Koronare Herzkrankheit Definition und Klassifikation Herz Bei der koronaren Herzkrankheit (KHK) führt eine Verengung der Koronararterien zu einem Missverhältnis zwischen myokardialem Sauerstoffangebot und -bedarf. Hauptsymptom der KHK ist die Angina pectoris. Sie beruht meist auf einer Koronarsklerose, kann aber auch bei Gefäßspasmen auftreten (Prinzmetal-Angina). Stabile Angina pectoris. Hierbei besteht in Ruhe Beschwerdefreiheit. Symptome treten auf bei körperlicher oder emotionaler Belastung, nach schweren Mahlzeiten oder bei Kälte. Die Belastungsgrenze kann dabei stark variieren. Instabile Angina pectoris. Wenn der typische Brustschmerz erstmals bemerkt wird, sich in Intensität oder Häufigkeit verändert oder bereits bei geringer Belastung oder in Ruhe auftritt, handelt es sich um eine instabile Angina pectoris. Sie wird zusammen mit dem Myokardinfarkt (S. 8 f) zum akuten Koronarsyndrom zusammengefasst und ist ein Notfall, der eine sofortige Abklärung und Behandlung erfordert. Klassifikation. Eingeteilt wird die Angina pectoris (AP) nach dem klinischen Schema der Canadian Cardiovascular Society (CCS): Grad CCS I Definition keine AP bei normaler Aktivität, nur bei sehr starker/langer Belastung CCS II AP bei starker Belastung, z. B. Treppensteigen über mehrere Stockwerke CCS III AP bei leichter Belastung, z. B. Treppensteigen über ein halbes Stockwerk CCS IV Angina pectoris in Ruhe Epidemiologie Die KHK ist in den Industrieländern die häufigste Todesursache. In Westeuropa leiden ca. 15 % der über 65-Jährigen an einer KHK. Frauen sind bis zur Menopause weniger häufig als Männer betroffen, nach dem 60. Lebensjahr ebenso häufig. Ätiologie 2 Stabile Angina pectoris. Bei der Koronarsklerose kommt es durch LDL-Einlagerung in die Gefäßwand zunächst zu arteriosklerotischen Läsionen und später zur Plaquebildung. Beim Gesunden kann der koronare Blutfluss bei Belastung um das 4–5fache gesteigert werden. Beim KHK-Patienten bestehen jedoch Stenosen der Koronargefäße, wodurch die Widerstandsgefäße zur Aufrechterhaltung des Blutflusses bereits in Ruhe dilatieren. Unter Belastung ist dann eine Steigerung des koronaren Blutflusses nur noch unzureichend oder gar nicht mehr möglich (eingeschränkte Koronarreserve). Instabile Angina pectoris. Bei der instabilen Angina pectoris kommt es durch Plaqueruptur zu einer thrombotischen Auflagerung im Koronargefäß. Entzündliche Vorgänge und vasokonstriktorische Substanzen verringern zusätzlich den Blutfluss. Der Stenosierungsgrad des Koronargefäßes ist durch Thrombosierung und Thrombolyse veränderlich, jedoch nicht vollständig wie beim Myokardinfarkt (S. 8 f). Risikofaktoren Risikofaktoren, die die Entstehung einer KHK begünstigen, werden statistisch ermittelt, ohne dass die kausalen Zusammenhänge immer bekannt sind. Bei über der Hälfte der Patienten sind die kardiovaskulären Erkrankungen nicht durch Risikofaktoren zu erklären. Bislang erkannte Risikofaktoren sind: ➤ arterielle Hypertonie: sowohl erhöhte systolische als auch diastolische Blutdruckwerte erhöhen das KHK-Risiko, ➤ Hypercholesterinämie (LDL erhöht, HDL erniedrigt); diätetische/medikamentöse Cholesterinsenkung verringert das KHK-Risiko, ➤ familiäre Störungen des Lipidstoffwechsels: Hypertriglyzeridämie, Dys-β-Lipoproteinämie, kombinierte Hyperlipoproteinämie, ➤ Diabetes mellitus: erhöhtes KHK-Risiko u. a. durch assoziierte Störung des Lipidstoffwechsels, strukturelle Gefäßwandveränderungen und endotheliale Dysfunktion, ➤ Rauchen: Tabakkonsum schädigt das Endothel u. a. durch freie Radikale, die Aktivierung von Zytokinen, Entzündungsmediatoren sowie Komplement- und Gerinnungsfaktoren; Nikotinkarenz erhöht auch nach langjährigem Rauchen die Lebenserwartung, ➤ weitere Risikofaktoren sind Adipositas, Bewegungsmangel, genetische Disposition, sozialer und beruflicher Stress, Persönlichkeitsmerkmale, hochdosierte Östrogeneinnahme (Kontrazeption), erhöhte Fibrinogen-, Lipoprotein(a)- und Homocysteinspiegel. aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag Angina pectoris I Schwere Stenose Leichte Stenose Thrombus auf Plaque Plaque fibröse Auflagerung Lipidkern Koronararterie Schaumzellen Lipideinlagerung geringer Sauerstoffbedarf (auch in Ruhe symptomatisch) hoher Sauerstoffbedarf (leichte Symptome) Sauerstoffbedarf mäßiger Sauerstoffbedarf (asymptomatisch) Koronardurchblutung selbst bei niedrigem Sauerstoffbedarf nicht ausreichend CK-, CK-MBund TroponinFreisetzung Herz Koronardurchblutung bei erhöhtem Sauerstoffbedarf nicht ausreichend (Myokardischämie) Myokard Koronardurchblutung entspricht Sauerstoffbedarf (ausreichende Myokardversorgung) Ischämie/Infarkt transiente Ischämie Ischämie Labor EKG ausreichende Durchblutung CK CK CK CK-MB CK-MB CK-MB Troponin T Troponin T Troponin T Troponin I Troponin I Troponin I 3 aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag Koronare Herzkrankheit Herz Klinik Die Symptomatik der KHK ist abhängig vom Stenosegrad und der Kollateralisierung: ➤ Stenosegrad bis 40 %: keine relevanten Konsequenzen für den koronaren Fluss, ➤ Stenosegrad 40–70 %: gering eingeschränkte Koronarreserve, die nur bei sehr starker Belastung zu Symptomen führt, ➤ Stenosegrad 70–90 %: kann bereits bei mäßiger körperlicher Belastung eine Angina pectoris auslösen, ➤ Stenosegrad über 90 %: