Humangenetik

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Humangenetik
Unterrichtsbegleitendes Material
zur Vorlesung im Sommersemester 2013
Institut für Humangenetik Lübeck
Universitätsklinikum Schleswig-Holstein
http://www.uksh.de/humangenetik-luebeck/Lehre.html
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VORBEMERKUNGEN
Sehr geehrte, liebe Studierende
Im Folgenden haben wir zu den einzelnen Unterrichtseinheiten der Vorlesung „Humangenetik
für Studierende der Medizin“ kurze Texte und Notizen zusammengestellt. Diese
Informationen sollen Ihnen helfen, die Vorlesung nachzubereiten und sich auf die Klausur
vorzubereiten. Sie ersetzen keinesfalls den Besuch der Vorlesung und die Benutzung von
Fachbüchern zur Vertiefung des Stoffes. Wir empfehlen, dass Sie sich zumindest ein
Lehrbuch kaufen oder ausleihen.
Die Lernziele sind in einer gesonderten Datei zusammengestellt und können von unserer
Internet-Seite http://www.uksh.de/humangenetik-luebeck/Lehre.html heruntergeladen werden.
Als Lehrbücher empfehlen wir:
Taschenlehrbuch Humangenetik
Murken, Grimm, Holinski-Feder
Thieme-Verlag, 8. Auflage (2011)
Basiswissen Humangenetik
Schaaf & Zschocke
Springer-Verlag, 2.Auflage (2013)
Angewandte Humangenetik
Read & Donnai
deGruyter-Verlag, 1. Auflage (2008)
Humangenetik,
Tariverdian & Buselmaier
Springer-Verlag, 4. Auflage (2006)
Als Nachschlagewerk ist hilfreich
Taschenatlas Humangenetik, Wirth & Passarge
Thieme-Verlag, 3. Auflage (2008)
Wichtige Online-Adressen:
Über die Homepage des National Center for Biotechnology Information (NCBI) haben Sie
Zugriff auf PubMed, OMIM (Online Mendelian Inheritance in Man) und andere relevante
Datenbanken
www.ncbi.nlm.nih.gov/
Umfangreiche Informationen zu genetisch bedingten Krankheitsbildern finden Sie unter:
www.orphanet.de
www.ncbi.nlm.nih.gov/sites/GeneTests/review
2
1. EINFÜHRUNG IN DIE HUMANGENETIK
HUMANGENETISCHE BERATUNG
Die genetische Beratung ist ein Kommunikationsprozess, in dem menschliche Probleme
behandelt werden, die mit dem Vorliegen oder dem möglichen Auftreten eines genetisch
bedingten Krankheitsbildes in einer Familie zusammenhängen. Dieser Prozess beinhaltet das
Bemühen einer oder mehrerer entsprechend ausgebildeter Personen, die einem einzelnen oder
einer Familie dabei helfen
o medizinische
Fakten,
einschließlich
Diagnose,
Krankheitsverlauf
und
Behandlungsmöglichkeiten zu verstehen
o die Bedeutung von Erbfaktoren in der Ätiologie einer Erkrankung zu verstehen und
Erkrankungsrisiken für Verwandte richtig einzuschätzen
o die Entscheidungsmöglichkeiten bei der Verarbeitung von Erkrankungsrisiken zu
verstehen
o die bestmögliche Einstellung zu der Erkrankung eines betroffenen Familienmitglieds
beziehungsweise zu der Möglichkeit des Wiederauftretens einer Erkrankung zu
gewinnen.
Zu einer genetischen Beratung gehören regelmäßig:
o die Klärung der persönlichen Fragestellung und des Beratungsziels
o die Erhebung der persönlichen und familiären gesundheitlichen Vorgeschichte
(Anamnese), einschließlich Stammbaumerhebung über drei Generationen
o die Bewertung vorliegender ärztlicher Befunde
o die körperliche Untersuchung der Ratsuchenden oder deren Angehörigen, wenn dies
für die Fragestellung relevant ist
o die Untersuchung an Blut oder anderen Geweben, wenn für die Fragestellung
erforderlich
o eine möglichst genaue medizinisch-genetische Diagnose
o eine ausführliche Information über die in Frage kommenden Erkrankungen
beziehungsweise Behinderungen
o eine Abschätzung spezieller genetischer Risiken
o eine Beratung über die allgemeinen genetischen Risiken
o eine ausführliche Beratung über die möglichen Bedeutungen dieser Informationen für
die Lebens- und Familienplanung und ggf. die Gesundheit
o ein ausführlicher individueller „Beratungsbrief“, der die wesentlichen Inhalte der
Beratung zusammenfasst
Die „Nichtdirektivität“- also die Beratung die keinen Einfluss auf die Entscheidung der
Ratsuchenden nimmt - ist ein wesentliches Prinzip der genetischen Beratung. Eine direktive
Einflussnahme des Beraters auf die Entscheidungsfindung der Ratsuchenden ist mit diesem
Ziel nicht vereinbar. Die humangenetische Beratung lässt sich wesentlich von den gemeinsam
erarbeiteten Beratungszielen und Bedürfnissen der Ratsuchenden leiten. Es bleibt im
Ermessen des Ratsuchenden, nahe Verwandte, sofern notwendig, zu informieren.
3
Mögliche Anlässe einer genetischen Beratung sind
o Geburt eines Kindes mit einer angeborenen Erkrankung oder Entwicklungsstörung
(Diagnosestellung, Bestimmung des Wiederholungsriskos, Möglichkeiten der
Pränataldiagnostik)
o Erkrankungen oder Entwicklungsstörungen bei Verwandten
(Ermittlung des individuellen Erkrankungsrisikos für den Ratsuchenden oder dessen
Kinder,
Risikoberechnung,
Frage
der
prädiktiven
Diagnostik
einer
spätmanifestierenden Erkrankung)
o Altersbedingte Risiken
(z.B. Risiko für Down-Syndrom bei erhöhtem mütterlichen Alter; Aufklärung über
Aussagekraft und Risiken vorgeburtlicher Diagnostik)
o Konsanguinität der Ratsuchenden
(Stammbaumerhebung im Hinblick auf autosomal rezessive Erkrankungen,
Heterozygotentestung bei Thalassämie)
o Habituelle Aborte
(elterliche Chromosomenanalysen zum Ausschluss balancierter Translokationen)
o Totgeburten
(ggf. Röntgendiagnostik, pathologisch anatomische Untersuchung und
Chromosomenanalyse zur Diagnosestellung)
o Fertilitätsstörungen
(Ausschluß von Chromosomenstörungen)
o Abklärung eines möglichen teratogenen oder mutagenen Risikos
Neben der Diagnostik im Rahmen der Abklärung einer klinischen Symptomatik, die
Gegenstand einer genetischen Beratung sein kann, sind die Ergebnisse von pränataler oder
prädiktiver Diagnostik sowie der Heterozygotendiagnostik komplexere Probleme in der
genetischen Beratung.
o Pränatale genetische Diagnostik
(Erörterung von Möglichkeiten, Grenzen und mögliche Konsequenzen vor der
Durchführung der Diagnostik und ggf. bei auffälligem Befund erneute Beratung)
o Heterozygotentestung
(Aufklärung über Häufigkeit, Ursache, Symptomatik, Verlauf und Therapie der
Erkrankung, auf deren Anlageträgerschaft hin untersucht werden soll)
o Prädiktive Diagnostik
(Die Untersuchung eines gesunden Menschen in Hinblick auf eine erbliche
Disposition. Bei behandelbaren Erkrankungen können sich individuelle präventive oder
therapeutische Maßnahmen ergeben. Bei nicht behandelbaren Erkrankungen können sich
wichtige Entscheidungsoptionen hinsichtlich der Lebens- und Familienplanung eröffnen.
Details sind in den „Richtlinien zur prädiktiven genetischen Diagnostik“ der
Bundesärztekammer festgelegt.)
Die humangenetische Beratung wird im Zeitalter einer stetig wachsenden Zahl genetischer
Tests wichtig und verhindert unsinnige und kostspielige Diagnostik. Sie nimmt eine zentrale
Schlüsselstellung für die verantwortungsvolle Anwendung genetischen Wissens in der
klinischen Praxis ein.
4
Literatur zu Humangenetische Beratung:
o Wissenschaftlicher Beirat der Bundesärztekammer: Richtlinien zur pränatalen
Diagnostik von Krankheiten und Krankheitsdispositionen. Dtsch Ärztebl 1998, 95:
A3226-3242
o Wissenschaftlicher Beirat der Bundesärztekammer: Richtlinie zur prädiktiven
genetischen Diagnostik. Dtsch Ärztebl 2003; 100: A1297-1305
o Zerres K: Humangenetische Beratung, Dtsch Ärztebl 2003, 100: A2720-2727.
o Symbole für die Stammbaumskizze
Definitionen
Fehlbildung (Malformation) Früher: „Missbildung“ (Obsolet!)


Morphologischer Defekt eines Organs /Organteils
Ergebnis abnormer embryonaler Entwicklung
Beispiele: Vitium cordis; LKG-spalte, Syndaktylie
Dysmorphie (Minor anomaly; „Minoranomalie“;geringe Anomalie;
kleiner morphogenetischer Fehler


Ebenfalls Ausdruck abnormer, nicht optimaler embryonaler Entwicklung
Typischerweise nicht therapiebedürftig, wohl aber diagnostische Bedeutung,
besonders bei multiplen Dysmorphien!
5
Beispiele: Epikanthus, Hypertelorismus, Vierfingerfurche, Schalskrotum
Dysplasie


Abnorme Gewebsdifferenzierung („Dyshistogenese“)
Ergebnis: Form und/oder Größenänderung d. Organs
Deformation


Abnorme Form/Größe oder auch Position eines Teils des Körpers
Ursache: Einwirkung mechanischer Kräfte
Disruption („Sekundäre Fehlbildung“)


Morphologischer Defekt eines Organs oder Organteils oder einer Körperregion
Ursache: exogene Störung eines ursprünglich normalen Entwicklungsprozesses
Assoziation


Statistisch gehäufte, über den Zufall hinausgehende, mehr oder weniger konstante
Kombination von Entwicklungsanomalien
Typisch auch: ätiologische (kausale) Heterogenität
Beispiele: VACTERL-Assoziation; MURCS-Assoziation
Sequenz

Eine Reihe („Kaskade“) von Anomalien, die sich auf eine einzige bekannte (oder
wahrscheinliche) primäre Anomalie oder einen mechanischen Faktor zurückführen
lassen
Beispiele: Robin-Sequenz; Oligohydramnion-Sequenz
Syndrom


Definiertes „Muster“ multipler Anomalien, häufig bekannte Ätiologie.
Anomalien pathogenetisch wahrscheinlich korreliert, Zusammenhang aber weniger
geklärt als bei der Sequenz
Beispiele: Hunderte!
