Matthias Wühle Die Moral der Märkte Warum Ethik neu gedacht werden muss Die Moral der Märkte Matthias Wühle Die Moral der Märkte Warum Ethik neu gedacht werden muss Mit einem Geleitwort von Prof. Dr. Klaus-Jürgen Grün Matthias Wühle Idstein, Deutschland Dissertation, Universität Frankfurt, 2015 u.d.T.: Die Moral der Märkte. Eine kritische Untersuchung zur Eignung von ökonomischen Prinzipien als Begründungsund Rechtfertigungsgrundlage für ein ethisches Programm Siegelnummer: D30 ISBN 978-3-658-15333-5 ISBN 978-3-658-15334-2 (eBook) DOI 10.1007/978-3-658-15334-2 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer Fachmedien Wiesbaden 2017 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. 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Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Springer ist Teil von Springer Nature Die eingetragene Gesellschaft ist Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Strasse 46, 65189 Wiesbaden, Germany Zum Geleit Die Dissertation von Matthias Wühle empfiehlt sich aufgrund ihrer kritischen Haltung zur Hauptströmung akademischer Ethiken. Während an Universitäten ein unverhältnismäßiger starker Anpassungsdruck an die moralphilosophischen Prinzipien Immanuel Kants herrscht, stellt Wühle die Implausibilität reiner Pflichtethiken heraus. Im Sinne theologischer Ethiken legen diese das Wissen über Gut und Böse in eine die natürlichen Zusammenhänge übersteigende Macht, die reine Vernunft. Vernunft sei dabei die Quelle von Gut und Böse, ihr Urteil sei unfehlbar, sie sei stets vor dem Handeln zu Rate zu ziehen, ihr sei wie jeder höheren Autorität stets Folge zu leisten, sofern eine Handlung moralischen Wert haben soll. Statt einen kategorischen Imperativ, dessen Anwendung an keinerlei Bedingungen geknüpft sein soll - vor allem nicht an die Bedingung des Nutzens oder des Glücks -, fordert die Moral der Märkte allenfalls einen hypothetischen Imperativ. Hypothetisch hatte Kant diejenigen Imperative genannt, die sich aus einer Bedingung ableiten. Sie seien deswegen nicht von moralischem Wert. Demnach gehörten alle Fragen des Marktes nicht in den Bereich der Ethik und der Moral. Denn Fragen des Marktes stehen in Bedingungszusammenhängen nach dem Muster: „Wenn du Korruption vermindern willst, musst du....!“ Eine Moral des Marktes erforscht daher auch die Bedingungen, die zur Verminderung sozialer Schäden durch Kurzsichtigkeit und Rücksichtslosigkeit entstehen können. Sie ist die notwendige Antwort der Moralkritik auf die rein mit sich selbst befasste akademische Ethik, indem sie zur Diskussion stellt, dass Ethik und Moral stets den Nutzen für die Allgemeinheit anstreben müssen. Gerade in Fragen des Marktes ist der utilitaristische Ausgangspunkt des ethischmoralischen Handelns die Erwartung des im Gemeinwohl liegenden Nutzens oder Schadens. Die Inkaufnahme langfristigen Schadens für einen kurzfristigen Nutzen mag im Einklang mit geltendem Recht stehen. Aber es gehört grundsätzlich zu den Aufgaben der Moral und Ethik die Teilnehmer des Marktes von solchen Entscheidungen abzubringen. Ich wünsche der Studie von Matthias Wühle eine unbefangene Diskussion über die Charakterbildung von Marktteilnehmern als einer Alternative zur Forderung nach bedingungsloser Pflichterfüllung. Großkrotzenburg, Ende Mai 2016 Prof. Dr. Klaus-Jürgen Grün Vorwort Braucht Wirtschaft mehr Moral? Lässt sich Wirtschaft durch Ethik verbessern? Oder schließen sich Ethik und Wirtschaft sogar gegenseitig aus? Die meisten Philosophen sind sich darin einig, dass die Ethik einen Beitrag dazu leisten kann, die Wirtschaft zum Positiven zu verändern. Dabei konkurrieren verschiedene ethische Interpretations- und Begründungsansätze miteinander. Ein ausgereiftes System, namens „Ethik“, das von Widersprüchen frei ist und problemlos auf die Praxis angewendet werden kann, gibt es nicht. Der Gedanke, dass aus der Wirtschaft heraus mithilfe von ökonomischen Prinzipien und durch reines ökonomisches Denken ein ethisches Konzept entwickeln kann, wird durch Ideologien und tradierte Tabus verstellt. Ziel dieser Arbeit ist es, die Möglichkeiten aufzuzeigen, wie auf den Grundlagen der Ökonomie ein ethisches Modell erstellt werden kann, das die Eigenschaften aufweisen soll, besser auf die wirtschaftlichen Probleme einzugehen, als das mit den traditionellen Moralvorstellungen möglich ist. Zu Beginn soll untersucht werden, welche Entwicklung die Ökonomie in der Kulturund Wissenschaftsgeschichte genommen hat und welchen Stellenwert bisherige Philosophen der Ökonomie einräumten. Daran schließt sich die Frage an, welche Einflüsse bei der Genese von Moralvorstellungen eine Rolle spielen. Bereits hier wird deutlich, dass viele Einflüsse ökonomischer Natur sind, diese jedoch in der Regel zurückgewiesen werden. Eine zentrale Rolle in der Begründung der Ethik nimmt die Frage der Selbstdurchdringung ein, die von vielen Philosophen als Voraussetzung für die Umsetzung in die Praxis gesehen wird. Zuletzt hat die Neue Institutionenökonomik die Selbstdurchdringung von Institutionen als wichtige Grundlage für die Ökonomie mit Hilfe der Spieltheorie aufgezeigt. Damit ist es auch möglich, die Frage zu beantworten, ob Ethik auf dem Prinzip des Altruismus aufgebaut werden soll und ob man gleichzeitig Egoismus als Moralprinzip ablehnen solle, wie es noch Schopenhauer vorgeschlagen hat. Ich werde anhand der Spieltheorie aufzeigen, dass aus ökonomischen Gründen allein die These des Egoismus haltbar ist. Die Ökonomie veranschaulicht das Prinzip der Selbstdurchdringung anhand des Marktmodells. Dieses Prinzip, kurz: Ökonomisches Prinzip genannt, ist gleichermaßen auf Moralvorstellungen anwendbar. Dies ist die Grundlage der Moral der Märkte. Die Moral der Märkte ist im besonderen Maße auch auf Finanzmärkte anwendbar. Finanzmarktakteure sehen sich zunehmend dem Vorwurf der Unmoral ausgesetzt, VIII Vorwort nicht selten auch zu Unrecht. Überlieferte Moralvorstellungen konnten sich bereits im Finanzmarkt durchsetzen – oft mit zweifelhaftem ökonomischen und zweifelhaftem moralischen Erfolg. Viele nachhaltige Investmentfonds sind entgegen ihrer Bezeichnung nicht nachhaltig, Ethikbanken müssen nicht ethischer sein, als die Tätigkeit einer Sparkasse. An dieser Stelle wird deutlich, dass Moral und Ethik längst zum reinen PR- und Marketinginstrument verkommen ist, bevor man überhaupt angefangen hat, die Bedeutung der Ökonomie für die Ethik zu verstehen. Dies erfordert ein Umdenken in dem Ausmaß, wie es zuletzt im Zeitalter der Aufklärung der Fall gewesen ist. Anstatt zu versuchen, die Akteure der Wirtschaft, insbesondere die Finanzwirtschaft an überlieferten moralischen Maßstäben zu messen, sollten diese moralischen Maßstäbe neu überdacht und neu bewertet werden. Idstein, im Mai 2016 Inhalt Zum Geleit ........................................................................................................ V Vorwort ........................................................................................................... VII 1 Vorüberlegungen ............................................................................................. 1 1.1 Wirtschaft als moralische Instanz .................................................................. 2 1.2 Ökonomie und Ethik: Ein neuer Fakultätenstreit? ......................................... 