Biologie für Mediziner I Block I Gesund ist, was funktioniert – Grundlagen des Lebens II Inhaltsverzeichnis 1 Gesund ist, was funktioniert.................................1 1.1 Grundlagen der Evolution...........................................................2 1.1.1 Die Selektion...........................................................................3 1.1.2 Die Mutation............................................................................5 1.2 Wirkebene der Evolution............................................................6 1.3 Entwicklung als Weiterentwicklung.........................................7 1.4 Abbildungen..................................................................................8 1.5 Literatur......................................................................................... 8 1 1 Warum Leben funktioniert, wie es funktioniert Erarbeitungshilfen • Was ist eine Mutation und welche Bedeutung haben Mutationen für die Evolution? • Was ist Selektion und welche Bedeutung hat Selektion für die Evolution? • Definieren Sie die folgenden Begriffe und setzen Sie sie in Bezug zueinander: * Genom * Genotyp * Phänotyp • Was ist Evolution? Was ist ihre Wirkebene? • Erläutern Sie, welche Konsequenzen das frühzeitige Absetzen eines Antibiotikums haben kann. Beziehen Sie die vorgestellte Grafik mit ein. • Was ist mit dem Satz „Die Evolution geht immer von etwas Vorhandenem aus“ gemeint? • Wie hängen die Entwicklung hin zum Menschen und die Entstehung von Krankheiten, deren Anlagen vererbbar sind, zusammen? Kapitel 1 - Warum Leben funktioniert, wie es funktioniert 2 Sowohl Mediziner als auch Biologen beschäftigen sich mit dem Leben. Sie als angehende Mediziner wollen Leben erhalten und Lebensqualität verbessern. Biologen versuchen zu verstehen, wie Leben entstanden ist und wie es funktioniert. Schauen wir uns um, stellen wir fest, dass die Lebensformen, die Vielfalt uns der umgibt, nahezu unbegreiflich ist. Es wird uns nicht in jedem Fall direkt einleuchten, warum das Leben solche Blüten treibt. Wenn wir einen kritischen Blick auf den Menschen werfen, müssen wir feststellen, dass Abbildung 1.1: Vielfalt auch er mit Sicherheit in seiner Komplexität faszinierend, aber nicht in allen Bereichen sinnvoll konstruiert ist. Er ist ziemlich störanfällig, nicht unbegrenzt haltbar und macht manchmal seltsame Dinge. Tatsächlich ist das Verständnis dafür, wie die Vielfalt des Lebens entstehen konnte, auch die Grundlage dafür, die Schwächen des Menschen zu verstehen. Es liegt auf der Hand, dass Sie ein Grundverständnis der Funktion benötigen. Sie werden außerdem sehen, wie wichtig ein Einblick in die Entstehung des Lebens und die Entwicklung des Menschen für das Verständnis von Krankheiten, Altern und Tod ist. 1.1 Grundlagen der Evolution Alles Leben ist durch Evolution aus den Ursprüngen des Lebens entstanden. Die vielfältigen Hinweise und Beweise für diese Theorie würden für Sie zu weit führen. Wir wollen Ihnen hier nur die Grundlagen aufzeigen und dabei verdeutlichen, dass die Ursachen einer Reihe von Krankheiten auch ein Grundpfeiler der Evolution ist. Wichtig ist, dass dieser Grundsatz (mit wenigen Ausnahmen) allgemein anerkannt und für die Biologie grundlegend ist. Kapitel 1 - Warum Leben funktioniert, wie es funktioniert 3 Abbildung 1.2: Entwicklungen aus den im Embryo angelegten Kiemenbögen Biologisches Denken ist evolutives Denken. Das bedeutet, dass es ein Denken in Prozessen ist. Viele Zusammenhänge sind nur durch die Geschichte ihres Werdens verständlich. Ein Beispiel dafür ist die Anlage von Kiemenbögen in der Embryonalentwicklung des Menschen. → Abb. 1.1 Diese Anlagen entwickeln sich zu ganz anderen Strukturen als Kiemen – es ist daher nicht zu verstehen, warum sie zunächst als Kiemenbögen angelegt werden. Wenn man sich aber vor Augen führt, dass Mensch und Fisch gemeinsame Vorfahren haben, die Kiemen ausbildeten, wird klar, dass eine vorhandene Anlage mit einem anderen Zweck weiter benutzt wird. Dieses Denken in Prozessen kann es Ihnen ermöglichen, eine Reihe von Zusammenhängen in Bezug auf Krankheit, Altern und Tod zu verstehen. Wir möchten Ihnen daher die wesentlichen Elemente dieser Prozesse vorstellen. 