Ökologische Genomik VON GENEN ZU ÖKOSYSTEMEN D ie moderne Biologie deckt ein ungemein breites Spektrum ab: von grundlegenden Vorgängen in den Zellen bis hin zum globalen Ökosystem »Erde«. Dabei waren genetische und ökologische Forschungen bisher kaum verknüpft. Zwar weiß man schon lange, dass sich Organismen an wechselnde Umweltbedingungen anpassen, die genetischen Prozesse dahinter blieben aber oft rätselhaft. Ein neues, multidisziplinäres Forschungsgebiet – die ökologische Genomik – will diese Lücke schließen und eine wichtige Frage der Biologie klären: die nach den genetischen Grundlagen evolutionärer Anpassungen. Herkömmliche genetische Analysen sind technisch aufwändig. Deshalb beschränkten sich Forscher auf die Untersuchung ausgewählter Modellorganismen. So eignen sich Fadenwürmer oder Taufliegen auf Grund ihres kurzen Lebens besonders gut für Laborexperimente. In ihrem künstlichen Umfeld stellen sie gewissermaßen Abstraktionen natürlicher biologischer Systeme dar. Daraus lässt sich freilich nur begrenzt ableiten, wie frei lebende Populationen mit ihrer Umwelt interagieren1–3. Zudem konzentrierte sich die traditionelle Genetik darauf, einzelne Erbfaktoren zu untersuchen, die jeweils ein bestimmtes qualitatives Merkmal im Erscheinungsbild, dem Phänotyp, hervorrufen. Meist beeinflusst aber eine Vielzahl von Genen die Ausprägung von Merkmalen, die für Interaktionen mit der Umwelt entscheidend sind. Im Phänotyp äußert sich dies in einer breiten Palette von Varianten mit fließenden Übergängen (Bild 1). Forscher sprechen hier von quantitativen Merkmalen. Die bisherige Genomforschung auf natürliche Populationen auszudehnen, eröffnet somit Chancen, die genetischen Grundlagen von Anpassungen wie auch » Die ökologische Genomik vereint unterschiedliche biologische Disziplinen und offenbart die Mechanismen der Biodiversität Wechselwirkungen zwischen Organismen und ihrer Umwelt zu entschlüsseln. Für die genetische Untersuchung quantitativer Merkmale in einer Population gibt es verschiedene Verfahren – die »Quantitative Trait Locus«-Analyse (QTL) etwa oder die »genomweiten Assoziationsstudien« (GWAS). Bei Letzteren vergleichen Forscher phänotypische Daten einer natürlichen Population mit einer Vielzahl so genannter Sequenzmarker im Genom – und das bei tausenden Individuen4. Über statistische Analysen ermitteln sie dann jene Regionen der DNA, die mit der Ausprägung des Merkmals korrelieren. NEUE TECHNOLOGIEN Ebenso kann man heute gezielt nach Genen für jüngst entstandene Anpassungen fahnden. Dazu müssen sich Biologen nicht einmal vorab auf ein bestimmtes Merkmal festlegen, denn jede natürliche Auslese hinterlässt Spuren im Genom. Zum Einsatz kommt hier etwa die systematische Suche nach evolutionären Signaturen (wie selective sweeps), bei der man Muster der DNAVariation in natürlichen Populationen analysiert5. Ist eine solche Signatur einmal identifiziert, kann man nach einem damit assoziierten Merkmal suchen. Die Untersuchung paralleler Adaptation ermöglicht dann die Prüfung der universellen Gültigkeit der gewonnenen Ergebnisse. Durch Kombination dieser Ansätze gelang es bereits, spezifische Gene etwa für die Panzerplatten von Stichlingen oder die Blütezeiten bestimmter Pflanzen zu finden6,7. Fortschritte bei der Entzifferung und Analyse von DNA-Sequenzen – etwa S elbst bei Modellorganismen dauerte die Isolierung von Genen, die von nur einem mutanten Phänotyp bestimmt sind, bisher Monate oder sogar Jahre. Heute können Forscher am MaxPlanck-Institut für Entwicklungsbiologie mutante Gene mit Hilfe 26 Forschungsperspektiven der Max-Planck-Gesellschaft | 2010+ durch Nachweis von Einzelnukleotid-Polymorphismen (SNP) mit DNA-Chips – erlauben immer umfassendere Durchmusterungen. Dadurch lassen sich vollständige Gensortimente für adaptive Merkmale auch bei Arten ermitteln, die nicht zu den Modellorganismen gehören. Mit der kommenden »dritten Generation« von Sequenzierverfahren werden komplette Populations- und Ökosystemanalysen in bisher ungeahnter Größenordnung möglich8. Die ökologische Genomik profitiert zudem von rasanten Verbesserungen bei Bildgebung und Fernerkundung: Bis vor Kurzem erfassten satelliten-, luft- oder bodengestützte Beobachtungen nur allgemeine Trends in Ökosystemen. Da die entsprechenden Geräte wie Digitalkameras immer leistungsfähiger werden und sich drahtlos in Netzwerktechnik integrieren lassen, können Forscher die Dynamik von Ökosystemen weltweit immer