4 1.3 Die Gretchenfrage von Ökonomie und Ethik: Deskriptiv oder normativ? ....... 7 1.4 Gewinn oder Moral? Ein Kategorienfehler ..................................................... 8 1.5 Der antike und der moderne Wohlfahrtsbegriff ............................................ 11 1.6 Das Eigentum. Ein moralischer Begriff? ...................................................... 12 1.7 Ökonomie und Ethik: Ein Verständnisproblem? .......................................... 14 2 Zur Rolle der Ökonomie in bisherigen Ethiken ........................................... 17 2.1 Glück und Wohlstand in der aristotelischen Tugendethik ............................ 18 2.2 Kant: Die Autonomie des freien Willens ...................................................... 21 2.3 Utilitarismus ................................................................................................. 22 2.4 Weber und die protestantische Ethik ........................................................... 23 2.5 Präferenzutilitarismus .................................................................................. 24 2.6 Politische Ökonomie, Dialektischer Materialismus und Marxismus ............. 26 2.7 Koslowski und die Ethische Ökonomie ........................................................ 28 2.8 Diskursethik ................................................................................................. 29 2.9 Integrative Wirtschaftsethik ......................................................................... 31 2.10 Neue Institutionenökonomik und normativer Individualismus ...................... 33 2.11 Moral ohne Ethik: Alltagsmoral als Distinktionsinstrument .......................... 37 3 Aufgabenstellung einer neuen Ethik ............................................................ 41 3.1 Moralisches Risiko....................................................................................... 42 3.2 Wie begründet man Menschenrechte? ........................................................ 44 3.3 Ökonomie konstituiert Ethik, nicht umgekehrt. Ein Paradigmenwechsel ..... 47 4 Von der Moral zur Ethik ................................................................................. 51 4.1 Kann es moralische Urteile geben? ............................................................. 52 4.2 Gott ist tot. Tritt nun ein Krämer an seine Stelle? ........................................ 54 4.3 Das Gute und das Böse .............................................................................. 57 4.4 Vernunft und Unvernunft: Die Genese der Moral ........................................ 60 4.5 Moral als Marketinginstrument .................................................................... 62 X Inhalt 4.6 Ethik als Wissenschaft: Das Dogmatismusproblem..................................... 63 4.7 Neurobiologie: Ist Moral am Ende nichts als Biologie? ................................ 65 4.8 Das Durchsetzungsproblem ........................................................................ 67 4.9 Intangible Assets: Auch moralische Güter sind Wirtschaftsgüter ................ 68 4.10 Vertrauen und Vertrauenskosten ................................................................. 70 4.11 Ehrlichkeit und das Zitronenproblem ........................................................... 71 4.12 Gerechtigkeit und Gleichheit ....................................................................... 73 5 Selbstdurchdringung der Moral: Implikationen der Spieltheorie .............. 75 5.1 Ultimatumspiel und Diktatorspiel ................................................................. 78 5.2 Fairness als Ergebnis des Egoismus?......................................................... 79 5.3 Das „Einfahrt freihalten“-Spiel und die Käuflichkeit der Moral ..................... 82 5.4 Gibt es Altruismus? ..................................................................................... 84 5.5 Singers Irrtum. Egoismus als Grundlage der Ethik ...................................... 86 5.6 Psychologischer Egoismus .......................................................................... 89 5.7 Altruistische Bestrafung als Dienstleistung .................................................. 90 5.8 Einzelinteresse gegen Kollektivinteresse: Der Abschied vom Altruismus.... 93 5.9 6 Whistleblowing: Warum Egoisten altruistisch bestrafen .............................. 97 Der Markt als moralische Instanz ............................................................... 103 6.1 Smiths Invisible-Hand-Phänomen: Die Metaphysik des Marktes .............. 105 6.2 Das klassische Adam-Smith-Problem ....................................................... 107 6.3 Das moderne Adam-Smith-Problem .......................................................... 110 6.4 Markt und Moral......................................................................................... 112 6.5 Widerlegung des radikalen Disharmonismus ............................................ 114 6.6 Praktischer Nachweis der Harmoniethese ................................................. 116 6.7 Stellt der Markt Fairness her? ................................................................... 117 6.8 Lässt sich die Fairness verbessern? ......................................................... 121 6.9 Stellt der Markt Frieden her? ..................................................................... 122 6.10 Marktkritik und Marktkritikfähigkeit............................................................. 125 6.11 Stellt Marktversagen ein moralisches Problem dar?.................................. 127 7 Moralische Akteure ...................................................................................... 131 7.1 Der Schleier des Nichtwissens .................................................................. 132 7.2 Affirmative Diskriminierung: Rawls in der Praxis ....................................... 134 7.3 Die Moral des Produzenten ....................................................................... 137 7.4 Die Moral des Konsumenten ..................................................................... 140 Inhalt XI 7.5 Die Moral des Kaufmanns ......................................................................... 142 7.6 Die Moral des Bankiers ............................................................................. 143 7.7 Die Moral des Spekulanten ....................................................................... 145 7.8 Die Moral des Arbeiters: Vom Sklaven zum Agenten ................................ 147 7.9 Die Moral des Managers ........................................................................... 150 7.10 Die Moral des Politikers ............................................................................. 153 8 Die Moral der ökonomischen Gemeinschaft ............................................. 157 8.1 Weltökonomie, Weltmoral und Weltethik ................................................... 159 8.2 Ist Armut ein moralisches oder ein ökonomisches Problem? .................... 161 8.3 Individuum und Gesellschaft ..................................................................... 163 8.4 Kollektive Intentionalität ............................................................................. 165 8.5 Der Homo Oeconomicus: Das Monster im Spiegel ................................... 167 8.6 Die Zwei-Welten-Theorie nach Kummert und der Panutilitarismus ........... 