Der Raum als Erzählform der Entscheidungen der Natur

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Vortrag für Münster am 5.2.07
Der Raum als Erzählform der Entscheidungen der Natur
1. Einleitung
Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kollegen!
ich freue mich sehr, dass ich heute hier vortragen darf. Es ist ein etwas seltsames Gefühl, wo
ich die ersten Ideen zu dem Projekt hatte, dessen Ergebnisse ich Ihnen heute – so weit in einer
Stunde möglich – vorstellen möchte.
Wie kam es dazu? Ich hatte davon gehört, dass es in Münster einen hochkarätigen
Arbeitskreis zur Zeitlogik gibt, dem u.a. Herr Hüttemann, Herr Scholz und Peter Rohs
angehören. So etwas dürfte in Deutschland einmalig sein. Dieser Arbeitskreis hat, soweit ich
weiß, in letzter Zeit Thomas Müllers sehr beeindruckende Dissertation „Arthur Priors
Zeitlogik“ von 2002 gelesen. Das vierte Kapitel dieser Arbeit enthält den bis vor kurzem
fortgeschrittensten Vorschlag für eine relativistische Zeitlogik, also eine Zeitlogik, die mit der
Relativitätstheoruie ernst macht. Es deutet auch schon in Richtung indeterministische
relativistische Zeitlogik. Müller nimmt damit den Impuls auf, den der inzwischen berühmte
Artikel „Branching Spacetime“ des Pittsburgher Logikers Nuel Belnap von 1992 gegeben hat.
Ich nehme an, dass Peter Rohs dafür gesorgt hat, dass gerade der Indeterminismus besondere
Beachtung erfuhr. Tatsächlich sind Relativitätstheorie und Indeterminismus nicht ganz leicht
zu vereinbaren. Ich möchte heute einen neuen Vorschlag dazu machen. Er arbeitet zwar
innerhalb des Paradigmas der verzweigten Raumzeit, aber er weicht vom mainstream, auch
von Müller und Belnap, in den metaphysischen Prämissen stark ab. Er läuft auf eine neuartige
Charakterisierung des Raums hinaus: Der Raum ist die Erzählform der Entscheidungen der
Natur. Ich glaube, dass das der nächste Schritt ist, der auf dem Gebiet der relativistischen
indeterministischen Zeitlogik zu machen war. Weshalb ich etwas unbescheiden bei Herrn
Hüttemann auf eine Einladung gedrängt hatte, war einfach, dass ich den erwähnten
Arbeitskreis, nachdem er sich den vorletzten Stand der Dinge erarbeitet hat, über den
aktuellen Stand der Dinge informieren wollte.
Nun ist ein Vortrag mit etwas weiterem Zuhörerkreis daraus geworden. Doch keine Sorge:
Ich werde die Benutzeroberfläche dessen präsentieren, was zu programmieren etwas länger
gedauert hat. Wer in den Quelltext schauen will: Das Buch damit erscheint in einigen Wochen
unter dem Titel „Alternativen in der Raumzeit“ im logos Verlag Berlin.
Ich werde nichts zur Freiheit sagen. Man kann aber alles, was ich vorschlage, verwenden,
um zu verstehen, wieso starke Freiheit der Wahl zwischen Alternativen in der relativistischen
Raumzeit möglich ist. Es ist mir recht. Ich selbst bin allerdings, was freie Handlungen angeht,
in letzter Zeit etwas skeptischer geworden. Aber ich glaube an den Indeterminismus. Es will
mir einfach nicht in den Kopf, dass der Ausgang der letzten Fußballweltmeisterschaft schon
seit kurz nach dem Urknall unausweichlich gewesen sein soll.
Ich werde einiges zum Problem der morgigen Seeschlacht sagen. Es ist ein altes Problem,
zum ersten Mal beschrieben in Aristoteles‘ De interpretatione. Aber es gibt Gründe, darauf
einzugehen:
1. Die dafür vorgeschlagenen formalen Lösungsansätze tauchen im Zusammenhang mit
Alternativen in der Raumzeit wieder auf. Ich werde sehr kurz etwas zum so genannten
ockhamistischen Ansatz sagen, kurz etwa zum so genannten Peirceanischen Ansatz und etwas
mehr zur Supervaluationstechnik. Denn das ist mein bevorzugter Ansatz. Er wird
auszudifferenzieren sein. Es gibt nämlich zwei ganz verschiedene Arten von Determiniertheit:
deiktische und narrative Determiniertheit. Das hängt zusammen.
2. Die Beschäftigung mit dem Seeschlachtproblem hat schon Aristoteles zu der
fundamentalen Einsicht gebracht, dass es neben der logischen Notwendigkeit eine zweite Art
von Notwendigkeit gibt, die von der gerade erreichten Position abhängt – eine positionale
Notwendigkeit sozusagen. Für ihn war die erreichte Position ein Zeitpunkt und seine Art der
positionalen Notwendigkeit war eine temporale oder historische Notwendigkeit: Was ist oder
war, davon ist es jetzt notwendig, dass es ist oder war; denn es ist jetzt nicht mehr zu ändern.
So hat es auch die mittelalterliche Zeitlogik gesehen, und so hat es auch der Wiederentdecker
dieser Tradition, Arthur Prior, in den 60er Jahren gesehen. Ich halte die Idee der positionalen
Notwendigkeit für ganz richtig. Aber ich schlage vor, sie angesichts der Relativitätstheorie zu
verschärfen zur eventisierten Notwendigkeit. Was für uns fststeht und was nicht, ist nämlich
nicht zur von der zeitlichen Position abhängig, die wir erreicht haben, sondern auch von der
räumlichen. Die positionale Notwendigkeit sollte sich nicht auf Zeitpunkte beziehen, sondern
auf Raumzeitpunkte: so genannte events.