1.1.1 Die Selektion Selektion ist die Auswahl einer Variante durch die Umwelt. Schauen wir uns ein Beispiel an, das Ihnen in der Hausarztpraxis begegnen kann. Ein Patient kommt mit einer bakteriellen Infektion in Ihre Praxis. Sie verschreiben ihm ein Antibiotikum, das er eine Woche lang einnehmen soll. Nach 10 Tagen kommt er wieder und klagt über Beschwerden, die mindestens ebenso schlimm sind wie zuvor. Es war ihm nach drei Tagen mit Antibiotikum besser gegangen. Er hat er das Medikament abgesetzt, und wenige Tage später zeigte er wieder Symptome. Sie verschreiben Ihrem Patienten das gleiche Antibiotikum noch einmal, aber die Symptome klingen nicht wieder ab. Die folgende Grafik → Abb. 1.3 zeigt in Tendenzen die besprochenen Kapitel 1 - Warum Leben funktioniert, wie es funktioniert 4 Abläufe. Sie berücksichtigt nicht, dass eine Resistenz auch – unabhängig vom Antibiotikum – die Bekämpfung durch das Immunsystem beeinflussen kann. Abbildung 1.3: Bakterienzahl und Symptom (Platzhaltergrafik!) Wenn Bakterien in einen Organismus eindringen und dort günstige Bedingungen vorfinden, können sie sich durch Zweiteilung schnell vermehren. Das Darmbakterium E. coli kann sich beispielsweise innerhalb von 20 Minuten verdoppeln. Das Immunsystem muss nach dem Eindringen eines Erregers erst aktiviert werden. Dies kann schnell gehen, wenn ein Organismus immun gegen den Eindringling ist, es kann aber auch länger dauern, wenn der Erreger für das Immunsystem unbekannt ist. In jedem Fall gibt es eine Verzögerung, bis das Immunsystem reagiert (siehe Kap. [...]). Die Schädigung des Organismus wird mit steigender Bakterienzahl größer, bis Symptome zu beobachten sind. In einigen Fällen kann das Immunsystem die Bakterien nicht schneller abwehren, als diese sich vermehren. In einem solchen Fall hilft ein Antibiotikum, das Bakterien abtötet oder ihre Vermehrung hemmt. Beide Faktoren – Immunsystem und Antibiotikum – können zusammen die Infektion überwinden. Die Symptome der Infektion lassen an einem Punkt nach, an dem noch Bakterien vorhanden sind – ihre Zahl wurde nur gesenkt. Wenn nun das Antibiotikum frühzeitig abgesetzt wird, kann es sein, dass das Immunsystem mit dem Rest der Bakterien nicht fertig wird, und diese sich wieder schnell vermehren. Die Symptome kehren zurück. Das leuchtet soweit ein – bemerkenswert ist aber, dass die gleiche Infektion Kapitel 1 - Warum Leben funktioniert, wie es funktioniert 5 dann unter Umständen nicht mehr mit dem gleichen Antibiotikum bekämpft werden kann. Die Bakterien, die Ihren Patienten infiziert haben, sind grundsätzlich anfällig für das Antibiotikum. Das hat das Abklingen der Symptome gezeigt. Die Bakterien sind aber nicht völlig gleich. Es kann sein, dass einige Bakterien vorhanden sind, bei denen durch eine Veränderung im Erbgut ein Faktor so geändert wurde, dass das Antibiotikum bei ihnen nicht wirkt (siehe Kap. [...]): Sie sind resistent. Es gibt erst einmal sehr wenige resistente Bakterien, die sich aber bei weiterer Antibiotikagabe besser vermehren können als die nicht resistenten. Das bedeutet, dass im Verhältnis immer mehr resistente Bakterien vorkommen. Wenn durch das Antibiotikum die Bakterienzahl niedrig genug gehalten wird, kann das Immunsystem damit fertig werden. Wird nun das Antibiotikum abgesetzt, können sich alle Bakterien wieder ungestört vermehren, aber das Verhältnis nicht resistenter zu resistenten Formen ist inzwischen so schlecht, dass die resistenten Bakterien sich viel schneller vermehren und selbst bei weiterer Antibiotikagabe ungehindert die Symptome verursachen können. Sie haben einen Grundpfeiler der Evolution beobachtet – die Selektion. Dies ist kein bewusster Prozess. Ausgewählt wird, was überleben bzw. sich vermehren kann. 1.1.2 Die Mutation Mutationen sind Änderungen im Erbgut. Abbildung 1.4: Beispiel für Evolution, die von Vorhandenem ausgeht Ausgewählt werden kann immer nur da, wo verschiedene Varianten im Angebot sind. Änderungen der Erbsubstanz können zu einer Änderung des Organismus führen. Solche Änderungen sind in der Natur immer zufällig. Innerhalb