172 8.7 9 Die Ethik von Institutionen ......................................................................... 175 Die Moral der Finanzmärkte ........................................................................ 179 9.1 Real- und Finanzwirtschaft ........................................................................ 181 9.2 Die Börse: Kasino des Eigenkapitals ......................................................... 184 9.3 Zinsen........................................................................................................ 185 9.4 Kreditzins und Sparzins: Zwei Seiten der Medaille .................................... 187 9.5 Kreditklemme und Kreditschwemme: Moderne Zinskritik .......................... 190 9.6 Wer ist schuld am Wucherzins? ................................................................ 191 9.7 Mikrokredite: Erfolg durch Auswahlbegrenzung ........................................ 193 9.8 Rating ........................................................................................................ 195 9.9 Offshore Banking: Wenn Moral in Steueroasen austrocknet ..................... 196 9.10 Moral Hazard ............................................................................................. 197 9.11 Entwicklungshilfe: Moral oder Markt? ........................................................ 198 10 Social Investing ........................................................................................... 203 10.1 Sind nachhaltige Investmentfonds wirklich nachhaltig? ............................. 204 10.2 Beispiele ethischer Investmentfonds ......................................................... 206 10.3 Nachhaltige Anleihen................................................................................. 208 11 Gute Banken – schlechte Banken .............................................................. 211 11.1 Wer kontrolliert die Banken? ..................................................................... 214 11.2 Was macht eigentlich eine gute Bank aus? ............................................... 217 11.3 Sparkassen und Genossenschaftsbanken: Pioniere der Ethikbanken ...... 218 XII Inhalt 11.4 Commerzbank: Verzweifeltes Ringen um Vertrauen ................................. 220 11.5 Wegelin & Co.: Aufstieg und Fall einer Musterbank .................................. 221 11.6 GLS-Bank: „Sinn statt Rendite“ ................................................................. 223 12 Finanzbildung: Die Aufklärung des 21. Jahrhunderts .............................. 225 12.1 Ökonomie in der Aufklärung des 18. Jahrhunderts.................................... 226 12.2 Occupy-Bewegung: Suche nach Moral jenseits der Aufklärung ................ 228 12.3 Die Aufklärung in der Ideologiefalle ........................................................... 230 13 Fazit: Kann es eine ökonomische Ethik geben? ....................................... 233 Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Klassisches Gefangenendilemma........................................................ 75 Abbildung 2: Der Kampf der Geschlechter ............................................................... 88 Abbildung 3: Einzelauszahlungen im Gefangenendilemma ...................................... 95 Abbildung 4: Auszahlungssummen im Gefangenendilemma.................................... 95 Abbildung 5: Gleichgewichte und Ungleichgewichte im Gefangenendilemma ......... 96 Abbildung 6: Gefangenendilemma unter dem Schleier des Nichtwissens .............. 134 Abbildung 7: Matrix der Zinskritik............................................................................ 190 1 Vorüberlegungen „Wir stecken nicht nur in einer wirtschaftlichen, sondern viel mehr noch in einer moralischen Krise“ (Ernst Fehr)1 „Wir brauchen eine Rückbesinnung auf gewisse ethische Werte“2. Aus diesem Satz der Präsidentin der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) König lässt sich viel herauslesen. Zunächst einmal spricht sie von „Rückbesinnung“, was darauf hinweist, dass es ihrer Meinung nach bereits einmal irgendwann vor unserer Zeit eine Besinnung auf ethische Werte gegeben haben muss und wir nun in einem postethischen Zeitalter leben, in dem offenbar vieles erlaubt ist und nur wenig verboten. Die Verwendung des unbestimmten Zahlwortes „gewisse“ in Verbindung von ethischen Werten deutet außerdem auf eine große Unsicherheit hin, darauf, dass sie eigentlich gar nicht weiß, um welche ethischen Werte es sich dabei konkret handelt und wie viele das sind. Dabei beschreibt dieser Hilferuf lediglich das Dilemma der akademischen Ethik, nämlich die Frage nach dem guten und richtigen Leben (Moral) und dessen Begründung (Ethik). Eine der wesentlichen Grundfragen der Philosophie stellt die Grundlage der Moral dar, also die Frage, wie und warum Moral überhaupt begründet ist oder sein muss. Obwohl, oder gerade weil so wenig Klarheit darüber besteht, werden die Begriffe „Ethik“ und „Moral“, besonders in der Wirtschaft häufig verwendet, oft auch auf falsche Weise. Ob „ethische Geldanlagen“, „ethisches Banking“, ob „moralische Unternehmen“ oder „moralische Arbeitgeber“, wer etwas auf sich hält, schreibt sich selbst eines dieser Prädikate selbst zu, am besten in der Doppelung „ethisch und moralisch“ oder gar „ethisch-moralisch“. Da offenbar ist, dass diese Prädikate zum Marketingsiegel verkommen sind, hat sich die Wirtschaft mittlerweile andere Substitute gesucht: „Nachhaltig“ oder „verantwortlich“ haben immer mehr die Führungsrolle im Wettbewerb um dasjenige Unternehmen übernommen, das von sich behaupten möchte, das am meisten gute Unternehmen, also das im Idealsinne vollkommene Unternehmen zu sein. Diese Selbstbezeichnungen kommen jedoch nicht von ungefähr, denn auf der anderen Seite scheint die Nachfrage nach solchen Prädikaten groß zu sein. Der moderne Konsument ist nicht einfach nur ein zweckrationaler Optimierer, nein, er will mehr sein: Er will moralisch sein. Je säkularer gerade westliche Gesellschaften zu werden scheinen, desto mehr sucht sich der Konsument eine Ersatzreligion in der Moral. Diese Nachfrage wird von Unternehmen bereitwillig bedient. Sie gibt ihm das, was er wünscht: Der Konsum wird moralisch. Aber wird er auch ethisch? 