Koronarreserve sehr stark eingeschränkt; je nach Kollateralisierung kann bereits eine geringe Herzbelastung zur Ischämie führen. Über die Hälfte der KHK-Patienten wird durch einen Myokardinfarkt oder plötzlichen Herztod erstmals symptomatisch. Die typische Angina pectoris besteht in anfallsartig auftretenden, krampfartigen, beklemmenden, mitunter auch brennenden Missempfindungen oder Schmerzen oder auch einem Druckgefühl, das meist retrosternal gelegen ist und in die linke Thoraxhälfte oder den linken Arm ausstrahlen kann. Seltener wird der Schmerz auch in der Hals- und Kieferregion, im Oberbauch oder im Rücken angegeben. Mitunter bestehen Todesangst und ein Vernichtungsgefühl (v. a. beim erstmaligen Auftreten der Beschwerden). Der Anfall dauert selten länger als wenige Minuten und spricht meist gut auf Glyceroltrinitrat an. Hält der Schmerz länger als 20 Minuten an und ist er durch Glyceroltrinitrat nicht zu beeinflussen, besteht der dringende Verdacht auf einen Myokardinfarkt. Diagnostik 4 Stabile Angina pectoris. Zur Diagnostik gehören: ➤ ausführliche Anamnese (Schmerzcharakter und -verlauf, Belastungsabhängigkeit, Auslöser, Risikofaktoren), ➤ körperliche Untersuchung (Anhalt für nichtkardiale Ursachen, z. B. Herzinsuffizienz), ➤ 12-Kanal-EKG (Ischämiezeichen), ➤ evtl. Belastungs-EKG (Belastungsgrenze, prognostische Einstufung). Spezielle Verfahren wie Stress-Echokardiographie, Ultrafast-CT, MRT und Koronarangiographie werden nur in Sonderfällen eingesetzt. Instabile Angina pectoris. Da es sich bei der instabilen Angina pectoris um einen kardialen Notfall handelt, kommt es auf eine rasche Abklärung und Therapieeinleitung an. Daher muss eine unverzügliche Klinikeinweisung mit Arztbegleitung veranlasst werden. Zur Diagnostik gehören wie bei der stabilen Angina pectoris Anamnese, körperlicher Befund und 12-Kanal-EKG. Zusätzlich werden Laboruntersuchungen (CKMB, Troponin T oder I, CRP) zum Infarktausschluss herangezogen, da es sich um einen Myokardinfarkt ohne Ischämiezeichen (NSTEMI) handeln könnte. Eine Angina pectoris bei Patienten mit einer Troponinerhöhung, Ischämiezeichen im EKG, hämodynamischer Instabilität, Rhythmusinstabilität oder Diabetes mellitus muss durch eine Katheterangiographie abgeklärt werden. Differenzialdiagnose In der Regel ist bereits die Anamnese diagnostisch richtungsweisend. Insbesondere wenn die Belastungsabhängigkeit des Schmerzes fehlt, müssen die Differenzialdiagnosen des akuten Thoraxschmerzes bedacht werden: ➤ Aorta/Herz: Aortendissektion, Myokarditis, Perikarditis, Herzrhythmusstörungen, Herzphobie, ➤ Lunge: Lungenembolie, Pleuritis, Pneumothorax, ➤ Magen-Darm-Trakt: Ösophagus- und Kardiaspasmen, Ösophagitis, Gastritis, Ulkus, Pankreatitis, Cholezystitis, ➤ Skelett: Rippenfraktur/-prellung, Tietze-Syndrom, Schulter-Arm-Syndrom, BWS-Erkrankungen. aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag Herz Angina pectoris II Häufige auslösende Ursachen der Angina pectoris: schweres Essen, Anstrengung, Kälte, Rauchen Charakteristische Schmerzausstrahlung bei Angina pectoris 5 aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag Herzrhythmusstörungen Definition und Epidemiologie Beim Vorhofflimmern besteht eine Vorhoffrequenz von über 350/min. Die Vorhöfe verharren dabei in einer nahezu diastolischen Stellung. Hämodynamisch entspricht dies einem Vorhofstillstand. Insbesondere bei bereits eingeschränkter Ventrikelfunktion führt dies zu einem um ca. 20–30 % verminderten Herzzeitvolumen (A.). Außerdem können sich atriale Thromben bilden. Vorhofflimmern ist die häufigste Herzrhythmusstörung des Erwachsenen. Bezogen auf die Gesamtbevölkerung beträgt die Prävalenz ca. 0,4 %. Bei über 60-Jährigen liegt sie bei 2–4 % und steigt bis zum 9. Lebensjahrzehnt auf ca. 8 % an. Herz Ätiologie Dem Vorhofflimmern liegen unkoordinierte Erregungswellen durch Mikro-Reentrys zugrunde, die ihre anatomische Lage ständig ändern. Es kann intermittierend, paroxysmal oder – am häufigsten – permanent auftreten (C.). In seiner primären Form kann das Vorhofflimmern vagal oder adrenerg induziert sein. Sehr viel häufiger sind sekundäre Formen auf dem Boden einer kardialen Erkrankung. Die häufigsten Ursachen des sekundären Vorhofflimmerns sind arterielle Hypertonie, koronare Herzkrankheit, Mitralklappenfehler und Hyperthyreose. Klinik (A.) Durch die hochfrequenten, unkoordinierten Vorhoferregungen kommt es zu einer ebenfalls unregelmäßigen Erregung der Ventrikel, was zu einer Arrhythmia absoluta führt. Die Patienten klagen über Herzklopfen, Palpitationen oder Herzrasen. Zudem berichten sie über Schwindelattacken, eine allgemeine Schwäche oder auch Unruhe, gelegentlich auch über Übelkeit und Erbrechen. Mitunter kann es auch zu Steonokardien und/oder Luftnot kommen. Diagnostik 20 Bereits die Anamnese kann wegweisend sein. Bei der körperlichen Untersuchung findet man eine absolute Arrhythmie mit Pulsdefizit. Entscheidend ist der EKG-Befund (C.). Hier findet man sehr variable Flimmerwellen, die in der Mehrzahl eine niedrige Amplitude haben und ein sehr unterschiedliches morphologisches Bild bieten. Bei sehr hochfrequentem Vorhofflimmern führen die Flimmerwellen zu einem breiten Band um die Nulllinie, in dem einzelne Erregungswellen kaum mehr auszumachen sind. Durch die unregelmäßige