einer Art kann jeder Organismus sich im Laufe des Lebens Kapitel 1 - Warum Leben funktioniert, wie es funktioniert innerhalb eines 6 gegebenen Rahmens verändern. Sie können beispielsweise lernen, schneller zu rennen, aber Sie können bei aller Anstrengung nicht fliegen. Das, was Sie erreichen, hat dann erst einmal keine Auswirkung auf die Art. Die Entwicklung einer Art – unter Umständen sogar bis zu ihrer Trennung in zwei oder mehr Arten – kann nur dann erfolgen, wenn eine Änderung vererbt werden kann. Das können vor allem* Änderungen, die in den Nukleinsäuren auftreten. Die Grundlage vieler Krankheiten mit erblicher Veranlagung sind auf Mutationen zurückzuführen. Hier sind die Mutationen in den Keimzellen aufgetreten. Mutationen in Körperzellen werden zwar nicht an die folgende Generation weitergegeben, können aber gravierende Folgen für den betroffenen Organismus haben. Krebs ist ein wichtiges Beispiel für die Wirkung von Mutationen in Körperzellen (siehe Kap. [...]). Machen Sie sich aber bitte bewusst, dass dieser Faktor, der zu schweren Beeinträchtigungen führen kann, auch die Grundlage der Entwicklung des Menschen ist. 1.2 Wirkebene der Evolution Es ist wichtig zu unterscheiden, dass die Mutation zwar im Erbgut erfolgt, dass die Selektion sich aber auf den Organismus richtet. Wir unterscheiden zwischen Genotyp und Phänotyp. Der Genotyp ist die Gesamtheit der genetischen Ausstattung, der Phänotyp ist die Realisierung der genetischen Informationen im Organismus unter Einfluss der Umwelt. Das bedeutet, dass im Genom eine Art Bauanleitung vorliegt, die umgesetzt wird. Am Phänotyp können Sie Merkmale erkennen, für die Sie im Genotyp Anlagen finden. Resistenzen sind auf der Ebene eines Bakteriums ebenso Merkmale wie die Haarfarbe für den Menschen. Die Gesamtheit der Anlagen im Chromosom bzw. in den Chromosomen eines Organismus wird als Genom bezeichnet. Jede Zelle hat ein Genom. Bei Vielzellern wie dem Menschen sind alle Zellen ursprünglich aus einer Zelle hervorgegangen und haben somit prinzipiell das gleiche Genom. Schauen wir noch einmal auf unser Praxis-Beispiel: Wenn der * Bis vor kurzem hätten wir uns das „vor allem“ sparen können. Es war allgemein anerkannt, dass vererbbare Veränderungen ausschließlich Änderungen der Nukleinsäuren sind. Das kann Ihnen auch weiterhin als Grundsatz dienen. Sie müssen sich aber bewusst sein, dass dieser Gedanke nach neueren Erkenntnissen zu kurz greift – wir kommen darauf zurück. Kapitel 1 - Warum Leben funktioniert, wie es funktioniert Umweltfaktor 7 „Antibiotikagabe“ die Bakterien mit der Merkmalsausprägung „Resistent“ begünstigt hat, dann werden gleichzeitig alle andere Merkmale und damit alle anderen Anlagen dieses Bakteriums mit begünstigt – das kann bedeuten, dass sich ein Bakterium besonders gut entwickelt, das unter anderen Bedingungen einen erheblichen Nachteil gegenüber seinen „Kollegen“ hatte. Artbegriff Mit dem Begriff „Art“ benutzen wir wohl einen der heute am meisten umstrittenen Begriffe in der Biologie. Sie alle haben eine Vorstellung davon, was eine Art ist, und es gelingt Ihnen mühelos zu sagen, dass es sich bei Schimpansen um eine andere Art als bei Menschen handelt. Tatsächlich ist diese Bestimmung nicht immer so einfach. Lange Zeit galt als Bedingung dafür, dass Organismen zu einer Art gehören, dass sie fruchtbare Nachkommen hervorbringen können. So können sich Pferd und Esel zwar paaren und auch Nachkommen haben, diese wiederum können aber keine Nachkommen hervorbringen. Wir können und wollen an dieser Stelle nicht darauf eingehen, warum der Artbegriff in dieser Weise heute keinen Bestand mehr hat und warum wir Ihnen keine allgemeingültige Definition anbieten können. Wir werden den Begriff in der Form verwenden, dass alle Organismen zu einer Art gehören, die einen gemeinsamen Genpool haben. Das bedeutet, dass sie alle über die gleiche Grundausstattung von Genen verfügen und diese auch an die nachfolgende Generation weitergeben. Wenn dann beispielsweise in einem Bienenstock die Arbeiterbienen ihre Königin, die alleine für den Nachwuchs zuständig ist, versorgen, so verfügt die Königin über die gleiche