1 2 Fehr, Ernst; Klein, Stefan: Was ist gerecht? Zeit Magazin Nr. 31, 23.07.2009 König, Elke: Versicherer müssen Lebensversicherung neu erfinden, Handelsblatt, 16.01.2014 © Springer Fachmedien Wiesbaden 2017 M. Wühle, Die Moral der Märkte, DOI 10.1007/978-3-658-15334-2_1 2 Vorüberlegungen Sollte die Ethik als Disziplin überleben, dann nur, wenn sie von religiösen und metaphysischen Elementen der letzten Jahrhunderte befreit und auf naturwissenschaftliche Grundlagen gestellt wird. Nachdem die Wirtschaft und somit auch die Ökonomie als die Theorie der Wirtschaft einen rasanten Aufstieg erlebt hat, stellt sich die Frage, ob sie nicht mehr sein kann, als eine reine Spartenwissenschaft. Ist nicht die Wirtschaft die Lehre von der Ordnung und der Funktion einer Gesellschaft? Ist eine gute Wirtschaft nicht die notwendige Voraussetzung für eine gute Gesellschaft? Sollte dies bejaht werden, dann liegt auch die Überlegung nahe, Ökonomie auch als Grundlage der Ethik in Betracht zu ziehen. Denn Ethik stellt die Begründungsinstanz einer geordneten Gesellschaft dar. 1.1 Wirtschaft als moralische Instanz Die Religion trägt zur Ethik eine dogmatische Begründung bei, die spätestens seit der Aufklärung als unzureichend – weil dogmatisch – verworfen wird. Nach dem Kategorischen Imperativ Kants hat es zahlreiche weitere Versuche gegeben, Moral zu begründen und damit ein System der Ethik zu schaffen. Schon in der Antike, in der vorchristlichen Philosophie, gab es erste Überlegungen zur Begründung der Moral. Auch diese waren größtenteils deistisch begründet und können ebenfalls als dogmatisch eingestuft werden3. Bis heute gibt es keine einheitliche, universelle, widerspruchsfreie und von allen anerkannte und begründete Ethik. Eine vom RAL Deutschen Institut für Gütesicherung und Kennzeichnung e.V. in Auftrag gegebenen Studie zufolge können zur Zeit folgende moralische Instanzen benannt werden: 10% Kirche 9% Wirtschaft 9% Social Media 6% Politik4 3 4 So lässt Platon beispielsweise Protagoras behaupten, dass Zeus die Gerechtigkeit und „sittliche Scheu“ gesandt habe. Von Seiten Sokrates‘ erfolgt diesbezüglich kein Widerspruch, vgl.: Platon: Protagoras 329c Allerdings sind den Auftraggebern methodische Mängel vorzuwerfen: Die Frage, die sich nach „Werten und Anstand“ richtete, lieferte verschiedene Antwortmöglichkeiten, von denen sich die ersten drei eher allgemein auf die Wichtigkeit von Moral bezogen und erst die letzten vier wirklich auf die Instanzen eingingen. Zudem waren Mehrfachnennungen möglich. Da außerdem die Antwortmöglichkeiten vorgegeben waren, bleibt offen, welcher Instanz die übrigen Befragten moralisches Vertrauen schenken würden (offenbar keine, so ließe sich aus diesen Ergebnissen herauslesen), vgl.: Karl, Wolf D. (Hrsg.): Zweite RAL Trendstudie zur Moral in Deutschland, Sankt Augustin 2014, S.5 Wirtschaft als moralische Instanz 3 Wie repräsentativ diese Aussagen wirklich sind, sei zunächst dahingestellt. Aber auch, wenn diese Ergebnisse nicht mehr, als eine Momentaufnahme darstellen, so lässt sich Vielerlei herauslesen. Zunächst einmal scheint die Kirche nach wie vor die wichtigste Moralinstanz in Deutschland darzustellen, dicht gefolgt mit knappem Abstand von der Wirtschaft. Dies scheint erstaunlich und passt so gar nicht in das Schema: „Moral oder Wirtschaft“, wonach heute allzu oft Wirtschaftsethik gemessen wird. Allerdings belegen die sozialen Medien bereits Platz drei, was noch mehr überrascht. Weit abgeschlagen rangieren die Politiker. Die Verfasser der Studie folgern jedoch daraus: „Damit haben diese drei Institutionen ihre Kompetenz als „Moralkompass“ verloren und keine andere Instanz ist an ihre Stelle getreten, um die MoralOrientierung zu vermitteln“5. Die Moral käme stattdessen „von unten“ – was genau das heißen soll, wird in der Studie nicht weiter ausgeführt. Auch wird darin erwähnt, dass die Qualität der Produkte bereits einen wichtigen Wert darstelle, was einen Hinweis darauf gibt, Grundlagen der Moral doch bei der Wirtschaft zu suchen. Diese Arbeit soll untersuchen, ob die zweitgenannte Institution Wirtschaft zu Recht die Geltung als moralische Instanz in Anspruch nehmen darf und womöglich sogar in der Lage ist, die Position der Kirche zu verdrängen. Denn anders, als es die Verfasser der Studie suggerieren, hat die Wirtschaft keinesfalls ihre Geltung als Moralinstitution verloren, denn wirft man einen vergleichenden Blick auf die Umfrageergebnisse von 2011, wird man feststellen, dass sich die Akzeptanz von Wirtschaft als moralischer Institution von 6 auf 9% um drei Prozentpunkte verbessert hat, eine erstaunliche Entwicklung, wenn man bedenkt, dass dieser Zeitraum inmitten der Finanzkrise liegt6. Ökonomische Grundlagen wurden bereits früh als Begründung der Moral in Erwägung gezogen. Für Aristoteles war es beispielsweise „…offenbar, daß die Tätigkeit der Hausverwaltung (oikonomía) ihre Bestrebungen in höherem Grade auf die Menschen als auf den leblosen Besitz richtet und mehr auf die Tugend (areté) der Menschen als auf die Anhäufung von Besitztümern“7. So offenbar ist dies heute nicht mehr. Im Gegenteil: Kapitalismuskritik ist zum Kernbestandteil der Philosophie, selbst der Wirtschaftsethik geworden. Die Frage „Wie ist eine Ethik im (bzw. trotz) Kapitalismus möglich?“ scheint mittlerweile einen tiefen Dualismus zwischen Kapitalismus und Ethik aufzuwerfen, der sich insbesondere im Zeitalter des Finanzmarktkapitalismus noch verstärkt hat. Auch Sedláček, selbst Ökonom, ist der Auffassung, „…dass die moralische Dimension für lange Zeit völlig aus dem ökonomischen 5 6 7 Gemeint sind hier Politik, Wirtschaft und Kirche. Die sozialen Medien werden erst danach als Exot angeführt, gehören wohl aber implizit ebenfalls dazu, vgl. ders. ebda., S, 5 Vgl. ders., ebda., S. 5 Aristoteles: Politik 1259b 4 Vorüberlegungen Denken verschwand“8. Dabei scheint er zu übersehen, wie sehr die Moral bereits durch die Ökonomie geprägt worden ist. Wir leben heute bereits in einem Zeitalter der ökonomisierten Moral. Heute stellt sich die Frage, ob Ethik überhaupt außerhalb ökonomischer Fragestellungen möglich ist. Ist es nicht so, dass eine Ethik nur innerhalb einer ökonomischen Betrachtung möglich ist, oder, um noch einen Schritt weiterzugehen: Ist eine Ethik womöglich erst durch die Ökonomie möglich, eine Ethik der Ökonomie also? Und – schlussendlich: Ist die Ethik, wenn es denn eine gibt, nicht sogar notwendig nur mit und durch die Ökonomie beschreibbar? Die Debatte spaltet sowohl Philosophen als auch Wirtschaftswissenschaftler. Für den Wirtschaftswissenschaftler Fehr beispielsweise ist vor allem die Wirtschaftskrise ein Ausdruck einer moralischen Krise. Lösungen dafür müssten folglich in erster Linie in der Wirtschaftswissenschaft gesucht werden. Andere Ökonomen, wie Albach hingegen halten die Ethikdebatte für völlig unnötig, da die Betriebswirtschaftslehre selbst schon auf ethischen Prinzipien beruhe9. Jedoch sagt Albach damit nichts über die Ethik selbst aus. Ökonomie versuchte sich schon immer, eine ethische Begründung zu geben, nicht selten verbirgt sich dahinter jedoch auch heute noch eine religiöse Begründung. 1.2 Ökonomie und Ethik: Ein neuer Fakultätenstreit? Das Verhältnis von Ökonomie und Ethik scheint an einem besonderen Problem zu laborieren: Beide Systeme erscheinen inkompatibel und werden oft nebeneinander diskutiert. Dabei muss man es noch nicht einmal so radikal formulieren, wie Hobsbawm, der der Auffassung ist, „…daß der Kapitalismus durch die Unterordnung des Menschen unter die Ökonomie die zwischenmenschlichen Beziehungen, die eine Gesellschaft ausmachen, untergräbt und verkommen läßt und ein moralisches Vakuum schafft, in dem nichts zählt, außer dem, was der einzelne will“10. Auch auf dem bei den Wirtschaftswissenschaften gepflegten Gebiet der Corporal Social Responsibility (CSR) erscheint die Ethik nur als eine Art Korrektiv zur Ökonomie. Ein Beispiel dafür sind Spenden von Unternehmen. Gerade wirtschaftlich erfolgreich arbeitende Unternehmen fühlen sich durch die Medienöffentlichkeit und die Spendenwirtschaft moralisch erpresst und beteiligen sich an fast schon wahllos erscheinendem Spendenaktionismus, um sich damit wieder moralisch reinzuwaschen. Dies hat nicht nur 8 9 10 Allerdings wendet Sedláček auch ein, dass die heutige Ökonomie durchaus als moralischer Maßstab fungiert, Sedláček, Tomáš: Die Ökonomie von Gut und Böse, München 2012, S. 91 Vgl. Albach, Horst, zitiert in Klink, Daniel: Der ehrbare Kaufmann – Das ursprüngliche Leitbild der Betriebswirtschaftslehre und individuelle Grundlage für die CSR-Forschung, ZFB Zeitschrift für Betriebswirtschaft 3/2008, S. 58 Hobsbawm, Eric: Zwischenwelten und Übergangszeiten, Köln 2010, S. 45 Ökonomie und Ethik: Ein neuer Fakultätenstreit? 