MANAGEMENT OF NEUROMUSCULAR DISEASES LETTER NR. 34 Genetik der Amyotrophen Lateralsklerose Thomas Meyer Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) Die Mehrheit der ALS-Patienten zeigt keine Familienanamnese einer ALS (1). Weniger als 10 % der ALS-Betroffenen leiden an einer familiären ALS (FALS), die sich mit der Erkrankung weiterer Familienmitglieder darstellt. Die Diagnose einer FALS ergibt sich aus einer detaillierten Familienanamnese, die eine ALS bei mindestens 2 Familienmitgliedern erbringt. Der Erbgang der familiären ALS (FALS) ist mehrheitlich autosomal-dominant. In diesem Fall erleiden etwa 50 % der Familienmitglieder eine ALS und das Vererbungsrisiko beträgt ebenfalls etwa 50%. In seltenen Fällen kann eine autosomal-rezessive FALS vorliegen, die ein geringeres Vererbungsrisiko aufweist. Die genaue Häufigkeit der FALS ist unbekannt, da mehrere Faktoren die Heredität der ALS maskieren können: eine unvollständige Dokumentation des Stammbaums, frühe Todesfälle von Genüberträgern vor Manifestation der ALS sowie Fehldiagnosen einer ALS. Epidemiologische Studien haben eine Häufigkeit der FALS in Europa zwischen 1–14% gezeigt; für Deutschland liegen keine gesicherten Angaben hierzu vor, da bisher kein nationales ALS-Register etabliert ist. Die FALS ist von der sporadischen ALS klinisch und neuropathologisch nicht zu differenzieren (2; 3). Das Erkrankungsalter ist bei der FALS 10-14 Jahre früher als bei der sporadischen ALS. Möglich ist eine erhebliche intrafamiliäre Variabilität des Erkrankungsalters von 15-25 Jahren. Dabei ist möglich, dass die Nachkommengeneration früher erkrankt als die betroffene Elterngeneration. In der Erfahrung des Autors liegt eine FALS-Familie, in der eine Mutter und ihre 43-jährige Tochter zeitgleich erkrankt sind. Als Ursache der erheblichen intrafamiliären Variabilität von Erkrankungsbeginn und Progression sind der Einfluss krankheitsmodifizierender 2 3 Gene und bisher unbekannter exogener Faktoren zu diskutieren (4). Die Mehrheit der Familien mit autosomal-dominanter FALS zeigt eine sehr hohe oder komplette Penetranz einer ALS bis zum 70. Lebensjahr. Bei FALS-Familien mit hoher Penetranz ist von einem hohen Erkrankungsrisiko bei 50% der Nachkommen auszugehen. Bei Familien ohne den typischen Erbgang einer autosomal-dominanten FALS ist eine genetische Konsultation zum Vererbungsrisiko nur eingeschränkt möglich. Bei Familien mit geringer Penetranz ist eine genetische Konsultation zum Vererbungsrisiko auch nur eingeschränkt möglich. In Vorbereitung auf eine humangenetische Beratung ist die Ermittlung eines Stammbaums für mindestens 4 Generationen mit Einbeziehung der Urgroßeltern der Indexpatienten angezeigt. Dabei ist die Todesur- Abbildung 1: Räumliche Struktur der Superoxiddismutase 1 (SOD1) Modelldarstellung des SOD1- Proteins, das Mutationen bei einer Untergruppe von Patienten mit familiärer ALS aufweist. sache für alle Familienmitglieder der erfassten Generationen zu ermitteln und kritisch zu hinterfragen. Nur in dem optimalen Fall eines vollständigen Stammbaums ist bei einer reduzierten FALS-Penetranz eine genauere Risikoabschätzung möglich. Erfahrungsgemäß sind die familienanamnestischen Daten inkomplett, so dass nur eine allgemeine Aussage zu treffen ist: Das Erkrankungsrisiko bei Familien mit inkompletter Penetranz ist geringer als 50 %, jedoch höher als das ALS-Risiko (1:1000) der Normalbevölkerung (1). Im Arzt-Patienten-Gespräch ist positiv darauf hinzuweisen, dass