Genausstattung. Die Arbeiterin selbst kann diesen Bestand sichern, indem sie sich nicht selbst fortpflanzt, sondern die Fortpflanzung der Königin unterstützt. Abbildung 1.5: Selektionsdruck Antibiotikagabe Die Auswahl durch die Umwelt ist keine wohlüberlegte Abwägung von Vor- und Nachteilen, sondern eine reine Wirkung von Überlebensfähigkeit. „Überlebensfähigkeit“ meint im evolutiven Kontext weniger das Überleben eines Organismus selbst, sondern vielmehr, dass er sein Erbgut an die Folgegeneration weitergibt. Dieser Gedanke ist vermutlich gerade für Sie als angehende Ärzte etwas befremdlich, da es Ihnen natürlich vor allem um das Wohl des Menschen, der vor ihnen sitzt, geht und weniger darum, dass er sich erfolgreich reproduziert. Im Sinne der Evolution zählt aber nur genau das. Dies sehen Sie auch daran, dass die meisten Alterungserscheinungen des Menschen nach seiner reproduktiven Phase einsetzen. Die Evolution unterstützt nicht den Erhalt des Organismus nach der Reproduktion. Wir müssen sogar noch einen Schritt weiter gehen. Im Sinne der Evolution geht es nicht nur darum, ob ein Organismus seine Erbanlagen weitergeben kann oder nicht, sondern darum, ob eine Art überlebt oder nicht. 1.3 Entwicklung als Weiterentwicklung Greifen wir noch einmal den Gedanken auf, dass die Evolution immer von etwas Vorhandenem ausgeht. Würden Sie einem Ingenieur die Aufgabe übertragen, einen Menschen zu entwickeln, so würde er sich Gedanken darüber machen, welchen Anforderungen dieser Mensch Kapitel 1 - Warum Leben funktioniert, wie es funktioniert 8 gerecht werden muss, und würde versuchen, ihn dafür zu optimieren. In der Evolution läuft das anders. Die Entwicklung ist nicht auf ein Ziel hin ausgerichtet. Es ist immer das gleiche Wechselspiel zwischen Mutation und Selektion.* Sie werden als Ärzte selbst in diesen Prozess eingreifen und die natürliche Härte, die ihm innewohnt, mildern können. So kann beispielsweise ein Kind, dass in früheren Zeiten eine schwere geistige Behinderung gehabt hätte, weil es unter Phenylketonurie leidet, heute relativ unbeeinträchtigt leben, weil Ärzte die Krankheit direkt nach der Geburt erkennen und Gegenmaßnahmen veranlassen können. 1.4 Abbildungen Abbildung 1.1: Vielfalt (Quelle: http://www.iflscience.com/plants-andanimals/strangest-animals-youve-never-heard)........................................................2 Abbildung 1.2: Entwicklungen aus den im Embryo angelegten Kiemenbögen (Quelle: [2])............................................................................................................................3 Abbildung 1.3: Bakterienzahl und Symptom (Platzhaltergrafik!)...........................4 Abbildung 1.4: Beispiel für Evolution, die von Vorhandenem ausgeht (Quelle: [6])............................................................................................................................................5 Abbildung 1.5: Selektionsdruck Antibiotikagabe.........................................................7 1.5 Literatur [1] Zellbiologie; Helmut Plattner, Joachim Hentschel; Thieme 2006 [2] Biologie und molekulare Medizin; Monika Hirsch-Kauffmann, Manfred Schweiger, Michal-Ruth Schweiger; Thieme 2009 [3] Genetik, Graw, Springer 2010 [4] Basiswissen Humangenetik; Christian P. Schaaf, Johannes Zschocke; 2012 [5] Lernen, Manfred Spitzer, Spektrum 2007 [6] Biologie. Der neue Cambell, Anselm Kratochwil, Renate Scheibe, Hemut Wieczorek und Neil A. Campbell; Pearson 2009 [7] Brock Mikrobiologie; Micchael T.Madigan, John M.Martinko, David A. Stahl, David P. Clark; Pearson Studium-Biologie; 2013 [8] Molekularbiologie; James D. Watson; 2011 [9] Innere Medizin, Classen, Diehl, Kochsiek 2009 [10] Genetik, Wilfried Janning, Elisabeth Knust; 2008 [11] Gentechnik – Biotechnik; Theodor Dingermann, Ilse Zündorf, Thomas Winckler, Hans-Christian Mahler; Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft 2010 * Spannend ist allerdings, dass Menschen heute vieles daran setzen, Techniken aus der Natur zu kopieren – es gibt hierzu einen ganzen Wissenschaftszweig – die Bionik. Der Entwicklungsprozess der Natur kann dem der Menschen durchaus überlegen sein.