5 wenig mit CSR zu tun, im Gegenteil: Eine exzessiv betriebene Spendentätigkeit von Unternehmen geht nicht selten zu Lasten anderer Stakeholder: Mitarbeiter beanspruchen höhere Entlohnung, Kunden niedrigere Preise und Lieferanten bessere Konditionen. Dass Moral aber auch innerhalb der Ökonomie möglich sein könnte, erscheint vielen zunächst als Quadratur des Kreises. Aus diesem Grund geht die Kritik der Ökonomie oft am Kern der Sache vorbei. Von Hupfer und Fritscher wird dieses Dilemma wie folgt beschrieben: „Was zu ökonomischen Erfolg führt, gilt automatisch als rational. Und damit als richtig. Die Kritik an der Wirtschaft hingegen argumentiert vor allem moralisch“11. Sitzt die Kritik also bereits einem Kategorienfehler auf? Luhmann sieht in Wirtschaft und Gesellschaft zwei grundverschiedene Subsysteme und folgert daraus notwendig, dass Wirtschaftsethik nicht möglich sei; denn diesen beiden Subsystemen fehle die Möglichkeit, miteinander zu kommunizieren12. Damit ist Luhmanns Position ähnlich radikal wie die von Wittgenstein, wonach es keine Sätze der Ethik geben könne, da sich in dessen ontologischem Verständnis sinnvolle Sätze auf die Wirklichkeit beziehen müssen13. Es wäre also zu untersuchen, inwieweit dieses dualistische Paradigma: „Moral versus Wettbewerb“ aufrechtzuerhalten werden kann. Zu den Kritikern dieses Paradigmas gehören unter anderem Homann und Nell-Breuning.14 Möglicherweise deutet sich hier im Verhältnis von Wirtschaft und Gesellschaft ein neuer Fakultätenstreit an, wie er ähnlich bereits zwischen Philosophie und Theologie stattgefunden hat.15 Bekanntlich endete diese Debatte mit einem Paradigmenwechsel. Warum soll ausgerechnet die Ökonomie die Grundlage der Ethik bilden, und nicht etwa die Mathematik, Physik oder die Philosophie selbst? Tatsächlich sind alle Ethiken, mit Ausnahme der religiös fundierten Ethiken ein Ergebnis der Philosophie. Sie basieren auf nichts weiter, als auf Sprache und Logik. Dies könnte ein Grund dafür sein, warum Ethik in der Praxis, bis auf wenige Ausnahmen, so gut wie irrelevant 11 12 13 14 15 Hupfer, Barbara und Fritscher, Wolfgang: Das Paradoxon der Knappheit, managerSeminare, Heft 181, April 2013, S. 69 Vgl. Luhmann, Niklas: Wirtschaftsethik – als Ethik?, in: Wieland, Josef (Hrsg.): Wirtschaftsethik und Gesellschaftstheorie, Frankfurt 1993, S. 134ff. Vgl. Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-philosophicus. Frankfurt 2003 [1922], 6.42 Homann betrachtet Wirtschaft als ein Teilsystem der Gesellschaft, während sie Nell-Breuning als ein praktisches Instrument für die Gesellschaft ansieht, vgl. Homann/Lütge: Einführung in die Wirtschaftsethik, Münster 2005, S. 9 und Nell-Breuning, Oswald v.: Gerechtigkeit und Freiheit. Grundzüge katholischer Soziallehre, Wien 1980, S. 35 Dieser Fakultätenstreit beginnt mit Tertullians Bezeichnung der Philosophie als „ancilla theologiae“ – als Magd der Theologie und endet mit Kants ironischer Äußerung, die Magd würde ihrer Herrin die Fackel vorantragen. Über die Verhältnisbestimmung von Theologie und Philosophie vgl. Pannenberg, Wolfhart: Theologie und Philosophie, Göttingen 1996, S. 21ff. 6 Vorüberlegungen gewesen ist – die Rede ist vom Durchsetzungsproblem, das so alt ist, wie die Ethik selbst. Sedláček schlägt deshalb die Ökonomie zu diesem Zweck vor, da sie mehr als die Produktion, die Zuteilung und den Konsum von Gütern und Dienstleistungen umfasst: „Sie erforscht die menschlichen Beziehungen, […], sie befasst sich mit handelsfähigen Gütern, aber auch mit nicht handelsfähigen (Freundschaft, Freiheit, Effizienz, Wachstum)16“. Wenn Wirtschaftsethik eine Relevanz für die Gesellschaft haben soll, dann darf sich die Untersuchung nicht auf die Beantwortung der Frage nach der Existenz von Wirtschaft und deren moralischer Rechtfertigung beschränken, sondern eine Antwort auf die Frage geben können, unter welchen Bedingungen Wirtschaft und Gesellschaft koexistieren können. Die Ökonomie als Theorie der Wirtschaftsentwicklung soll dahingehend untersucht werden, welche allgemeingültigen Erkenntnisse sich aus seiner spezifischen Funktionsweise für das ökonomische Handeln ableiten lassen. Diese Fragestellung kann analog der Vorgehensweise von Kant gestellt werden, nämlich, wie Ethik als Wissenschaft möglich sei:17 Wie also ist eine Ethik der Ökonomie möglich? Kant stellte universelle Gültigkeitsprinzipien einer Ethik auf, die heute noch Geltung beanspruchen und im Neukantianismus eine neue Blüte erfahren. Kant zufolge bleibt der menschliche Verstand der ursprüngliche Gesetzgeber der Natur, sofern man unter Natur die Gesetzmäßigkeiten der Erscheinungen in Raum und Zeit versteht. Dabei versteht Kant Raum und Zeit „…nicht bloß als Formen der sinnlichen Anschauung, sondern als Anschauung selbst“18. Mit dem menschlichen Verstand als moralischen Urheber von Willensentscheidungen liegt jedoch die Vermutung nahe, dass moralische Überzeugungen subjektiv sein können, wenn auch gegen Kants Absicht, gilt doch der kategorische Imperativ objektiv und universell. Freilich bleibt dessen praktische Anwendung Auslegungssache und lässt individuelle Interpretationsspielräume offen. Emotivisten versuchen, diese Position zu retten, indem sie behaupten, dass alle moralischen Urteile eine subjektive Haltung ausdrücken. Doch was wäre mit dieser Position gewonnen? Eine subjektive Moral ist so beliebig, dass sie nicht mehr darstellt, als eine persönliche Betrachtungsweise. Ein allgemeingültiges ethisches System muss auf einer objektiven und allgemeingültigen Moralauffassung ba- 16 17 18 Sedláček, Tomáš: Die Ökonomie von Gut und Böse, München 2012, S. 29 Kant stellt in KrV, B22 die Frage: „Wie ist Metaphysik als Wissenschaft möglich?“ und sucht unter dieser Prämisse nach einer Begründung der Metaphysik als Naturwissenschaft, was bekanntlich aufgrund des Umstands, dass sich Metaphysik und Vernunft ausschließen, zu schwerwiegenden Problemen führte. Kant, KrV, B160 Die Gretchenfrage von Ökonomie und Ethik: Deskriptiv oder normativ? 7 sieren, wie Intuitionisten es fordern19. Eine Grundstruktur dieses Systems könnte qua Globalisierung die Ökonomie übernehmen. 1.3 Die Gretchenfrage von Ökonomie und Ethik: Deskriptiv oder normativ? Jeder Philosoph, der sich Gedanken um die Grundlegung einer Ethik macht, stößt früher oder später auf das Problem, ob das, was er gerade formuliert, normativ oder deskriptiv zu werten sei. So schrieb Schopenhauer: „Man wird mir vielleicht entgegensetzen wollen, daß die Ethik es nicht damit zu thun habe, wie die Menschen wirklich handeln, sondern die Wissenschaft sei, welche angiebt, wie sie handeln sollen. Dies ist aber gerade der Grundsatz, den ich leugne [Hervorhebung durch Schopenhauer, Anm. d.V.]