3. Die temporalisierte Notwendigkeit aus Aristoteles De int. führt zur Idee des modalen
Zeitpfeils: Das Verfließen der Zeit ist der Verlust von Möglichkeiten. Gerade das gibt der Zeit
ihre Richtung. Es wird sich zeigen, dass man den modalen Zeitpfeil beibehalten kann: Aus der
Relativitätstheorie folgt nicht, dass das Universum ein Block ist und das Vergehen der Zeit
bloß ein Gefühl, das man hat, wenn man an ihm entlangsurft.
Wie möchte ich vorgehen? Von Grund auf, und dann im Zeitraffer. Ich möchte kurz daran
erinnern, wie eine reine Zeitlogik ohne Alternativen funktionert (2.). Ich möchte dann einer
solchen Logik eine räumliche Dimension hinzufügen (3.). Ich möchte dann kurz skizzieren,
wie eine Zeitlogik mit Alternativen aussieht und wie man darin mit der Seeschlacht umgeht
(4.). Ich möchte dann Alternativen kurz vergessen und zeigen, wie eine relativistische
Raumzeitlogik ohne Alternativen aussieht. Dann (5.) möchte ich die Relativitätstheorie
wieder ausklammern und zeigen, wie eine klassische Raumzeitlogik mit Alternativen
aussehen muss. Und schließlich (6.) blende ich alles zusammen zu einer relativistischen
Raumzeitlogik mit Alternativen.
2. Reine Zeitlogik ohne Alternativen
Eine reine Zeitlogik ohne Alternativen ist die Logik der eindimensionalen Zeitachse. Sie sieht
von Orten ab. Vielleicht schildert sie das Nacheinander an einem Ort. Eine Struktur dafür
besteht aus einer linear, evtl. dicht geordneten, evtl. beidseitig unendlichen Menge von
Zeitstellen: ein Zeitpunkt nach dem anderen. Formeln werden zu Zeitpunkten bewertet. Neben
en üblichen aussagenlogischen Junktoren gibt es die Zeitoperatoren „G“ und „H“. Außerdem
werden „F“ und „P“ benutzt als Abkürzungen für „~G~“ bzw. „~H~“. Gα wird wahr an t,
wenn a an allen vor t liegenden Zetpunkten wahr ist, Hα, wenn an allen danach. Man liest
deshalb „Gp“ als „Es wird immer der Fall sein, dass p“, „Hp“ als „Es war immer der Fall,
dass p“, „Fp“ als „Es wird der Fall sein, dass p“ und „Pp“ als „Es war der Fall, dass p“.
3. Klassische Raumzeitlogik
Eine reine Zeitlogik lässt sich erweitern zu einer Raumzeitlogik. Dabei ist noch nicht an die
Relativitätstheorie gedacht. Es geht vielmehr einfach darum, etwas über Zustände zu Zeiten
an Orten zu sagen. Freilich sollten wir uns schon dafür den Begriff des Raumzeitpunkts
gönnen, also des events. Ein event ist einfach eine raumzeitliche Wahrheitsgelegenheit: ein
Zeitpunkt an einem Ort, oder ein Ort zu einem Zeitpunkt. Vernachlässigen wir zwei
Dimensionen des Raums. Dann können wir sagen: Events lassen sich hübsch überkreuz in
Gittern anordnen. Die Längsstangen eines solchen Gitters sind Orte und die Querstangen
Zeitpunkte. Jeder Ort hat mit jedem Zeitpunkt genau ein event gemeinsam. Zwischen den
Zeitpunkten können wir mit den Zeitoperatoren hin- und herspringen. Und zwischen den
Orten? Machen wir es uns einfach: Wir führen einen neuen Operator „E“ ein, so dass Eα an
einem Ort zu einer Zeit gerade dann wahr ist, wenn „p“ zu gleichen Zeit auch an allen
anderen Orten wahr ist. „E“ soll für „everywhere“ stehen. Als Abkürzung für „~E~“
definieren wir „S“. Das erinnert an „somewhere“. Da das alles auf den beschriebenen
Gitterstrukturen passiert, gelten für Raum- und Zeitoperatoren ein Handvoll fundamentale
Gesetze, z.B.: Genau dann, wenn es irgendwo der Fall ist, dass es dort der Fall sein wird, dass
p, ist es auch hier der Fall, dass es einmal der Fall sein wird, dass es irgendwo (anders) der
Fall ist, dass p (SFp ≡ FSp).1 Dass diese Gesetze die Interaktion von Raum- und
Zeitoperatoren vollständig systematisieren, ist übrigens gar nicht so einfach zu beweisen und
noch nicht sehr lange bekannt. Aber wen interessiert schon vollständige Axiomatisierung!2
4. Zeitlogik mit Alternativen
Vergessen wir für einen Moment wieder den Raum und kommen wir zur Seeschlacht! Wie
kann man die Idee darstellen, dass die Zukunft offen ist, die Vergangenheit aber feststeht?
Wie modelliert man den modalen Zeitpfeil und die historische Notwendigkeit? Eine einfache
Möglichkeit ist diese: Wir schnüren eine Reihe von gleichartigen linearen Strukturen der
reinen Zeitlogik mit jeweils verschiedener inhaltlicher Füllung zusammen. Jede davon ist ein
möglicher Weltverlauf oder eine mögliche Weltgeschichte. Dabei soll gelten: Zwei
Weltgeschichten sind zu einem Zeitpunkt t gerade dann Alternativen zueinander, wenn sie bis
zu incl. t dasselbe Geschehen beschreiben. Zwischen Zeitpunkten innerhalb einer
Weltgeschichte springen wir wieder mit den Zeitoperatoren hin und her. Zum Navigieren
zwischen Weltgeschichten spendieren wir uns einen neuen Operator: „N“. Nα soll relativ auf
1
Und entsprechend mit „P“ Oder: Wenn es irgendwo schon immer Fall war, dass p, dann war es hier schon
immer der Fall, dass irgendwo p (SHp → HSp). Und entsprechend mit „G“.
