.. WISSENSCHAFT Aids Viren im Kreuzfeuer Jahrelang prägten Enttäuschungen die Arbeit der Aids-Forscher. Jetzt sprechen einige von ihnen schon vorsichtig von „Heilung“. Anlaß für den Optimismus sind zwei neue Medikamente, die den Virenpegel im Blut dramatisch senken. Erstmals wurde die lebensverlängernde Wirkung einer Therapie nachgewiesen. dem elektronenmikroskopisch kleinen Gegner trotzt, der seit Jahren eine Dauerschlacht gegen sein Immunsystem führt. Die Details dieser Schlacht, von den Aids-Forschern erst kürzlich geklärt, klingen erschreckend: Allein während der 27 Minuten, die Johnson für die Lakers auf dem Feld war, produzierten die infizierten Zellen in seinem Körper rund 100 Millionen HI-Viren; 100 000 neue T-Helferzellen wurden mit dem Virus infiziert. Trotzdem hat die schleichend fortschreitende Infektion die Kondition und Wendigkeit des Top-Sportlers bisher nicht geschmälert. Noch strahlt er dieselbe Mischung von Kumpelhaftigkeit und Optimismus aus, die ihn vor Jahren zum Publikumsliebling machte. Aber wie lange noch? Aids-Forschung am Molekül-Modell*: Biochemische Maulsperre Das ist die Frage, die den E * Bei Hoffmann-La Roche; das Medikament Saquinavir (gelb) blockiert das HIV-Enzym Proteinase (rot/blau). ten vor allem den berühmtesten HIVPatienten der Welt an. Nach viereinhalb Jahren Spielpause kehrte er jetzt in die amerikanische Basketball-Liga zurück – ein Symbol der Hoffnung für weltweit 19 Millionen HIV-Infizierte. Mit seinem Comeback demonstriert Earvin Johnson, 36, wie er noch immer T. KERN / LOOKAT s waren zwei Minuten und 21 Sekunden gespielt, als Trainer Del Harris seiner Nummer 32 zunickte und sagte: „Let’s go!“ Kurz darauf täuschte Nummer 32 einen Paß an, ließ den übertölpelten Verteidiger der Golden State Warriors stehen, sprintete vorwärts, schubste den Ball über den Korbrand und tat damit der Welt kund: Earvin Johnson, genannt „The Magic“, ist wieder da. Das Publikum heulte auf. Doch der Jubel an diesem Dienstag vorletzter Woche galt nicht nur dem Superstar, der 19 Punkte und 8 Rebounds für die Los Angeles Lakers einheimste. Die 17 505 Zuschauer im Great Western Forum von Los Angeles feuer- Invasion gestoppt Wirkungsweise von Aids-Medikamenten Im ersten Schritt dockt das Virus an sein Opfer an. Nachdem das Virus in die Zelle eingedrungen ist, wird seine RNS von dem Enzym „Reverse Transkriptase“ in DNS umgeschrieben. Medikamente wie AZT, ddC, ddI und 3TC behindern dieses Enzym. Die Virus-DNS wird in das Erbgut der Wirtszelle eingebaut. Dort wird sie von der Zelle wieder in VirusRNS und sogenannte Boten-RNS übersetzt. Auf der Boten-RNS ist der Befehl zum Bau von Proteinen kodiert, aus denen sich neue HI-Viren zusammensetzen. Proteinase-Hemmer wie Saquinavir, Ritonavir und Indinavir verhindern, daß die Hüllproteine des Virus zurechtgeschnitten werden. T-HELFER-ZELLE ZELLKERN Integrierte Virus-DNS ZellkernDNS BotenRNS Proteine Virus-RNS Virus-DNS 154 DER SPIEGEL 7/1996 Virus-RNS Die Virus-Nachkommen knospen als fertige HI-Viren auf der Zelloberfläche. Knospung .. ALLSPORT und um einen Markt US-Basketball und damit konkurrieren, dessen die ganze amerikanische Volumen auf 3,6 MilliarNation bewegt. Wann den Dollar pro Jahr gewird Johnsons Immunsyschätzt wird. stem kapitulieren angeDie Produzenten der sichts der Dauerbelageneuen Hoffnungspillen rung durch das Virus? beeilen sich allerdings zu Wann wird HIV Johnbetonen, eine Heilung sons Kräfte zu schwäsei damit noch nicht in chen beginnen? Wann Sicht. Allenfalls könne wird er unter den ersten es gelingen, das Virus Durchfällen, den Fieberlänger als bisher in anfällen und AusschläSchach zu halten. gen leiden, die den BeAllzugut ist noch die ginn der Krankheit Aids ernüchternde Geschichte ankündigen? des Anti-Aids-Mittels Möglicherweise noch AZT in Erinnerung. sehr lange nicht. Das