6
2. GRUNDLAGEN DER ZYTOGENETISCHEN DIAGNOSTIK
Chromosomengruppen
Bänderungstechniken
Diagnostische Möglichkeiten in der Zytogenetik
o
o
o
o
Chromosomenanalyse
Fluoreszenz in situ-Hybridisierung (FISH)
Subtelomeruntersuchung
CGH-Array (comparative genomic hybridization)
Indikationen zur zytogenetischen Diagnostik
o
o
o
o
Multiple Aborte
Wachstumsverzögerung
Niedriges Geburtsgewicht und Entwicklungsverzögerung
Dysmorphien und Fehlbildungen
7
o Mentale Retardierung
8
Chromosomenaberrationen
o Numerische Veränderungen
o Strukturelle Veränderungen
Deletion
Duplikation
Inversion (parazentrisch, perizentrisch)
Ringchromosom
Isochromosom
Translokation (reziprok, zentrische Fusion)
Chromosomenbrüchigkeit (fragile Stellen)
o (Uniparentale Disomien)
Beispiele für numerische Chromosomenaberrationen
47,XX/XY,+21 (Trisomie 21, Down-Syndrom)
o
o
o
o
o
o
o
o
o
o
Häufigkeit abhängig vom mütterlichen Alter,
durchschnittlich ca. 1 : 650, Geschlechterverteilung 1 : 1
nach außen oben ansteigende Lidachse
groß erscheinende Zunge
Muskelhypotonie
mentale Retardierung (IQ zwischen 20 und 50)
Niedriges geburtsgewicht, Kleinwuchs
Herzfehler (gehäuft AV-Kanal)
Fehlbildungen des Magen-Darm-Traktes (Duodenalatresie, M. Hirschsprung)
Leukämien
47,XX/XY,+13 (Trisomie 13, Pätau-Syndrom)
o
o
o
o
o
o
o
-Häufigkeit abhängig vom mütterlichen Alter (1 : 10000/20000)
Normales Geburtsgewicht
Fehlbildungen des Gehirns (Holoprosenzephalie), Gesichts, Herzens,
Magen-Darm-Traktes und der Nieren
- Postaxiale Hexadaktylie
-Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte
-Skalpdefekte
47,XX/XY,+18 (Trisomie 18, Edwards-Syndrom)
o
o
o
o
o
o
o
o
- Häufigkeit abhängig vom mütterlichen Alter (1 : 6000)
- bei Geburt zu klein und dystroph
- Mikrozephalus
- Fehlbildungen des Herzens, Gehirns, Magen-Darm-Traktes und der Nieren
- geistige Behinderung
- Muskelhypotonie
- ausgeprägte Ernährungsprobleme, vor allem bei Kleinkindern
- schwere Entwicklungsstörungen
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45,X (Monosomie X, Turner-Syndrom, Ullrich-Turner-Syndrom)
o
o
o
o
o
o
o
o
o
Häufigkeit 1 : 3000
Niedriges Geburtsgewicht
- Kleinwuchs
- fehlende Pubertätsentwicklung
- Pterygium colli (Flügelfell)
tiefer Haaransatz, Ptosis, tief angesetzte Ohren,
weiter Mamillenabstand, Nagelauffälligkeiten
- Teilleistungsschwächen
- keine Eierstöcke angelegt => Hormonsubstitution notwendig
Mikrodeletionssyndrome
 Phänotypbeschreibung erfolgte vor chromosomaler Charakterisierung
 Verlust eines kleinen Chromosomensegments
 Verlust einer kleinen Zahl benachbarter Gene
Beispiele für Mikrodeletionssyndrome
Wolf-Hirschhorn-Syndrom, del(4)(p16.3)
o Prä- und postnatale Dystrophie
o Charakteristisches Gesicht mit Hypertelorismus, kurzem betonten Philtrum,
herabgezogenen Mundwinkeln
o Herzfehler
o Mikrozephalie
o Schwere mentale Retardierung, Krampfanfälle
Williams-Beuren-Syndrom, del (7) (q11.23)
o
o
o
o
o
o
Charakteristisches Gesicht mit Strabismus, und kurzer Nasenspitze
Herzfehler (supravalvuläre Aortenstenose)
Kleinwuchs
Mentale Retardierung
Infantile Hyperkalzämie
Spezifischer Verhaltensphänotyp
Del 22q11.2, (Velo-kardio-faziales-Syndrom, Shprintzen-Syndrom, Di George-Syndrom)
o Herzfehler (typisch: unterbrochener Aortenbogen, Pulmonalatresie/-stenose, VSD,
Fallot´sche Tetralogie)
o Gaumenspalte-nasale Sprache
o rechteckige Nase – hypoplastische Nasenflügel
o schwere Immundefekte
o - Störungen des Kalziumhaushaltes
o - Kleinwuchs
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o - Entwicklungsverzögerung
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3. PRÄNATALDIAGNOSTIK, GENETISCHE BERATUNG
Methoden der Pränataldiagnostik: invasiv vs. nicht invasiv
Nicht invasive Diagnostik
o Ultraschalluntersuchung
o Biochemische Parameter
(z.B. Triple-Test)
Invasive Diagnostik:
o Chorionzottenbiopsie (CVS)
o Amniozentese (AC)
o Fetalblutentnahme (FBS)
Biochemische Parameter
Erst-Trimester-Screening:
o Ultraschall, PAPP-A, HCG (im Serum der Mutter)
o 11.-13. Schwangerschaftswoche (SSW)
Triple-Test:
o AFP, HCG, Östriol (im Serum der Mutter)
o 16.-18. SSW
Ultraschalluntersuchungen
11.-13. SSW:
o Messung der Nackentransparenz
o Darstellung des Nasenknochens
16.-22. SSW:
o Fehlbildungsultraschall
29.-32. SSW:
o Beurteilung der weiteren Entwicklung des Kindes
Spezifische Ultraschallbefunde
Trisomie 21
Trisomie 13
o Nackentransparenz (NT)
o verzögerte Ausbildung des
Nasenknochens
o Herzfehler (besonders AVSD)
o IUGR
o Lippen-Kiefer-Gaumenspalte
o Herzfehler
Triploidie (z.B. 69,XXX; 69, XXY)
Trisomie 18
o
o
o
o
o
NT
Handfehlstellung
IUGR
Herzfehler
Omphalozele
o ausgeprägte frühe IUGR
o Plazentaveränderungen
Turner-Syndrom (45,X)
o Zystisches Hygroma colli, NT
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Indikationen für invasive Diagnostik
o
o
o
o
Altersindikation der Schwangeren
Ultraschallauffälligkeiten beim Kind
Genetisch bedingte familiäre Grunderkrankungen (monogen vererbte Erkrankungen)
Familiäre Chromosomentranslokationen
Chorionzottenbiopsie
Direktpräparation aus Chorionzotten
o
Vorläufiges Ergebnis nach 48-72 Stunden
o
Beurteilung von Fehlverteilungen
o
DNA-Isolierung direkt möglich
o
Niedrige Strukturauflösung der Chromosomen
o
Risiko Mosaik (ca. 1-2%)
Langzeitkultur
o
Endgültiges Ergebnis nach ca. 14 Tagen
o
Gute Strukturauflösung
Amniozentese (Fruchtwasseruntersuchung)
o
Zeitpunkt: 15.-16. SSW, Frühamniozentese 12.-14. SSW
o
Fehlgeburtsrisiko: 0,5-1%
o
Ergebnis der zytogenetischen Analyse nach 2-3 Wochen
o
Interphase-FISH-Diagnostik nach 1-2 Tagen
o
DNA-Diagnostik aus kultivierten Amnionzellen
Fetalblutentnahme
o
Chromosomenanalyse innerhalb von 3-5 Tagen
o
Übliche Lymphozytenkultur
o
Hohe Strukturauflösung
o
Direktes kindliches Gewebe, selten gewebsspezifische Mosaike
Schwangerschaftsabbruch nach §218 / §218a
§218. Schwangerschaftsabbruch:
(1) Wer eine Schwangerschaft abbricht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit
Geldstrafe bestraft. … …
§218a. Straflosigkeit eines Schwangerschaftsabbruches:
(1) Der Tatbestand des § 218 ist nicht verwirklicht, wenn
o die Schwangere den Schwangerschaftsabbruch verlangt und dem Arzt durch eine
Bescheinigung nach § 219 Abs. 2 Satz 2 nachgewiesen hat, daß sie sich mindestens
drei Tage vor dem Eingriff hat beraten lassen,
o der Schwangerschaftsabbruch von einem Arzt vorgenommen wird und
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o seit der Empfängnis nicht mehr als zwölf Wochen vergangen sind.
(2) Der mit Einwilligung der Schwangeren von einem Arzt vorgenommene
Schwangerschaftsabbruch ist nicht rechtswidrig, wenn
o der Abbruch der Schwangerschaft unter Berücksichtigung der gegenwärtigen und
zukünftigen Lebensverhältnisse der Schwangeren nach ärztlicher Erkenntnis angezeigt
ist,
o um eine Gefahr für das Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden
Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes der
Schwangeren abzuwenden,
o und die Gefahr nicht auf eine andere für sie zumutbare Weise abgewendet werden
kann.
Präimplantationsdiagnostik (PID)
o Europa: PID mittels Biopsie von Blastomeren:
gezielte Untersuchung auf chromosomale Fehlverteilungen
oder schwerwiegende genetisch bedingte familiäre Erkrankungen
o Frühe Diagnostik
o Vermeidung eines Schwangerschaftsabbruches
o Notwendigkeit der künstlichen Befruchtung
Polkörperdiagnostik (PKD)
o Untersuchung des Embryos in Deutschland durch das Embryonenschutzgesetz nicht
erlaubt
o Entstehung des Embryos nach der Verschmelzung der Vorkerne
o Frühere Untersuchung mittels Polkörper möglich
Indikationen PKD
o Untersuchung chromosomaler Fehlverteilungen (Aneuploidien): 1.+2. Polkörper (PB)
o Mütterliche Chromosomentranslokationen: 1. PB
o Schwerwiegende erblich bedingte familiäre Erkrankungen (Mutter als Anlageträgerin):
1.+2. PB
Einschränkungen und Fehlerquellen der PKD
o Nur Aussage über mütterlichen Chromosomensatz
o In Einzelfällen nur Aussage über den ersten Polkörper
o Keine Aussage über Reparaturmechanismen der Eizelle im 2. Polkörper
→ Verwerfen von Eizellen, die evtl. zu einem gesunden Embryo führen würden
o Eingeschränkter Zeitrahmen
Vorteile Präimplantationsdiagnostik:
o Gezielte Beurteilung des kindlichen Chromosomensatzes
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o Bessere Aussage über den Zustand des Embryos bei monogenen Veränderungen
o Höhere Sicherheit durch Untersuchung mütterlicher und väterlicher Erbanlagen
und die Untersuchung zweier embryonaler Zellen
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4. GRUNDLAGEN DER MOLEKULARGENETISCHEN DIAGNOSTIK
Mutationen
Je nach Art der Veränderung lassen sich Mutationen in drei Gruppen unterteilen:
o Genommutation –
Veränderungen der Chromosomenzahl (Aneuploidien).
o Chromosomenmutation – Veränderungen der Chromosomenstruktur.
Strukturveränderungen
entstehen
durch
Deletionen,
Duplikationen, Insertionen, Inversionen oder Translokationen
chromosomaler Fragmente.
o Genmutation
–
Kleine molekulare Änderungen, die mikroskopisch nicht
sichtbar sind.
Auf molekularer Ebene findet man Substitutionen, Deletionen und Insertionen. Darüber
hinaus können Trinukleotid-Repeat-Expansionen auftreten. Dieser Mutationstyp besteht in der
Amplifikation eines Motivs, das sich aus drei Basenpaaren zusammensetzt. Überschreitet das
Trinukleotid-Repeat eine gewisse Länge, so wird es instabil. Instabilität bedeutet, dass sich
die Trinukelotid-Anzahl bei der Vererbung verändert. Erkrankungsalter und Verlauf können
mit der Anzahl der Trinukleotid-Wiederholungen korrelieren. Nimmt die Anzahl der
Trinukleotide von Generation zu Generation zu, so kann die Erkrankung bei den
Nachkommen früher auftreten und schwerer verlaufen (Antizipation).
Folgen von Genmutationen
Die Substitution eines Nukleotids kann zu einer Missense- oder Nonsense-Mutation führen,
die Deletion oder Insertion von ein oder zwei Nukleotiden führt zu einer „frame shift“Mutation, die Deletion oder Insertion drei benachbarten Nukleotiden zum Verlust oder
Gewinn einer Aminosäure im Protein. Mutationen im Promotor eines Gens verändern die
Expression, Mutationen in Splice-Stellen können zum Verlust von Exons in der reifen RNA
führen.
Polymorphismen
Die häufigsten DNA-Veränderungen betreffen einzelne Nukleotide: Substitutionen,
Insertionen und Deletionen. Sofern sie nicht eine kodierende oder regulatorische Sequenz
verändern, sind sie in der Regel nicht mit einem Phänotyp assoziiert. Das Auftreten von
DNA-Varianten bezeichnet man dann als Polymorphismus, wenn sie in einer Population weit
verbreitet sind. Die Frequenz eines Polymorphismus liegt bei >1 %. Seltene Veränderungen
mit einer Frequenz <1 % werden als Variation bezeichnet. Von den DNA-Polymorphismen
sind die Einzelnukleotid-Polymorhismen (single nucleotide polymorphism, SNP) von
Bedeutung. Da die kodierende DNA nur etwa 1,5 % des menschlichen Genoms ausmacht,
liegen die meisten SNPs in nicht kodierender DNA, z. B. innerhalb von Introns oder in
Sequenzen zwischen einzelnen Genen. SNPs werden für Kopplungsanalysen verwendet. Bei
seltenen Substitutionen innerhalb von Kodierregionen ist die Differenzierung schwierig, ob es
sich um eine Mutation oder einen Polymorphismus handelt.
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Definitionen
o Allel: verschiedene Formen desselben Gens
o Antizipation: Tendenz der zunehmenden Schwere einer Erkrankung in aufeinander
folgenden Generationen, Beispiel Chorea Huntington
o cDNA (komplementäre DNA): DNA, die durch reverse Transkription einer mRNA als
Matrize synthetisiert wird.
o Exon: Abschnitt eines Gens, der in der reifen RNA vertreten ist. Einzelne Exons
können kodierende und nicht kodierende DNA enthalten (untranslatierte Regionen,
5’UTR, 3’UTR).
o Frame shift-Mutation (Leseraster-Mutation): Mutation, die das normale
Translationsleseraster einer mRNA verschiebt, in dem eine Anzahl von Basen, die
nicht durch 3 teilbar ist, eingefügt oder deletiert wird.
o Genom: vollständige DNA einer Zelle oder eines Organismus. Das humane Genom
besteht aus 24 verschiedenen Chromosomen (22 Autosomen, X und Y Chromosom)
sowie der mitochondrialen DNA.
o Genotyp: genetische Ausstattung eines Individuums, z. B. an einem bestimmten
Locus.
o Haploid: Bezeichnung einer Zelle – typischerweise eine Gametenzelle – die von jedem
Chromosom nur eine einzige Kopie besitzt. Im Gegensatz dazu bedeutet diploid, dass
die Zelle von jedem Chromosom zwei Kopien besitzt.
o Haplotyp: Reihe von Allelen an gekoppeltem Loci auf einem einzigen Chromosom.
o Hemizygotie: Es ist jeweils nur eine einzige Kopie eines Gens oder einer DNASequenz in einer diploiden Zelle vorhanden. Beispiel: Männer sind für die meisten
Gene auf den Geschlechtschromosomen hemizygot. Die Deletion eines Gens in einem
Autosom führt jedoch bei Männern und Frauen zur Hemizygotie.
o Heterozygotie: Eine Zelle ist heterozygot, wenn sie für einen spezifischen Locus des
Genoms zwei unterscheidbare Allele besitzt.
o Homozygotie: Eine Zelle ist homozygot, wenn sie für einen spezifischen Locus zwei
identische Allele besitzt.
o Intron: Nicht-kodierende DNA, die in einem Gen benachbarte Exons voneinander
trennt. Die Introns werden transkribiert, aber durch den so genannten Splicevorgang
aus der Prä-mRNA herausgeschnitten.
o Locus: Eine spezifische chromosomale Position, an der ein einzelnes Gen liegt.
o Phänotyp: Wahrnehmbare Merkmale einer Zelle oder eines Organismus.
o Punktmutation: Mutation eines einzelnen Nukleotids an einem Locus, d. h.
