Beispielsfall Anfechtung: Das vertauschte Preisschild Die Studentin S sieht im Schaufenster einer Boutique ein Abendkleid, das mit einem Preis von 250 € ausgestellt ist. Im Geschäft bittet sie die Inhaberin I, ihr das Ausstellungsstück zur Anprobe zur Verfügung zu stellen. Nachdem sie es anprobiert hat, entschließt sie sich zum Kauf. Die S begibt sich an die Kasse und reicht dort der I das Kleid. Diese tippt den Rechnungsbetrag in die Kasse ein. Als die I plötzlich 550 € von S verlangt, stellt sich heraus, daß I beim Dekorieren versehentlich ein falsches Preisschild angebracht hat. I weigert sich, der S das Kleid zum Preis von 250 € zu überlassen, die S besteht darauf. Zu Recht? Lösungshinweise Beispielsfall S könnte einen Anspruch gegen I auf Übergabe und Übereignung des Kleides aus § 433 I 1 haben. A Anspruch entstanden I. Kaufvertrag 1. Angebot Das Angebot ist eine einseitige empfangsbedürftige Willenserklärung, in der Gegenstand und Inhalt des Vertrages hinreichend bestimmt sind, so daß die Annahme durch ein einfaches „Ja“ erfolgen kann. 1 . Weiterhin muß sich aus der Erklärung der Wille des Antragenden zu einer rechtlichen Bindung ergeben. 2 a) Angebot der I durch Auslage des Kleides im Schaufenster: Ein solches Angebot könnte in der Auslage des Kleides im Schaufenster zu sehen sein. Maßgeblich ist der objektive Empfängerhorizont, §§ 133, 157. 3 Bei einer Auslage im Schaufenster will sich ein Geschäftsinhaber jedoch nicht gegenüber jedem verpflichten, der ihm den Willen zum Kauf erklärt. Er will nur Verträge in der Zahl schließen, wie Waren dieser Art vorhanden sind und sich vorbehalten, die Dekoration selbst nicht zu veräußern. Eine Schaufensterdekoration soll den Betrachter lediglich informieren und einen Kaufwunsch wecken. 4 Die I will sich also durch die Auslage im Schaufenster noch nicht endgültig binden. Damit liegt mangels Rechtsbindungswillens lediglich eine Aufforderung zur Abgabe von Angeboten, eine sog. invitatio ad offerendum, vor. Die Auslage im Schaufenster ist kein Angebot. b) Angebot der S durch Bitte um Aushändigung zur Anprobe: Mit der Bitte um Aushändigung zur Anprobe bringt die S nicht zum Ausdruck, das Kleid erwerben zu wollen. Erst nach der Anprobe ist der S eine Entscheidung 1 Pal/Heinrichs, § 145 Rn 1 Pal/Heinrichs, § 145 Rn 2 3 Pal/Heinrichs, § 145 Rn 2 4 Werner, Fälle mit Lösungen für Anfänger im Bürgerlichen Recht, Fall 2 2 darüber möglich, ob ihr das Kleid tatsächlich gefällt und paßt. Vorher hat sie sich noch nicht zum Kauf entschlossen. Die Erklärung ist deshalb so zu verstehen, daß sie sich allenfalls nach der Anprobe für einen Kauf entscheiden will, vorher hat sie noch keinen entsprechenden Willen gebildet. Damit ist auch die Bitte der S dem vorvertraglichen Bereich zuzuordnen. Die Bitte der S ist kein Angebot zum Abschluß eines Kaufvertrages. c) Angebot der S durch Hingabe der Ware an der Kasse: Ein ausdrückliches Angebot ist hier nicht erfolgt. Die Hingabe der Ware an der Kasse könnte jedoch eine Willenserklärung durch schlüssiges Verhalten darstellen. Bei Willenserklärungen dieser Art findet das Gewollte nicht unmittelbar in einer Erklärung seinen Ausdruck, der Erklärende nimmt vielmehr Handlungen vor, die mittelbar einen Schluß auf einen bestimmten Rechtsfolgewillen zulassen. 5 Mit der Hingabe der Ware an der Kasse bringt die S objektiv zum Ausdruck, das Kleid zu dem im Schaufenster angegeben Preis von 250 € erwerben zu wollen. Damit hat sie konkludent ein Angebot zum Abschluß eines Kaufvertrages abgegeben. 2. Annahme Dieses Angebot müßte die I angenommen haben. Die Annahme ist eine empfangsbedürftige Willenserklärung, deren Inhalt in einer vorbehaltlosen Bejahung des Antrags liegt. 6 Eine ausdrückliche Annahme ist nicht erfolgt. Sie könnte aber wiederum durch schlüssiges Verhalten erfolgt ein, indem die I den Preis in die Kasse eingetippt hat. Grundsätzlich stellt die Feststellung des Rechnungsbetrages die erforderliche Annahmeerklärung dar. 7 Das Problem besteht hier darin, daß die I zu einem Preis von 550 € verkaufen wollte, die S jedoch zu einem Preis von 250 € kaufen wollte. Subjektiv stimmen also die Willenserklärungen der I und der S aufgrund unterschiedlicher Preisvorstellungen nicht überein. 