die Mehrheit der Familienmitglieder im höheren Lebensalter und an anderen Todesursachen verstorben ist. Bei der Betroffenheit eines Familienmitgliedes und einer zuverlässigen Information über mindestens 3 Generationen ohne Hinweis auf ein weiteres Familienmitglied mit einer ALS ist von einer sporadischen ALS auszugehen. In diesem Fall ist für die Nachkommen das ALS-Risiko der Gesamtbevölkerung zugrunde zu legen. Eine häufige Frage an Patienten und Familienangehörige betrifft die Möglichkeit einer genetischen Untersuchung zur Risikoabschätzung einer ALS. Die Option einer molekulargenetischen Diagnostik steht nur im Einzelfall zur Verfügung. Seit 1993 ist die Superoxiddismutase 1 (SOD1) als Ursachengen bei 1520 % der FALS-Familien bekannt (3). Bei Vorliegen einer autosomal-dominanten FALS ist eine SOD1-Mutationsanalyse möglich. Bereits im Vorfeld der SOD1-Dia- gnostik ist jedoch darauf hinzuweisen, dass mehr als 80 % der FALS-Fälle durch bisher unbekannte Gene verursacht und durch das SOD1-Screening nicht erfasst werden. Das negative Untersuchungsergebnis einer SOD1-Mutationsanalyse ist daher kein Diagnostikkriterium zur Unterscheidung einer FALS von einer sporadischen ALS. Mit Vorliegen mehrerer ALSErkrankungsfälle in einer Familie ist trotz negativer SOD1-Untersuchung von einer FALS auszugehen, deren genetische Ursache bisher unbekannt ist. Im seltenen Fall eines Mutationsnachweises im SOD1-Gen eines betroffenen FALS-Patienten ist die Diagnose einer SOD1-assoziierten FALS zu stellen. Gleichzeitig steht eine prädiktive Diagnostik für asymptomatische Familienmitglieder zur Verfügung. Sie steht im Spannungsfeld einer belastenden Information über einen positiven Genträgerstatus und der emotionalen Entlastung bei Ausschluss der SOD1-Mutation. Die Entscheidung über eine prädiktive SOD1-Diagnostik erfolgt nach einer zweimaligen Konsultation durch einen Facharzt für Humangenetik nach den Richtlinien der Humangenetischen Fachgesellschaft. Eine prädiktive Diagnostik ist nur bei direkten Nachkommen und Geschwistern von Indexpatienten angezeigt. Bei weiteren Familienmitgliedern oder bei FALS-Familien mit geringer Krankheitspenetranz ist eine prädiktive Diagnostik zu vermeiden. Vor der Diagnostik ist darauf aufmerksam zu machen, dass eine molekulargenetische Untersuchung ausschließlich Informationscharakter trägt und keine präventive Diagnostik beinhaltet. Bei Genträgern einer SOD1-Mutation ist eine prophylaktische Riluzol-Medikation nicht angezeigt, da eine präsymptomatische Wirksamkeit von Riluzol bisher nicht gesichert und die Arzneimittelsicherheit für eine Langzeitbehandlung nicht ermittelt wurde. SOD1-Mutationen Im Jahr 1993 wurden erstmals Mutationen im Gen der Superoxiddismutase 1 (SOD1) bei mehreren FALS-Familien nachgewiesen (2; 3), (Abb. 1). Das SOD1-Gen ist für 15-20 % der FALS-Patienten verantwortlich und als Krankheitsursache für 1-2 % aller ALS-Patienten anzusehen. Mehr als 120 SOD1-Mutationen wurden mit der FALS assoziiert (http: //www.also.org). Grundsätzlich sind Patienten mit einer SOD1-assoziierten FALS von anderen FALS-Fällen ohne SOD1-Mutation oder von einer sporadischen ALS nicht zu unterscheiden. Der klinische Phänotyp ist bei SOD1-Genträgern sehr variabel (5). Nur für ausgewählte Mutationen konnte eine starke Genotyp-Phänotyp-Korrelation identifiziert werden. Die Mutation SOD1-A4VMutation ist mit einer besonders hohen Progressionsrate assoziiert, die typischerweise im Verlauf von < 18 Monaten zum