Überleitung besteht eine Arrhythmia absoluta. Die QRS-Komplexe sind meist nicht verbreitert oder deformiert. Therapie Akuttherapie. Bei akut aufgetretenem Vorhofflimmern mit hoher Frequenz und hämodynamischer Instabilität handelt es sich um einen Notfall, der durch eine elektrische Kardioversion behandelt werden muss. Bei stabiler Hämodynamik können vagale Manöver versucht werden (Karotissinusmassage, Trendelenburg-Lagerung, Valsalva-Manöver, Brechreiz auslösen oder kaltes Mineralwasser trinken lassen). Bleibt dies ohne Erfolg, wird eine medikamentöse Rhythmisierung durchgeführt (immer unter EKG-Kontrolle und in Reanimationsbereitschaft). Mittel der Wahl ist Adenosintriphosphat, alternativ kommen Verapamil, Esmolol oder Ajmalin infrage. Dauertherapie. Der Versuch einer Rhythmisierung ist bei bereits länger bestehendem Vorhofflimmern (über 6 Monate) praktisch aussichtslos. Ziel ist es dann, hohe Kammerfrequenzen durch eine Kombination von Digitalis mit Verapamil, einem Betablocker oder Amiodaron zu unterdrücken. Die Indikation zur Dauerantikoagulation hängt vom Risiko für thromboembolische Komplikationen (B.) ab und ist nur bei niedrigem Risiko nicht gegeben: ➤ niedriges Risiko: Alter unter 60 Jahre, keine Risikofaktoren, ➤ mittleres Risiko: Alter über 60 Jahre, Frauen, Hypertonie, Herzinsuffizienz, Diabetes mellitus oder Funktionsstörung des linken Ventrikels, ➤ hohes Risiko: frühere Embolie, Mitralstenose, nachgewiesene atriale Thrombosierung. aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag Vorhofflimmern evtl. Luftnot Sinusrhythmus Arrhythmie Vorhofflimmern EKG Arrhythmie, Pulsdefizit Auswurfvolumen Verringerung der Auswurfleistung und damit des Herzzeitvolumens bei Vorhofflimmern A. Klinik bei Vorhofflimmern Thrombus im linken Herzohr Emboli Mitralstenose Herz Hirninfarkt B. Thromboembolische Komplikationen Verschleppung von Emboli in den Körperkreislauf bei Vorhofflimmern Verschluss kleiner Gefäße durch Mikroemboli, z. B. in Retina oder Niere regellose multifokale kreisende Erregung und multiple refraktäre Bezirke in den Vorhöfen AV-Block unterschiedlichen Grades rasche Kammerreaktion langsame Kammerreaktion C. Reizleitung und EKG bei Vorhofflimmern 21 aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag Herzrhythmusstörungen Die normale Erregungsleitung geht vom Sinusknoten aus. Er befindet sich in der Wand des rechten Vorhofes unmittelbar an der Mündung der V. cava superior. Von ihm wandert die Erregung über die normale Vorhofmuskulatur zum AV-Knoten, von diesem wiederum – leicht verzögert – zum His-Bündel, das sich in den rechten und linken Tawara-Schenkel teilt. Beide leiten die Erregung sehr schnell weiter und enden mit den Purkinje-Fasern in der Kammermuskulatur. Herz Schenkelblock 22 Die kardiale Erregungsleitung ist gestört, wovon beide Schenkel einzeln oder gemeinsam betroffen sein können. Die jeweiligen Blöcke können darüber hinaus komplett oder inkomplett vorliegen. Rechtsschenkelblock. Ein geringfügiger Defekt im rechten Tawara-Schenkel kann bereits zu einem Rechtsschenkelblock führen. Ursache sind oft eine Arteriosklerose oder eine lang dauernde Belastung des rechten Ventrikels durch pulmonale Hypertonie oder Pulmonalstenose. Die Erregung breitet sich zunächst in die linke Kammer aus (Q-Zacke in V5 und V6), zieht dort vom Endo- bis ins Epikard (normale R-Zacke in V5 und V6) und breitet sich zuletzt über das Septum in die rechte Kammer aus (breite S-Zacke in V5 und V6). Insgesamt läuft die Depolarisation zuerst nach rechts, dreht dann nach links und kehrt wieder nach rechts zurück. Dabei dauert der QRS-Komplex länger als 0,11 s und ist v. a. in V1 und aVR M-förmig deformiert. Folgende Charakteristika kennzeichnen den kompletten Rechtsschenkelblock im EKG (A.): ➤ R in V1 M-förmig deformiert, ➤ oberer Umschlagpunkt in V1 verspätet, ➤ S in I, aVL, V5, V6 breit und tief, ➤ ST-Strecke rechtspräkordial negativ. Linksschenkelblock. Mögliche Ursachen sind Arteriosklerose, Myokardinfarkt, Herzinsuffizienz oder hochgradige Belastung des linken Ventrikels z. B. durch eine Hypertonie. Eine Blockade im linken Schenkel des Herzens ändert den gesamten Depolarisationsablauf: Er beginnt an der rechten Seite des Septums und schreitet zunächst nach links vorne fort (R-Zacken in V1 und V3); über die Herzspitze wandert die Erre- gung dann zur linken Herzbasis (hohe R-Zacken in I, V3 und V6, S-Zacken in V1 und V2). Insgesamt sind die Kammerkomplexe in allen Extremitätenableitungen deformiert und Rückbildungsstörungen nachweisbar. Der QRS-Komplex ist verbreitert (> 0,11 s). Zusammenfassend sind für den kompletten Linksschenkelblock charakteristisch (B.): ➤ QRS in I, aVL, V5, V6 verbreitert und gesplittet, ➤ S in III, aVL, V1, V2 breit und tief, S ist nie in I, aVL zu finden, ➤ ST-Strecke linkspräkordial deszendierend negativ, ➤ oberer Umschlagpunkt in V6 verspätet. Sind Rechts- und Linksschenkelblock kombiniert, kommt es zu einem ähnlichen klinischen Bild wie beim AV-Block III. Grades (S. 24). Bradykarde Herzrhythmusstörungen Bradykarde Herzrhythmusstörungen sind durch eine Herzfrequenz von weniger als 60/min gekennzeichnet. Beispiele dafür sind Sinusbradykardie, SA-Block, Sinusknotensyndrom, Bradyarrhythmia absoluta, das Karotissinussyndrom und die AV-Blockierungen. Sinusbradykardie. Die