Familiäre Amyotrophe Lateralsklerose Typ 1 (Charcot’sche Erkrankung; Superoxid Dismutase 1, FALS1) MIM 105400 Klinik Die Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) ist eine progressive degenerative Erkrankung der zentralen und peripheren Motoneurone des Kortex, des Hirnstamms und des Rückenmarks mit resultierenden Lähmungserscheinungen. Die Inzidenz ist mit 0,5-2 Neuerkrankungen pro 100.000 Einwohner hoch. Patienten mit ALS zeigen Muskelschwäche, Muskelatrophien und Faszikulationen; die Erkrankung führt innerhalb von etwa 5 Jahren nach Beginn der Symptome unweigerlich zum Tode i.d.R. durch Versagen der Atemmuskulatur oder durch Aspirationspneumonie. Familiäre Fälle und sporadische Fälle sind klinisch kaum zu unterscheiden. Lediglich der Erkrankungsbeginn scheint bei familiären Fällen früher zu liegen und die Zeit bis zum Versterben scheint kürzer zu sein. Genetik Etwa 10-20% der Fälle von ALS kommen familiär vor. Wiederum etwa 20% dieser Fälle sind auf Mutationen in dem Gen der SuperoxidDismutase 1 (SOD1) zurückzuführen. Diese Form wurde FALS1 genannt (familiäre ALS Typ 1) und folgt einem autosomal dominanten Erbgang. Aufgrund des Vererbungsmodus besteht für jeden Nachkommen eines FALS1-Betroffenen ein 50%iges Risiko, die Mutation zu erben. Die Penetranz hängt vom Alter der Genträger ab; sie beträgt 80% im Alter von 85 Jahren. Das Auftreten von spontanen Neumutationen, d.h. in Familien ohne betroffene Mitglieder, wurde in einigen Fällen ebenfalls beobachtet. Die beobachteten Mutationen sind in der überwiegenden Mehrzahl einzelne Basenaustausche und verändern die Aminosäuresequenz des Proteins. Daneben wurden Mutationen in dem Alsin-Gen in 2q33 bei der autosomal rezessiven FALS2 nachgewiesen. Wie häufig diese Mutationen in Mitteleuropa sind, ist noch unbekannt, daher wird die FALS2 nicht routinemäßig untersucht. Bei den anderen Formen der familiären ALS wurde bislang noch kein Gendefekt identifiziert. Statistisch signifikante Kopplungen nach 15q (FALS5) bei juvenilen, autosomal rezessiven Formen und nach 9q34 bei einer anderen, autosomal dominanten Form (FALS4) wurden beschrieben. Für die ebenfalls autosomal dominante FALS3 ist noch keine statistisch signifikante Kopplung gelungen. Eine routinemäßige genetische Analyse ist damit nur bei der FALS1 mit positiver Familienanamnese und dominantem Erbgang anzuraten. Pathophysiologie Die Pathophysiologie der FALS1 ist nur teilweise bekannt. SOD1 ist ein zytosolisches Enzym, das freie Radikale beseitigt, indem es Superoxid (O2¯ ) + und Wasserstoff (2H ) zu Sauerstoff (O2) und Wasserstoffperoxid (H2O2) dismutiert (siehe Abb. 1). Das letztgenannte Molekül wird anschließend durch Katalase oder Glutathion-Peroxidase zu Wasser umgewandelt. Die heutige Auffassung geht von folgendem Mechanismus der Pathogenese aus: Das mutierte SOD1-Enzym nimmt eine Konformation ein, die ihm eine neuartige, toxische Funktion verleiht (”gain-of-function”). Auf diese Weise können auch andere Moleküle ein von der SOD1 umgewandelt werden, und Oxidationen wie z.B. die von Wasserstoffperoxid werden dadurch möglich. Als Produkte dieser neuen enzymatischen Funktion entstehen auch toxische freie Radikale. Ob die bei ALS-Patienten beobachtete Verminderung der SOD-Aktivität auch eine Rolle bei der Krankheitsentstehung spielt, ist zur Zeit noch unklar. Genetisch manipulierte Mäuse ohne SOD1 zeigen jedenfalls keine ALS-ähnlichen Symptome, während Mäuse, die mutiertes SOD1 überexprimieren, eine Degeneration der Motoneurone aufweisen. Indikationen Der Nachweis kann bei positiver Familienanamnse mit dominantem Erbgang bei Personen mit neurologischen Auffälligkeiten sinvoll sein (Differentialdiagnostik). Daneben besteht die Möglichkeit, Risikopersonen mit betroffenen Verwandten vor dem Auftreten von Symptomen zu testen (prädiktive Diagnostik). Dabei ist es sinnvoll, die Diagnostik zunächst bei den Betroffenen durchzuführen. In diesen Fällen ist eine genetische Beratung anzuraten. Weiterhin kann auch eine pränatale Diagnostik aus Fruchtwasserzellen oder aus Chorionzotten durchgeführt werden, wenn die Mutation bei einem Betroffenen in der Familie bekannt sind. Diagnostik Der Mutationsnachweis erfolgt durch das Sequenzieren des kodierenden Bereichs aller 5 Exons des SOD1-Gens. Dazu werden die genomischen Abschnitte zunächst mittels PolymeraseKettenreaktion (PCR) amplifiziert und anschließend direkt sequenziert. Untersuchungsmaterial • 5 ml EDTA-Vollblut (Versand durch Post oder Boten) Dauer der Untersuchung 3 Wochen Literatur Chance, P. F., Rabin, B. A., Ryan, S. G., et al. 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