Tode führt. Diese Mutation wurde in der nordamerikanischen Population bei > 50 % der SOD1-assoziierten Patienten identifiziert, während die genetische Variante in 4 5 Deutschland selten nachweisbar ist. Gleichzeitig sind andere SOD1-Mutationen bekannt, die zu einer geringen Krankheitsprogression mit einem Langzeitüberleben von > 15 Jahren führen (SOD1-H46R). Die phänotypische Variabilität hinsichtlich Erkrankungsalter, Schweregrad und Progressionsrate ist nicht ausschließlich durch die SOD1-Mutation zu erklären. Bereits innerhalb einer FALS-Familie mit einer identischen SOD1-Mutation sind erhebliche Unterschiede im ALS-Schweregrad nachweisbar, so dass der Einfluss modifizierender Gene und exogener Faktoren anzunehmen ist. Paradigmatisch ist die Mutation SOD1-D90A zu nennen, die in Deutschland bereits im heterozygoten Genträgerstatus zu einer aggressiven Form der ALS führt, während die heterozygote SOD1-D90A-Mutation in Nordskandinavien nicht die klinische Manifestation der FALS zur Folge hat; erst bei einer homozygoten SOD1-D90A-Mutation kommt es in der schwedischen Population zur Entwicklung einer ALS, die eine geringe Progressionsrate und einen atypischen Phänotyp aufweist. Diese Beobachtung weist darauf hin, dass durch bisher unbekannte modifizierende Gene der klinische Phänotyp verändert oder verhindert werden kann. Die molekulargenetischen Mechanismen der Modifizierung des ALSPhänotyps sind noch unbekannt, jedoch für die zukünftige Entwicklung therapeutischer Strategien von großem Interesse. Wissenschaftlicher Erkenntnisgewinn durch SOD1-Mutation Die SOD1 ist ein evolutionär hochkonserviertes Protein, das in eukaryotischen Zellen ubiquitär exprimiert wird und etwa 1 % des Gesamtproteins im Zytosol aus- Tabelle 1: Ursachengene und vermutliche Genorte der familiären ALS AD – autosomal-dominant; AR – autosomal-rezessiv; X – x-chromosomal Typ ALS1 ALS2 ALS3 ALS4 ALS5 ALS6 ALS7 ALS8 ALSX ALS-FTD ALS-FTD Phänotyp ALS JALS ALS JALS ALS ALS PMA ALS ALS ALS-FTD ALS-FTD Modus AD/AR AR AD AD AR AD AD AD X AD AD Locus 21q22 2q33 18q21 9q43 15q15 16q12.1 20ptel 20q13 Xp11 9q21 17q21 Genprodukt SOD1 Alsin ? Senataxin ? ? VAPT ? ? ? MAPT macht. Gemeinsam mit zwei weiteren Superoxiddismutasen ist die SOD1 an der Detoxifizierung von freien Sauerstoffradikalen beteiligt, die durch die mitochondriale Atmungskette und andere biochemische Prozesse entstehen. Der Pathomechanismus der SOD1-Mutationen wird über einen negativ-dominanten Effekt realisiert. Zahlreiche SOD1-Mutationen bleiben ohne Wirkung auf die Enzymaktivität, so dass ein Funktionsverlust des SOD1Proteins als Ursache der SOD1-assoziierten FALS nicht anzunehmen ist. SOD1Mutationen führen zu einem toxischen Effekt, der zu einer Degeneration motorischer Neurone führt (6). Das Konzept einer negativ-dominanten Wirkung von SOD1Mutationen (gain of function) wird durch verschiedene transgene Mausmodelle unterstützt, in denen humane SOD1-Mutationen exprimiert wurden (7; 8). Die Überexpression von mutierter SOD1 führt zu klinischen und histopathologischen Merkmalen einer Motoneuronendegeneration im Mausmodell. Die gentechnische Ausschaltung des SOD1-Gens der Maus bedingt keinen Phänotyp einer Motoneuronenerkrankung. Damit wird die toxische Hypothese von negativ-dominanten SOD1-Mutationen im Mausmodell erhärtet. Weiterhin zeigen die Ergebnisse komplexer gentechnischer Mausmodelle, dass bei einer isolierten Expression von SOD1Mutanten in motorischen Neuronen ein geringgradiger