Reizbildung im Sinusknoten ist auf Werte unter 60/min verringert. Mögliche Ursachen sind hoher Vagotonus, Hypothyreose, Hirndrucksteigerung sowie körperliches Training oder Digitalis- bzw. Betablockertherapie. SA-Block. Die Überleitung vom Sinusknoten zu den Vorhöfen ist verzögert (I. und II. Grad) oder blockiert (III. Grad). Beim II. Grad unterscheidet man: ➤ Typ I = Wenckebach: bei gleich bleibender PQ-Zeit verkürzen sich die PP-Intervalle, ➤ Typ II = Mobitz: die PP-Intervalle bleiben unverändert, aber in regelmäßigen Abständen unterbleibt eine Herzaktion vollständig. Beim III. Grad fallen eine oder mehrere Herzaktionen aus, die P-Wellen fehlen; ein Ersatzrhythmus durch ein sekundäres Zentrum ist nachweisbar. Häufige Folgen sind Synkopen. aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag Schenkelblock und bradykarde Herzrhythmusstörungen AV-Knoten Block Block Block QRS-Dauer über 0,12 s: breiteste QRS-Zacke in Ableitung I und linken Brustwandableitungen negativ, in rechten Brustwandableitungen positiv; P und PQ-Dauer normal. A. Kompletter Rechtsschenkelblock Block Block Block Herz AV-Knoten atypisch typisch QRS-Dauer über 0,12 s: breiteste QRS-Zacke in Ableitung I und linken Brustwandableitungen positiv, in rechten Brustwandableitungen negativ; P und PQ-Dauer normal. B. Kompletter Linksschenkelblock aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag 23 Herz Herzrhythmusstörungen 24 Sinusknotensyndrom. Sammelbegriff für Störungen des Sinusknotens, die zurückgehen auf: ➤ anhaltende Phasen einer Sinusbradykardie, kombiniert mit Sinusarrhythmie, ➤ Sinusstillstand oder sinuatrialen Block (A.) mit verschiedenen Formen von Ersatzrhythmen, ➤ Bradykardie-Tachykardie-Syndrom. Letzteres ist gekennzeichnet durch sich abwechselnde Phasen langsamer und hoher Herzfrequenz, wobei das subjektive Herzrasen meist durch Vorhofflimmern oder -flattern hervorgerufen wird. Bradyarrhythmia absoluta. Chronisches Vorhofflimmern mit gestörter AV-Überleitung und konsekutiver bradykarder Ventrikelfrequenz. Sie entsteht meist bei fortgeschrittener kardialer Grundkrankheit wie KHK, Klappenfehlern oder Kardiomyopathie. Karotissinussyndrom. Durch Druck auf den Sinus caroticus wird reflektorisch eine Bradykardie ausgelöst (hypersensitiver Karotissinus) und gleichzeitig eine Vasodilatation in der Kreislaufperipherie. Es kommt zur Synkope, selten auch zum Herzstillstand. Klinisch kommt es bei extremen Halsbewegungen, beim Rasieren oder beim Zuknöpfen eines engen Hemdkragens zu Schwindel und Synkopen. AV-Block. Die Erregungsleitung zwischen Vorhöfen und Kammern ist gestört. Mögliche Ursachen sind Digitalis, Betablocker, Chinidin und andere Antiarrhythmika; außerdem Myokardinfarkt, Myokarditis oder KHK. Unterschieden werden die folgenden Grade (B.): ➤ I. Grad: die PQ-Zeit ist verlängert, alle Erregungen werden aber weitergeleitet. Klinisch zeigen sich meist keine Auffälligkeiten. ➤ II. Grad: intermittierend fällt ein Kammerschlag aus; dabei unterscheidet man den Typ I = Wenckebach, bei dem die PQ-Zeit zunehmend verlängert ist bis zum Ausfall einer Überleitung und den Typ II = Mobitz, bei dem die Vorhoferregungen in einem festen Rhythmus übergeleitet werden: bei der 2:1-Überleitung nur jede zweite, bei der 3:1-Überleitung nur jede dritte usw. Der Typ II ist prognostisch ungünstiger, da er in den Typ III übergehen kann. ➤ III. Grad: Vorhöfe und Kammern schlagen unabhängig voneinander (AV-Dissoziation), der Kammerrhythmus ist dabei deutlich bradykard und prädestiniert zu zerebralen Ischämien. Adams-Stokes-Morgagni-Syndrom. Aufgrund hochgradiger Bradykardie bzw. lang anhaltender Asystolie kommt es zur zerebralen Ischämie, die ihrerseits Synkopen zur Folge hat. Das klinische Bild ist identisch mit dem beim Karotissinussyndrom, muss aber ätiologisch davon abgegrenzt werden. Diagnostik Die Klinik bei Bradykardien erlaubt fast keine Rückschlüsse auf die Ätiologie. Viele Bradykardien äußern sich klinisch überhaupt nicht oder nur bei körperlicher Anstrengung. Die Diagnostik ist also Domäne des EKG. Rhythmus und Breite des QRS-Komplexes sind dabei wichtige Unterscheidungskriterien. Zum Beispiel entstehen verbreiterte QRS-Komplexe bei regelmäßigem Rhythmus durch einen ventrikulären Ersatzrhythmus wie er beim AV-Block III. Grades auftritt. Dagegen spricht ein unregelmäßiger Rhythmus bei nicht verbreitertem QRS-Komplex z. B. für einen SA- oder AV-Block II. Grades. Alle Bradykardien können z. B. durch Medikamente, eine Hypothyreose oder eine Hyperkaliämie ausgelöst sein. Schrittmachertherapie Die Implantation eines Herzschrittmachers ist bei symptomatischen Bradykardien indiziert, sofern dadurch eine Besserung zu erwarten ist. Der Schrittmacher registriert die Herzaktionen und steuert dementsprechend die Impulsabgabe (Demandfunktion). Die Schrittmacherart ist über 3 Buchstaben kodiert: ➤ Ort der Stimulation: V = Ventrikel, A = Vorhof oder D = beide, ➤ Ort der Wahrnehmung: V, A, D, ➤ Betriebsart: I = Inhibition, T = Triggerung, D = beide. Am häufigsten werden VVI-Schrittmacher verwendet. aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag Bradykarde Herzrhythmusstörungen II Ersatzmechanismus Vagus Sinusarrest Sinusknotenausfall Sinusersatzschlag AV-Knoten-Ersatzschlag AV-Knoten-Ersatzschlag mit retrograder Erregung