detaillierter aufschlüsseln. Dies offenbart zum Beispiel räumliche und zeitliche Verläufe der Interaktionen zwischen Organismen und ihrer natürlichen Umwelt. Welche Fortschritte lässt die ökologische Genomik für die nähere Zukunft erwarten? In zwei Jahren werden Forscher die Genome tausender Vertreter einer sie interessierenden Spezies sequenzieren und vergleichen können, um so die natürlichen Erbgutvarianten und Signaturen der Anpassung zu entschlüsseln – und zwar bei frei lebenden Populationen, die genetischen Analysen bisher kaum zugänglich waren. Möglich wird auch, die Genome ganzer Mikrobengemeinschaften aus kleinsten Umweltproben effizient zu entziffern. Das gibt Aufschluss über Ar- von Sequenzierungstechniken innerhalb von Tagen bestimmen. Die Anwendung von Kartierungstechniken auf wild lebende Arten wird die rasche Identifikation von Genen mit großen phänotypischen Effekten möglich machen (Schneeberger, K. et al., Nature Methods 6, 550 – 551, 2009). BIOLOGIE UND MEDIZIN Die ökologische Genomik sucht Antworten auf die Frage, welche Spuren Umwelteinflüsse im Erbgut von Organismen hinterlassen. Technologische Fortschritte erlauben heute erstmals, Ergebnisse umfangreicher Erbgutanalysen mit den Merkmalen, Funktionen und Wechselbeziehungen von Lebewesen in ihrem Ökosystem zu verknüpfen. In den nächsten fünf bis zehn Jahren wird dieser junge Forschungszweig helfen, die Grundlagen der ökologischen Anpassung und damit der Evolution biologischer Vielfalt besser zu verstehen. Bild 1 | Variationen der wild wachsenden Blütenpflanze Arabidopsis thaliana tenzusammensetzung, Genbestand und Stoffwechselwege. Die nächste große Herausforderung besteht darin, die komplexen Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Genomen zu verstehen. Die Individuen dieser Art zeigen eine große Spannbreite in Morphologie und Größenwachstum – auch wenn sie unter identischen Bedingungen im Gewächshaus gezogen werden. Typischerweise zeugen solche Merkmale von einer großen Variabilität der ein Merkmal bestimmenden multiplen Gene. Die natürliche Selektion und jene unter Laborbedingungen unterscheiden sich fundamental: Die Populationsgröße ist bei Experimenten zwangsläufig begrenzt. Vorteilhafte Genvarianten lassen sich hierbei nur entdecken, wenn sie dem Individuum einen Selektionsvorteil in der Größenordnung von rund zehn Prozent verschaffen. In der Natur dagegen können sich problemlos auch Varianten durchsetzen, die nur ein hundertstel Prozent an Verbesserung bringen (Bild 2). Die ökologische Genomik erarbeitet deshalb auch neue experimentelle Konzepte. Je mehr und je differenziertere Daten dabei zusammenkommen, desto leistungsfähiger müssen auch die Verfahren zu ihrer Auswertung sein. Hier sind von Bioinformatikern völlig neue Lösungen gefragt9. In den kommenden fünf bis zehn Jahren werden Genetik und Ökologie immer mehr miteinander verschmelzen. Erst wenn wir die Grundlagen der Anpassung und Interaktion von Lebensgemeinschaften kennen, lässt sich umfassend begreifen, wie Ökosysteme funktionieren, was sie leisten und unter welchen Bedingungen sie stabil bleiben. Statt Veränderungen wie bislang fast nur zu beschreiben, kann die Wissenschaft diese dann mit einiger Sicherheit vorhersagen, etwa im Hinblick auf mögliche Folgen des globalen Klimawandels. Die ökologische Genomik wird uns tiefere Einblicke in die enorme biologische Vielfalt auf unserem Planeten gewähren. Der technologische Fortschritt gibt uns die erforderlichen Werkzeuge an die Hand, um besser zu verstehen, warum Organismen so sind, wie sie sind, und auf welche Weise die natürliche Umwelt ihre Gene geformt hat. Die Herausforderung besteht darin, herauszufinden, wie beides zusammenhängt. ➟ Bibliographie siehe Seiten 38 und 39 Bild 2 | Zusammenhang zwischen der natürlichen Selektionskraft (Selektionskoeffizient) und der genetischen Funktion Der minimale Selektionskoeffizient, der eine genetische Funktion aufrechterhalten kann, ist 1/2Ne. Dabei ist Ne die effektive Populationsgröße. Um solchen Funktionen auf die Spur zu kommen, bedarf es komplexer Experimente in Größenordnungen bis in die Populationsskala. genetische Standardexperimente 1 komplexe Experimente SELEKTIONSKOEFFIZIENT Bilder: Janne Lempe und Detlef Weigel, Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie NEUE FORSCHUNGSGEBIETE Grundfunktion Experimente auf Populationsebene ökologische Funktion 1 2Ne 2010+ | Forschungsperspektiven der Max-Planck-Gesellschaft 27