Phänotyp ausgebildet wird. Erst bei einer zusätzlichen Expressi- Abbildung 2: Mutationen im Alsin-Gen Schematische Darstellung des Alsin-Gens, das in einer regulären und einer verkürzten Form abgelesen wird (kurze und lange Spleißform von ALS2). Pfeile markieren die bekannten Mutationen. on von mutierten SOD1-Proteinen in den astroglialen Zellen kommt es zur Ausbildung des kompletten Phänotyps. Diese Beobachtung zeigt, dass an der Pathogenese der SOD1-assoziierten ALS astrogliale Zellen wesentlich beteiligt sind (9). Die pathogenetischen Mechanismen der SOD1-Mutationen sind bisher unverstanden; derzeitige Hypothesen gehen von einer mitochondrialen Dysfunktion, einer Exzitotoxizität, Inflammation oder einer aberranten Proteinaggregation aus. Ursachengene der juvenilen FALS Im Jahr 2001 wurde erstmalig ein Ursachengen der juvenilen ALS (JALS) identi- 6 7 fiziert (10; 11), (Tab. 1). Mutationen im Alsin-Gen führten in ausgewählten nordafrikanischen und arabischen Familien zu einer rezessiven FALS oder einer hereditären spastischen Paraparese (HSP). Für das Alsin-Gen sind zwei alternativ gespleißte Transkripte bekannt. Initial wurden homozygote Mutationen mit Affektion beider Transkripte mit einer JALS assoziiert, während heterozygote Mutationen der Langform des Alsin-Transkriptes mit der HSP verbunden wurden (Abb. 2). Diese Genotyp-Phänotyp-Beziehung konnte in späteren Untersuchungen nicht aufrechterhalten werden, so dass der molekulare Mechanismus der phänotypischen Variabilität von JALS und HSP noch unverstanden ist. Das Alsin-Protein ist an der zellulären Organisation des Vesikel-Transportes und an der Regulation des Zytoskeletts beteiligt. Die Relevanz des Alsin-Gens für die Ätiologie der FALS in Europa ist noch unbekannt. Bisherige populationsgenetische Untersuchungen machen unwahrscheinlich, dass genetische Varianten im Alsin-Gen für das Ursachengefüge der FALS von großer Bedeutung sind. Aufgrund der phänotypischen Unterschiede der Alsin-assoziierten JALS und der geringen Mutationsfrequenz ist eine molekulargenetische Untersuchung des Alsin-Gens bei mitteleuropäischen FALS-Familien nicht angezeigt. Im Jahr 2004 konnte das Senataxin-Gen (SETX) in drei unterschiedlichen Familien einer JALS in den USA, Belgien und Öster- reich nachgewiesen werden. Das SETXGen führt zur Proteinfamilie der DNA-RNAHelicasen, die an der RNA-Prozessierung beteiligt sind. Die Relevanz des SETXGens für die adulte FALS oder die sporadische ALS ist noch nicht aufgeklärt (12). FALS mit fronto-temporaler Demenz (FTD) In 2-5 % der ALS besteht eine syndromatische Einheit mit einer fronto-temporalen Demenz. Im Jahr 2000 konnte der Genort einer autosomal-dominaten FALS mit FTD auf Chromosom 9q21 lokalisiert werden (13). Das Genprodukt konnte bisher noch nicht identifiziert werden. Eine Motoneuronendegeneration ist in seltenen Fällen syndromatischer Bestandteil einer komplexen neurodegenerativen Erkrankung mit FTD und Parkinson-Syndrom. In wenigen Familien dieses Phänotyps konnten Mutationen im Mikroglobuli-assoziierten Protein Tau (MAPT) identifiziert werden. MAPT ist Bestandteil einer Proteinfamilie, die eine grundsätzliche Bedeutung für die Stabilisierung von Mikroglobuli und die Regulation des axonalen Transports von Vesikeln und Organellen neuronaler Zellen aufweist. Das MAPT-Gen ist wahrscheinlich für eine geringe Zahl der ALS-FTD verantwortlich. Sporadische ALS Die Ätiologie und Pathogenese der sporadischen ALS sind weitgehend unverstanden. Genetische