2
Diese Gesetze sind übrigens weniger trivial, als sie klingen: Vom ersten bin ich nicht sicher, ob es in der
Umgebung von Schwarzen Löchern gilt. Und das wäre schon interessant, wenn nicht – eben weil es so primitiv
aussieht. Beim zweiten kann man sich fragen: Gilt auch die Umkehrung, also „HSp → SHp“? Die Antwort ist:
Nein, denn dass die Erde immer irgendwo war, heißt noch lange nicht, dass es einen Ort gibt, an dem sie immer
war. Sie sehen hier gut den quantorenartigen Charakter der Modaloperatoren: Das ist semantisch gesehen ein
Quantorendreher. Und Sie sehen vielleicht, warum ich diese ungültige Formel die Parmenides-Fomel nenne.
Stellen Sie sich mal vor, sie würde gelten!
Weltgeschichte h und Zeitpunkt t genau den Wert 1 erhalten, wenn α relativ auf t und jede zu
t bestehende Alternative zu h den Wert 1 erhält. „Np“ heißt damit „Es ist notwendig, dass p“
im Sinne von „Es ist unabänderlich, dass“ oder „Es steht fest, dass“. Als Abkürzung für
„~N~“ führen wir „M“ ein: einen temporalisierten Möglichkeitsoperator. Die vollständige
Axiomatisierung ist schwierig, vielleicht sogar bis heute noch nicht erreicht. Das liegt daran,
dass „p→Np“ ein Gesetz ist, α → Nα allgemein aber nicht.3 Aber wen kümmert schon
vollständige Axiomatisierung! Sehen wir uns lieber an, wie die Modelle funktionieren. Stellen
wir uns ein Modell mit zwei Weltgeschichten vor, die zu t1 Alternativen zueinander sind. In
einer, h1, kommt an t2 eine Seeschlacht vor, in der anderen, h2, nicht. Nehmen wir an, es ist t1,
und die Wirklichkeit ist bis zu t1 h1-artig gewesen. Dann ist relativ auf t1 und h1 „Fp“ 1,
relativ auf t1 und h2 aber 0. Somit ist relativ auf t1 und sowohl h1 als auch h2 „NFp“ 0. h2
enthält schließlich keine Seeschlacht. Diese ist, so die indeterministische Grundidee, nicht
unausweichlich. Denn eine Alternative ohne sie steht noch offen.
Nun ist es freilich schwierig zu sagen, wie man es deuten soll, dass eine Formel relativ auf
eine Weltgeschichte und einen Zeitpunkt 1 oder 0 ist. Man wird zunächst „1“ als „wahr“ und
„0“ als „falsch“ lesen. Das könnte demnach heißen: Falls h1 verwirklicht wird, so ist zu t1
„Fp“ wahr, falls h2, so nicht. Das ist die Position des so genannten Ockhamismus für
Alternativen. Dies ist die vorherrschende Position, und sie ist immer noch besser als ein
verkappter Determinismus der eine Weltgeschichte im Modell als die wirkliche auszeichnet.
Dennoch bin ich inzwischen der Meinung, dass der Ockhamismus für Bezugssysteme ganz
unplausibel ist: Wir vergeben Wahrheitswerte für Zukunftsaussagen nicht hypothetisch,
sondern relativ zum erreichten Stand der Dinge, rebus sic stantibus.
Was gibt es für andere Möglichkeiten? Die so genannte Peirceanische Lösung einerseits
und die Supervaluationstechnik andererseits. Der Peirceaner, so wie ich ihn hier darstellen
will, interessiert ich nicht für das nackte „F“, sondern nur für die Kombination „NF“, die er
als „F“ abkürzt. Nun bekommen alle Formeln, die ihn interessieren, unabhängig vom Lauf der
Welt nach t denselben Wahrheitswert. Er deutet also die Kombination von t und h als
Koordinatenangabe der gerade erreichten Position im tempo-modalen Kontinuum. „Fp“ ist
bei bis zu t1 h1-artigem (bzw. h2-artigem) Weltverlauf, während also sowohl h1 als auch h2
noch Kandidaten für die Verwirklichung sind, falsch.
Das mit der Koordinatenangabe sieht der Supervaluationist genauso. Aber der
Wahrheitswert „falsch“, der ist ihm hier zu hart. Er deutet daher die Nullen und Einsen gar
nicht als Wahrheitswerte, sondern sieht sie bloß als nützliche Verrechnungseinheiten. Seine
Wahrheitswerte sind dagegen definiert wie folgt: α ist bei h-artiger Weltentwicklung bis t zu t
wahr gdw α ist jeder zu t noch zu h bestehenden Alternative 1 ist, und falsch, wenn in jeder 0.
Dadurch bekommt „Fp“ zu t1 bei h1-artiger Weltentwicklung gar keinen Wahrheitswert.
„NFp“ wird falsch. Interessanterweise verschwindet die Wahrheitswertlücke im Rückblick:
Bei bis zu t2 h1-artiger Weltentwicklung wird „HFp“ wahr, wenn auch „HNFp“ falsch bleibt.
Als Wahrmacher relevant ist, etwas anders als für den Peirceaner, die erreichte Position.
Übrigens gelten dabei alle Gesetze der klassischen Aussagenlogik weiter.
3
Das sollte so sein: Ersteres gibt die Intuition der historischen Notwendigkeit sehr schön wieder, letzteres würde
einem aber mit der Einsetzung „Fp→NFp“ den Determinismus bescheren; gut also, dass sie nicht gilt.