“20. Damit stellt sich Schopenhauer in scharfen Kontrast zu fast all seinen Vorgängern und negiert den Grundsatz aller deontologischen Ethiken, der christlichen und Kantianischen Ethik inklusive. Anhand dieser Frage lassen sich überhaupt Ethiken in deontologisch und konsequentialistisch unterscheiden. Erstere wollen normativ sein, letztere deskriptiv. Eine deskriptive Ethik schien über Jahrhunderte kaum vorstellbar. Allein der Begriff selbst erschien den meisten Denkern als contradictio in adiecto. Als Lehre für das gute Leben schient Ethik die normativste aller Disziplinen, selbst innerhalb der philosophischen darzustellen. Doch seitdem die Begründungsbasis für deontologische Ethiken immer dünner wird, scheint der umgekehrte Weg umso gangbarer zu sein. Wie verhält es sich hinsichtlich dieser Frage mit der Ökonomie? Sedláček behauptet: „Die Ökonomie ist, im Gegensatz zu dem, was in den Lehrbüchern steht, überwiegend ein normatives Gebiet“21. Dabei kann auch diese Aussage selbst bereits normativ – und damit auch falsch sein. Während deskriptive Aussagen sich an empirischen Erfahrungen messen lassen können und somit a posteriori sind, handelt es sich bei normativen Aussagen um Postulate: Um Aussagen a priori. Unter a prioriAussagen versteht Kant eine Erkenntnis, die von allen Eindrücken der Sinne frei ist22. Um zu verstehen, in welchem Zusammenhang notwendige und nicht beweisbare a priori-Urteile stehen, sollte man zunächst betrachten, welche Beispiele Kant für a pri19 20 21 22 Bereits Sellars hat eine Aufhebung des vermeintlichen Gegensatzes von Intuitionismus und Emotivismus gefordert, vgl. Schmid, Hans Bernhard und Schweikard, David P.: Einleitung: Kollektive Intentionalität, in: Dies.: Kollektive Intentionalität, Frankfurt 2009, S. 30 Schopenhauer, Arthur: Über die Grundlage der Moral, Zürich 1977 [1840], S. 234 Begründet wird diese Aussage mit der Behauptung, dass sich Ökonomie häufig damit befasst, wie die Welt sein sollte. Dies ist jedoch eine unbewiesene und zugleich zirkuläre Begründung, Sedláček, Tomáš: Die Ökonomie von Gut und Böse, München 2012, S. 18 Vgl. Kant, KrV, AA 28 8 Vorüberlegungen ori-Urteile gebracht hat: Zu solchen Aussagen zählt Kant Ausdrücke, wie Gott, Freiheit, Unsterblichkeit und letzten Endes auch die Metaphysik selbst, in deren Rahmen die ersten drei genannten Begriffe diskutiert werden23. Des Weiteren, um der KantBegrifflichkeit zu folgen, ist zu überlegen, ob Sedláčeks Aussage: „Die Ökonomie ist normativ“ synthetisch oder analytisch verstanden werden soll. Wäre sie analytisch zu verstehen, würde das bedeuten, dass der Begriff „normativ“ aus dem Begriff „Ökonomie“ gefolgert werden kann (ähnlich, wie: „Der Kreis ist rund“ oder „Gott ist gut“). Wäre sie aber synthetisch zu interpretieren, dann fügt der Begriff „normativ“ dem Begriff „Ökonomie“ eine zusätzliche, beschreibende Eigenschaft hinzu. In diesem Fall wäre „normativ“ eine von vielen beweisbaren oder widerlegbaren Eigenschaften, wie beispielsweise die Eigenschaft, eine Wissenschaft von Güter- und Kapitalströmen zu sein. Wenn letzteres der Fall sein sollte, handelte es sich dabei um ein analytisches Urteil a priori und somit wiederum selbst um eine rein metaphysische – und somit nicht entscheidbare Frage. Wäre ersteres der Fall, handelte es sich hingegen schlicht um eine Tautologie. Deshalb sollten wir zunächst der Einfachheit halber ausgehen, dass Ökonomie deskriptiv ist, und zwar so lange, bis wir hinreichende Gründe gefunden haben, die uns dazu berechtigen, die Ökonomie in eine normative Wissenschaft zu erheben. Dies ist auch ein Weg, den Schopenhauer für die Ethik vorschlägt: Er ist der Auffassung, dass zunächst empirisch untersucht werden soll, ob es Handlungen gibt, denen man einen moralischen Wert zuerkennen kann, bevor man in Betracht zieht, sie in den Rang einer Ethik zu erheben24. 1.4 Gewinn oder Moral? Ein Kategorienfehler Kapitalismuskritiker sprechen dem Kapitalismus das Vorhandensein von Tugenden gänzlich ab25. Stattdessen, so Thielemann, würde die Gewinnmaximierung an die Stelle des Moralprinzips treten. Diese Behauptung setzt jedoch erstens voraus, dass es ein universell gültiges Moralprinzip gäbe und zweitens, dass dieses dem Prinzip der Gewinnmaximierung widerspräche. Drittens stellt sich hierbei die Kategorienfra23 24 25 Vgl. ders., ebda., AA 31 Vgl. Schopenhauer, Arthur: Über die Grundlage der Moral, Zürich 1977 [1840], S. 235 Selbst der Vizedirektor des Instituts für Wirtschaftsethik der Universität St. Gallen Ulrich Thielemann wird in einem Interview als Kapitalismuskritiker bezeichnet, vgl. Thielemann, Ulrich: Boni entfachen Gier, in: enorm 1/2010, S. 47, aber auch Keynes ist der Meinung, dass das aktuelle Wirtschaftssystem vorwiegend durch Habgier und Wucherzins geprägt ist, und das man später, nämlich „in 100 Jahren“ zu den „traditionellen Tugenden“ zurückkehren muss, vgl. Meyer, Wilhelm: Wohlstand, Markt und Moral: Das Adam-Smith-Problem, in Nutzinger, Hans G. (Hg): Zum Problem der sozialen Ordnung, Marburg 2001, S. 61 Gewinn oder Moral? Ein Kategorienfehler 9 ge. Kann Gewinnmaximierung überhaupt an Stelle des Moralprinzips treten? Dies würde bereits voraussetzen, dass es sich bei beidem um ähnliche Oberziele handelt würde, um Ethiken bzw. moralische Grundprinzipien oder andere Basisziele, denen alle anderen Ziele untergeordnet sind. Der Verdacht liegt nahe, dass es sich bei dieser Aussage um einen Kategorienfehler handelt, denn es spricht einiges dafür, dass Moralprinzipien neben dem Ziel der Gewinnmaximierung bestehen können. Kant vertritt ähnlich wie Aristoteles die Auffassung, dass die Glückseligkeit der letzte Zweck der Natur sei26. Doch wird diese angestrebte Glückseligkeit als teleologisches Ziel der Natur durch den Menschen nie erreicht werden, „…denn seine Natur ist nicht von der Art, irgendwo im Besitze und Genusse aufzuhören und befriedigt zu werden“27. Demzufolge gehört die Gewinnmaximierung zur natürlichen Veranlagung des Menschen. Und diese kann nicht einfach durch ein Moralprinzip ersetzt werden. Allenfalls kann man sie ergänzen oder begrenzen. Auch nach dem aristotelischen Verständnis wäre die Gewinnmaximierung durchaus als moralisches Prinzip zulässig, sofern es denn unter die Staatskunst gestellt ist, ein Umstand, den man heute als „Compliance“ bezeichnen würde28. Thielemann setzt jedoch Integrität an die Stelle der Gewinnmaximierung. Für ihn stellen beide Begriffe sich gegenseitig ausschließende Funktionen dar: „Integrität und Gewinnmaximierung sind Gegensätze“29. Damit stellt er nicht nur die herkömmliche Auffassung von Corporate Social Responsibilty in Frage, nach der Gewinnmaximierung bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung von Integrität ermöglicht werden soll, er behauptet damit sogar, Unternehmen würden allein zu dem Zweck wirtschaften, um integer sein zu können30, eine Behauptung, die man als moralistischen Fehlschluss bezeichnen kann. Denn nur, weil Thielemann es gerne hätte, dass Integrität anstelle von Gewinnmaximierung das Ziel des Wirtschaftens darstellen sollte, folgt nicht, dass dies auch tatsächlich der Fall ist. Im Grünbuch der Europäischen Kommission wird Gewinnmaximierung beispielsweise durchaus nicht in Frage gestellt, vielmehr wird dort dieses Ziel um weitere Nebenziele ergänzt. Dort heißt es: „Obwohl die primäre Aufgabe eines Unternehmens darin besteht, Ge26 27 28 29 30 Neben der Kultur als weiteren Zweck, vgl. Kant, KdU, AA 430 Ders., ebda., AA 430 Der Begriff entstammt dem angelsächsischen Wirtschaftsrecht. Staatskunst ist hier im weitesten Sinne zu verstehen, etwa im Sinne gesamtgesellschaftlicher Akzeptanz: „Treiber für diese Entwicklung sind