Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht Prof. Dr. Jens-Hinrich Binder, LL.M. Wiss. Ang. Stefanie Hart Fallbesprechung Zivilrecht I Fall 1b K sieht in der Auslage des Geschäftes des V ein Kleid in ihrer Größe, das mit 189,- € ausgezeichnet ist. Sie geht in den Laden und erklärt, dass sie das Kleid haben wolle. V erwidert ihr, dass er ihr gerne andere Kleider verkaufe, doch das von K ausgesuchte habe er vor 10 Minuten seiner Tochter für eine gut bestandene Klausur versprochen. Kann K das Kleid verlangen? Lösungshinweise Fall 1b Anspruch des K gegen V auf Übergabe und Übereignung des Kleides gem. § 433 I 1 BGB1 K hat gegen V einen Anspruch auf Übergabe und Übereignung des Kleides i.S.d. § 433 I 1, wenn zwischen den beiden ein Kaufvertrag geschlossen wurde. (Die oft gebrauchte Formulierung des Anspruchs „aus § 433 I 1“ ist missverständlich. Es handelt sich um einen vertraglichen, keinen gesetzlichen Anspruch.) 1. Ein Vertrag kommt zustande durch zwei übereinstimmende Willenserklärungen, nämlich Angebot (das Gesetz spricht von Antrag) und Annahme. 2. Fraglich ist, welche der Parteien wann ein Angebot abgegeben hat. a) Das Vertragsangebot gem. § 145 ist eine empfangsbedürftige Willenserklärung, durch die einem anderen ein Vertragsschluss so angetragen wird, dass das Zustandekommen des Vertrages nur noch von dessen Einverständnis abhängt. Deshalb muss das Angebot inhaltlich so bestimmt sein, dass die bloße Zustimmung des anderen den Vertragsschluss herbeiführt. Dies erfordert, dass das Angebot die wesentlichen Punkte des Vertrages (sog. essentialia negotii), enthält, also beim Kauf die Parteien, den Kaufgegenstand und den Kaufpreis. Ausreichend ist, wenn sich diese Merkmale durch Auslegung der Erklärung ergeben. b) V könnte durch die Auslage des Kleides gem. § 145 ein Angebot zum Verkauf des Kleides zum Preis von 189,- € gemacht haben. aa) Vorliegend lässt sich aus der Auslage erkennen, dass V ein Kleid, also einen bestimmten Gegenstand, zu einem bestimmten Preis, nämlich 189,- €, verkaufen möchte. Ein Angebot ist jedoch normalerweise nur dann hinreichend bestimmt, wenn es auch die Person des Vertragspartners erkennen lässt. Dem Antragenden ist es i.d.R. nicht gleichgültig, mit wem er einen Vertrag schließt. Merke: Es gibt aber Fälle, in denen sich jemand seine Vertragspartner nicht aussuchen will und ein individueller Antrag an einzelne Empfänger nicht möglich ist. Hier ist die Erklärung an die Allgemeinheit bereits als Vertragsangebot aufzufassen (sog. Offerte ad incertas per1 Alle §§ ohne Gesetzesangabe sind solche des BGB. Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht Prof. Dr. Jens-Hinrich Binder, LL.M. Wiss. Ang. Stefanie Hart Fallbesprechung Zivilrecht I sonas). Beispiel: Das Aufstellen eines Warenautomaten stellt ein Angebot auf Abschluss eines Kaufvertrages an jeden dar, der das verlangte Geld einwirft. bb) Durch Auslegung muss ermittelt werden, ob ein bestimmtes Verhalten im Einzelfall eine Offerte ad incertas personas und damit ein bindendes Angebot i.S.d. § 145 oder lediglich eine Aufforderung zur Abgabe eines Angebots durch den anderen (invitatio ad offerendum) darstellt. Merke: Bei der Frage, ob eine invitatio (Einladung/Aufforderung) oder ein bindendes Angebot vorliegt, kommt es entsprechend §§ 133, 157 darauf an, wie ein objektiver Empfänger der Erklärung diese verstehen musste. Bei Schaufensterauslagen wird der Passant davon ausgehen, dass der Verkäufer nicht jedermann ein bindendes Angebot machen will. Denn da die Warenvorräte in Geschäften regelmäßig beschränkt sind, müsste der Verkäufer andernfalls an zahlreiche Kaufinteressenten Schadensersatz leisten, weil er nur wenige Verträge erfüllen kann. cc) Im vorliegenden Fall müsste sich also aus den für K erkennbaren und V zurechenbaren Umständen (normativer Empfängerhorizont) ergeben, dass V gegenüber jedem Passanten, der das Kleid im Schaufenster betrachtet, ein bindendes Angebot abgeben will. Dafür spricht, dass es V in der Regel egal sein wird, an wen er seine Waren verkauft. Dagegen spricht jedoch, dass V in diesem Falle gegenüber sämtlichen Passanten die das Kleid betrachten ein bindendes Angebot machen würde. Damit könnten unkontrolliert viele Personen das bindende Angebot annehmen, solange das Kleid im Schaufenster liegt. Da V die Kaufverträge, die so zustande kommen würden, aber nicht alle erfüllen könnte, würde er sich eventuell gegenüber einer großen Zahl von Käufern schadensersatzpflichtig machen. Von einem solchen Willen des V konnte K deshalb (entsprechend §§ 133, 157) nicht ausgehen. Ein Angebot im Sinne des § 145 liegt somit nicht vor. V wollte mit der Schaufensterauslage lediglich potentielle Käufer zur Abgabe von Kaufangeboten auffordern. c) Die Erklärung der K, dass sie das Kleid haben wolle, stellt somit keine Annahme eines von V gemachten Angebots, sondern vielmehr ein eigenes Angebot mit dem Inhalt dar, dass sie das Kleid zu dem im Schaufenster angegebenen Preis erwerben möchte. 3. Dieses Angebot hat V nicht angenommen, so dass gem. § 146 das Angebot erloschen ist und damit auch kein Vertrag zustande gekommen ist. Ergebnis: K kann von V nicht Übergabe und Übereignung des Kleides zum Preis von 189 € verlangen. Literaturhinweise: Köhler, BGB AT, 36. Auflage 2012, § 5 Rn 1-25; § 8 Rn 1-20. Brox/Walker AT, 37. Auflage 2013, § 4 Rn 70-102; Rn. 165-188 Leipold, BGB AT, 6. Auflage 2010, § 6 Rn 15-22; § 10 Rn 1-22; § 14 Rn 1-13