5. Relativistische Zeitlogik ohne Alternativen
Vergessen wir für einen Moment die Alternativen. Wenden wir uns der Relativitätstheorie zu.
In der klassischen Raumzeitlogik hatten wir bereits aus events Koordinatengitter gebildet.
Man kann auch sagen: Wir hatten ein Weltblatt betrachtet, das in ganz bestimmter Art liniert
war. Das ist aber nicht die einzige Möglichkeit, ein Weltblatt zu linieren bzw. die events in
ein Gitter aus Orten und Zeiten zu bringen. Nicht dass man dabei beliebig verfahren könnte.
Aber man hat doch mehr Freiheit, als man zunächst denkt. Eingeschränkt wird man durch den
Lichtkegel: Zu jedem event e gibt es eine Menge von events, von denen aus ein Signal mit
höchstens Lichtgeschwindigkeit den Zustand an e beeinflussen könnte. Das ist der so
genannte Vergangenheitslichtkegel von e. Und es gibt die Menge aller events, die man durch
ein Signal von e aus beeinflussen könnte: den Zukunftslichtkegel von e. Er kann übrigens
leicht als Menge all der events definiert werden, in deren Vergangenheitslichtkegel e liegt.
Man kann daher jedem event eine Menge von events als seinen VLK zuweisen und damit
spezifieren, wie ein ordentliches Koordinatengitter aussieht. Die Details spare ich mir hier.
Wichtig ist nur (etwas vereinfacht gesagt): Es gibt zwar nicht mehr den Ort eines events,
sondern pro Koordinatensystem (oder: Bezugssystem) einen. Jeder denkbare Ort von e
befindet sich aber komplett innerhalb des Lichtkegels von e. Es gibt auch nicht mehr die Zeit
von e, sondern pro Koordinatensystem eine. Jede denkbare Zeit befindet sich aber abgesehen
von e komplett außerhalb des Lichtkegels von e – im so genannten Raumartigen zu e.
Eine dramatische Konsequenz der Relativitätstheorie ist, dass relativ zu einem
Bezugssystem ein event vor einem anderen liegen, während es relativ auf ein anderes gerade
umgekehrt ist. Denn die Zeitpunkte verschiedener Koordinatensysteme können gegeneinander
gekippt sein. Wie soll man dafür eine vernünftige Zeitlogik machen? Schon ihr Erfinder,
Arthur Prior, hat das Problem gesehen. Aber er hegte tiefes, z.T. verständnisloses Misstrauen
gegenüber der Relativitätstheorie. Prior skizziert deshalb konsequenterweise eine
relativistische Zeitlogik, die von Folgendem ausgeht: So richtig in der Zukunft liegt nur, was
im ZLK liegt; und so richtig in der Vergangenheit liegt nur, was im VLK liegt. Orte
berücksichtigt er nicht.4
Dennoch bin ich mit Priors Ansatz nicht zufrieden gewesen: Er vernachlässigt gerade das
Relativistische an der Relativitätstheorie. Auch wenn man es selbst von Physikern nicht
immer so hört: Die Relativitätstheorie ist durchaus eine Theorie der raumweiten Koordination
von events zu Orten und Zeiten. Die Gegenwart von e ist nicht auf e geschrumpft. Nur ist sie
für jedes Bezugssystem ein andere. Wie setzt man diese Intuition in ein Modell um?
Wir nehmen als Modell einfach einen ganzen Stapel von Weltblättern, die zwar alle gleich
beschriftet, aber unterschiedlich liniert sind. Auf jedem einzelnen Weltblatt bewegen wir uns
mit den Zeit- und Raumoperatoren, die nun aufs Bezugssystem relativiert sind. Formeln
werden relativ auf einen Ort und eine Zeit eines Bezugssystems bewertet. Außerdem führen
wir einen neuen Operator ein, den ich als „ד notiere. Das soll an den Lichtkegel erinnern, der
Bezugssystem-invariant ist. ×α soll wahr sein gdw α nicht nur im gerade verwendeten,
sondern in allen Bezugssystemen wahr ist. Als Abkürzung für „~×~“ sei „+“ eingeführt (das
erinnert an Koordinatenachsen). „+“ ist zu lesen als „für manches Bezugssystem gilt“. Man
schaltet damit zwischen Achsenneigungen hin und her wie mit einem Schalthebel zwischen
Gängen.
Einige Beispiele sollen einen Eindruck von dieser Logik vermitteln: „p ∧ +~p“ ist kein
Widerspruch (ebensowenig wie „p ∧ M~p“ in der alethischen Modallogik). „PSp ∧ +FSp“ ist
erfüllbar auch wenn „p“ nur einmal wahr wird. „Fp ∧ Sp+Sp“ ist erfüllbar: Ein zeitlicher
Abstand kann gleichsam in einen räumlichen aufgelöst werden. Das wohl wichtigste Gesetz
einer solchen Logik ist +Fα → FS+α: Wenn es ein Bezugssystem b‘ gibt, demzufolge α hier
der Fall sein wird, dann wird es der Fall sein, dass es auch einen b-Ort gibt, so dass, wenn
man dort umschaltet, α der Fall ist. Dieses Gesetz garantiert die Einheit der Zeitrichtung im
ZLK.5
Für uns am interessantesten ist das Gesetz „p → ×p“. Es erinnert sofort an „p → Np“ in der
Zeitlogik mit Alternativen – und bereitet übrigens den gleichen Ärger bei der
Axiomatisierung. Es hat seinen guten Sinn: Was hier und jetzt der Fall ist, das ist es für jedes
Bezugssystem. Ebenso ist in der Zeitlogik mit Alternativen, was jetzt der Fall ist, in jeder
noch bestehenden Alternative der Fall. Sollte es in der relativistischen Zeitlogik so etwas
Ähnliches geben wie eine Ockhamistische und eine Peirceanische Position? In der Tat. Der
Peirceaner für Alternativen lässt als zukünftig nur gelten, was für jede Alternative in der
Zukunft wahr ist. Der Peirceaner für Bezugssysteme lässt als zukünftig wahr nur gelten, was
in der Zukunft jedes Bezugssystems irgendwo wahr ist, als früher einmal wahr nur, was in der
Vergangenheit jedes Bezugssystems irgendwo wahr ist; und als gegenwärtig wahr nur, was in
der Gegenwart jedes Bezugssystems irgendwo wahr ist. In der relativistischen Zeitlogik
definiert er „F“ deshalb als „×FS“. Und er definiert sich noch „P“ als „×PS“ und „S“ als
„×S(S)“ dazu. Damit kauft er die Schrumpfgegenwart, denn praktisch nur wenn „p“ hier und
jetzt wahr ist, wird auch „Sp“ wahr werden.