zum einen wachsende Haftungsrisiken und zum anderen die Zunahme indirekter Schadensfolgen aufgrund der gestiegenen Aufmerksamkeit aufseiten der Öffentlichkeit, der Medien und zahlreicher Nichtregierungsorganisationen“, Bussman, Kai-D. et al: Compliance und Unternehmenskultur, Halle/Saale 2010, S. 11 Thielemann, Ulrich: Boni entfachen Gier, in: enorm 1/2010, S. 47 Thielemann führt mit Migros und Coop zwei Schweizer Unternehmen als Beispiel an, die diesem Integritätsprinzip folgen würden. Es ist aber fraglich, ob diese Beispiele einer näheren Überprüfung standhalten würden, ob Integrität wirklich das unternehmerische Primärziel darstellt. Zweitens muss sich das Thielemannsche Prinzip ebenfalls die Frage nach der Begründung und Durchsetzungsfähigkeit seines Vorschlages stellen, vgl. ders., ebda., S. 47 10 Vorüberlegungen winne zu erzielen, können Unternehmen gleichzeitig einen Beitrag zur Erreichung sozialer und ökologischer Ziele leisten, indem sie die soziale Verantwortung in ihre grundsätzliche Unternehmensstrategie, ihre Managementinstrumente und ihre Unternehmensaktivitäten einbeziehen“31. Ist Gewinnmaximierung nicht umgekehrt eine Tugend? Und wenn ja, ist es eine rein ökonomische, oder sogar auch eine moralische Tugend? Oder ist es eine moralische Tugend, weil es eine ökonomische Tugend ist? In der Antinomie der praktischen Vernunft stellt Kant die Frage, ob Glückseligkeit der Besitz der Tugend sei oder Tugend die Maxime, um Glückseligkeit zu erreichen32. Die Glückseligkeit als Tugendziel wird von Kant verworfen, weil der Wille nach Verlangen seiner Glückseligkeit nicht moralisch sein kann. Die Tugend als Maxime zum Erlangen der Glückseligkeit ist ebenfalls unmöglich, da Glückseligkeit den freien Willen voraussetzt, der jedoch nicht Grundlage des Kausalitätsprinzips sein kann33. Vielmehr dürfe man Moral an sich keinesfalls als Glückseligkeitslehre missverstehen, allenfalls als eine conditio sine qua non dafür34. Dabei sei die oberste Ursache in der Natur selbst zu suchen, dies ist für Kant – als Postulat der reinen praktischen Vernunft – Gott35. Was aber, wenn man statt Gott das ökonomische Prinzip einsetzen würde? Die Wirtschaft kann, auch dies ist zunächst nur eine Annahme, zwar durchaus zur Glückseligkeit beitragen; aber das macht sie noch lange nicht zu einer eigenständigen ethischen Rechtfertigungsinstanz. Anders, als von Aristoteles im Rahmen der Staatstheorie beschrieben, stehen die Märkte außerhalb der höchsten Kontrollinstanzen. Außerdem werden innerhalb des Marktes Entscheidungen mit weitreichenden Folgen für die gesamte Gesellschaft getroffen. Aufgrund der fortgeschrittenen Ökonomisierung der Gesellschaft sind auch die gesellschaftlichen Folgen komplexer und vielfältiger. Wirtschaftsethik ließe sich am Ende als ein Produkt eines Arbeitsprozesses definieren, das auf Verständnis und Funktionsweise von Märkten zurückzuführen ist. Dieser Arbeitsprozess fundiert auf Überlegungen Kants, wonach „...das praktische nur als ein Leitfaden zur Beantwortung der theoretischen [...] Frage führt36. 31 32 33 34 35 36 Kommission der Europäischen Gemeinschaften: Grünbuch Europäische Rahmenbedingungen für die soziale Verantwortung von Unternehmen, Brüssel 2001, S. 4f. Ersteres eine Behauptung der Stoiker, letzteres der Ansatz der Epikureer, vgl. Kant, KpV, AA 112 vgl., ders., ebda, AA 113 vgl., ders., ebda, AA 130 Kant versieht dieses Postulat mit zahlreichen Einschränkungen, beispielsweise dass die Annahme Gottes rein subjektiver Art sei und dass niemand zu dieser Annahme gezwungen werden müsse, vgl., ders., ebda, AA 124ff. Kant, KrV, B 833 Der antike und der moderne Wohlfahrtsbegriff 1.5 11 Der antike und der moderne Wohlfahrtsbegriff Im Zentrum ökonomischer Überlegungen steht die Wohlfahrt, denn diese ist das Ziel jeglichen ökonomischen Handelns. Die Betriebswirtschaftslehre interpretiert dieses Ziel zunächst als Gewinnmaximierung für das eigene Unternehmen, die Volkswirtschaftslehre untersucht hingegen die Wohlfahrt für die gesamte Gesellschaft. Schon diese Unterscheidung in Mikro- und Makroökonomie muss die moralische Frage offen lassen, ob Ökonomie lediglich den Eigennutzen fördert oder der Allgemeinheit zugutekommt. Stattdessen sollte die Unterscheidung veranschaulichen, dass es keine Entweder-Oder-Frage nach dem Nutzen der Ökonomie geben kann, sondern vielmehr klar sein muss, dass der Eigennutzen notwendig ist, damit er der Allgemeinheit zugutekommen kann. Schon Platon entwickelte früh einen Wohlfahrtsbegriff, der je nach Übersetzung des Protagoras als Wohlfahrt oder auch einfach das gute Handeln bezeichnet wird. Im Protagoras-Dialog diskutieren Protagoras und Sokrates die Frage, worauf die Wohlfahrt beruhe. Sie gelangen zu der Ansicht, dass dies die Meßkunst sein müsse, da man stets darauf bedacht sei, das überwiegend Große auszuführen und das Kleine zu vermeiden. Das bringt beide zu der Frage, wie denn diese Meßkunst einzuordnen sei: „Wenn aber eine Meßkunst, dann doch auch wohl als eine Kunst und Wissenschaft“37, fasst Sokrates die Überlegungen zusammen. Aus heutiger Sicht könnte die Ökonomie den Status dieser Meßkunst einnehmen. Der Wohlfahrtsbegriff taucht unvermittelt im Protagoras-Dialog auf. Zuvor hatte man noch darüber diskutiert, ob die Tugend lehrbar sei. Alsdann führte Sokrates neben dem bekannten Begriffspaar Gut und Böse das Angenehme und das Unangenehme ein, um sogleich zu fragen, ob denn diese Begriffspaare deckungsgleich seien. Hiergegen wendet Protagoras ein, dass das augenblicklich Unangenehme durchaus angenehm in der Zukunft sein kann. Sokrates, der diesen Gedanken aufgreift, verwendet nun den Begriff der Waagschale, mit Hilfe derer man das Unangenehme mit dem Angenehmen, sowie das Nahe und das Ferne gegeneinander abwiegen müsse38. 37 38 Platon: Protagoras 356e Im Original lautet der Begriff εὖ πράττειν. Vgl., ders., ebda, 355c ff. Die Übersetzungen dafür variieren jedoch. Erich Loewenthal übersetzte dies 1940 noch mit „Wohlfahrt“, während Hans-Wolfgang Krautz den Begriff 1987 mit „Das gelungene Handeln“ übersetzte, wohl, weil der Wohlfahrtsbegriff inzwischen eindeutig ökonomisch belegt war. Geht man jedoch nach Michael-Thomas Liske, könnte man aus heutiger Sicht durchaus wieder mehr darin hineininterpretieren. Danach versteckt sich hinter εὖ πράττειν die Doppelbedeutung des guten Handelns einerseits und das Wohlergehen eines Idealstaates andererseits. An dieser Stelle vielen Dank für die Ausführungen von Prof. Liske, die ich in einer E-Mail vom 06.02.2014 von ihm erhalten habe. 12 Vorüberlegungen Am Ende entscheidet die größere Zahl über das Gute, das in diesem Zusammenhang offenbar deckungsgleich als Wohlfahrt bezeichnet wird. Diese Wohlfahrt, die also offenbar das Gute ist, kann mittels Meßkunst erreicht werden, die gegenwärtige und zukünftige Einflussfaktoren von wirtschaftlichen Entscheidungen mit einberechnet. Die Meßkunst Platons scheint sich darauf zu beschränken, das Gute gegen das Schlimme aufzurechnen39, allerdings das Gute und Schlimme einer einzigen Person, bezogen auf die Folgen dieser Handlungen in der Zeit. Das führt dazu, dass der Mensch bisweilen das Unangenehme tut, um langfristig das Angenehme zu erreichen. Die Wohlfahrt könne nun darin erreicht werden, indem man das Große ausführt und das Kleine vermeidet, allerdings jeder für sich. Platons Wohlfahrtslehre ist