je1986, nur drei Jahre denfalls ist die hoffnachdem der Erreger nungsvolle Antwort, die HIV entdeckt worden zwei US-Firmen in eben war, schien die erste der Woche verkündeten, Pharmawaffe gegen die in der Johnson sein Seuche einsatzbereit. Comeback feierte. Sie attackiert das En„Es ist dramatisch: zym Reverse TranskripDie Patienten gewinnen tase und damit die veran Gewicht, sie gehen meintlich verwundbarste zurück zur Arbeit“, erStelle der Mikrobe, klärte André Pernet, gleichsam das Herzstück Chefentwickler einer der tückischen retroviraneuen Substanz beim len Strategie von HIV Chemiekonzern Abbott. (siehe Grafik Seite 154). Die Konkurrenten bei Doch nur wenige JahMerck gaben bekannt: re später trafen die „Wir haben die ZulasHiobsbotschaften aus sung eines neuen Mediden Kliniken ein: Zwar kaments beantragt, mit läßt sich mit AZT das gedem wir jeden Patienten schwächte Immunsystem in einen Langzeitüberder Patienten kurzzeitig lebenden verwandeln stabilisieren. Doch hefkönnten.“ tige Nebenwirkungen Aber nicht nur die zwingen oft zum AbHersteller der beiden bruch der Behandlung. neuen Präparate verbreiZudem bilden sich teten Hoffnungsparolen. Basketball-Star Johnson (r.) nach Comeback: Symbol der Hoffnung schnell HIV-Mutanten, Auch Norman Letvin, denen das Medikament nichts mehr anAids-Forscher an der Harvard Universinaten im Blut nicht mehr nachweishaben kann. Eine andauernde Eindämty, glaubt jetzt Medikamente zur Hand bar waren. mung der Virusvermehrung läßt sich zu haben, „die das Leben von HIV-Infii Eine weitere Studie belegte, daß die weder mit AZT noch mit seinen chemizierten um 10, 15 oder 20 Jahre verlänMenge der Viren im Blut tatsächlich schen Verwandten – den inzwischen gern könnten“. Und der Münchner ein guter Indikator für den weiteren ebenfalls erhältlichen Wirkstoffen ddC, Aids-Arzt Hans Jäger sieht bereits „den Verlauf der Infektion ist: Das SchickddI und 3TC – erreichen. Begriff ,Heilung‘ in diskutierbare Nähe sal von 181 HIV-positiven Patienten gerückt“. Deshalb bemühten sich die Molekuwurde fünf Jahre lang verfolgt. Nach Jahrelang hatten Enttäuschungen die laringenieure in den Entwicklungslabors dieser Zeit waren 65 Prozent derjeniAids-Forscher zermürbt. Jetzt verbreider Pharmaindustrie, andere Werkzeugen gestorben, bei denen am Anfang teten drei Studien unverhofften Optige des HI-Virus lahmzulegen. Vor allem der Studie mehr als 34 500 Viren pro mismus: die Proteinase schien dafür geeignet, eiMilliliter Blut gemessen worden wane molekulare Schere, mit deren Hilfe ren. Von denen, in deren Blut wenii Die Todesrate unter Aids-Patienten, sich das Virus seine Eiweißhülle zuger als 5000 Viren pro Milliliter gedie sieben Monate lang mit dem neurechtschneidert. Diese Schere wollten schwommen hatten, lebten noch alle. en Wirkstoff Ritonavir von der Firma die Forscher blockieren. Denn nackt, Damit sehen viele Ärzte nun eine Abbott behandelt wurden, sank auf ohne Hülle, ist das Virus unfähig, seine neue Ära der Aids-Behandlung anbredie Hälfte. Wirtszelle zu verlassen. HIV wäre damit chen. Die Milliarden, die in die Enti Das Konkurrenzprodukt Indinavir gleichsam zum Gefangenen seines Opwicklung wirksamerer Medikamente vom Pharmakonzern Merck reduzierfers gemacht. geflossen sind, beginnen sich auszuzahte, zusammen mit den bereits zugelaslen. In einem beispiellosen Wettlauf besenen Medikamenten AZT und 3TC gannen die Forscherteams in der PharBis zu einem Dutzend neuer Substanverabreicht, bei 24 von 26 Patienten maindustrie, Zehntausende von Subzen gegen Aids werden im Laufe des die Zahl der Viren so stark, daß die stanzen auf ihre Wirksamkeit als biochenächsten Jahres in die Kliniken drängen Erreger für die Dauer von sechs MoDER SPIEGEL 7/1996 155 WISSENSCHAFT Todesrate halbiert Hersteller Wirkung Neue Medikamente gegen Aids SAQUINAVIR RITONAVIR INDINAVIR