Der Ockhamist sieht das anders. Er verwendet die Operatoren der Grundebene mit bestem
Gewissen. Für ihn gibt es Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nur Bezugssystem-relativ.
Ich würde sagen: Recht hat er. Während sich der Ockhamismus für Alternativen als
unplausibel herausgestellt hat, ist der Ockhamismus für Alternativen plausibel: „You can’t
describe the world without describing it“ – wie es Putnam einmal schön gesagt hat.
Und der Supervaluationist? Er hält sich noch im Hintergrund. Es reicht, wenn er wieder
aktiv wird, sobald Alternativen eine Rolle spielen. Das sollten sie freilich. Denn in Modellen
der eben skizzierten Logik haben ZLK und VLK ganz denselben Status. Vom modalen
Zeitpfeil keine Spur.
6. Klassische Raumzeitlogik mit Alternativen
Doch zunächst muss ich Sie bitten: Vergessen noch einmal alles, was Sie eben über die
Relativitätstheorie gehört haben oder sonst wissen. Es könnte ja jemand den Begriff des VLK
4
Die technischen Ergebnisse sind beeindruckend. So vermutete Prior z.B. richtig, dass der „F“-Operator im
Sinne von „liegt im Zukunftslichtkegel“ für die Spezielle Relativitätstheorie den Gesetzen der Modallogik S4.2
gehorchen muss.
5
Dass die Logik hält, was sie verspricht, sieht man übrigens daran, dass die Prior’schen S4.2-Operatoren für die
SR darin definierbar sind: als „+F+“ und „×Gד.
erfunden haben, ohne überhaupt an die Relativitätstheorie zu denken. Z.B. jemand, der der
Zeitlogik mit Alternativen die räumliche Dimension hinzufügen will und dabei durch die
Lichtgeschwindigkeit begrenzte Informationszustände darstellen will. Was wird der tun?
Er wird nicht mehr Modelle der reinen Zeitlogik zu einem Bündel verschnüren. Vielmehr
wird er ganze Weltblätter aufeinanderkleben – und zwar jeweils so weit, wie sie gleich
beschriftet sind. Dadurch entstehen Weltbücher mit raumweiten Klebekanten – Vorderkanten
der Weltentwicklung. Zwischen den Orten bewegt man sich mit den Raumoperatoren,
zwischen den Zeiten mit den Zeitoperatoren und mit den Alternativen mit den historischen
Modaloperatoren. So weit kein Problem und nicht sehr spannend. Man bekommt Gesetze wie
„Np → ENSp“: Was hier feststeht, davon steht überall fest, dass es irgendwo der Fall ist.
Aber man kann etwas Interessantes draufsatteln: einen Operator für epistemische
Alternativen. Er soll als „N∆“ notiert sein, was schon auf seine Semantik hinweist: N∆α ist
wahr an Ort s(e) bei h-artiger Weltentwicklung bis zu t(e) gdw α an s(e) und t(e) wahr ist für
jedes mit h wenigstens auf dem VLK von e gleich beschriftete h‘. Relevante Alternativen für
„N∆“ müssen bloß auf dem VLK der Bewertungs-Alternative gleichen, nicht bis zur
Vorderkante. Damit wird erreicht, dass „N∆“ zu lesen ist als „es ist wissbar, dass“. Denn es
gibt bei endlicher Lichtgeschwindigkeit so manches, was der Fall ist, was also auf allen NAlternativen verzeichnet ist, was aber noch nicht wissbar ist; dem entspricht, dass es noch
nicht auszuschließende N∆–Alternativen gibt, auf denen es nicht steht. Es gilt denn auch
„N∆p→Np“ (was sogar wissbar ist, das steht fest), nicht aber das Umgekehrte.
Interessanterweise ist „N∆p → EN∆Sp“ nicht gültig: Wenn es hier wissbar ist, dass (hier) p
der Fall ist, so ist es noch lange nicht überall wissbar, dass gerade irgendwo p der Fall ist.
Ontische und epistemische Determiniertheit fallen im klassischen Bild auseinander. Das kann
man freilich erst bemerken, wenn man die räumliche Dimension hinzufügt. Man wird sich
aber im klassischen Bild kaum Sorgen machen, da man „N∆“ rein epistemisch deutet.
7. Relativistische Raumzeitlogik mit Alternativen
Man sollte sich freilich massiv Sorgen machen, wenn man die Idee mit den Weltbüchern auf
die relativistische Raumzeit überträgt. Denn nun stellt sich die Frage, ob nicht „N∆“ ontisch zu
deuten ist. Aber kann es sein, dass, was hier feststeht, anderswo noch nicht feststeht?