Faktoren sind im Ursachengefüge der ALS anzunehmen. Zahlreiche Untersuchungen haben eine Assoziati- on zwischen Varianten spezifischer Gene mit der sporadischen ALS beschrieben. Bei der ALS ist von einer komplexen genetischen Erkrankung auszugehen, bei der eine große Anzahl von Genen beteiligt ist, die eine sehr geringe Penetranz aufweisen. Neben der genetischen Heterogenität ist der Einfluss von exogenen Faktoren zu diskutieren, die in Wechselwirkung mit dem Genotyp zur ALS-Prädisposition beitragen. FALS und sporadische ALS sind klinisch nicht zu differenzieren. Nach dem Nachweis von SOD1-Mutationen bei der FALS wurden Mutationsanalysen bei ALS-Patienten ohne positive Familienanamnese durchgeführt. Die Inzidenz von SOD1-Mutationen variiert in unterschiedlichen Studien zwischen 1-7 %. Die SOD1-Mutanten bei der sporadischen ALS haben keine genotypischen Besonderheiten und wurden zum Teil auch bei FALSPatienten identifiziert (14). SOD1-Mutationsträger sind von anderen ALS-Patienten klinisch nicht zu differenzieren. Das mittlere Erkrankungsalter von SOD1-mutierten Patienten beträgt 41,4 Jahre, das etwa 10 Jahre vor dem Erkrankungsbeginn anderer ALS-Patienten liegt (15; 16). Ein de-novoCharakter der SOD1-Mutation kann angenommen werden, wenn eine SOD1-Mutation in der Elterngeneration ausgeschlossen ist. Genetische Familienstudien von sporadischen ALS-Patienten mit SOD1-Mutationen liegen bisher nicht in systematischer Weise vor. Ein weiteres Erklärungsmodell für SOD1-Mutationen bei der "sporadi- schen ALS" ist das tatsächliche Vorliegen einer FALS mit geringer Penetranz oder inkompletten familienanamnestischen Informationen, so dass der hereditäre Charakter der ALS nicht erkennbar wird. In beiden hypothetischen Fällen, der de-novoSOD1-Mutation oder einer vorbestehenden FALS mit reduzierter Penetranz, ist eine humangenetische Beratung nur mit großen Einschränkungen möglich. Bei denovo-Mutationen ist grundsätzlich eine hohe Penetranz und ein großes Erkrankungsrisiko für Genträger in der nachkommenden Generation anzunehmen. Davon verschieden ist das Erkrankungsrisiko bei einer SOD1-Mutation die bereits bei der Abbildung 3: Neurofilamentablagerung Mikroskopische Darstellung eines motorischen Neurons, in dem sich aberrante Neurofilament-Aggregate abgelagert haben. NeurofilamentAkkumulationen in motorischen Nervenzellen gelten als ein morphologisches Merkmal der ALS. 8 9 Elterngeneration nachweisbar ist, jedoch asymptomatisch blieb. In diesem Fall ist von einer FALS mit reduzierter Penetranz auszugehen. Damit ist von einer breiten Variabilität des Erkrankungsrisikos von etwa 50 % bis zum ALS-Risiko der Normalpopulation zu sprechen. Aufgrund der komplexen Beratungssituation ist von einem SOD1-Screening von sporadischen ALS-Patienten außerhalb kontrollierter Studien abzuraten. Abbildung 4: Chromosomenaberrationen bei der ALS Mikroskopische Darstellung von konstitutionellen Chromosomenaberrationen. Nachweis von balancierten Translokationen t(4;19), t(4;20) und t(18;21) sowie von perizentrischen Inversionen inv(12) und inv(X). Die aberrante Akkumulation von Neurofilamenten ist ein pathoanatomisches Merkmal der ALS (Abb. 3). Bisher ist unbekannt, ob dem morphologischen Charakteristikum der ALS eine pathogenetische Bedeutung zukommt (14). Neurofilamente sind an der zellulären Struktur und Organisation des axonalen Transports beteiligt, der eine essentielle Bedeutung für die reguläre Funktion der Nervenzelle aufweist. Aufgrund