Substitution, Insertion oder Deletion.
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Beispiele und Übung
Triplett
ATG TCA AGA CAG CTG TAA CTA GGG
Aminosäure
Met
stille M.
ATG TCA CGA CAG CTG TAA CTA GGG
Met
Missense M.
Ser
Arg
Arg
Gln
Leu
Gln
-X-
--- ---
Leu -X-
---
---
ATG TCA AGA CAT CTG TAA CTA GGG
Met
Nonsense M.
Ser
Ser
Arg His
Leu
-X-
---
---
ATG TGA AGA CAG CTG TAA CTA GGG
Met
-Xdel G
Deletion
ATG TCA AGA CAC TGT AAC TAG GG
Met
Insertion
Ser
Arg
His
Cys
Asn
-X-
ATG TCA AAG ACA GCT GTA ACT AGG G
Met
Ser
Lys
Thr
Ala
Val
Thr
Arg ... -X-
18
Testfragen
Richtig oder Falsch?







Gene tragen keine Introns.
Der reifen mRNA fehlen die Exons.
Das humane Genom beinhaltet ca. 30.000 Exons.
Das humane Genom beinhaltet ca. 30.000 Gene.
Das humane Genom besteht aus den Chromosomen, die im Zellkern lokalisiert sind.
Das humane Genom enthält nur nukleäres Material.
Die cDNA ist eine Kopie der genomischen DNA.
Als Locus wird bezeichnet ....
A
B
C
D
die Gesamtheit aller Gene in einem Organismus.
Ein spezifischer Ort auf einem Chromosom, der die Position eines einzelnen Gens
definiert.
Unterschiedliche Formen eines Gens oder einer DNA-Sequenz an einer bestimmten
Position im Genom.
eine Reihe polymorpher Marker, die sich auf gekoppelten Loci eines einzelnen
Chromosoms befinden.
Der Ausdruck c.13C>A beschreibt ....
A
B
C
D
E
eine Punktmutation in der genomischen DNA.
eine Substitution in der cDNA.
den Aminosäureaustausch Cystein (C) zu Alanin (A)
an Position 13 des Proteins.
eine Translokation im Zentromer von Chromosom 13.
Keine Antwort ist richtig.
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5. METHODENSPEKTRUM IN DER MOLEKULARGENETIK
Begriffsbestimmung und Abkürzungen:
Qualitative Sequenzveränderung: Veränderungen der DNA-Basenfolge. Hierzu zählen der
Austausch einzelner Nukleotide (Substitution), der Wegfall (Deletion) oder Gewinn
(Insertion) einzelner oder weniger Nukleotide.
Quantitative Sequenzveränderungen: Veränderungen der Kopienzahl der DNA. Alle
autosomalen DNA-Abschnitte liegen als zwei Kopien vor. Kommt es zum Wegfall (Deletion)
oder zum Gewinn (Duplikation, Triplikation) großer genomischer Regionen (ganze Exons,
ganze Gene oder Chromosomenabschnitte), dann spricht man von Gendosisveränderungen.
PCR: polymerase chain reaction
dHPLC: denaturating high performance liquid chromatography “WAVE”
MLPA: multiplex ligation-dependent probe amplification
qPCR : qunatitative PCR ; TaqMan, Lightcycler
Sequenzierung : Kettenabbruch-Methode nach Sanger ; Pyro-Sequencing ;
Next Generation Sequencing
Zu testendes Gen
Qualitative Untersuchung
Screening-Verfahren,
Sequenzierung
Quantitative Untersuchung
• (semiquantitative PCR)
für Forschungszwecke,
• (long-range PCR)
z. B.
• SSCP
• dHPLC
• DGGE
• HRM
•
• (Southern Blot-Analyse)
• quantitative (Echtzeit) PCR
• MLPA
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DNA-Extraktion
Um genetische Fragestellungen zu beantworten, muss in der Regel in einem ersten Schritt die
Erbinformation (genomische DNA) der Patienten extrahiert werden. Die Präparation
genomischer DNA erfolgt meist aus Leukozyten des Blutes nach der Aussalzmethode (Miller
et al. 1988). Die Zellen wurden zunächst abzentrifugiert, lysiert, Proteine durch Proteinase K
verdaut, und die DNA durch Präzipitation isoliert.
In der Praxis kommen häufig Kits zum Einsatz, bei denen die DNA an eine Säule gebunden
wird und durch verschiedene Puffer nach dem genannten Prinzip extrahiert wird.
Polymerase Kettenreaktion (PCR)
Die Polymerase-Kettenreaktion (Saiki et al., 1985) ist eine enzymatische Methode zur invitro-Amplifikation von DNA. Die Spezifität der Amplifikation wird durch Verwendung
zweier chemisch synthetisierter sequenzspezifischer Primer erreicht. Diese sind zu den
Randbereichen der Zielsequenz komplementär und flankieren einen Bereich, der durch eine
thermostabile Polymerase dupliziert wird.
Der Prozess der PCR wird in drei sich wiederholende Schritte unterteilt: Zunächst findet eine
Auftrennung der doppelsträngigen DNA in die beiden komplementären Einzelstränge statt
(Denaturierung). An diese Einzelstränge können sich die komplementären Primer anlagern
(Annealing). Im dritten Schritt sind die 3´-Enden der Primer Startpunkte der Polymerase, die
entsprechend der Matrize eine komplementäre Kopie jedes Stranges synthetisiert (Extension).
Dadurch wird eine exponentielle Vermehrung des gewünschten DNA-Fragments erreicht.
Gelelektrophorese
Nukleinsäurefragmente können nach ihrer Größe im elektrischen Feld aufgrund der negativen
Ladung des Zucker-Phosphat-Rückgrates aufgetrennt werden. Ihre Wanderungsgeschwindigkeit nimmt logarithmisch mit steigender Basenzahl wegen der Netzstruktur des
Gels ab.
Prinzipiell gibt es zwei Gelmatrizen, die in der Molekulargenetik wichtig sind: Die AgaroseGelelektrophorese wird angewendet, um z. B. die Qualität genomischer DNA zu prüfen oder
die Spezifität und Ausbeute einer PCR-Reaktion zu beurteilen. Die PolyacrylamidGelelektrophorese kam bei Sequenzierreaktionen sowie bei SSCP und DGGE zum Einsatz (s.
u.). Das Auflösungsvermögen von Agarosegelen ist im Vergleich zu Polyacrylamid- (PAA-)
Gelen zwar geringer, doch sind sie einfacher in der Anwendung.
Um die DNA sichtbar zu machen, verwendet man den interkalierenden Farbstoff
Ethidiumbromid bei der Agarose-Gelelektrophorese. Die DNA wird so unter UV-Licht (365
nm) als rot-orange Bande sichtbar. Bei der Polyacrylamidgelelektrophorese bedient man sich
einer Silberfärbung oder fluoreszenzmarkierter Farbstoffe und eines entsprechenden Lasers.
PCR-Produkte im Agarosegel und Größenstandard
21
Denaturierende Hochdurchsatz-Flüssigchromatographie (dHPLC) „WAVE“
Das Mutationsscreening mittels dHPLC am WAVE-System (Transgenomics) verbreitet sich
seit Anfang des Jahrtausends (Hecker et al. 2000; Xiao und Oefner 2001). DNA-Moleküle
binden an eine Säule und werden durch einen Puffergradienten ausgewaschen. Der Zeitpunkt
der Elution wird gemessen und hängt vom Gehalt an Einzelsträngen ab, wobei
doppelsträngige DNA fester mit der Matrix verknüpft ist. Bei der Denaturierung und
anschließenden langsamen Renaturierung von DNA mit einer heterozygoten Mutation kommt
es zur Bildung von Heteroduplex-DNA. Diese ist an einer Stelle ungepaart, d. h. liegt als
Einzelstrang vor und zeigt dadurch eine weniger stabile Bindung an die Säule. Die Detektion
homozygoter Mutationen ist wegen des Fehlens der Heteroduplices nicht direkt möglich,
daher wird die DNA für eine Identifizierung von homozygoten Mutationen mit dem Wildtyp
vermischt, so dass sich ebenfalls Heteroduplex-DNA bildet.
Für Details: http://www.transgenomic.com/pd/Systems.asp?tab=2
DNA-Sequenzierung
Es gibt heute mehrere Verfahren zum Ablesen der Sequenzinformation von einem DNAMolekül, noch finden aber überwiegend Weiterentwicklungen der Methode nach Sanger
Verwendung.
Didesoxy-Verfahren nach Sanger (1975)
Diese Methode (auch Kettenabbruch- oder Terminatorverfahren) basiert auf einer
enzymatisch katalysierten Synthese von DNA-Fragmenten, die nach ihrer Größe getrennt
werden können. Ausgehend von einer bekannten Startsequenz wird durch Zugabe eines
Sequenzierungsprimers
(kurzes
Oligonukleotid),
eines
Oligonukleotidgemisches
(Desoxynukleosidtriphosphate, dNTPs) und einer DNA-Polymerase die Synthese eines
komplementären
DNA-Stranges
initiiert.
Zusätzlich
zu
den
dNTPs
sind
Didesoxynukleosidtriphoshaten (ddNTPs) im Ansatz enthalten, bei deren Einbau es zum
Abbruch der Synthese kommt, weil sie keine 3´-Hydroxygruppe aufweisen. Um die
Reaktionsprodukte nachweisen zu können, müssen diese markiert werden (klassisch:
radioaktiv, heute: fluoreszierend).
Primer
Matrize
Mutant
Wild-type
Sequenzierung mit vier verschieden
fluoreszenzmarkierten ddNTPs
Sequenzierung mit fluoreszenzmarkierten Primer
22
Quantitative Echtzeit PCR
Zur Detektion von Deletionen oder Duplikationen von einem oder mehreren Exons auf DNAEbene (Gendosisveränderungen) ist die quantitative Echtzeit-PCR, z. B. am LightCycler
geeignet. Dabei können jeweils ein Exon des Zielgens und ein Referenzgen ko-amplifiziert
werden. Die ursprüngliche DNA-Menge beider Sequenzabschnitte wird während der loglinearen Phase der PCR bestimmt und ins Verhältnis gesetzt. Dabei entspricht ein Quotient
von etwa 0,5 einer heterozygoten Deletion und von 1,5 einer heterozygoten Duplikation,
wobei ein Wert von etwa 1 den Normalbefund darstellt.
A
1
3
2
B
1
3
2
Beispiel für eine quantitative PCR-Analyse am LightCycler. Zwei Gene wurden co-amplifiziert, das Gen von Interesse (oben) und das
Referenzgen (unten). Teil 1 zeigt die PCR-Produktmenge im Verlauf der PCR, Teil 2 die Standardgerade mit bekannten Konzentrationen,
Teil 3 die Konzentrationen der Probe(n). Für die Auswertung werden die Werte des Gens von Interesse und des Referenzgens ins Verhältnis
gesetzt.
Multiplex Ligation-dependent Probe Amplifikation (MLPA)
Die MLPA (multiplex ligation-dependent probe amplification) ist ein neueres Verfahren zur
Detektion von Gendosisveränderungen (Schouten et al. 2002). Dabei werden bis zu 40
Amplikons parallel mittels relativer Quantifizierung analysiert. Die Ziel-DNA wird zunächst
denaturiert und mit spezifischen Sondenpaaren hybridisiert (genspezifische Kits, MRC
Holland). Danach verbindet eine Ligase die nebeneinander hybridisierten Sonden. Durch PCR
23
werden die ligierten Sequenzen anschließend amplifiziert. Aufgrund einer „Auffüll“ (stuffer)Sequenz hat jedes PCR-Produkt eine unterschiedliche Länge und wird der Größe nach, z. B.
mittels Polyacrylamidgelelektrophorese aufgetrennt. Die Intensität der erhaltenen Gel-Banden
wird bioinformatisch bestimmt und untereinander verglichen. Die Interpretation des
Quotienten ist vergleichbar dem bei der Echtzeit-PCR.
Details: www.mrc-holland.com/ unter MLPA technology
Beispiel einer MLPA-Analyse, links ein Polyacrylamid-Gel mit den spezifischen Banden; rechts die graphische Darstellung der normierten
Bandenintensitäten
Next generation sequencing
Dauerte die erste Sequenzierung eines kompletten menschlichen Genoms noch mehrere Jahre
und kostete Milliarden US-Dollar, wäre das gleiche Projekt heute in wenigen Tagen für nur
wenige Tausend Dollar durchführbar. Ursächlich dafür sind neue Sequenziertechniken;
sogenannte Next-Generation-Sequenzer (NGS). Dabei werden einzelne DNA-Fragmente
klonal amplifiziert und dann in einem hochautomatisierten Prozess sequenziert. Eine PCRAmplifikation interessierender DNA-Bereiche findet nicht statt. Es werden Mikroarraybasierte Verfahren angewendet, um bestimmte DNA-Abschnitte anzureichern. Ein Gerät für
das next generation sequencing ist z. B. IonTorrent -PGM. Bei einem Lauf werden dabei
mehr als 100 Millionen Sequenzen mit einer Länge von 200 oder mehr Basen erzeugt. Dies
liefert Rohdaten von > 1Giga-Basen pro Lauf. Zur Auswertung der Daten sind moderne
bioinformatischeVerfahren von besonderer Bedeutung.