Wie kann man Alternativen in der relativistischen Raumzeit modellieren? Die raumweiten
Gegenwartskanten sind ja nun Bezugssystem-relativ. Technisch gesehen ist das keuin
Problem: Dann sind eben auch die Klebekanten für die Alternativen je nach Bezugssystem in
verschiedenem Winkel geneigt. Zwei Weltblätter sind an einem event e relativ zu
Bezugssystem b N-Alternativen zueinander, wenn sie mindestens bis zu tb(e) gleich
beschriftet sind. Sie sind dagegen, wie gehabt, an e N∆-Alternativen zueinander, wenn sie
wenigstens auf dem VLK von e gleich beschriftet sind. Es lässt sich zunächst rein technisch
bemerken, dass man die N-Zugänglichkeit mit Hilfe der N∆-Zugänglichkeit definieren kann:
Zwei Weltblätter sind gerade dann gegenseitig N-zugänglich, wenn sie an jedem event e‘ von
tb(e) über den VLK zugänglich sind. Die Vorderkante entsteht durch Überblendung von
Lichtkegeln.
Soll man nun sagen: Was feststeht, ist relativ aufs Bezugssystem? In gewisser Weise ist
das willkürlich. Plausibler scheint es mir zu sein, wenn man im Raumartigen
Wahrheitswertlücken zulässt. Dafür bietet es sich an, die Supervaluationstechnik aus der
reinen Zeitlogik mit Alternativen auf die relativistische Raumzeitlogik zu übertragen (der
Peirceaner kann seine Position auch übertragen, aber das ist hier zu kompliziert). Nur steht
man jetzt vor einer interessanten Entscheidung: Über welche Alternativen soll man denn
supervaluieren? Über all jene, die bis zu tb(e) gleich beschriftet sind? Oder über all jene, die
auf dem VLK von e gleich beschriftet sind? Wenn wir eine Bezugssystem-invariante
Determiniertheit haben wollen, sollten wir uns für die zweite Möglichkeit entscheiden.
Das geschieht nicht ohne metaphysische Hintergedanken: Wenn ich etwas sagen will wie
„So weit ist die Welt hier-und-jetzt gediehen“, dann benutze ich das Zeigewort „so“. Und
wenn ich auf etwas zeige, will ich gerade keine Begriffe im Spiel haben. Das
Koordinatensystem bringt aber immer schon eine begriffliche Aktivität mit sich – lege ich
mich doch damit auf eine bestimmte Beschreibungsweise der Wirklichkeit fest. Ich zeige
dann nicht einfach auf sie, so wie sie ist, wie auch immer sie sein mag.
Kurz: Ich plädiere dafür, dass wir durch die Relativitätstheorie erfahren, dass es zwei ganz
verschiedene Arten der Determiniertheit, des Feststehens, gibt. Ich nenne sie deiktische
Determiniertheit (Zeige-Determiniertheit) einerseits und narrative Determiniertheit
(erzählerische Determiniertheit) andererseits. Wenn ich sagen sollte, welche ich für wichtiger
halte, so würde ich sagen: die deiktische Determiniertheit.
Eine Konsequenz daraus ist etwa die folgende: Man kann sich fragen, ob die Aussage
„Jetzt verhindert Spock die Sternenexplosion“ hier und jetzt wahr ist. Die Supervaluation über
dem VLK ergibt: Diese Aussage ist rebus sic stantibus hier und jetzt weder wahr noch falsch,
selbst wenn ich später von Spocks Heldentat erfahre. Denn sie ist auf manchen Weltblättern
mit diesem Vergangenheitslichtkegel darauf nicht verzeichnet. Dann freilich, später, ist es
wahr zu sagen: „Es war der Fall, dass Spock die Sternenexplosion verhindert hat“. Später,
nach dem Eintritt in meinen VLK, ist nämlich die Heldentat trivialerweise auf allen
Weltblättern verzeichnet, die gerade darauf übereinstimmen. Aussagen über räumlich sehr
weit entfernte Geschehnisse haben damit einen wesentlichen Zug mit Aussagen über die
(beeinflussbare) Zukunft gemeinsam. Es ist ganz wie bei der Seeschlacht. Das alles hat nichts
damit zu tun, dass ich irgendetwas noch nicht wissen kann. Vielmehr geht es darum, wie weit
die Wirklichkeit tatsächlich hier und jetzt schon gediehen ist. Nur eben: hier und jetzt. Der
Begriff des Feststehens ist nicht nur auf eine Zeit zu relativieren, sondern auf ein event. Was
hier feststeht, muss dort noch lange nicht feststehen – und umgekehrt. Das sehen die meisten
branching spacetime-Forscher anders. Sie glauben an eine ontologisch robuste, raumweite
Vorderkante der Weltentwicklung. Sie wahren damit den Buchstaben, nicht aber den Geist
der Relativitätstheorie. Und sie halten das Wort „branching“ nicht für ein Verbalsubstantiv
zur Beschreibung von Tafelbildern, sondern für ein Partizip praesens aktiv zur Beschreibung
einer mysteriösen Aktivität des Universums. Das ist Verhexung durch Sprache.
Was ist ihnen entgegenzusetzen? Was ist eigentlich mit dem „N“-Operator, der ja auch
noch zur Verfügung steht und der auch bei Supervaluation über dem VLK Vorderkantensensitiv reagiert? Und warum lässt sich die Bezugssystem-relative Vorderkante als
Überblendung von Lichtkegeln verstehen? Schließlich: Was hat das denn mit dem Raum als
Erzählform zu tun? Das alles bezieht sich auf die narrative Determiniertheit. Um die zu
beschreiben, möchte ich eine indeterministische Version der berühmten so genannten TunnelBeispiels vorführen. Ohne das Bisherige wäre es nicht zu verstehen.
Sehen wir uns das folgende Weltblatt an, das ich h0 nennen möchte. Die schräge Fläche ist
die Geschichte eines sehr langen und sehr schnellen Zugs. Wir haben zwei Beobachter, Al
und Bert. Al benutzt das rechtwinklige Koordinatensystem, Bert das schräg gestellte. Bert
setzt nämlich den Zug als ruhend an, Al als bewegt. Beide befinden sich an einem event e5.