Hoffmann-La Roche Abbott Merck Reduktion der Virusbelastung deutlich höher als bei den Reverse-Transskriptase-Hemmern mehr als 1000fache Reduktion der Virenbelastung in Kombination mit AZT und ddC bei 24 von 26 Patienten in Kombination mit AZT und 3TC Verminderung der Virusbelastung bis unterhalb der Nachweisgrenze bisher keine Daten über lebensverlängernde Wirkung Todesrate unter Patienten mit fortgeschrittenem Aids halbiert Nebenwirkungen Durchfall, Übelkeit; keine Organschäden Durchfall, Schwindel, Übelkeit; keine Organschäden bei zwei bis drei Prozent der Patienten Nierensteine Zulassung in den USA zugelassen am 7. 12. 1995 Zulassung beantragt am 21. 12. 1995; erwartet bis Sommer 1996 Zulassung beantragt am 31. 1. 1996; erwartet bis Sommer 1996 mische Maulsperre der Proteinase zu testen. Der Schweizer Pharmakonzern Hoffmann-La Roche war der erste, der im Dezember letzten Jahres von der USGesundheitsbehörde FDA die Zulassung für den Proteinasehemmer Saquinavir (Markenname: Invirase) bekam. Im Sommer dieses Jahres hoffen Abbott und Merck mit ihren womöglich noch wirksameren Präparaten nachziehen zu können. Die Genehmigung allerdings, das ist bereits abzusehen, wird auf vergleichsweise dürftigen Daten beruhen. Die Zahl der Patienten, an denen die neuen Medikamente getestet wurden, ist klein. Und vor allem die langfristige Wirkung ist bisher kaum erforscht. Allen Zweifeln zum Trotz drängen die einflußreichen Gruppen der AidsAktivisten in den USA auf eine schnelle Zulassung der neuen Hoffnungsträger. Bei einer unheilbaren Krankheit wie Aids, so ihr Argument, sei ungewöhnliche Eile geboten. So werden die Proteinasehemmer ihren Weg ins Standardarsenal der AidsÄrzte finden, längst ehe die Schlüsselfrage beantwortet ist, die allein über den langfristigen Erfolg entscheiden wird: Wann kommt es zu Resistenzen? „Das Aids-Virus ist das perfekte Beispiel Darwinscher Evolution“, erläutert Emilio Emini, Chefforscher bei Merck. Alle fünf Stunden werden im Körper eines Infizierten rund eine Milliarde HIViren gebildet. Und jedes von ihnen ist ein Unikat, das sich an irgendeiner Stelle seines Erbguts von allen anderen Viren unterscheidet. Dieser Variantenreichtum ist die gefährlichste Waffe des Erregers. Denn 156 DER SPIEGEL 7/1996 bisher keine Daten über lebensverlängernde Wirkung meist dauert es kaum mehr als einige Monate, bis sich irgendeine Mutante als immun gegen ein Medikament erweist. Innerhalb von Wochen kann dieses einzelne Virus milliardenfachen Nachwuchs hervorbringen, die Wirkung des Medikaments verpufft. „Deshalb ist jedes einzelne Präparat dazu verurteilt zu scheitern“, urteilt David Ho vom Aaron Diamonds Aids Research Center in New York. Nur eine Kombination verschiedener Stoffe könne zum Erfolg führen. „Wir kreisen das Virus sozusagen von verschiedenen Seiten her ein“, so umschreibt Abbott-Forscher Pernet die Strategie. Im chemischen Kreuzfeuer hoffen die Forscher die Wandlungslust des Virus im Keim zu ersticken. Die jetzt veröffentlichten Resultate sprechen dafür, daß das Kalkül aufgehen könnte. Wird das Virus gleichzeitig durch Blocker von Proteinase und Reverse Transkriptase torpediert, scheint es sich zumindest vier bis fünf Monate lang nicht zu erholen. Aids-Aktivisten und Kliniker sehen unterdes eine andere Gefahr voraus: Der Pharmamix gegen Aids wird teuer. Noch weigern sich Merck und Abbott, den Preis ihrer neuen Kreationen bekanntzugeben. Doch Schätzungen von 20 000 bis 40 000 Mark pro Jahr für eine Kombinationstherapie gelten als realistisch. Für die Millionen der in der Dritten Welt dahinsiechenden Aids-Patienten wird das ein unerschwinglicher Preis sein. Doch auch für die USA prognostiziert das Nachrichtenmagazin Time bereits eine paradoxe Entwicklung: „Je wirksamer die HIV-Behandlung wird, desto weniger Amerikaner werden davon profitieren.“