Kammerersatzschlag Impuls blockiert Sinusknoten blockiert durch organische Erkrankungen Impuls blockiert Intermittierender Block AV-Knotenrhythmus, Ableitung II P P P P P Herz A. Sinusarrest, sinuatrialer Block Reizbildung im Sinusknoten Verlängerte PQ-Dauer (AV-Block I. Grades) Ableitung I P P AV-Block III. Grades im oberen AV-Knoten P P P P Ableitung I P Schrittmacher in Kammermuskulatur P P P Vorhöfe und Kammern schlagen getrennt normales QRS (AV-Block III. Grades) R R AV-Block III. Grades P P Intermittierend fehlender Kammerschlag (AV-Block II. Grades) Ableitung I Schrittmacher im unteren AV-Knoten oder His-Bündel QRS fehlt QRS fehlt partieller AV-Block P Ableitung I P T P R P P T Vorhöfe und Kammern schlagen getrennt Kammereigenrhythmus, QRS verbreitert B. Atrioventrikulärer Block aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag P T 25 Kreislauf und Gefäße Arterielle Hypertonie Definition Ätiologie und Epidemiologie Als arterielle Hypertonie wird jede chronische Erhöhung des diastolischen Blutdrucks bezeichnet, wobei meist auch die systolischen Werte erhöht sind. Grenzwerte. Eine scharfe Grenze zwischen normalem und erhöhtem Blutdruck gibt es jedoch im Grunde nicht. Prinzipiell steigt das Risiko kardiovaskulärer Komplikationen und insbesondere die Mortalität mit dem Blutdruck exponentiell an. Nach der WHO-Definition von 1999 gelten Druckwerte von über 140/90 mmHg als hyperton. Die oberen Grenzwerte der Deutschen Hochdruckliga berücksichtigen dagegen die Altersabhängigkeit des Blutdrucks: ➤ bis zum 40. Lebensjahr: 140/90 mmHg, ➤ 40.–60. Lebensjahr: 150/90 mmHg, ➤ ab dem 60. Lebensjahr: 160/90 mmHg. Einteilung. Auch die Einteilung der Hypertonie in verschiedene Schweregrade ist problematisch. Gebräuchlich sind u. a. die Kriterien der WHO und des Joint National Committee (JNC). Die WHO klassifiziert die Hypertonie getrennt nach systolischen und diastolischen Werten. Für den systolischen Wert gilt dabei: ➤ < 140 mmHg: normal, ➤ 140–160 mmHg: Grenzwerthypertonie, ➤ > 160 mmHg: Hypertonie. Der diastolische Wert wird differenzierter bewertet: ➤ < 85 mmHg: normal, ➤ 85–89 mmHg: hoch normal, ➤ 90–104 mmHg: milde Hypertonie, ➤ 105–115 mmHg: moderate Hypertonie, ➤ ≥ 115 mmHg: schwere Hypertonie. Die Klassifikation des Joint National Committee (JNC) weicht von derjenigen der WHO ab und teilt den Schweregrad einer Hypertonie folgendermaßen ein: ➤ < 130/< 85 mmHg: normal, ➤ 130–139/85–89 mmHg: hochnormal, ➤ 140–159/90–99 mmHg: milde Hypertonie, ➤ 160–179/100–109 mmHg: mittelschwere Hypertonie, ➤ 180–209/110–119 mmHg: schwere Hypertonie, ➤ > 210/> 120 mmHg: sehr schwere Hypertonie. Die Prävalenz der arteriellen Hypertonie steigt mit dem Alter an und liegt zwischen 10 und über 35 %. Im jüngeren Lebensalter sind Männer vermehrt betroffen, im höheren Alter (Postmenopause bei Frauen) gleichen sich die Geschlechterunterschiede aus. Primäre (essenzielle) Hypertonie. Die Ätiologie dieser häufigsten Form (> 90–95 %) ist vielschichtig und bleibt in den meisten Fällen unklar. Zu den Risikofaktoren zählen: ➤ genetische Faktoren (z. B. Salzempfindlichkeit, Veränderungen des Angiotensinogen-Gens, sympathoadrenerge Aktivität), ➤ Ernährungsfehler und Übergewicht, ➤ Stress, ➤ möglicherweise psychische und soziale Faktoren. Sekundäre Hypertonie. Bei diesen Formen bestehen fassbare Ursachen für die Hypertonie, z. B.: ➤ renovaskuläre Hypertonie: häufigste Ursache einer sekundären Hypertonie (3–5 % aller Hypertonien). Meist arteriosklerotische Nierenarterienstenose (70–75 %), seltener Thrombose, Embolie oder Arteriitis der A. renalis oder angeborene Defekte wie die fibromuskuläre Dysplasie; die Verminderung der Nierendurchblutung führt über das Renin-Angiotensin-System zur Hypertonie, ➤ renoparenchymatöse Hypertonie: durch Parenchymveränderungen (z. B. Zysten, nephritische Veränderungen) Einschränkung der Natrium- und Volumenausscheidung, ➤ endokrine Hypertonie (Cushing-Syndrom: Erhöhung der Glucocorticoide, Conn-Syndrom: Erhöhung der Mineralocorticoide, Phäochromozytom: überschießende Catecholaminsekretion, primärer Hyperreninismus), ➤ Aortenisthmusstenose (Hypertonie der oberen Körperhälfte, S. 80), ➤ Schwangerschaftshypertonie (EPH-Gestose), ➤ medikamentös induzierte Hypertonie (z. B. hormonelle Kontrazeptiva, Steroide, Sympathikomimetika, Carbenoxolon, Ciclosporin). 92 aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag Hypertonie I Ätiologie der Hypertonie Essenzielle Hypertonie Ätiologie unbekannt parenchymale Nierenerkrankungen Glomerulonephritis chronische Pyelonephritis diabetische Nephropathie interstitielle Nephritis polyzystische Nieren "connective tissue disease" Hydronephrose renovaskuläre Erkrankungen arteriosklerotische, thrombotische oder embolische Verlegung fibromuskuläre Hyperplasie Aneurysma oder Aortendissektion Entzündung Hypoplasie Hypernephrom Tumor der juxtaglomerulären Zellen Wilms-Tumor solitäre Nierenzyste Perirenitis renales Hämatom Nephrosklerose Systolische und diastolische Hypertonie Nierenerkrankungen Erkrankungen der Nebenniere kortikal Hyperaldosteronismus Cushing-Syndrom adrenogenitales Syndrom Isolierte systolische Hypertonie Rückenmarksdurchtrennung Hirntumoren Enzephalitis Polyneuritis Neurologische Erkrankungen erhöhter intrakranialer Druck bulbäre Poliomyelitis