Inzwischen hat sich die Wirklichkeit auf dem zu e5 gehörenden Dreieck, dem so genannten
Vergangenheitslichtkegel von e5, als h0-artig herausgestellt. Das soll heißen: Zumindest in
diesem Bereich ist alles so gekommen, wie es auf dem Weltblatt h0 verzeichnet ist. Und h0
verzeichnet eine Zugfahrt ohne Unfall. Aber die Sache war knapp. Inzwischen hat sich
nämlich auch herausgestellt, dass an verschiedenen Strecken des Gleises zwei Bomben
versteckt waren, die zum Glück nicht explodiert sind, aber so gebaut waren, dass sie durchaus
hätten explodieren können und zwar Bombe 1 genau an Event e1, Bombe 2 genau an Event e2.
Die Events liegen dabei zueinander wie folgt:
(1) e1 und e2 sind für Al gleichzeitig.
(2) Für Bert dagegen liegt e1 nach e2.
Wir müssen nun eine Reihe weiterer Weltblätter in Betracht ziehen:
(1) h1 ist bis sehr kurz vor Als Zeitpunkt von e1 und e2 komplett so beschriftet wie h0. Für e1
und e2 sind auf ihm aber – anders als auf h0 – die Explosionen der Bomben verzeichnet.
(2) h2 ist bis sehr kurz vor Berts Zeitpunkt von e2 komplett so beschriftet wie h0, Für e2 ist auf
ihm aber – anders als auf h0 – die Explosion der Bombe 2 verzeichnet.
(3) h3 ist bis sehr kurz vor Berts Zeitpunkt von e1 komplett so beschriftet wie h0. Für e1 ist auf
ihm aber – anders als auf h0 – die Explosion von Bombe 1 verzeichnet.
Was erzählen die beiden im Nachhinein für Geschichten? Hier ist die Geschichte von Al:
„Gut, dass es vorbei ist! Mit meinem Zeitpunkt von e1 und e2 entschied es sich, dass
Bombe 1 nicht explodieren würde, und es entschied sich, dass Bombe 2 nicht explodieren
würde. Es entschied sich also zu meinem Zeitpunkt von e1 und e2, dass die Wirklichkeit
auf dem unter meinem Zeitpunkt von e1 und e2 liegenden Bereich des
Vergangenheitskegels von e5 nicht etwa h1-artig, sondern h0-artig sein würde.“
Berts Geschichte lautet:
„Gut, dass es vorbei ist! Mit meinem Zeitpunkt von e2 entschied es sich zunächst, dass
Bombe 2 nicht explodieren würde. Es entschied sich nämlich zu meinem Zeitpunkt von e2,
dass die Wirklichkeit auf dem unter meinem Zeitpunkt von e2 liegenden Bereich des
Vergangenheitskegels von e5 nicht etwa h2-artig, sondern h0-artig sein würde. Später, mit
meinem Zeitpunkt von e1 entschied es sich, dass auch Bombe 1 nicht explodieren würde.“
Das sind völlig respektable Geschichten, und Al und Bert werden sich wohl auch einigen,
dass jeder eben so seine Art hat diese Geschichten zu erzählen. Wir sollten allerdings dazu
drei Ergebnisse festhalten, die nicht unwichtig sind:
(1) Dies sind Geschichten von echten Entscheidungen: indeterministische Geschichten. Schon
hat darauf hingewiesen, dass man hier das Wort „decision“ im ursprünglichen Sinn von
„Abtrennung“ einer Alternative verwenden sollte. So würde ich auch das eingedeutschte
Wort „Dezision“ verwenden wollen.
(2) Im Nachhinein, nachdem sich die Wirklichkeit an e5 als auf dem Vergangenheitslichtkegel
von e5 h0-artig erwiesen hat, ist es ganz in Ordnung, dass die beiden etwas sagen können
wie „Damals entschied es sich, dass...“. Das heißt aber auch: Es kann etwas als
Vergangenheit feststehen, obwohl es nie als Gegenwart feststand.
Man mag sich wundern, wie es sein kann, dass die Weltblätter h1 bis h3 so ohne weiteres
zur Verfügung stehen. Ist es nicht sehr seltsam, dass die Wirklichkeit bereitwillig
Alternativen mit genau der richtigen Beschriftung und im genau richtigen Faltwinkel für
Al und Bert zur Verfügung stellt? Wenn Belnap diese Möglichkeit andenkt, schreibt er
von der Absurdität einer „massive coincidence“. Das wäre in der Tat seltsam. Aber die
Wirklichkeit muss sich da gar nicht anstrengen. Vielmehr setzen eigentlich Al und Bert
diese Weltblätter zusammen. Der Raum ist eine Erzählform. Nur fantasieren die beiden
nicht, sondern bewerkstelligen eine Synthesis des Mannigfaltigen. Sie setzen die
weltweiten Entwicklungen aus lauter kleinen lokalen Entscheidungen zusammen, die sie
unterschiedlich koordinieren. Dies ist das Kantianischste, was ich je behauptet habe. Ich
habe lange gebraucht, mich dazu durchzuringen. Um es mit einer berühmten
Unterscheidung von McTaggart zu sagen: Der Fluss der Zeit ist eine Synthesis vieler von
uns zum Zwecke der Erzählung der Entscheidungen der Natur koordinierter A-Ordnungen
entlang von Weltlinien. Die A-Ordnungen mit ihrer jederzeit spürbaren und herzeigbaren
Gegenwart sind nicht nur kompatibel mit der relativistischen Synthesis des Raums: Sie
sind ihre Basis.