somit eine Tugendlehre, eine Anleitung zum besseren Handeln des Einzelnen. Sie ist hier im Sinne einer deontologischen Ethik zu verstehen. Der moderne Wohlfahrtsbegriff stellt eine Weiterentwicklung dar, ohne dass dabei der Ursprung als Tugendlehre verneint werden muss. Darin wird zunächst nach den Vorteilen der einzelnen Marktteilnehmer gefragt. Erst in einem zweiten Schritt soll überlegt werden, wie diese Vorteile in eine Gesellschaft übertragen werden können40. Wohlfahrt entsteht so aus der Summe von Produzenten- und Konsumentenrente, also den addierten Vorteilen aller Marktteilnehmer. Für den modernen Wohlfahrtsbegriff rechnet man also Vor- und Nachteile verschiedener Personen gegeneinander auf. Am Ende dieses Rechenprozesses (also der Platonischen Meßkunst) erhält man eine Aussage zum Wohlfahrtsgewinn. In diesem Sinne verstanden, muss die Wohlfahrt als Teil einer konsequentialistischen Ethik verstanden werden. Dieses Beispiel verdeutlicht aber auch, dass die Trennung von Ökonomie und Moral eine künstliche ist, die bei näherer Betrachtung nicht länger aufrechterhalten werden kann. 1.6 Das Eigentum. Ein moralischer Begriff? Dass moralische Werte in der Regel deckungsgleich sind mit ökonomischen Werten, wird nirgendwo deutlicher, als beim Eigentumsbegriff. Bereits Platon legte Wert darauf, „…daß keiner weder Fremdes inne habe noch seines Eigenen beraubt werde“41. Eigentum ist bei Platon die Grundvoraussetzung für Gerechtigkeit. Auch für die 39 40 41 Platon: Protagoras, 357a Vgl. Mankiw, N. Gregory: Grundzüge der Volkswirtschaftslehre, Stuttgart 2001, S. 155 Platon, Der Staat, 433 D Das Eigentum. Ein moralischer Begriff? 13 Ökonomie ist die Unantastbarkeit des Eigentums die notwendige Voraussetzung dafür, dass überhaupt Wirtschaft stattfinden kann. Nur Staaten, die nicht nach dem Prinzip der Marktwirtschaft geordnet sind, missachteten das Eigentum. So hieß es in Artikel 22, Absatz 1 der ersten Verfassung der DDR: „Private wirtschaftliche Unternehmungen, die für die Vergesellschaftung geeignet sind, können durch Gesetz nach den für die Enteignung geltenden Bestimmungen in Gemeineigentum überführt werden“42. Noch ein Jahr vor der Verabschiedung dieser Verfassung hatten die Vereinten Nationen den Eigentumsbegriff in die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte aufgenommen. Dort heißt es in Artikel 17: „Jeder Mensch hat allein oder in Gemeinschaft mit anderen Recht auf Eigentum“43. Dieser Grundsatz wurde auch in Artikel 14 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland aufgenommen. Dort heißt es: „Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet“44. Voraussetzung für den Eigentumsbegriff ist zunächst das ökonomische Problem der Knappheit: „Warum Eigentum entstehen lassen, wenn dieser nicht verletzt werden kann?“45 fragt sich beispielsweise Hume. Richter und Furubotn sind darüber hinaus überzeugt, dass die Eigentumsfrage eine gleichermaßen faktische wie moralische Frage ist46. Danach würde bereits das Vorhandensein von Sachen auch deren Verteilung erfordern und Begriffe, wie Verteilungsgerechtigkeit auf den Plan bringen. Zudem lässt sich zwischen Individual- und Kollektiveigentum unterscheiden. Hume bringt hierfür das Beispiel einer Ehe, bei der das Privateigentum zweier Menschen zu einem Kollektiveigentum verschmelzen47. Das Privateigentum ist dabei jedoch ein Rechtsbegriff, der nicht notwendig durch eine staatliche Rechtsordnung konstituiert werden muss. Vielmehr liegt die Genese dieses Begriffes in der Gesellschaft selbst48. Eine gerechte Verteilung des Eigentums bedeutet nicht notwendigerweise eine Gleichverteilung. Im Gegenteil, Hume tut entsprechende Ideen als religiösen Fanatismus ab49. Stattdessen sollte das Eigentum 42 43 44 45 46 47 48 49 In der zweiten Verfassung von 1968 wurde, nachdem die Phase der Enteignungen weitgehend abgeschlossen war, der euphemisierende Begriff „sozialistisches Eigentum“ gewählt, vgl. Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin, 7. Oktober 1949 und Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin, 6. April 1968 Vereinte Nationen: Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Paris, 10. Dezember 1948 Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, Bonn, 23. Mai 1949 Hume, David: Eine Untersuchung über die Prinzipien der Moral, Hamburg 2003 [1751], S. 18 Vgl. Richter, Rudolf, Furubotn, Eirik C.: Neue Institutionenökonomik, Tübingen 2003, S. 87 Vgl. Hume, David: Eine Untersuchung über die Prinzipien der Moral, Hamburg 2003 [1751], S. 20 Vgl. Richter, Rudolf, Furubotn, Eirik C.: Neue Institutionenökonomik, Tübingen 2003, S. 127 Speziell die Levellers (deutsch: „Nivellierer“) werden von ihm als Beispiel genannt, die eine Generation vor ihm das politische Leben während der englischen Revolutionswirren prägten, vgl. Hume, David: Eine Untersuchung über die Prinzipien der Moral, Hamburg 2003 [1751], S. 28 14 Vorüberlegungen im Interesse der Gesellschaft verteilt sein, wie Hume zunächst wolkig umschreibt. Dazu gehöre auch, dass die größten Besitztümer der größten Tugend zugeordnet werden sollte. Hume ist jedoch Realist genug, zu verstehen, dass er aufgrund der Neigung der Menschen zur Selbstüberschätzung diesen Grundsatz nicht zum Gesetz machen könne. Tatsächlich scheint es sich aber oft so zu verhalten, dass viele Reichtümer infolge von Tugenden angehäuft wurden und Humes Forderung somit praktisch realisiert worden ist. Dies trifft auf viele Unternehmer zu, die durch Fleiß und Sparsamkeit Güter anhäufen konnten. Andererseits gibt es auch Gegenbeispiele von Güteranhäufungen durch Raub oder Betrug oder einfach nur durch Zufall (wie z.B. infolge einer Erbschaft). Hayek zufolge besteht im Privateigentum die Grundvoraussetzung dafür, das Wissen einer Gesellschaft auch effizient zu nutzen50 und lässt damit auch erkennen, dass der Eigentumsbegriff weit über seine ursprüngliche ökonomische Bedeutung hinausragt. Daneben gibt es Allmendegüter, die aufgrund ihrer natürlichen Beschaffenheit (sie sind nämlich nicht knapp) keine Eigentumsrechte kennen. Diese gehören jedermann oder niemanden. Beispiele dafür sind Berge, das Weltall oder Hochseegewässer51. Die Regulierung der Nutzung von Allmendegütern ist kaum möglich, ein Beispiel dafür ist die Überfischung der Meere oder die Umweltverschmutzung in der Natur. Letzteres sind mithin ökonomische Probleme, die nicht selten in moralischer Form dargestellt werden. Die Tatsache, dass die Eigentumsproblematik als erstes von einem Philosophen beschrieben worden ist, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Darstellung der Frage des Eigentums zunächst rein ökonomischer Natur ist. Die Formulierung, der sich daraus ergebenden Problematik erscheint oft moralisch, während die Lösung nicht selten juristischer Art ist. Eine strikte Unterscheidung der Eigentumsfrage in eine ökonomische und in eine moralische Komponente ist nicht nur unmöglich, sondern auch unsinnig. 1.7 Ökonomie und Ethik: Ein Verständnisproblem? „Eine jede Wissenschaft muß in der Enzyklopädie aller Wissenschaften ihre bestimmte Stelle haben“52 fordert Kant. Besonders bei Ökonomie und Ethik scheint dies schwer zu sein, da hier der Verdacht besteht, dass sich die Inhalte beider Bereiche 50 51 52 Vgl. Richter, Rudolf, Furubotn, Eirik C.: Neue Institutionenökonomik, Tübingen 2003., S. 93 Vgl. dies., ebda., S. 119 Kant, KdU, AA 416