24
6. DYSMORPHOLOGIE
Definitionen
Umschriebene Anomalien:
Fehlbildung, Dysmorphie, Dysplasie, Deformation und Disruption
Komplexe Anomalien:
Assoziation, Sequenz und Syndrom
Zur Definition der Begriffe s. KAPITEL 1. EINFÜHRUNG.
Phänotypanalyse am Beispiel der Fazies
Die Analyse des Phänotyps ist mehr als die gründliche Untersuchung eines Patienten nach
klinisch-genetischen Gesichtspunkten. Vielmehr kann man diese Analyse als Anfangsphase
des diagnostischen Prozesses definieren, in der versucht wird, die erhobenen Befunde zu
gewichten, Zusammenhänge ("Muster") zu erkennen, um auf dieser Grundlage diagnostische
Hypothesen zu entwickeln.
Das Gesicht in seiner Gesamtheit, die "Fazies", kann diagnostisch von hervorstechender
Bedeutung sein. Als einfaches Beispiel hierfür lässt sich die Fazies des Patienten mit DownSyndrom anführen. Durchaus vergleichbar ist aber die Spezifität der Fazies bei zahlreichen
anderen Dysmorphie-bzw. Fehlbildungssyndromen. Typische Beispiele sind das Cornelia de
Lange-Syndrom, das Williams-Beuren-Syndrom, das Kabuki-Syndrom oder das WolfHirschhorn-Syndrom.
Für das rasche Wiedererkennen eines Gesichts benötigen wir ein „Engramm“ in unserem
Gehirn. Häufiges Sehen bestimmter Gesichter fördert diese Engrammbildung, die uns
befähigt, ein Gesicht in seiner Gesamtheit ("Gestaltserkennung") zu erfassen. Aus diesem
Grunde ist das Einüben von "bewusstem" Sehen sehr wichtig.
Eine differenzierte Analyse der Gesichtsmerkmale sollte mit der Beschreibung des
Gesamteindrucks beginnen, entsprechende Eindrücke wie "voll", "oval", "dreieckförmig" oder
"quadratisch" werden ergänzt durch noch stärker dem Subjektiven unterliegende wie "wach",
"myopathisch" oder "grob". Zu diesem Gesamteindruck gehört auch eine Beurteilung der
Größenrelation Hirnschädel zu Gesichtsschädel. Wichtig ist auch die Größe und die Form des
Hirnschädels (z.B. "mikrozephal", "makrozephal", "brachyzephal" und "dolichozephal“), weil
für manche Syndrome eine bestimmte Schädelform sehr charakteristisch sein kann (z.B.
Brachyzephalie bei Down-Syndrom oder Dolichozephalie bei Sotos-Syndrom).
Kommentieren lassen sich hier auch Besonderheiten des Haaransatzes, die von diagnostischer
Bedeutung sein können. Beispiele wären der spitze Haaransatz in der Mittellinie ("widows
peak") beim Hypertelorismus oder der Stirnhaarwirbel ("frontal upsweep") als Hinweis auf
das FG-Syndrom. Zu erwähnen ist hier auch der wie zurückversetzt wirkende Haaransatz
("Geheimratsecken") bei Patienten mit Sotos-Syndrom.
Die gesamte Augenpartie ist für den diagnostischen Gesamteindruck oft von großer
Bedeutung. Kommentiert wird hier der Augenabstand (Hypertelorismus/Hypotelorismus), die
horizontale Lidspaltenweite ("große Augen" bzw. "kleine Augen"), der Lidspaltenverlauf
(horizontal; von medial nach lateral abfallend/ansteigend/abfallend). Auch die Form und Fülle
der Brauen und Wimpern sind von Bedeutung.
Der mittlere Abschnitt des Gesichts, das Mittelgesicht, wird entscheidend geprägt durch seine
Gesamtentwicklung, eine Hypoplasie des Mittelgesichts lässt das Gesicht flächig erscheinen.
Der Eindruck eines prominenten Mittelgesichts wird oft erst hervorgerufen oder noch
verstärkt durch eine begleitende Mikrozephalie und Mikrogenie ("fliehende Stirn" bzw.
25
"fliehendes Kinn"). Auch umschriebene Hypoplasien z.B. der Jochbeine (Wangenknochen)
oder vorwiegend der Maxilla (mit dem Effekt einer relativen Progenie) können die Fazies
wesentlich prägen. Gesondert zu beschreiben sind die Merkmale der Nase (Breite der
Nasenwurzel; flache/prominente Nasenwurzel, Breite des Nasenrückens, Form und Position
der Nasenbodenebene mit den Nasenlöchern, Formbesonderheiten des Septums usw.).
Auch die Mundpartie ist eine komplexe Struktur, ihre Beschreibung beginnt mit einer
Beurteilung (lang/kurz, vorgewölbt) der häutigen Oberlippe, kommt dann zum eigentlichen
Philtrum, bestehend aus den Philtrumleisten und der dadurch gebildeten Philtrumrinne. Die
Philtrumleisten können erhaben sein, oder auch verstrichen (wie bei Alkoholembryopathie
und auch beim Cornelia de Lange-Syndrom), dagegen auch deutlich ausgeprägt wie z. B.
beim Weaver-Syndrom.
Wichtige Messwerte zur Beurteilung fazialer Dysmorphie::
Interpupillarabstand
Äußerer Kanthalabstand
Philtrumlänge
Höhe der Unterlippe
Innerer Kanthalabstand
Interalarabstand
Höhe der Oberlippe
Mundspaltenbreite
Das Kinn ist bei vielen Dysmorphiesyndromen als Folge der Mandibulahypoplasie gering
entwickelt und zurückweichend (Retrogenie). Eine geringe Kinnhöhe (Distanz zwischen
Unterlippe und Kinnspitze) wird als "Mikrogenie" beschrieben. Charakteristisch ist auch das
lange Kinn bei Patienten mit Sotos-Syndrom oder dem fragilen (X)-Syndrom.
Die Inspektion der Mundhöhle erlaubt eine Beurteilung der Zähne (Zahnstatus, Form der
Zähne), der Zunge und insbesondere des Gaumens einschließlich der Uvula. Zahnunterzahl
(Hypodontie oder Oligondontie ), insbesondere in Kombination mit einer Fehlform
("konisch", wie "zugespitzt") wäre typisch für eine ektodermale Dysplasie; relativ kleine
Zähne mit zu großen Zahnlücken (Diasteme) gehören zu den typischen Merkmalen bei
Patienten mit Williams-Beuren-Syndrom oder Angelman-Syndrom, während große, breite
Schneidezähne u.a. das KBG-Syndrom kennzeichnen.
Auch Größenanomalien der Zunge können ein wichtiges Merkmal darstellen, ein Beispiel
wäre die Makroglossie beim Wiedemann-Beckwith-Syndrom. Am harten Gaumen
unterscheidet man zwischen der physiologischen, flachen Wölbung und der hohen,
spitzbogigen (gotischer Gaumen). Ebenso von Bedeutung sind die geringeren Ausprägungen
einer Spaltbildung in Form der oft nur tastbaren submukösen Gaumenspalte, die
typischerweise mit einer funktionellen Beeinträchtigung der Gaumensegelfunktion
einhergeht, erkennbar als offenes Näseln (Rhinolalia aperta).
Für die Beschreibung der Ohren sind zunächst Merkmale wie Position (Ohransatz in Relation
zum Hirn- und Gesichtsschädel, Rotation der Ohrlängsachse nach hinten) von Bedeutung,
bevor Formbesonderheiten der Einzelmerkmale erfasst und beschrieben werden. Ermöglicht
wird dies durch die Kenntnis der wesentlichen anatomischen Gegebenheiten wie Helix,
Anthelix, usw..
Literatur
Aase JM: Diagnostic Dysmorphology. Plenum Medical Book Company. New York and
London, 1990
Cohen MJR: The Child with Multiple Birth Defects, Raven Press, 2000
26
Beispiele für Syndrome
Sotos-Syndrom
Typische Fazies
o Fronto-parietal spärliches Haar
o Hypertelorismus
o Betontes kleines Kinn
o Aufwärts gerichtete Nasenspitze
o Makrodolichocephalie
o „Frontal bossing“
Weitere klinische Zeichen
o Prä-und postnatale Makrosomie
o Akzeleriertes Knochenalter
o Muskuläre Hypotonie
o Entwicklungsverzögerung
o Krampfanfälle
Waardenburg – Syndrom Typ 1
o
o
o
o
o
o
o
o
Klinische Merkmale:
Weiße „Stirnlocke“
Innenohrschwerhörigkeit
Primärer Telecanthus
Weitere faziale Dysmorphien
Heterochromie der Iris
Partieller Albinismus der Haut
Autosomal dominant erblich (PAX3-Gen)
Kabuki-Syndrom
o
o
o
o
o
Lange Lidspalten
Große Ohren
Kleinwuchs
Organfehlbildungen
Ätiologie nicht geklärt
Cornelia de Lange – Syndrom (CdLS)
Brachmann – de Lange – Syndrom (BDLS)
Sichtbare Auffälligkeiten
o Prä-und postnatale Wachstumsverzögerung (Verzögerte Skelettreifung)
o Initial muskuläre Hypertonie
o Hypertrichosis
o Cutis marmorata
o Tiefe, heisere Stimme
o Krampfanfälle
27
o Mentale Retardierung
Innere Fehlbildungen
o Herzfehler (oft VSD)
o Brachyösophagus (ösoph.-Reflux)
o Zwerchfellhernie/Hiatushernie
o Pylorusstenose
o Malrotation des Kolon
o Leistenbrüche
o Mikrokornea
o Opticusatrophie
o Choanalatresie
o Gaumenspalte
Rubinstein Taybi-Syndrom
o
o
o
o
o
o
Niedriges Geburtsgewicht
Stirnbehaarung
Hypoplastische Nasenflügel
Breite Daumen und Großzehen
16p13.3
CBP-Gen
22q13.2
p300-Gen
Beispiel für Assoziationen
VACTERL - Assoziation
o
o
o
o
o
o
Vertebral defects
Anal atresia
Cardiac anomalies
Tracheo-Esophageal fistula
Radial and/or Renal defects
Limb anomalies
Beispiele für Sequenzen
(Pierre) Robin - Sequenz
anatomisch: Mikro/Retrogenie + Gaumenspalte
funktionell: Glossoptose mit Atemwegsobstruktion
o Fütterungsprobleme, Gedeihstörung
o Schallleitungsstörung häufig
Ätiologie der Robin - Sequenz
28
o
o
o
o
o
o
sporadisch (Ursache unklar)
autosomal dominant
autosomal rezessiv
X-chromosomal rezessiv?
chromosomal
exogen (teratogen)
Oligohydramnion-Sequenz
anatomisch: Lungenhypoplasie, flaches Gesicht, Fehlstellung der Hände und Füße
funktionell: Nieren-Agenesie > kein Urin in die Fruchrhöhle > relativer Mangel
an Fruchtwasser
29
7. NEUROGENETIK
Beispiel: Chorea Huntington
Stichworte:
o
o
o
o
o
o
o
o
o
o
autosomal dominanter Erbgang
CAG-Repeat-Expansion im Exon
„gain of function“ Mutation
Instabilität
intermediäre Allele
reduzierte Penetranz
Neumutation
Antizipation
Paternale Transmission
prädiktive DNA-Diagnostik
Klinik der Chorea Huntington.
Die Chorea Huntington ist eine schwere neurodegenerative Erkrankung, die in der Regel
zwischen dem 30. und 50. Lebensjahr beginnt, in Ausnahmen aber auch in der Jugend oder
erst im höheren Erwachsenenalter auftreten kann. Die Symptome beinhalten schwere
Persönlichkeitsveränderungen, Demenz und choreatische Bewegungsstörungen. Die
Krankheit verläuft progredient und führt in der Regel nach 15-20 Jahren zum Tode. In
fortgeschrittenen Stadien wird neuronaler Zelluntergang im Gehirn, besonders im Putamen
und Caudatum sichtbar. Eine kausale Therapie steht z. Zt. nicht zur Verfügung.
Erbgang und Frequenz
Die Erkrankung folgt einem autosomal dominanten Erbgang mit nahezu vollständiger
Penetranz. Die Penetranz eines Merkmals in einem bestimmten Genotyp ist definiert als die
Wahrscheinlichkeit, dass sich bei einer Person mit diesem Genotyp das Merkmal ausprägt
(Definition). Vollständige Penetranz bedeutet daher, dass jede Person, die die Mutation trägt,
auch erkranken wird. Entsprechend dem dominanten Erbgang tragen Nachkommen eines
Elternteils mit Chorea Huntington ein 50%iges Risiko, das veränderte Gen zu erben und
ebenfalls sicher zu erkranken. Die Expressivität der Chorea Huntington ist variabel. So ist die
juvenile Form der Erkrankung, die bereits im Kindesalter beginnen kann, durch einen
besonders schweren Verlauf gekennzeichnet. Der klinische Verlauf, die Progredienz und das
Erkrankungsalter variieren sowohl intrafamiliär als auch interfamiliär. Dies wird als variable
Expressivität bezeichnet (Definition).