dienzephale Syndrome Neuroblastom Hämatologische Erkrankungen Polyzythämie Erythropoetin-Therapie Erkrankungen der Schilddrüse und Nebenschilddrüse Hyperparathyreoidismus andere Ursachen einer Hyperkalzämie Myxödem Hyperthyreoidismus Aortenstenose thorakale Aortenstenose abdominale Aortenstenose (mit/ohne Einbeziehung der A. renalis) Schwangerschaftstoxikose Präeklampsie Eklampsie Medikamente und Ernährung orale Kontrazeptiva Östrogene Lakritze Ciclosporin Cocain Amphetamine Sympathomimetika MAO-Hemmer erhöhtes linksventrikuläres Schlagvolumen totaler AV-Block Aortenklappeninsuffizienz persistierender Ductus arteriosus arteriovenöse Fisteln schwere Anämie Beriberi Morbus Paget verminderte Elastizität der Aorta Arteriosklerose der Aorta Aortenisthmusstenose aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag Kreislauf und Gefäße medullär - Phäochromozytom 93 Arterielle Hypertonie Klinik Primäre Hypertonie. Die primäre Hypertonie ist meist eine Zufallsdiagnose, da die Mehrzahl der Hypertoniker lange Zeit keine Beschwerden hat. Erst durch sekundäre Organschäden werden Symptome verursacht (S. 96). Mitunter sind rezidivierende Kopfschmerzen, Palpitationen oder Sehstörungen erste Anzeichen. Sekundäre Hypertonie. Bei diesen Hypertonieformen steht die Symptomatik der Grunderkrankung im Vordergrund. Kreislauf und Gefäße Diagnostik 94 Anamnese. Neben der Erhebung der Beschwerden, ihrer Dauer und ihres Verlauf, ist die Erfassung von disponierenden Faktoren (Familienanamnese, berufliche Situation, Ernährungsgewohnheiten, Alkohol-, Koffein- und Nikotinkonsum) sowie von zusätzlichen Risikofaktoren für kardiovaskuläre Folgeschäden (Stoffwechselstörungen wie Diabetes mellitus, Fettstoffwechselstörungen) wichtig. Blutdruckmessung. Der Blutdruck sollte nach 2–3 min Ruhe im Sitzen an beiden Armen gemessen werden. Eine Druckdifferenz von mehr als 20 mmHg zwischen beiden Armen bedarf der Abklärung. Wichtig ist, dass die Blutdruckmanschette dem Oberarmumfang angepasst ist. Bei sehr kräftigen Oberarmen wird eine Oberschenkelmanschette verwendet, bei Kindern und sehr zierlichen Personen eine schmale Manschette. Ein einzelner erhöhter Messwert hat keine große Aussagekraft, muss aber kontrolliert werden. Bestehen über mehrere Messungen an verschiedenen Tagen chronisch erhöhte Werte, muss eine weitere Diagnostik eingeleitet werden. In unklaren Fällen kann eine 24-h-Blutdruckmessung sinnvoll sein. Körperliche Untersuchung. Zur Beurteilung des Gefäßsystems wird ein Pulsstatus erhoben und eine Auskultation der großen Gefäße (A. carotis, A. femoralis, A. renalis) vorgenommen. Zur Einschätzung der kardialen Situation dient die Auskultation. Labor. Zur Routinediagnostik bei Hypertonieverdacht gehören Kreatinin, Kalium und Harnsäure (Nierenstatus) sowie Glucose und Cholesterin/Triglyceride (Stoffwechsel). Außerdem empfiehlt sich die Urinuntersuchung auf Glucose, Protein und Sediment. Weitere Diagnostik. Bei erwiesener Hypertonie wird die Diagnostik ausgeweitet auf mögliche Ursachen einer sekundären Hypertonie und evtl. bereits eingetretene Folgeschäden (S. 96). Therapie Therapieziel ist es, den Blutdruck auf einen Wert von 140/90 mmHg zu senken. Höhere Werte sollten nur bei Schwangeren, Patienten über 65 Jahre und Diabetikern mit einer Nephropathie toleriert werden. Allgemeine Maßnahmen. Nur bei einer milden Hypertonie kann zunächst ein Versuch mit allgemeinen Maßnahmen durchgeführt werden: ➤ Gewicht reduzieren, ➤ Kochsalzzufuhr einschränken ➤ nur mäßig Kaffee und Alkohol, Nikotinkarenz, ➤ geregelte Lebensführung anstreben und beruflichen Stress vermeiden, ➤ regelmäßig leichten Ausdauersport betreiben. Medikamentöse Therapie. Bringen die allgemeinen Maßnahmen innerhalb von 2–3 Monaten keine ausreichende Wirkung, muss der Blutdruck zur Vermeidung von Sekundärschäden zusätzlich medikamentös gesenkt werden. Die medikamentöse Hypertonietherapie folgt einem festen Schema. Als Antihypertonika stehen zur Verfügung: ➤ Diuretika, ➤ Betablocker, ➤ Calciumantagonisten, ➤ ACE-Hemmer, ➤ postsynaptische Alphablocker. Begonnen wird die Behandlung mit einer Monotherapie mit einem der genannten Medikamente (Stufe 1). Bringt dies nicht den gewünschten Erfolg, muss ebenso wie primär bei einer schweren Hypertonie eine Zweierkombination (Wechselwirkungen beachten!) eingesetzt werden (Stufe 2). Reicht auch dies nicht aus, wird eine Dreierkombination versucht (Stufe 3). Reicht auch diese Stufe nicht aus, sollte erneut das Bestehen einer sekundären Hypertonie überdacht und der Patient in eine Hypertonie-Ambulanz überwiesen werden. Ab der Stufe 2 kann das medikamentöse Spektrum ausgeweitet werden, z. B. mit einem zentralen Sympatholytikum, ATI-Rezeptorantagonisten, Minoxidil oder Reserpin. aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag Hypertonie II Ätiologie und Pathogenese Klinik verminderte Empfindlichkeit der Barorezeptoren häufig asymptomatisch, evtl. Symptome der zerebro- oder kardiovaskulären Insuffizienz nach dem Aufstehen häufig Hypotonie; daher Messung erst nach 3 min Stehen Kreislauf und Gefäße erhöhter peripherer Widerstand erniedrigter Reninspiegel, erhöhte Natriumempfindlichkeit verminderte glomeruläre Filtrationsrate verminderte maximale Ausscheidung von Natrium Eine Pseudohypertonie muss erwogen werden, wenn