 152 ff., vor.
32 Eine idealtypische Begriffsverwendung zu diesem Zwecke dürfte nach Einschätzung Bielefeldts
zumindest (noch) vertretbar sein. Bielefeldt, Menschenrechte in der islamischen Diskussion, S. 2.
F. Quellenauswahl
11
litisches Feld verorten. Sofern in der nachfolgenden Untersuchung daher insbesondere
von „islamischen Staaten“, dem „islamischen Rechtskreis“, der „islamischen Rechtslehre“ oder – im weitesten Sinne – von „islamischen Auffassungen“ die Rede ist, besagt dies zunächst lediglich soviel wie „von Muslimen getragen“ oder „im Raum des
Islams angenommen“.33
Der daneben verwendete Begriff des „islamischen Rechts“ dient in erster Linie der
Beschreibung der gemeinsamen, über die Jahrhunderte entwickelten Grundsätze in den
sunnitischen und schiitischen Rechtsschulen. Dabei ist zu bedenken, dass nur im Bereich wesentlicher Rechtsgrundlagen weitgehende Einigkeit zwischen den einzelnen
Richtungen herrscht, nicht jedoch in den meisten Einzelfragen. Dennoch erkennen sich
jedenfalls die sunnitischen Rechtsschulen untereinander als gleichwertig an. Insofern
bestehen gemeinsame Grundsätze. Zudem erkennen viele Verfassungen islamischer
Staaten die schari’a (als Gesamtheit religiöser und rechtlicher Regelungen des Islams)
schlechthin – also nicht die Ausrichtung an einer bestimmten Rechtsschule – als
Grundlage der Rechtsetzung und Rechtsanwendung an. Dennoch ist heute zuallererst
das islamische Recht in seiner konkreten Ausgestaltung in den jeweiligen Staaten
maßgeblich.34
F. Quellenauswahl
Da eine Auseinandersetzung mit dem Thema Apostasie bislang weniger in der
Rechtswissenschaft als vielmehr in zahlreichen anderen Fachrichtungen stattgefunden
hat, namentlich in der Soziologie, Theologie, Politologie, in der Geschichts- und in der
Islamwissenschaft, hat neben der Hinzuziehung rechtswissenschaftlicher Literatur insbesondere auch die Analyse von Textmaterial aus diesen fachfremden Disziplinen zu
einem unverzichtbaren Gegenstand der Untersuchung gemacht werden müssen.35 Diese Vorgehensweise hat einerseits zwar den Vorteil, wissenschaftliche Erkenntnisse
umfassend berücksichtigen zu können, stößt jedoch unweigerlich auch auf methodische Schwierigkeiten, da die betreffenden Autoren das Thema in der Regel mit Hilfe
der Methode ihrer eigenen Disziplin aus einer jeweils anderen Perspektive heraus beleuchten. Die Folge ist eine unterschiedliche Schwerpunktsetzung in der jeweiligen
Darstellung, die das Extrahieren der juristisch bedeutsamen Aussage bisweilen erschwert und eine scharfe Trennung nicht immer ermöglicht hat.
33 Einige vertiefende Überlegungen zum Begriff des „islamischen Staates“ erfolgen im 2. Kapitel
der vorliegenden Untersuchung.
34 Zu den benannten terminologischen Problemen in Bezug auf den Begriff des „islamischen
Rechts“ siehe auch Rohe, Das neue ägyptische Familienrecht: Auf dem Weg zu einem zeitgemäßen Islamischen Recht, Das Standesamt 2001, S. 193 (194, Fn. 7).
35 Dies muss erst Recht für eine Auseinandersetzung mit der Religionsfreiheit als solcher gelten.
Lanarès erläutert: „La liberté religieuse est un principe extrêmement complexe. Pour en comprendre le sens et l’importance, nous devons faire appel à la théologie, à la philosophie, à l’histoire et
à la science juridique.“ Lanarés, La liberté religieuse dans les conventions internationals et dans
le droit public general, S. 17.
12
Einleitung
Berücksichtigt wurden sowohl die Schriften muslimischer als auch nichtmuslimischer Wissenschaftler aus den vorgenannten Disziplinen36 sowie die Positionen einflussreicher muslimischer Politiker und Glaubensvertreter. Angesichts der –
insbesondere im Zeitalter des Internets – stetig wachsenden Anzahl an Veröffentlichungen kann die getroffene Quellenauswahl keinen Anspruch auf Vollständigkeit
erheben. Es ist dennoch darauf geachtet worden, einen möglichst authentischen Querschnitt des aktuellen innerislamischen Meinungsspektrums zum betroffenen Themenkomplex zu bieten.
Hinzuweisen ist allerdings darauf, dass die Verfasserin der arabischen Sprache nicht
mächtig ist. Die Auswertung des vorhandenen Quellenmaterials hat sich daher in weiten Teilen auf Sekundärquellen beschränken müssen, hier vornehmlich auf deutschund englischsprachiges, streckenweise auch auf französischsprachiges Schrifttum.37
Eine gewisse Abschwächung dieses „Dilemmas“ ist gleichwohl darin zu sehen, dass
zahlreiche arabische Rechtsgelehrte inzwischen nicht mehr nur in ihrer Muttersprache,
sondern vielfach auch in der englischen oder französischen, zum Teil – wie beispielweise Kelek – sogar in der deutschen Sprache veröffentlichen. Dabei handelt es sich
nicht immer „nur“ um Übersetzungen, denen ohne Zweifel bereits eine gewisse Tendenz zu Wertungen innewohnt, sondern auch um Primärquellen, welche die betreffenden Urheber selbst in der jeweiligen Fremdsprache verfasst haben. Dies wird nicht
selten dann der Fall sein, wenn es sich um reformorientierte oder zumindest doch kritische Überlegungen zum Thema Apostasie handelt, für die der jeweilige Verfasser in
seinem Heimatland Gefahr läuft, seinerseits der Apostasie bezichtigt zu werden.38
36 Eine anschauliche Übersicht über die Annäherungsversuche „westlicher“ Rechtswissenschaftler
an das islamische Recht, über ihre Paradigmen und jeweiligen Forschungsbeiträge bietet Thielmann, A Critical Survey of Western Law Studies on Arab-Muslim Countries, in: Dupret, Baudouin/Berger, Maurits/Al-Zwaini, Laila (Hrsg.), Legal Pluralism in the Arab World, S. 40 ff.
37 So entstammen auch sämtliche Koranzitate dem Werk „Der Koran“ – Übersetzung von Khoury,
unter Mitwirkung von Abdullah, Gütersloh, revidierte 2. Auflage 1992.
38 Siehe zu den vorstehenden Überlegungen auch die entsprechenden Gedankengänge bei Petersohn,
Islamisches Menschenrechtsverständnis unter Berücksichtigung der Vorbehalte muslimischer
Staaten zu den UN-Menschenrechtsverträgen, S. 5 f., die sich im Rahmen ihrer Untersuchung bereits mit den geschilderten Schwierigkeiten konfrontiert sah.
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