In der kaukastischen Bevölkerung tritt die Chorea Huntington mit einer Häufigkeit von etwa
1:10.000 auf.
Gen und Mutation
Das bei Betroffenen und Anlageträgern für die Chorea Huntington veränderte Gen liegt auf
dem kurzen Arm des Chromosoms 4 im Bereich 4p16.3. Das Gen erstreckt sich über ca. 210
kb und kodiert für ein Protein, genannt Huntingtin, dessen Funktion noch nicht aufgeklärt ist.
Als krankheitsverursachende Mutation wurde eine Expansion der Trinukleotid-Sequenz CAG
identifiziert. Bei Kontrollpersonen werden 11-33 CAG-Tripletts gefunden. Ca. 85 % der
Kontrollpersonen sind heterozygot für zwei Normalallele, d. h. sie zeigen zwei Banden in der
molekulargenetischen Analyse (Definition). Betroffene der Chorea Huntington weisen auf
dem mutierten Allel mehr als 39 CAG-Repeats auf. Die Anzahl der CAG-Tripletts korreliert
30
umgekehrt proportional mit dem Erkrankungsalter, das bedeutet: je länger die CAG-Sequenz
ist, desto früher können die Symptome beobachtet werden. Dementsprechend weisen juvenile
Patienten in der Regel mehr als 65 CAG-Tripletts auf. Juvenile Fälle treten überproportional
häufig nach paternaler Vererbung der Mutation auf.
In seltenen Fällen tragen Personen 34-39 CAG-Repeats im Huntingtin-Gen. Bei diesen so
genannten intermediären Allelen kann nicht vorhergesagt werden, ob der Träger erkranken
wird oder nicht (Definition). Diese intermediären Allele sind dementsprechend mit reduzierter
Penetranz assoziiert.
Normalallele mit 11-33 CAG-Repeats werden in der Regel stabil vererbt. Es tritt also keine
Veränderung der Repeatanzahl auf. Expandierte Allele mit mehr als 39 CAG-Repeats sind
dagegen hoch instabil, das bedeutet, die Anzahl die Tripletts kann bei der Weitergabe von
Eltern auf Kind reduziert, aber auch verlängert werden. Diese Instabilität wird auch bei
intermediären Allelen beobachtet. Es sind zahlreiche Beispiele bekannt, in denen ein Allel des
Normalbereichs (bevorzugt bei paternaler Transmission) während der Meiose bis in den
pathologischen Bereich expandiert. In diesen Fällen kommt es zu so genannten
Neumutationen.
Die repetitive CAG-Sequenz liegt in der Kodierregion des Huntingtin-Gens. Das TriplettCAG kodiert für die Aminosäure Glutamin. Dementsprechend trägt das Huntingtin eine
Polyglutamin-Sequenz. Die Expansion von Glutamin-Domänen, die für eine größere Zahl
genetisch unterscheidbarer neurodegenerativer Erkrankungen beschrieben ist, steht in engem
Zusammenhang mit der Pathophysiologie. Bei der Chorea Huntington wird neben dem
Wildtyp-Protein auch die mutierte Variante exprimiert. Als Ursache der Erkrankung wird ein
so genannter „gain of function“ postuliert.
Durchführung der Diagnostik
Zur molekulargenetischen Diagnostik wird eine EDTA-Blutprobe der Betroffenen bzw.
Risikopersonen benötigt. Nach Isolierung der genomischen DNA aus den Lymphozyten wird
eine PCR durchgeführt, die spezifisch für das CAG-Triplett im Huntingtin-Gen ist. Die PCRProdukte werden z. B. auf Acrylamid-Gelen aufgetrennt. Durch Vergleich mit geeigneten
Standards wird die Länge der PCR-Produkte bestimmt und die darin enthaltene Repeatzahl
errechnet.
31
8. AUTOSOMAL DOMINANTE UND REZESSIVE ERBGÄNGE,
RISIKOBERECHNUNG
Autosomal dominante Vererbung
Merkmale autosomal dominanter Vererbung:
o
o
o
o
Heterozygote sind oder werden auffällig.
In der Regel sind aufeinander folgende Generationen betroffen.
Die Wiederholungswahrscheinlichkeit beträgt für Kinder von Betroffenen 50% (1:2).
Söhne und Töchter sind gleich häufig betroffen.
Krankheitsbilder mit autosomal dominantem Erbgang:
Beispiel: Polyzystische Nierenerkrankung (adulter Typ)
o
o
o
o
Symptome: Nierenzysten, Leberzysten und andere; Aneurysmen der Hirnarterien
Penetranz sehr hoch, aber altersabhängig
Expressivität variabel (inter- und intrafamiliär)
Neumutationsrate gering (bei 1 v. 100 Patienten)
Beispiel: Marfan-Syndrom
o Erkrankung des Bindegewebes
o dysproportionierter Hochwuchs, Linsenluxation, Aortendilatation bis -dissektion
u.a.m.)
o Häufigkeit 1:4.000
o verursacht durch Mutationen im FBN1-Gen (Fibrillin) oder in anderen Genen
o im TGFBR2-Gen (Loeys-Dietz Syndrom)
o Neumutationen bei ~ 25 von 100 Indexpatienten
o Penetranz sehr hoch
o Expressivität variabel (innerhalb derselben betroffenen Familie nicht vorhersagbar)
Beispiel: Achondroplasie
o Skelettdysplasie mit dysproportioniertem Kleinwuchs
o Häufigkeit ~ 1:20.000
o verursacht fast ausschließlich durch zwei Mutationen im FGFR3-Gen: p.Gly380Arg
(Fibroblast Growth Factor Receptor 3)
o (- andere Mutationen in FGFR1, -2 und -3 verursachen verwandte aber abgrenzbare
Wachstumsstörungen)
o Neumutationen bei mehr als 80 von 100 Betroffenen, überwiegend Mutation
des väterlichen Allels
o vollständige Penetranz und konstante Expressivität
Stichworte zu autosomal dominanter Vererbung:
o Neumutationsrate
o Keimzellmosaik
32
o Reduzierte Penetranz und Spätmanifestation
o Variable Expressivität
Autosomal rezessive Vererbung
Merkmale autosomal rezessiver Vererbung:
o Heterozygote sind weitgehend unauffällig.
o In der Regel sind Geschwisterreihen betroffen und die Eltern hetrozygote
Anlageträger.
o Die Wiederholungswahrscheinlichkeit beträgt für Geschwister
von Betroffenen 25% (1:4).
o Brüder und Schwestern sind gleich häufig betroffen.
Krankheitsbilder mit autosomal rezessivem Erbgang
Beispiel: Cystische Fibrose (CF, Mukoviszidose)
o Funktionsstörung exokriner Drüsen (Lunge, Pankreas, Schweißdrüsen)
o verursacht durch Mutationen im CFTR-Gen (Chromosom 7q31)
(Cystic Fibrosis Transmembrane Conductance Regulator)
o in Europa und in von dort ausgewanderten Populationen ist die Mutation
delta F508 die mit Abstand häufigste
o Häufigkeit ~1:2.500 (in Deutschland)
Beispiel: Spinale Muskelatrophie (SMA) Typ I
o
o
o
o
o
fortschreitender Muskelschwund (A-trophie)
postnatal hypoton bis schlaffe Lähmung (floppy infant)
Todesursache respiratorische Insuffizienz, Lungenentzündungen
Häufigkeit ~ 1:10.000,
96 v. 100 Patienten sind homozygot für SMN1 Deletion
Blutsverwandtschaft
33
34
Risikoberechnung bei der humangenetischen Familienberatung
Ein wichtiger Punkt bei vielen humangenetischen Beratungsgesprächen ist die Abschätzung
der Wiederholungswahrscheinlichkeit (WW) bei eigenen Nachkommen für eine in der
Familie vorkommende genetisch (mit)bedingte Erkrankung.
Bei klinischer Diagnose ohne molekulargenetische Befund wird die WW aus dem bekannten
Erbgang abgeleitet. Bei autosomal rezessiv erblichen Erkrankungen ist es oft notwendig, die
Heterozygoten-Frequenz in der Gesamtbevölkerung zu kennen. Diese Frequenz wird über das
HARDY-WEINBERG-GESETZ aus der Häufigkeit der Erkrankung abgeleitet (Beispiel 1).
Hardy-Weinberg-Gesetz (1908) zum Verhältnis von Genotypen und Allelfrequenzen
A1A1
nicht erkrankt
homozygot A1
Häufigkeit
Häufigkeit
A1A2
A2A2
nicht erkrankt
Anlageträger
erkrankt
homozygot A2
(Allelfrequenz) von A1
(Allelfrequenz) von A2
p2
+
2pq
= p
= q
q2
+
=
1
Vereinfachung für den praktischen Gebrauch:
Allelfrequenz von A1
Allelfrequenz von A2
= p =
= q =
sehr häufig = ~ 1
Wurzel aus A2A2
Häufigkeit von Anlageträgern (Heterozygotenfrequenz)
2pq
~
2 x WURZEL AUS DER HÄUFIGKEIT DER ERKRANKUNG
Übung: Errechnen Sie die Häufigkeit von Anlageträgern
Erkrankte
1 : 400
1 : 1.600
1 : 2.500
1 : 10.000
1 : 40.000
1 : 90.000
1 : 1.000.000
Anlageträger
1 : 10
Beispiel
Hämochromatose
Adrenogenitales Syndrom
Cystische Fibrose
Phenylketonurie
Smith-Lemli-Opitz-Syndrom
Zellweger-Syndrom
35
Beispiel 1; Cystische Fibrose
Die noch kinderlose Schwester eines an cystischer Fibrose Verstorbenen fragt nach der
Wahrscheinlichkeit, dass ihre eigenen Kinder an cystischer Fibrose erkranken werden.
1. Wahrscheinlichkeit, dass die Ratsuchenden Anlageträgerin ist:
2/3
2. Wahrscheinlichkeit, daß ihr nicht blutsverwandter Mann Anlageträger ist:
1 / 25
3. Wahrscheinlichkeit, daß ein gemeinsames Kind homozygot ist:
2 / 3 x 1 / 25 x 1 / 2 x 1 / 2 = 1 / 150
Bei klinischer Diagnose und molekulargenetischem Mutationsnachweis bei dem Betroffenen
ist eine weitgehend sichere Voraussage für die weitere Familienplanung möglich.
Problematisch ist evtl. der Heterozygoten-Test beim Ehepartner, wenn er nur einen
bestimmten Anteil der möglichen Mutationen erfasst. In diesen Fällen kommt das
BAYES’sche THEOREM oder der ENTSCHEIDUNGSBAUM zur Anwendung (Beispiel 2)
Beispiel 2; Cystische Fibrose, Fortsetzung
Die Ratsuchende und ihr Partner entschließen sich daraufhin, einen molekulargenetischen
CF-Test bei sich durchführen zu lassen. Die Detektionsrate des Tests liegt in der deutschen
Bevölkerung bei 90%.*
Der Test fällt bei beiden unauffällig aus.
* Bei 50 Erkrankten mit 100 mutierten Genen werden 90 Mutationen nachgewiesen.
1. Wahrscheinlichkeit, dass die Ratsuchende mit unauffälligem Testergebnis Anlageträgerin
ist:
Strategie: Entscheidungsbaum
Grundlage: 1000 Beratungen
A: die Ratsuchende
ist Anlageträgerin
A
667
B: der Gen-Test zeigt
keine Mutation an
B*A
67
non-B*A
600
non-A
333
B*non-A
333
non-B*non-A
---
Wahrscheinlichkeit, mit unauffälligem Test Anlageträgerin zu sein:
B*A / B*A + B*non-A
67 / 400 = 0,17
36
2. Wahrscheinlichkeit, dass ihr nicht blutsverwandter Mann Anlageträger ist:
Strategie: Satz von Bayes
P(A | B) = P(A) * P(B | A) / P(non-A) * P(B | non-A) + P(A)* P(B | A)
P(A)
die a-priori-Wahrscheinlichkeit für ein Ereignis A
P(A | B) die a-posteriori Wahrscheinlichkeit für ein Ereignis A
unter der Bedingung, dass B auftritt/vorliegt.
A = Der Partner ist CF-Anlageträger.
B = Der Test fällt unauffällig aus.
P(A)
P(non-A)
=
=
0,04
0,96
P(B | A)
P(B | non-A)
=
=
0,1
1
Wahrscheinlichkeit, mit unauffälligem Test Anlageträger zu sein:
P(A | B) =
0,04 * 0,1 / 0,96 * 1 + 0,04 * 0,1 = 0,0041
3. Wahrscheinlichkeit, daß ein gemeinsames Kind homozygot ist:
0,17 x 0,0041 x 0,25
= 0,00017 = 1 : 5882
Bei komplex bedingten Erkrankungen ist die Auskunft in der Regel auf die Angabe von
empirischen Risikoziffern beschränkt (Beispiel 3).
Beispiel 3: Genetische Familienberatung bei Typ I - Diabetes mellitus
1 Typ I Diabetes, erkrankt mit 24 Jahren
2 Typ I Diabetes, erkrankt mit 15 Jahren
Frage: Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Kind der Ratsuchenden („?“) an Typ I
Diabetes erkranken wird? (Empirische Risikoziffern finden Sie in den Lehrbüchern der
Humangenetik)
37
Bei ungeklärter Ursache und mehrmaligem Auftreten in der Familie wird versucht, den
vermutlichen Erbgang aus dem Stammbaum abzuleiten und danach die WW einzustufen.