ihrer wichtigen physiologischen Eigenschaften wurden die Neurofilamente zu intensiv untersuchten Kandidatengenen der ALS. Tatsächlich konnten in Einzelfällen von sporadischen Patienten genetische Varianten im NF-H-Gen identifiziert werden, die als genetische Risikofaktoren der sporadischen ALS diskutiert werden (17; 18). Diese Hypothese wird von Ergebnissen in verschiedenen genetischen Mausmodellen unterstützt, die ebenfalls eine histologische Neurofilament-Akkumulation aufwiesen (19). Zu vermuten ist eine Störung des subtilen Gleichgewichts zwischen dem antero- und retrograden axonalen Transport, das durch unterschiedliche NeurofilamentGene reguliert wird. Das Survival Motoneuron (SMN-Gen) ist mit Vorliegen homozygoter Mutationen die Krankheitsursache bei einer Subpopulation der infantilen und juvenilen spinalen Muskelatrophie (SMA). Das SMN-Gen liegt in zwei Kopien in einer duplizierten Region von Chromosom 5q13.3 vor. Aufgrund der klinischen Parallelen zur SMA und ALS ist das SMN-Gen ein interessan- Tabelle 2: Vermutliche Risikogene der „sporadischen ALS“ Gen VEGF SMN1 SMN2 CNTF ApoE4 EAAT2 GluR2 Genprodukt vascular endothelial growth factor survival of motor neuron gene 1 survival of motor neuron gene 2 ciliary neurotrophic factor Apolipoprotein E4 excitatory amino acid transporter 2 AMPA-Rezeptor tes Kandidatengen der ALS. In einer populationsgenetischen Studie konnten bei 16 % der sporadischen ALS-Patienten Deletionen im SMN2-Gen nachgewiesen werden, die im Vergleich zu einer Deletionsrate von 4 % der Normalbevölkerung überrepräsentiert sind (20; 21). Diese Ergebnisse konnten nicht einheitlich reproduziert werden, so dass widersprüchliche Daten zur Rolle des SMN-Gens als Risikofaktor der sporadischen ALS bestehen. Hypothetische Risikogene der sporadischen ALS Mehrere Polymorphismen in regulatorischen Sequenzen des VEGF-Gens (vascular endothelial cell growth factor) wurden mit einem verdoppelten ALS-Risiko assoziiert (23), (Tab. 2). VEGF war ursprünglich als angiogenetischer Faktor beschrieben worden, der durch Tumorzellen sezerniert wird und an der Formation neoplastischer Blutgefäße beteiligt ist. Das Interesse für das VEGF-Gen im Kontext der ALS geht auf ein transgenes Mausmodell zurück, das eine funktionelle Ausschaltung des genetische Veränderung Promoterpolymorphismen verminderte Kopienzahl verminderte Kopienzahl seltene Mutationen Polymorphismen assoziierte Spleißformen gestörtes RNA-Editing VEGF-Promotors beinhaltete und zum überraschenden Phänotyp einer Motoneuronenerkrankung führte (23; 24). Die populationsgenetische Untersuchung bei ALS-Patienten ist insgesamt widersprüchlich, so dass eine abschließende Wertung des VEGF-Gens für die ALS-Pathogenese noch nicht möglich ist. In Kooperation mit mehreren Arbeitsgruppen in Deutschland konnte eine unerwartete Beobachtung gemacht werden, die in einer Häufung von konstitutionellen Chromosomenaberrationen bei sporadischen ALS-Patienten besteht (25; 26)(Abb. 4). In der Normalbevölkerung treten mit einer Häufigkeit von 1:1000 balancierte Chromosomenanomalien auf, die in einer Translokation oder Inversion von Chromosomenarmen ohne Verlust von genetischem Material bestehen. Bisher wurden 5 Chromosomenaberrationen bei sporadischen ALS-Patienten veröffentlicht, während noch weitere strukturelle Chromosomenmutationen von anderen Arbeitsgruppen identifiziert wurden. Die 10 11 bisherige Aufklärung der Chromosomenbruchpunkte zeigt, dass bei einem Teil der