unter antihypertensiver Therapie synkopale Symptome auftreten. Evtl. treten hypertone Werte auch nur beim Arztbesuch auf („Weißkittel-Syndrom“). Nierenarterienstenose 95 aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag Lunge Infektiöse Lungenerkrankungen Definition und Ätiologie Pneumokokken-Pneumonie Pneumonien sind infektiöse Lungenerkrankungen, bei denen das alveoläre Parenchym und/ oder das perilobuläre bzw. peribronchiale Interstitium betroffen sein können. Gemeinsam ist allen Pneumonieformen, dass betroffene Alveolen und Alveolargänge nicht mit Luft, sondern mit einem entzündlichen Infiltrat gefüllt bzw. Alveolarwände und Interstitium mit Entzündungszellen infiltriert sind. Ätiologische Einteilung. Die gängigste Klassifizierung ist die nach der Ätiologie: ➤ bakterielle Pneumonien (Pneumokokken, Haemophilus influenzae, Legionellen, Staphylokokken, Anaerobier), ➤ virale Pneumonien (Influenza-, Parainfluenza-, Adeno-Viren), ➤ Mykoplasma-Pneumonien (Mycoplasma pneumoniae), ➤ mykotische Pneumonien (Aspergillus, Candida), ➤ parasitäre Pneumonien (Pneumocystis carinii, Askariden), ➤ allergische Pneumonien (allergenbelastete Stäube, Ruptur von Echinokokkenzysten), ➤ Autoimmun-Pneumonien, ➤ chemische Pneumonien (Reizgase, metallhaltige Dämpfe, Säuren, Mineralöl, Medikamente), ➤ Strahlenpneumonie (ionisierende Strahlung). Seltenere weitere Erreger sind Rickettsien (Coxiella burnetii) und Chlamydien (Chlamydia psittaci). Gelegentlich wird eine Pneumonie nicht infektiöser Ursache auch als „Pneumonitis“ bezeichnet. Klinische Einteilung. Klinisch wichtiger ist die Unterscheidung in eine ambulant oder nosokomial erworbene Pneumonie. Einteilung nach Verlauf. In aller Regel verläuft die Erkrankung akut. Von einer chronischen Pneumonie spricht man, wenn nach 6 Wochen unter Behandlung keine wesentliche Befundbesserung eingetreten ist. Als atypische Pneumonie wird jede nicht bakterielle Form bezeichnet, deren Klinik nicht dem klassischen Bild der Pneumonie entspricht. Ätiologie und Epidemiologie. Streptococcus pneumoniae ist der häufigste bakterielle Erreger einer Pneumonie, aber auch bei über der Hälfte der gesunden Bevölkerung in den oberen Atemwegen nachweisbar. Die Erkrankung verläuft entweder als lobäre oder als Bronchopneumonie (A.). Gehäuft tritt sie im Winter und zu Frühjahrsbeginn auf, wobei sie meist nach mehreren Tagen einem Virusinfekt der Atemwege folgt. Vorwiegend sind Kinder und alte Menschen betroffen. Besonders anfällig sind Patienten nach Splenektomie oder mit Sichelzellanämie, die daher gegen Pneumokokken immunisiert werden sollten. Pathogenese und Verlauf. Nach Virusinfekten im oberen Respirationstrakt befinden sich im Nasen-Rachen-Raum vermehrt Sekret und damit eine größere Zahl potenziell pathogener Keime. Durch Aspiration des Sekrets gelangen Bakterien in die Alveolen, wo sie sich vermehren. Die typischen Lungenveränderungen lassen sich in 4 charakteristische Stadien einteilen, die sich im pneumonischen Herd von zentral nach peripher ausbreiten: ➤ Ödem und Anschoppung (1. Tag): entzündliches alveoläres Ödem, ➤ beginnende Verdichtung (2.–3. Tag): Leukozyten und Erythrozyten wandern ein (rote Hepatisation), ➤ fortgeschrittene Verdichtung (4.–8. Tag): Leukozyten und Makrophagen infiltrieren massenhaft die Alveolen (graue Hepatisation), ➤ Lyse (9.–10. Tag): Makrophagen treten an die Stelle der Granulozyten, das Exsudat wird enzymatisch aufgelöst und resorbiert. Auch wenn der klinische Verlauf durch die antibiotische Behandlung nicht mehr dem klassischen Bild entspricht, werden in der Lunge dennoch die genannten Stadien unverändert durchlaufen. 166 aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag Pneumonie/Pneumokokken-Pneumonie I A. Lobärpneumonie, rechter Lunge Oberlappen. Rote und graue Hepatisation (Übergangsstadium). Fibrinöses Pleuraexsudat B. Pneumonie im rechten Oberlappen und in einem Segment des rechten Unterlappens 167 C. Purulentes Sputum mit Pneumokokken (Gram-Färbung) D. Pneumokokkenkolonie auf Agarmedium aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag Infektiöse Lungenerkrankungen Lunge Pneumokokken-Pneumonie (Forts.) 168 Klinik. Die Pneumokokken-Pneumonie setzt typischerweise plötzlich mit Schüttelfrost und hohem Fieber (39–40 °C und darüber) ein. Kurz danach oder aber auch als Erstsymptom werden bei tiefer Atmung Schmerzen angegeben. Dies ist Ausdruck einer Pleurabeteiligung. Im weiteren Verlauf wird der Husten zum auffälligsten Symptom. Dabei wird typischerweise ein rötlicher bis rostbrauner blutig tingierter Auswurf abgehustet. Während des fiebernden Verlaufs leidet der Patient unter ausgeprägter Schwäche und schwerem Krankheitsgefühl. Häufig beobachtet man einen Herpes labialis (Fieberblasen). Es besteht eine Tachykardie und Tachypnoe, die Atmung ist jedoch flach, weil die betroffenen Lungenpartien geschont werden. Aus dem Zurückbleiben der Thoraxexkursionen während des Inspiriums lässt sich oft schon auf die Lokalisation der Pneumonie schließen. Die Pneumokokken-Pneumonie bleibt im Allgemeinen auf einen Lappen oder ein Segment beschränkt. Am häufigsten betroffen sind die Unterlappen und der Mittellappen. Diagnostik. Auskultatorisch imponieren Dämpfung, Bronchialatmung, verstärkter Stimmfremitus und feines Knisterrasseln (Crepitatio