(Beispiel 4)
Beispiel 4; Familiäre Hörstörung
1 bis 5: progrediente Hörstörung ab dem 18. Lebensjahr
6 bis 10: angeborene Taubheit
11 bis 13: progrediente Hörstörung und Nierenfunktionsstörung
Frage: In welcher Größenordnung liegt die Wahrscheinlichkeit, dass das Kind der
Ratsuchenden („?“) eine Hörstörung entwickelt? Bitte begründen Sie Ihre Einschätzung.
Bei ungeklärter Krankheitsursache und einmaligem Auftreten in der Familie („sporadischer
Fall“) sind sehr unterschiedliche Situationen denkbar.
Ursache
Exogen / teratogen
WW bei Nachkommen
Sehr gering
Autosomal dominant;
Neumutation
WW bei Geschwistern
Sehr gering, solange das
Teratogen nicht weiter
einwirkt
Sehr gering (KeimzellMosaik)
Autosomal rezessiv
25%
X chromosomal rezessiv
Heterozygoten-Status der
Mutter klären!
Sehr gering, solange keine
Blutsverwandtschaft mit dem
Partner besteht
s. X-chromosomale
Vererbung
multifaktoriell
Eher gering
Eher gering
50%
Bei der Einschätzung der WW müssen alle Möglichkeiten bedacht und bei der Beurteilung
abgewogen werden.
38
10. X-GEBUNDENE ERBGÄNGE, RISIKOBERECHNUN
X-chromosomal rezessive Vererbung
Merkmale X-chromosomal rezessiver Vererbung:
Nur männliche Familienmitglieder sind betroffen.
Die Übertragung des Merkmals erfolgt über Mütter, die weitgehend unauffällig sind
(Konduktorinnen).
Mit einer Wahrscheinlichkeit von 50% (1:2) sind Söhne betroffen und Töchter
wiederum Konduktorinnen.
o Vererbung vom Vater auf den Sohn ist ausgeschlossen.
o Alle Töchter eines Betroffenen sind Konduktorinnen.
o
o
o
o
Krankheitsbilder mit X-chromosomal rezessivem Erbgang:
Beispiel: Fragiles-X-Syndrom (Martin-Bell-Syndrom)
o X-chromosomal rezessiv erbliche mentale Retardierung
o frühkindlich Hypotonie, später häufig Hyperaktivität,
autistische Merkmale,IQ 40 bis 80, Epilepsie bei ~20 von 100
o Sprachentwicklungsstörung, Echolalie
langes Gesicht, markantes Kinn, große Ohren, große Hoden
o Häufigkeit
~ 1:2.000 Jungen/Männer
o Repeat-Expansion (CGG) im FMR1-Gen auf Xq27.3
Normal- und Intermediär-Allele, Prä- und Voll-Mutation
Besonderheiten beim Fragilen-X-Syndrom
o Normal Transmitting Males (NTM mit Prämutation)
 Repeat-Expansion bei den Töchtern (dynamische Mutation)
 Fragiles-X-Syndrom bei den Enkelsöhnen
o auffällige Konduktorinnen
(Vollmutation und ungünstige X-Chromosom-Inaktivierung)
Beispiel: Muskeldystrophie Typ Duchenne (DMD)
Klinik:
o zunehmende Muskelschwäche (Dys-trophie)
o beginnend mit Gangunsicherheit, gehunfähig mit ~ 9 Jahren
o später Beteiligung von Herzmuskel und Atemmuskulatur
o Lebenserwartung unter 25 Jahre
o stark erhöhte Creatin-Kinase (CK)-Spiegel im Blut
o Häufigkeit ~ 1 : 3.500 Jungen
o
häufigste und schwerste Form der Muskeldystrophie
o Teilsymptomatik bei Konduktorinnen: CK-Erhöhung (häufig)
39
Molekulargenetik:
o verursacht durch Mutationen im DMD-Gen (Dystrophin-Gen)
auf Xp21
o Mutationen sind überwiegend ausgedehnte Deletionen (65 %)
o 30 % Neumutationen, Keimzell-Mosaike in bis zu 10 %
dieser Familien
Muskeldystrophie Typ Duchenne (DMD) vs. Typ Becker (BMD)
o Typ Becker ohne Leseraster-Verschiebung
 Transkript wird translatiert (verkürztes Protein)
o Typ Duchenne mit Leseraster-Verschiebung,
 Transkript wird abgebaut (kein Protein)
Einschub: X-Inaktivierung
o -- zur Gen-Dosis Kompensation (46,XX vs. 46, XY)
o -- Lyon-Hypothese: alle bis auf ein X-Chromosom werden inaktiviert
(null bei 45,X / eins bei 47,XXY / zwei bei 47, XXX)
die Inaktivierung betrifft zufällig
das väterliche oder das mütterliche X-Chromosom
die Inaktivierung erfolgt gegen Ende der
zweiten Entwicklungswoche des Embryo
gilt dann unverändert für alle Tochterzellen
(Ausnahme: Selektion gegen das X-Chromosom mit Mutation)
Stichworte bei X-chromosomal rezessiver Vererbung:
o Teilsymptomatik bei Konduktorinnen
o Neumutationen bei Konduktorinnen und obligate Konduktorinnen
X-chromosomal dominante Vererbung
Merkmale X-chromosomal dominanter Vererbung:
o X-chromosomal dominante Vererbung ist sehr selten.
o Männliche und weibliche Familienmitglieder sind betroffen, männliche häufig
schwerer.
o Eventuell besteht pränatale Letalität im männlichen Geschlecht, dann gibt es das
Krankheitsbild nur bei Mädchen und Frauen.
o Mit einer Wahrscheinlichkeit von 50% (1:2) sind Söhne und Töchter von betroffenen
40
Frauen ebenfalls betroffen.
o Alle Töchter eines betroffenen Vaters sind ebenfalls betroffen.
o Vererbung vom Vater auf die Söhne ist ausgeschlossen.
Krankheitsbild mit X-chromosomal dominantem Erbgang:
Beispiel: Incontinentia Pigmenti (Bloch-Sulzberger-Syndrom)
o
o
o
o
o
Genodermatose mit Hautveränderungen in verschiedenen Stadien
tritt nur bei Mädchen und Frauen auf, Häufigkeit ~ 1 : 50.000
geistige Behinderung bei ~ 10 von 100 betroffenen Mädchen
früh letal bei männliche Feten > Fehlgeburt (bis zur 16. Schwangerschaftswoche)
Mutationen im NEMO-Gen (Xq28)
Mitochondriale Vererbung
Grundlagen:
o Mitochondriale DNA (mtDNA, 16,5 Kb), zirkulärer Doppelstrang.
o eine Zelle kann mehrere tausend mtDNA-Moleküle enthalten
o Homoplasmie: alle mtDNA-Moleküle sind identisch
(hinsichtlich einer bestimmten mtDNA-Variante)
o Heteroplasmie: es gibt Linien von unterschiedlichen
mtDNA-Molekülen
o unterschiedliche mtDNA-Moleküle werden zufällig auf Tochterzellen verteilt
o Eizellen enthalten viele Mitochondrien;
o Samenzellen übertragen keine Mitochondrien.
Merkmale mitochondrialer Vererbung
•
•
•
Mitochondrien und Mutationen in der mtDNA werden nur über die Mutter vererbt, nie
über den Vater.
Alle Kinder von weiblichen Merkmalsträgern erben die Mutation, häufig in sehr
unterschiedlichem Ausmaß.
Dem entsprechend ist die Expressivität mitochondrialer Mutationen sehr variabel.
Krankheitsbild mit mitochondrialem Erbgang:
Leber‘sche Hereditäre Opticus-Neuropathie (LHON)
o
o
o
o
o
Erblindung durch Atrophie des N. opticus
Männer häufiger betroffen als Frauen
bei 70 von 100 Betroffenen Punktmutation 11778G>A der mtDNA
bei 15 von 100 Betroffenen Heteroplasmie
mitochondriale Vererbung mit geschlechtsspezifischer Expressivität
41
Stichworte bei mitochondrialer Vererbung
o
Homoplasmie und Heteroplasmie
42
10. KOMPLEXE ERKRANKUNGEN, TERATOLOGIE
Komplexe Erkrankungen und Teratologie
1) Begriffsbestimmung und Grundlagen:
monogen:
oligogen/polygen:
heterogen:
Veränderung in einem Gen verursachen einen bestimmtenPhänotyp
Veränderungen in mehreren Genen müssen für die Ausprägung eines
Phänotyps vorliegen (digenischer Erbgang z.B. bei Retinitis pimentosa).
unterschiedliche Ursachen (genetisch und nicht-genetisch) können
einen bestimmten Phänotyp verursachen (Beispiel Schwerhörigkeit).
Komplexe oder multifaktorielle Erkrankungen entstehen durch ein Wechselspiel genetischer
und nicht-genetischer Faktoren. Sie folgen keinem Mendel’schem Erbgang. Die meisten
menschlichen Erkrankungen, die nicht auf reine Umweltfaktoren (z.B. Unfälle)
zurückzuführen sind, sind als komplexe Erkrankungen aufzufassen:
0%
0%
Genetik
50%
50%
Umwelt
100%
100%
rein genetisch
multifaktoriell
rein Umwelt,
z.B. Unfälle
Der Übergang von klassischen monogenen Erkrankungen zu komplexen Erkrankungen ist
fließend. Dies spiegelt sich auch in den Erkrankungswahrscheinlichkeiten von
Mutationsträgern wider:
Krankheit
o
o
o
o
o
Chorea Huntington
Retinoblastom
Erblicher Brustkrebs (BRCA1/2)
Hämochromatose (homozygot HFE)
M. Alzheimer (heterozygot APO-E4)
Manifestationswahrscheinlichkeit
100%
90%
40-80%
10-50%
6-13%
43
2) Qualitative und quantitative Merkmale
In der komplexen Genetik werden qualitative von quantitativen Merkmalen unterschieden.
Beispiele für qualitative Merkmale sind z.B.:
o Lippen-Kiefer-Gaumenspalte
o Neuralrohrdefekte
o angeborene Pylorusstenose
Beispiele für quantitative Merkmale sind z.B.:
o medizinische Laborparameter (z.B. Cholesterinspiegel)
o Körpergröße
o Intelligenz
Für die meisten quantitativen Merkmale wird ein Grenzwert von +/- 2σ festgelegt. Das
entspricht ungefähr der 3. und 97. Perzentile. Grenzwerte sind relative Werte und können sich
mit der Zeit ändern. Dies ist z.B. gut an der Größenentwicklung in Deutschland zu sehen.
3) Geschlechtsunterschiede und Carter-Effekt
Bei einigen multifaktoriellen Erkrankungen finden sich deutliche Geschlechtsunterschiede in
der Prävalenz.
Krankheit
Geschlechtsverhältnis
(männlich:weiblich)
Pylorusstenose
6:1
Klumpfuß
2:1
Kongenitale
Hüftgelenksluxation
1:6
Bei diesen Erkrankungen lässt sich häufig der sog. Carter-Effekt beobachten:
„Gehört ein Erkrankter zu dem weniger häufig betroffenen Geschlecht, so ist das empirische
Risiko höher, dass auch seine Kinder erkranken werden.“
Beispiel Pylorusstenose:
Wiederholungsrisiko für
betroffene Väter:
2,4% bei Töchtern
5,5% bei Söhnen
betroffene Mütter:
7,3% bei Töchtern
19,4% bei Söhnen
44
4) Korrelationskoeffizient
Für multifaktorielle Erkrankungen ist der Korrelationskoeffizient ein nützliches
Messinstrument. Er ist ein dimensionsloses Maß für den Grad des linearen Zusammenhangs
zwischen zwei Merkmalen. Er kann Werte zwischen −1 und +1 annehmen. Bei einem Wert
von +1 (bzw. −1) besteht ein vollständig positiver (bzw. negativer) linearer Zusammenhang
zwischen den betrachteten Merkmalen. Wenn der Korrelationskoeffizient den Wert 0
aufweist, hängen die beiden Merkmale überhaupt nicht linear voneinander ab. Bei -1
schließen sich beide Merkmale aus.
5) Interaktion und multiplikative Effekt
Bei komplexen Erkrankungen verursacht eine Interaktion von verschiedenen Faktoren einen
multiplikativen Effekt.
Beispiel Thromboserisiko
Träger der heterozygoten
Thromboserisiko.
Faktor-V-Leiden
Mutation
haben
ein
5-fach
erhöhtes
Träger der heterozygoten Prothrombin-20210A-Variante haben ein 2-fach erhöhtes
Thromboserisiko.
Orale Kontrazeption erhöht das Thromboserisiko um das 4-fache.
heterozygot Faktor-V-Leiden + orale Kontrazeption:
35-faches Risiko
homozygot Faktor-V-Leiden + orale Kontrazeption:
80-faches Risiko
heterozygot Faktor-V-Leiden + Prothrombin-20210A-Variante : 20-faches Risiko
6) Zwillingsschaften
Zweieiige Zwillingsschwangerschaften (ZZ) haben grundsätzlich zwei Chorion- und zwei
Amnionhöhlen. Eineiige Zwillingsschwangerschaften (EZ) können sowohl dichorischdiamniotisch, monochorisch-diamniotisch oder monochorisch-monoamniotisch sein. Dies ist
abhängig vom Zeitpunkt der Trennung in den ersten Entwicklungstagen. Siamesische
Zwillinge (conjoined twins) treten bei einer Trennung nach dem 13. Entwicklungstag auf. Die
Häufigkeit verteilt sich folgendermaßen:
dichorisch-diamniotisch:
monochorisch-diamniotisch:
monochorisch-monoamniotisch:
100% der ZZ, ~30% der EZ
~70% der EZ
~ 2% der EZ (conjoined twins 0,2%)
Die EZ tritt weltweit relativ konstant mit einer Häufigkeit von 4/1000 Geburten auf, die
Häufigkeit der ZZ unterscheidet sich von Region zu Region (Europa: ca. 8/1000, Afrika: ca.