5 Pal/Heinrichs, vor § 116 Rn 6 Pal/Heinrichs, § 147 Rn 1 7 Pal/Heinrichs, § 145 Rn 8 6 a) Es könnte sich um einen offenen Dissens handeln. Ein offener Dissens liegt vor, wenn sich die Parteien bewußt nicht über alle Vertragspunkte geeinigt haben, § 154. Obwohl eine ausdrückliche Preisabsprache zwischen S und I nicht stattgefunden hat, gingen beide Vertragspartner davon aus, sich über alle wesentlichen Punkte und damit auch den Preis geeinigt zu haben. Ein offener Dissens im Sinne des § 154 liegt daher nicht vor. b) Es könnte sich aber um einen versteckten Dissens handeln, § 155. Bei einem versteckten Dissens glauben die Parteien, sich einig zu sein, obwohl sie sich in Wirklichkeit über einen Punkt nicht geeinigt haben. Die Erklärungen der Parteien sind objektiv mehrdeutig. 8 Bei einem versteckten Dissens haben sich die Parteien mißverstanden, jede Erklärung stimmt mit dem Willen des Erklärenden richtig überein, nicht aber mit der Erklärung des Vertragspartners. 9 Hier weichen die Preisvorstellungen der Parteien voneinander ab. Der innere Wille der S und der I stimmen nicht überein. Es scheint ein Mißverständnis zwischen S und I vorzuliegen. Es ist jedoch zu berücksichtigen, daß zur Feststellung eines Einigungsmangels nicht auf den inneren Willen der Parteien abzustellen ist. Darauf, wie die Parteien subjektiv die Erklärungen verstanden haben, kommt es nicht an, sondern maßgeblich ist der objektive Empfängerhorizont, §§ 133, 157. Zu ermitteln ist der objektive Erklärungsgehalt, d.h. wie das Verhalten der S und der I nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung der Verkehrssitte zu verstehen ist. Wie bereits festgestellt, konnte ein objektiver Empfänger das Verhalten der S (die Hingabe der Ware an der Kasse) nur so verstehen, daß sie das Kleid zu dem im Schaufenster angegeben Preis von 250 € erwerben wolle. Das Verhalten der I stellt sich objektiv als vorbehaltlose Bejahung dieses Antrags der S dar. Daher stimmen beide Erklärungen in ihrem objektiven Erklärungsinhalt überein. Für einen dem Vertragsschluß entgegenstehenden Dissens ist kein Raum. c) Die I hat das Angebot der S angenommen. 3. Ein Kaufvertrag ist zustandegekommen. 8 Erman/Hefermehl, § 155 Rn 3 II. Anfechtung, §§ 119 I 1. Alt, 142 I Die I könnte jedoch den Kaufvertrag durch Anfechtung rückwirkend beseitigt haben. 1. Anfechtungsgrund Als Anfechtungsgrund kommt ein Inhaltsirrtum im Sinne des § 119 I 1. Alt. in Betracht. Bei einem Irrtum über den Inhalt der Erklärung entspricht der äußere Tatbestand der Erklärung dem Willen des Erklärenden, er irrt aber über Bedeutung und Tragweite seiner Erklärung. „Der Erklärende weiß, was er sagt, er weiß aber nicht, was er damit sagt.“ 10 Die I hat objektiv erklärt, zum Preis von 250 € zu verkaufen, tatsächlich aber wollte sie erklären, zum Preis von 550 € zu verkaufen. Sie wußte also, daß sie die Annahme erklärt, aber sie hat sich über den Inhalt ihrer Annahmeerklärung geirrt. Ein Inhaltsirrtum liegt vor. Damit ist der Anfechtungsgrund des § 119 I 1. Alt gegeben. 2. Kausalität Der Irrtum des Erklärenden muß kausal für die Abgabe der Willenserklärung gewesen sein. Es muß anzunehmen sein, daß der Irrende die Erklärung bei Kenntnis der Sachlage und bei verständiger Würdigung des Falles nicht abgegeben haben würde. 11 Aufgrund ihres Versehens hat die I die Sachlage verkannt. Hätte sie von der objektiven Bedeutung ihrer Annahmeerklärung gewußt, hätte sie nicht die Annahme des Vertragsangebots erklärt, sondern das Mißverständnis aufgeklärt. Der Irrtum der I war demnach kausal für die Abgabe ihrer Willenserklärung. 3. Anfechtungserklärung, § 143 I Die Anfechtungserklärung ist eine empfangsbedürftige Willenserklärung, die erkennen läßt, daß die Vertragspartei das Geschäft wegen eines Willensmangels nicht gelten lassen will. 12 9 Schlachter, JA 1991, 106 (107) Pal/Heinrichs, § 119 Rn 11 11 Medicus AT, Rn 773 12 Pal/Heinrichs, § 143 Rn 2 10 Hier weigert sich die I, der S das Kleid zu dem niedrigen Preis zu überlassen. Damit bringt sie hinreichend deutlich zum Ausdruck, daß sie das Geschäft nicht gelten lassen will, eine Anfechtungserklärung liegt also vor. 4. Anfechtungsfrist, § 121 Im Falle des Inhaltsirrtums muß der Erklärende unverzüglich, d.h. ohne schuldhaftes Zögern, die Anfechtung erklären. Hier hat sich die I sofort geweigert, der S das Kleid zu dem niedrigen Preis zu überlassen, als sie ihr Versehen bemerkt und damit ihren Irrtum erkannt hatte. Damit hat sie die Frist des § 121 gewahrt. 5. Rechtsfolge, § 142 Alle Voraussetzungen einer Anfechtung liegen vor. § 142 bestimmt, daß das angefochtene Rechtsgeschäft als von Anfang nichtig anzusehen ist. Der Kaufvertrag ist daher mit ex-tunc Wirkung unwirksam. III. Der Anspruch ist (aufgrund der Rückwirkung der Anfechtung) nicht entstanden. B. S hat keinen Anspruch gegen I auf Übergabe und Übereignung des Kleides aus § 433 I 1.