Translokationen und Inversionen kodierende oder regulatorische Sequenzen von verschiedenen Genen unterbrochen werden, die grundsätzlich als ALS-Risikogene anzusehen sind. Zur Klärung der pathogenetischen Bedeutung von Chromosomenaberrationen bei der ALS sind systematische Untersuchungen in verschiedenen Populationen erforderlich. Zusammenfassung Die Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) ist eine neurodegenerative Erkrankung, die überwiegend "sporadisch" auftritt und bei weniger als 10 % der Patienten Hinweise auf eine Heredität aufweist. Die Diagnose einer familiären ALS (FALS) stützt sich auf die Anamnese von mindestens zwei betroffenen Familienmitgliedern. Bei Vorliegen einer FALS ist prinzipiell die Möglichkeit einer molekulargenetischen Diagnostik der Superoxiddismutase 1 (SOD1) gegeben, die als erstes Ursachengen der autosomal-dominanten FALS identifiziert wurde. Einschränkend ist festzustellen, dass nur 10 % aller FALS-Familien mit SOD1-Mutationen assoziiert sind und die Mehrheit der FALS-Gene noch unbekannt ist. Im seltenen Fall eines positiven Mutationsnachweises im SOD1-Gen steht eine prädiktive Diagnostik für asymptomatische Familienmitglieder zur Verfügung, deren Indikation äußerst streng zu stellen ist. In Hinblick auf die fehlenden Optionen einer ALS-Prävention trägt die prädiktive SOD1-Diagnostik ausschließlich informativen Charakter und ist in jedem Fall nach den Leitlinien der Humangenetischen Fachgesellschaft durchzuführen. Die Mehrheit der ALS-Patienten ist an der sporadischen ALS erkrankt, deren Ätiologie und Pathogenese noch unverstanden sind. Die bisherigen Erkenntnisse weisen jedoch darauf hin, dass die sporadische ALS eine komplexe genetische Erkrankung darstellt, die durch eine Wechselwirkung multipler genetischer Faktoren in Verbindung mit exogenen Einflüssen bedingt wird. Literatur 1. 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Thomas Meyer ALS-Ambulanz, Neurologische Klinik Campus Virchow-Klinikum Charité – Universitätsmedizin Berlin Augustenburger Platz 1 13353 Berlin Tel.: Fax: E-Mail: Internet: 030-450-560132 030-450-560907 [email protected] www.als-charite.de Herausgeber der Schriftenreihe: Prof. Dr. med. R. Dengler · Hannover Prof. Dr. med. S. Zierz · Halle/Saale Verantwortlich für den Inhalt dieser Ausgabe: Prof. Dr. med. R. Dengler · Hannover Sanofi-Aventis Deutschland GmbH Business Unit Oncology/Speciality Potsdamer Str. 8 10785 Berlin Tel.: 0 180/2 222 010 Aktueller Stand der Therapie der ALS ARCIS Verlag GmbH · München 2007 ISSN 0949-1503 12. Jahrgang 000 000 increase susceptibility to and severity of sporadic ALS. Neurology 65:820-5 22. Lambrechts D, Storkebaum E, Morimoto M, Del-Favero J, Desmet F, Marklund SL, Wyns S, Thijs V, Andersson J, van Marion I, Al-Chalabi A, Bornes S, Musson R, Hansen V, Beckman L, Adolfsson R, Pall HS, Prats H, Vermeire S, Rutgeerts P, Katayama S, Awata T, Leigh N, LangLazdunski L, Dewerchin M, Shaw C, Moons L, Vlietinck R, Morrison KE, Robberecht W, Van Broeckhoven C, Collen D, Andersen PM, Carmeliet P (2003). VEGF is a modifier of amyotrophic lateral sclerosis in mice and humans and protects motoneurons against ischemic death. Nat Genet 34:383-94 23. Van Den Bosch L, Storkebaum E, Vleminckx V, Moons L, Vanopdenbosch L, Scheveneels W, Carmeliet P, Robberecht W (2004). Effects of vascular endothelial growth factor (VEGF) on motor neuron degeneration. Neurobiol Dis 17:21-8 24. 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