36/1000).
7) Definitionen Syndrom / Sequenz / Assoziation
Syndrom: mehrere Auffälligkeiten, die eine gemeinsame Ursache haben.
Sequenz: mehrere Auffälligkeiten, die kausal verkettet sind.
Assoziation: mehrere Auffälligkeiten, die als Kombination beobachtet werden, ohne dass die
Ursache bekannt ist.
45
8) Kritische Phasen der embryonalen Entwicklung
In den ersten 2 Schwangerschaftswochen können keine Fehlbildungen entstehen: sog. Allesoder-Nichts-Gesetz !
In der 3. bis 8. Schwangerschaftswoche p.c. liegt die sensible Phase der Organogenese, in
diesem Zeitraum entstehen die meisten Organfehlbildungen.
9) Basisfehlbildungsrisiko
Etwas 4 v.100 Neugeborene haben eine angeborene Fehlbildung (Basisfehlbildungsrisiko).
Geschätze Häufigkeit der Ursachen schwerer angeborener Fehlbildungen:
o
o
o
o
o
Chromosomale Aberrationen
bekannte exogener Auslöser
Monogene Vererbung
Multifaktorielle Vererbung
unbekannte Ursache
6%
7%
8%
25 %
54 %
10) Häufige Infektionskrankheiten mit teratogenen Effekten
o
o
o
o
Röteln
Zytomegalie
Varizellen
Toxoplasmose
 (S)TORCH Serologie in der Schwangerschaft (Syphilis, Toxoplasmose, Others, Röteln,
Cytomegalie, Herpes simplex)
Zu Details siehe entsprechende Lehrbücher
11) Pränatale Schäden durch Röntgenstrahlen
Bei Strahlenbelastung von 200 mSv wird von einer Verdopplung des Fehlbildungsrisikos
ausgegangen, bei Strahlenbelastung < 100 mSv ist keine Schädigung zu erwarten.
Die kritische Dosis wird bei diagnostischen Verfahren praktisch nie erreicht (Rö Becken:
z.B. 0,25-2,8 mSv). Bei therapeutischem Einsatz (Strahlentherapie) besteht häufig eine
gleichzeitige Gefährdung durch Chemotherapie.
12) Pränatale Schäden durch Medikamente
Wichtige Medikamente, die zu Fehlbildungen oder sonstigen kindlichen Schäden in der
Schwangerschaft führen können:
o
o
o
o
o
o
Cumarinderivate (Marcumar, Warfarin)
Valproinsäure
Zytostatika
Aminoglykoside
Vitamin A-Präparate
androgene Hormone
46
Zu Details siehe entsprechende Lehrbücher.
47
13) Alkohol und Rauchen
a) Alkoholembryopathie:
o
o
o
o
o
o
intrauteriner Minderwuchs
Mikrozephalus
Entwicklungsverzögerung
Hyperaktivität
kurze Lidspalten, schmales Lippenrot, langes Philtrum
Herzfehler
Ab 15g Alkohol/Tag (z.B. 0,3l Bier, 1/8 l Wein) sind erste Effekte statistisch nachweisbar.
b) Rauchen
Rauchen der Mutter erhöht das Risiko für
o - Blutungen in der Schwangerschaft
o - Frühgeburten
o - Wachstumsverzögerung, Untergewicht bei der Geburt und damit
für perinatale Mortalität
Es besteht aber keine deutliche Risikoerhöhung für Fehlbildungen.
48
11. TUMORGENETIK
Einführung:
Die meisten Tumore beim Menschen sind multifaktoriell bedingt, allerdings sind Mutationen
in einzelnen Genen für ca. 5-10% aller Krebserkrankungen bei Patienten verantwortlich.
Hinweise für eine erbliche Krebserkrankung sind zum Bespiel ein ungewöhnlich frühes
Auftreten eines Tumors, eine familiäre Häufung von Tumoren, mehrfaches Auftreten von
Tumoren bei einem Patienten oder das Vorhandensein zusätzlicher klinischer Zeichen, die auf
eine syndromale Tumorerkrankung schließen lassen.
Angehörige von Patienten mit einer (erblichen) Krebserkrankung haben ein erhöhtes Risiko
für Krebs und sollten daher spezielle Vorsorgeuntersuchungen bei sich durchführen lassen.
Wenn allerdings bei einem Betroffenen im Rahmen einer genetischen Beratung eine
genetische Veränderung nachgewiesen werden konnte, besteht die Möglichkeit einer
genetischen Testung auch bei den Angehörigen. Im Falle einer unauffälligen Testung kann
dadurch eine Risikoperson sehr entlastet werden.
Molekulargenetik:
In der Tumorgenetik
Keimbahnmutationen:
unterscheidet
man
zwischen
somatischen
Mutationen
und
Somatische Mutationen
...entstehen während des Lebens in Körperzellen. …..werden nicht weitervererbt.
...führen nicht zu Erbkrankheiten. ...können ohne Konsequenz für die Zelle sein.
...können zum Untergang der Zelle führen. ...können zu (sporadischen) Tumoren führen.
Keimbahn-Mutationen
...entstehen in Zellen der Keimbahn.
...können an die Nachkommen vererbt werden und sind dann in jeder Körperzelle vorhanden.
...können ohne Bedeutung für die Nachkommen sein. ...können zu klassischen
Erbkrankheiten führen. ...können das Risiko für Erkrankungen erhöhen (Disposition) und
somit zum familiär gehäuften Auftreten von Erkrankungen führen.
Mutationen treten in unseren Körperzellen sehr häufig auf: Ein erwachsener Mensch hat ca.
1014 Zellen und unser Genom umfasst ca. 6x109 Nukleotide in jeder Körperzelle. Bei einer
biologischen Mutationsrate von 10-6 pro Gen und geschätzten 1010 Zellteilungen im Leben,
sollten rechnerisch 1010 Mutationen in jedem Gen im Laufe eines Lebens auftreten.
Nur die wenigsten Mutationen können beim Menschen Krebs verursachen: Zum einen sind
nur Mutationen in kodierenden oder regulativen DNA-Abschnitten von Bedeutung (ca. 3%),
ferner führen nichtsynonyme Mutationen in für die Zellfunktion wichtigen Genen häufig zum
Zelltod, welcher für das Überleben des Gesamtorganismus unbedeutend ist. Als Schutz vor
Mutationen haben Zellen verschiedene DNA-Reparaturmechanismen zur Verfügung:
1) Proofreading-Funktion der DNA-Polymerase (schützt vor Fehleinbauten von DNA-Basen)
2) Mismatch-Reparatur (bei Fehlpaarungen von Basen, Beispiel: HNPCC)
3) Basen-Exzisions-Reparatur (bei Hydrolyse, Deaminierungen, Methylierungen)
4) Nucleotid-Exzisions-Reparatur (bei „DNA-Verzerrungen“ z.B. durch „bulky adducts“,
49
Thymidin-Dimere, Beispiel: Xeroderma pigmentosum)
5) homologe Rekombinations-Reparatur / nicht-homologe End-zu-End-Verknüpfung (NHEJ)
(z.B. Doppelstrangbrüche z. B. durch ionisierende Strahlung)
Welche Gene sind in Tumoren verändert?
1) Protoonkogene / Onkogene
2) Tumorsuppressorgene
3) Mutatorgene
Protoonkogene kodieren typischerweise für Wachstumsfaktoren oder deren Rezeptoren,
Signaltransduktionsmoleküle, Transkriptionsfaktoren oder Zellzyklus-Proteine. Durch
Mutationen können Protoonkogene zu Onkogenen aktiviert werden. Dies geschieht z.B. durch
Genamplifikation, aktivierende Punktmutationen oder chromosomale Translokationen, die zu
neuen Fusionsgenen führen. Ein klassisches Beispiel sind die RAS-Protoonkogene (RAS =
„rat sarcoma virus“), die in der Signaltransduktion eine Rolle spielen.
Tumorsuppressorgene üben meist eine negative Kontrolle auf den Zellzyklus, bzw. die
Zellproliferation aus. Erst der Ausfall beider Allele durch inaktivierende Mutationen („Loss
of function“) führt zur gesteigerten Zellproliferation. Keimbahnmutationen in
Tumorsuppressorgenen können zu familiären Krebserkrankungen führen. Ein Beispiel ist das
APC-Gen bei der Familiären Adenomatösen Polyposis coli (FAP).
Mutatorgene sind häufig involviert in die DNA-Reparatur und dabei verantwortlich für die
Integrität des Genoms. Wie bei den Tumorsuppressorgenen handelt es sich meist um
inaktivierende Mutationen, die nachfolgend Mutationen in Protoonkogenen oder
Tumorsuppressorgenen begünstigen. Keimbahnmutationen in Mutatorgenen können zu
familiären Krebserkrankungen führen. Ein Beispiel für Mutatorgene sind die MismatchRepair-Gene beim hereditären kolorektalen Karzinom ohne Polyposis (HNPCC).
Theorie von Kinzler und Vogelstein (1997)
gesunde Zelle
Tumorzelle
Caretaker:
Tumorsuppressorgene, die
an der DNA-Reparatur beteiligt
sind
„loss of function“
in beiden Allelen
Gatekeeper:
Protoonkogene, die die Zellteilung
regulieren
„gain of function“
in einem Allel
Tumorsuppressorgene, die
die Zellteilung regulieren
„loss of function“
in beiden Allelen
Mehrstufen-Krebsentstehung (multistep carcinogenesis):
Zur Entstehung eines malignen Tumors sind in der Regel Mutationen in verschiedenen Genen
nötig. Bei einer familiären Krebserkrankung liegt bereits in allen Körperzellen eine erste
Mutation vor, wodurch die für das Auftreten eines Tumors notwendige Mutationskaskade
verkürzt wird.
50
Beispiele für familiäre Tumorerkrankungen:
Syndromale Tumorerkrankung mit Chromosomeninstabilität:
Eine Reihe syndromaler Erkrankungen, die autosomal rezessiv vererbt werden, gehen mit
einer Neigung zu Chromosomenbrüchen als Zeichen einer gestörten DNA-Reparatur und der
Neigung zum frühen Auftreten von malignen Tumoren einher:
1) Fanconi-Anämie (Panzytopenie, radiale Defekte, Minderwuchs, Augenfehlbildungen,
Herzfehler, Urogenitalfehlbildungen, Leukämien)
2) Bloom-Syndrom (Minderwuchs, teleangiektatische Erytheme, Photosensibilität,
Immundefekte, maligne Tumoren)
3) Ataxia teleangiectatica (okulokutane Teleangiektasien, progrediente cerebelläre Ataxie,
Immundefekte, maligne Tumoren)
4) Nijmegen-Breakage-Syndrom (Minderwuchs, mentale Retardierung, kraniofaziale
Dysmorphien, Immundefekte, maligne Tumoren)
Familiäre Adenomatöse Polyposis coli (FAP) und das hereditäre kolorektale Karzinom
ohne Polyposis (HNPCC)
Das Kolonkarzinom ist das zweithäufigste Karzinom sowohl bei Männern als auch bei Frauen
mit einer Neuerkrankungsrate von ca. 57.000 pro Jahr in Deutschland. Die meisten
Kolonkarzinome treten sporadisch auf und sind multifaktoriell bedingt. Ca. 5% aller
Kolonkarzinome werden allerdings monogen verursacht.
Die Familiäre Adenomatöse Polyposis coli (FAP) macht etwa 20% aller hereditären
Darmkrebserkrankngen aus. Sie unterliegt einem autosomal dominanten Erbgang. Ursächlich
sind Mutationen im APC-Gen auf Chromosom 5, welches ein Tumorsuppressorgen ist und in
der wnt-Signalkaskade eine Rolle spielt. Die Penetranz bei der FAP ist nahezu 100%.
Geschätzt 25% aller Mutationen im APC-Gen sind Neumutationen, in 75% der Fälle ist ein
Elterteil ebenfalls Anlageträger. Bei der FAP findet man die klassische Adenom-KarzinomSequenz, wie sie auch die sporadischen Kolonkarzinome aufweisen. Typisch ist das Auftreten
von multiplen kolorektalen Adenomen (> 100), seltener findet man diese auch im oberen
Gastrointestinaltrakt. Als Zusatzsymptome können Osteome, Epidermoidzysten und eine
diagnoseweisende Netzhautveränderung (CHRPE Congenital Hyperplasia Retinal Pigmental
Epithelium) vorkommen.