Diese These ist riskant im von Popper angemahnten Sinn: Damit die Faltwinkel alle
realistisch sind, muss die natur ein „busy chooser“ sein. Das heißt, sie muss an jedem event
jeder Weltlinie auch anders sein können. Andernfalls würde sie unsere Möglichkeit zum
Geschichtenerzählen stärker einschränken, als es die Relativitätstheorie cum Indeterminismus
erlaubt. Ist das quantenphysikalisch plausibel? Man muss sehen.
Es fragt sich noch, inwiefern sich Al und Bert auch als Reporter betätigen können. In
gewisser Weise ist eine Echtzeit-Reportage seltsam, wenn die beiden in der Zugmitte bzw. auf
Höhe der Mitte des vorbeifahrenden Zugs stehen. Denn sie können wegen der Endlichkeit der
Lichtgeschwindigkeit natürlich nie direkt sehen, was gerade an den weit entfernten Zugende
passiert, sondern müssen raten. Die alles entscheidende Frage ist aber: Können sie richtig
raten? Nehmen wir an, Al und Bert befinden an einem Event e0 in der Zugmitte bzw. direkt
davor an der Strecke. Dieses Event ist für Al gleichzeitig mit e1 und e2. Kann er an e0 richtig
raten, wenn er behauptet:
„Soeben entscheidet es sich, dass Bombe 1 an e1 nicht hochgeht, und überhaupt, dass die
Wirklichkeit überall ‚unterhalb‘ meines gegenwärtigen Zeitpunkts h0-artig ist“
Die Antwort sollte meiner Meinung nach sein: Das sollte man lieber nicht zulassen. Denn
Bert wird zu Recht protestieren und sagen:
„Dass Bombe 1 nicht hochgeht, ist hier und jetzt überhaupt noch nicht entschieden, ebenso
wie überhaupt noch nicht entschieden ist, dass die Wirklichkeit zwischen meinem und
deinem jetzigen Zeitpunkt h0-artig ist.“
Meiner Ansicht nach wäre das ein echter Widerspruch. Er lässt sich nicht durch Relativierung
auf die verschiedenen Koordinatensysteme wegdiskutieren. Die Wirklichkeit kann relativ auf
e0 nicht schon beiden Aussagen korrespondieren. Ich möchte zum Schluss andeuten, wieso
ich glaube, dass die Lage nicht so schlimm ist. Es gibt einen kleinen, aber feinen Unterschied
zwischen den Konjunktionen „dass“ und „ob“. Dieser Unterschied ist in logischer Hinsicht
zuerst von David Lewis erforscht worden. Er hat seine Ergebnisse in einem Aufsatz mit dem
schönen Titel „‘Whether‘ Report“ veröffentlicht. Es macht nämlich einen Unterschied, ob Al
sagt:
„Soeben entscheidet es sich, dass Bombe 1 an e1 nicht hochgeht“
oder ob er sagt:
„Soeben entscheidet es sich, ob Bombe 1 an e1 hochgeht oder nicht“.
Der erste Satz macht Probleme. Aber ich glaube, auf den zweiten Satz kann Bert ganz ruhig
reagieren, indem er sagt: „So gefällt es dir eben, die Dinge zu beschreiben; ich beschreibe sie
anders“. Ein Widerspruch droht nicht mehr, da man mit dem „ob“ etwas weniger behauptet
als mit dem „dass“ – es steht gewissermaßen unter mehr Voraussetzungen. Das, aber auch erst
das, heißt: Indeterminismus und Relativitätstheorie sind ohne Widerspruch zusammen zu
haben.
8. Zum Schluss ein Bild
Was ergibt sich zum guten Schluss für ein Bild der Welt? Will man den neuen Standpunkt mit
einem klassischen Bild beschreiben, so mag man sagen: Die Welt gleicht einer großen
Baustelle, die nicht auf einen Blick überschaubar ist; aber wie man seinen Blickwinkel auch
wählt, wohin man auch blickt und wann auch immer man das tut – man stellt immer fest, dass
das Gebäude nicht fertig ist, sondern weiter daran gebaut wird. Dieses Bild kann, als
klassisches Bild, nicht anders als defizitär sein. Es ist nichtsdestotrotz illustrativ. Das
Vergleichsobjekt in einem Vergleich darf (wie die Sonne in Platons Höhlengleichnis zeigt)
gegenüber dem damit Verglichenen defizitär sein, wenn man sich darüber im Klaren ist.
Man kann den neuen Standpunkt auch mit einem weiten Blick zurück in die Geschichte der
Philosophie beschreiben. Einstein hat die folgende Intuition Galileis vervollkommnet: Es gibt
verschiedene Möglichkeiten, was man als bewegt ansehen will und was als ruhend. Was
immer der eine als bewegt ansieht, mag ein anderer als ruhend festsetzen. Doch daraus folgt
nicht die Ansicht des Parmenides, nichts bewege sich. Denn wie man auch die Festsetzung
vornimmt - wenn das eine als ruhend festgesetzt ist, so bewegt sich doch etwas anderes. Wir
sollten noch als Konsequenz daraus Folgendes lernen: Es gibt für das Raumartige
verschiedene Möglichkeiten, was davon man als nicht fertiggestellt ansehen will und was als
fertiggestellt. Was immer im Raumartigen der eine als nicht fertiggestellt ansieht, mag ein
anderer als fertiggestellt festsetzen. Doch daraus folgt nicht die Ansicht, alles sei
fertiggestellt. Denn wie man auch die Festsetzung vornimmt - wenn das eine als fertiggestellt
festgesetzt ist, so ist doch anderes noch nicht fertiggestellt. Es lässt sich deshalb mit vollem
Recht aus jeder Perspektive sagen: Die , wie es Hegel einmal schön nennt, „ungeheure Arbeit
der Weltgeschichte“ ist ergebnisoffen im Gange und unvollendet.
Danke.
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