Die HNPCC (Lynch-Syndrom) macht ca. 80% aller erblichen Kolonkarzinome aus. Dieser
Erkrankung liegen genetische Veränderungen in Genen für DNA-Reparatur (MLH1, MSH2,
MSH6, PMS1, PMS2, MLH3) zugrunde. Die HNPCC wird ebenfalls autosomal dominant
vererbt mit einer Penetranz von 80%. Typisch für die HNPCC sind ein frühes
Erkrankungsalter (durchschnittliches Alter: 45 Jahre), das synchrone oder metachrone
Auftreten von Zweitkarzinomen des Rektums oder Kolons und eine Häufung von
extrakolonischen Tumormanfestationen (Endometrium, Dünndarm, ableitende Harnwege,
Magen, hepatobiliäres System, Ovar, Hirn, Haut). Die bevorzugte Tumorlokalisation ist im
rechten Hemikolon, der histologische Typ häufig muzinöse, siegelringzellige
Adenokarzinome mit entzündlicher Infiltration. Ein richtungsweisender molekulargenetischer
Befund für die HNPCC ist eine Mikrosatelliteninstabilität im Tumorgewebe.
Die Verdachtsdiagnose HNPCC sollte bei Erfüllung der erweiterten Amsterdam-Kriterien
gestellt werden (alle Kriterien müssen erfüllt sein):
51
1.
2.
3.
4.
5.
mindestens drei Familienangehörige mit HNPCC-assoziiertem Karzinom
(Kolon/ Rektum, Endometrium, Dünndarm, Nierenbecken/Ureter)
einer davon Verwandter ersten Grades der beiden anderen
Erkrankungen in mindestens zwei aufeinanderfolgenden Generationen
mindestens ein Patient mit der Diagnose eines Karzinoms vor dem 50. Lebensjahr
Ausschluss einer FAP
Bei beiden Formen des familiären Kolonkarzinoms sollte vor der Durchführung einer
genetischen Diagnostik mindestens ein ausführliches humangenetisches Beratungsgespräch
erfolgen. Angehörigen mit einem erhöhten Risiko für die FAP oder HNPCC wird ein
intensiviertes Früherkennungsprogramm ab dem 10. bzw. 25. Lebensjahr empfohlen. Beim
Nachweis von adenomatösen Polypen sollte eine prophylaktische Entfernung des gesamten
Dickdarms erwogen werden.
Familiärer Brustkrebs
Brustkrebs ist die häufigste Krebsform bei Frauen in Deutschland. Etwa jede zehnte Frau
erkrankt im Laufe ihres Lebens daran. Ungefähr 5% aller Mammakarzinome entstehen
aufgrund einer erblichen Disposition. In diesen Fällen findet sich meist eine familiäre
Häufung dieser Erkrankung. Bei ca. 50% der familiär gehäuften Fälle sind Mutationen in den
Genen BRCA1 und BRCA2 die Krankheitsursache. Die Prävalenz von BRCA1 und BRCA2
Mutationen wird auf 1:500 bis 1:1000 in der deutschen Bevölkerung geschätzt. Beide Gene,
die mit 23 bzw. 28 Exons sehr groß sind, sind involviert in die Reparatur von DNA-Schäden
und die Zellzyklus-Kontrolle. Mutationen in beiden Genen unterliegen jeweils einem
autosomal dominanten Erbgang. Anlageträgerinnen für eine BRCA1 oder BRCA2 Mutation
tragen ein hohes Lebenszeitrisiko für das Auftreten von Brustkrebs und Ovarialkarzinomen (s.
Tabelle).
bis 50. LJ
bis 80. LJ
BRCA1
MammaCa(%)
OvarialCa(%)
50
20
80-90
60
BRCA2
MammaCa(%)
OvarialCa(%)
30
0,4
80
30
nach Schmutzler et al. Deutsches Ärzteblatt 20:1372-78 (1999)
In Familien mit BRCA1 oder BRCA2-Mutationen tritt ein Mammakarzinom häufig
prämenopausal und auch nicht selten beidseitig auf. Ferner besteht bei Anlageträgerinnen
auch ein erhöhtes Risiko für andere Krebsformen (z.B. Pankreaskarzinome, Magen-DarmKrebs, Leukämien, sowie Melanome). Insbesondere bei BRCA2-Mutationen besteht auch für
männliche Träger ein erhöhtes Brustkrebsrisiko (ca. 5-10%).
Die Wahrscheinlichkeit, dass bei einer Betroffenen eine BRCA1 oder BRCA2 Mutation
vorliegt, ist abhängig von dem Erkrankungsalter, der Zahl weiterer Erkrankter in der Familie
und deren Verwandtschaftsgrad. Eine individuelle Risikokalkulation kann an Hand von
empirischen Daten über Computer-Programme (z.B. BRCAPRO) vorgenommen werden.
Auch in Familien ohne nachgewiesene Mutation kann für gesunde Risikopersonen mit Hilfe
von mathematischen Modellen eine Riskoabschätzung für ein Mammakarzinom erfolgen.
Grundsätzlich kommen derzeit gemäß S3-Leitlinien folgende eine genetische Diagnostik in
Betracht:, wenn in der Familie
1) mindestens 3 Frauen an Brustkrebs erkrankt sind.
52
2) mindestens 2 Frauen an Brustkrebs erkrankt sind, davon mindestens eine
Frau vor dem 51. Lebensjahr.
3) mindestens 1 Frau an Brustkrebs und 1 Frau an Eierstockkrebs erkrankt sind.
4) mindestens 2 Frauen an Eierstockkrebs erkrankt sind.
5) mindestens eine Frau an Brust- und Eierstockkrebs erkrankt ist.
6) mindestens 1 Frau mit 35 Jahren oder jünger an Brustkrebs erkrankt ist.
7) mindestens 1 Frau mit 50 Jahren oder jünger an bilateralem Brustkrebs erkrankt ist.
8) mindestens ein Mann an Brustkrebs und 1 Frau an Brust- oder Eierstockkrebs erkrankt sind
Mit dem Begriff „Familien“ sind Verwandte 1. und 2. Grades gemeint.
Für Patientinnen mit einer nachgewiesenen BRCA1 oder BRCA2 Mutation stehen als
mögliche Präventionsmaßnahmen sowohl intensive Früherkennungsprogramme als auch
prophylaktische Operationen (Ovarektomie oder Ablatio) zur Verfügung. Die Betreuung
dieser Patientinnen sollte möglichst in einem spezialisierten interdisziplinären Zentrum
erfolgen, in dem u.a. Gynäkologen, Humangenetiker, Radiologen, Strahlentherapeuten und
Psychotherapeuten zusammenarbeiten.
Retinoblastom
Das Retinoblastom ist mit einer Häufigkeit von 1:20.000 der häufigste maligne Augentumor
im Kindesalter. Bei ca. 60% der Fälle tritt das Retinoblastom sporadisch auf. In 40% liegt
allerdings eine autosomal dominant erbliche Disposition vor, die durch heterozygote
Mutationen im Retinoblastom-Gen (RB1) auf Chromosom 13q14 veursacht wird. Bei diesen
Kindern finden sich häufig mehrere Tumorherde in beiden Augen. In mehr als 90% der Fälle
ist die RB1-Mutation als Neumutation beim betroffenen Kind aufgetreten, nur in seltenen
Fällen wurde sie von einem Elternteil geerbt.
Durch eine molekulargenetische Diagnostik im RB1-Gen kann in ca. 80% der Kinder mit
beidseitigem Retinoblastom eine Mutation im RB1-Gen identifiziert werden. Patienten mit
RB1-Keimbahnmutationen haben ein erhöhtes Risiko für extraokuläre Zweittumoren (z.B.
Pinealome, Sarkome und Melanome) im Laufe ihres Lebens. Das erbliche Retinoblastom ist
das klassische Beispiel für das Zwei-Treffer-Modell (Knudsons two hit Hypothese) bei
Tumorsuppressorgenen
Wilmstumor (Nephroblastom):
Der Wilmstumor macht mit einer Häufigkeit von 1:10.000 ca. 6-10% aller malignen Tumore
im Kindesalter aus. Das typische Erkrankungsalter liegt innerhalb der ersten 5 Lebensjahre. In
ca. 10% der Fälle tritt der Wilmstumor beidseitig auf, bei ca. 10-15% aller Fälle liegt eine
erbliche Disposition vor. Ursächlich für diese Fälle sind meist Mikrodeletionen auf
Chromosom 11p13, die das WT1-Gen betreffen. Im Falle einer größeren cytogenetischen
Deletion dieser Region, die auch das benachbarte PAX6-Gen betrifft, kommt es zum
sogenannten WAGR-Syndrom (Wilmstumor, Aniridie, urogenitale Fehlbildungen, mentale
Retardierung). Das WT1-Gen ist ein Tumorsupressor-Gen und hemmt die Transkription von
wachstumsinduzierenden Genen (z.B. IGF2, EGR1).
Die Region 11p15 wird auch als WT2-Region bezeichnet, obwohl ein spezifisches WT2-Gen
bislang noch nicht isoliert wurde. Allerdings weisen ca. 40% aller Wilms-Tumore ein loss of
heterozygosity oder ein loss of imprinting (H19 und IGF2-Gen) in dieser Region auf.
Außerdem entwickeln ca. 5% aller Patienten mit Beckwith-Wiedemann-Syndrom (BWS)
(Großwuchs, Makroglossie, Organomegalie, Nabelhernie, auffällige Fazies mit Kerbenohren,
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etc.) ebenfalls einen Wilms-Tumor. Dem BWS liegt in vielen Fällen ein Imprinting-Defekt
dieser Region zugrunde.
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12. GENOMISCHES IMPRINTING
Genomisches Imprinting
Zur normalen intrauterinen Entwicklung ist ein äquivalenter Beitrag des väterlichen sowie des
mütterlichen Genoms erforderlich. Eine zentrale Rolle im Prozess des Imprintings
(genomische Prägung) spielt die elternspezifische Methylierung bestimmter CpGDinukleotide. Infolge der unterschiedlichen Prägung bestimmter Chromosomenabschnitte
während der männlichen und weiblichen Keimzellbildung unterscheiden sich das väterliche
und das mütterliche Genom funktionell und beide werden für die normale embryonale
Entwicklung benötigt. Die elterlichen Kopien geprägter Regionen unterscheiden sich nicht
nur hinsichtlich des Expressionsmuster bestimmter Gene, sondern auch hinsichtlich der DNAModifikation sowie des Zeitpunktes der Replikation innerhalb des Zellzyklus, die paternalen
Kopien replizieren in der Regel früher als die maternalen. Bei der DNA-Modifikation handelt
es sich um die Methylierung von CpG-Dinukleotiden am 5´-Kohlenstoffatom des
Cytosinrestes. Der Promotorbereich aktiver Genkopien ist meistens unmethyliert, während er
bei inaktiven Genkopien methyliert ist.
Das Säugetiergenom enthält vermutlich 100-200 elternspezifisch exprimierte Gene, von
denen etwa zwei Duzend bekannt sind.
Regelhaft erbt jeder Mensch eine Kopie für jedes autosomale Gen gleichermaßen von seinem
Vater wie von seiner Mutter. Unter einer uniparentalen Disomie versteht man die Weitergabe
beider Kopien eines Chromosoms durch einen Elternteil. Man unterscheidet zwischen einer
Heterodisomie, die das Vorliegen beider homologen Chromosomen und einer Isodisomie, die
das Vorliegen von zwei identischen Kopien eines elterlichen Chromosoms (am häufigsten aus
Teilungsfehlern der Meiose II) beschreibt. Eine der häufigen Entstehungsmechanismen einer
uniparentalen Disomie ist ein meiotisches „Non-Disjunction“ mit nachfolgendem
postzygotischen Verlust eines überzähligen Chromosoms („trisomy rescue“).
In der Zwischenzeit, gibt es eine Reihe von Krankheitsbildern, die dem Imprinting unterliegen
wie z. B.: Prader-Willi-Syndrom, Angelman-Syndrom, Beckwith-Wiedemann-Syndrom,
Silver-Russell-Syndrom, transienter neonataler Diabetes mellitus.
Beispiel: Prader-Willi-Syndrom:
Pränatale und Neonatale Auffälligkeiten
o Reduzierte Kindbewegungen
o Beckenendlage
o Niedriges Geburtsgewicht
o Normaler Kopfumfang bei Geburt
o Muskuläre Hypotonie
o Fütterungsprobleme
o Hoher Gaumen
o Hypogonadismus
Kindheit
o Mangelndes Sättigungsgefühl und Beginn des Übergewichts
o Entwicklungverzögerung
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o Muskuläre Hypotonie
Erwachsene
o Zunehmende Adipositas
o Kleinwuchs
o Kleine Hände und Füsse
o Verzögerte Pubertät
o Verhaltensprobleme
o Mentale Retardierung
Ursachen des Prader-Willi-Syndroms
o
o
o
o
Deletion auf dem paternalen Chromosom
Maternale uniparentale Disomie Ca.
Imprinting Defekt Ca.
Balancierte Translokation
70 %
25-28 %
1%
<1 %
Beispiel: Angelman-Syndroms
Klinische Zeichen
o Muskuläre Hypotonie
o Mikrozephalie
o Ataxie
o Epilepsie/EEG-Auffälligkeiten
o Keine Sprache
o Freundliche Stimmung
o Schwere mentale Retardierung
Ursachen des Angelman-Syndroms
o Deletion auf dem maternalen Chromosom:
70%
o Paternale uniparentale Disomie: ca.
2%
o Imprinting Defekt: ca.
3%
o UBE3A Mutation: ca.
5%
o unbekannt:
ca 20 %
Epigenetik
o Entwicklungsprogramm, dass in bestimmten Zellen zu bestimmten Zeitpunkten ganz
bestimmte Gene an-oder abschaltet.
o Eine „Kontrollinstanz“ muss dafür sorgen, dass dieses Regulationsmuster wieder an die
Tochterzellen weitergegeben wird.
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