indux). Häufig ist ein Pleurareiben zu hören. Das Abdomen erscheint oft aufgetrieben. Im Blutbild findet sich typischerweise eine ausgeprägte Leukozytose mit deutlicher Linksverschiebung. Der Sputumausstrich zeigt nach Gram-Färbung massenhaft polymorphkernige Leukozyten und grampositive Diplokokken in großer Zahl (S. 166 C.). Sobald die Pneumonie beginnt sich zurückzubilden, tritt an die Stelle des Bronchialatmens und der feinen Knistergeräusche ein grobblasiges, feuchtes Rasseln (Crepitatio redux). In den darauf folgenden Wochen bildet sich das Infiltrat im Röntgenbild allmählich zurück. Bis zur vollständigen Resolution vergeht aber oft noch einige Zeit. Der hier geschilderte klassische klinische Verlauf ist durch die Anwendung von Antibiotika heute meist abgekürzt und so vollständig kaum mehr zu beobachten. Therapie. Mit Penicillin kann oft schon innerhalb von 24 Stunden eine auffällige Besserung erzielt werden; allerdings bleibt das Fieber oft noch einige Tage lang bestehen. Unterbleibt die Auflösung des Prozesses, muss an die Möglichkeit einer Bronchialobstruktion infolge eines Tumors gedacht werden. Jedoch auch ohne jegliche endobronchiale Veränderung normalisiert sich der Röntgenbefund mitunter erst langsam, insbesondere bei Beteiligung des rechten Oberlappens. Komplikationen (B.). Zu Komplikationen kann es im Frühstadium ebenso wie im gesamten Verlauf einer Pneumokokken-Pneumonie kommen. So treten kleine sterile Pleuraergüsse als Folge der entzündlichen Beteiligung der Pleura über dem betroffenen Lungenareal auf. Gelegentlich, und zwar meist bei Alkoholikern, die oft erst spät zum Arzt kommen, enthält das Exsudat Keime, sodass sich ein Pleuraempyem ausbildet. Zur diagnostischen Abgrenzung ist eine Thoraxpunktion, zur Beherrschung der Infektion und Prophylaxe von restriktiven Ventilationsstörungen eine Drainage erforderlich. Breitet sich der Infekt entweder per continuitatem aus dem Pleuraraum oder über eine Bakteriämie in das Perikard aus, entsteht eine purulente Perikarditis. Sie ist seit der Einführung der Antibiotika jedoch selten geworden, ebenso wie die akute bakterielle Endokarditis, die in der Regel an der Aortenklappe lokalisiert ist. Eine sehr seltene Komplikation ist der Lungenabszess. Er kann durch Pneumokokken mit nicht phagozytierbarer Kapsel verursacht werden. Meist liegt in diesen Fällen aber eine bakterielle Superinfektion mit Staphylococcus aureus oder Klebsiellen oder aber eine Bronchialobstruktion vor. Bei etwa 30 % der Pneumokokken-Pneumonien stellt sich eine Bakteriämie ein, die manchmal zu metastatischen Infektionen führt, worunter die Pneumokokkenmeningitis am häufigsten vorkommt. Sie muss bei Verwirrtheit und herabgesetztem Sensorium stets bedacht werden. An weiteren septischen Komplikationen kommen die Pneumokokkenarthritis und Pneumokokkenperitonitis vor. Bei Asplenie oder nach Splenektomie kann eine schwere und fulminant verlaufende disseminierte intravasale Koagulopathie auftreten. aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag Pneumokokken-Pneumonie II Zone des entzündlichen Ödems Alveolen sind mit keimhaltiger Ödemflüssigkeit angeschoppt Zone der fortgeschrittenen Verdichtung Exsudat mit massenhaft polymorphkernigen Leukozyten; Pneumokokken werden phagozytiert und zerstört normales Lungengewebe Lunge Zone der beginnenden Verdichtung Exsudat mit polymorphkernigen Leukozyten und einigen Erythrozyten Zone der Lyse Alveolarmakrophagen treten an die Stelle der Leukozyten A. Pathologische Veränderungen in verschiedenen Bezirken des pneumonischen Herdes septische Arthritis intravaskuläre Koagulopathie (bei Asplenie) purulente Perikarditis steriler Pleuraerguss Endokarditis Empyem B. Komplikationen bei Pneumokokkenpneumonie aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag 169 Leitsymptome Definition Unter Diarrhö versteht man die ➤ Zunahme der Stuhlfrequenz auf über 3-mal täglich, ➤ Erhöhung des Stuhlgewichts auf über 250 g täglich oder ➤ Vermehrung des Wasseranteils des Stuhls auf über 75 %. Außerdem unterscheidet man die akute Diarrhö und die länger als 4 Wochen (evtl. bis Monate) anhaltende chronische Diarrhö. Dünn- und Dickdarm Einteilung 294 Für die differenzialdiagnostische Betrachtung hat sich eine Einteilung der Diarrhö nach der Ätiologie bewährt. Infektiöse Diarrhö. Häufigste bakterielle Erreger in unseren Breiten sind E. coli, Staphylokokken, nicht typhöse Salmonellen, Campylobacter jejuni und Yersinia enterocolitica (S. 300 ff.). Nach Reisen in tropische Länder kommen Salmonella typhi (nicht typischerweise mit Durchfällen vergesellschaftet), Shigellen, sowie Vibrio cholerae hinzu. Häufigste Erreger der „Lebensmittelvergiftung“ sind Enterotoxin bildende Bakterien wie Staphylococcus aureus, Bacillus cereus und Clostridium perfringens. Virale Erreger einer Diarrhö sind Rotavirus, Adenovirus und Norwalkvirus. Als Protozoen kommen Gardia lamblia und nach Reisen ins Ausland Entamoeba histolytica infrage. Nebenwirkungen von Medikamenten. Hier kommen insbesondere Antibiotika und Zytostatika in Betracht. Eine Sonderstellung nimmt die pseudomembranöse Kolitis durch Clostridium difficile nach einer Antibiotikatherapie ein. Bei Jugendlichen, v. a. Mädchen, muss auch an einen Laxanzienabusus gedacht werden. Nahrungsmittelallergien. Zwar äußern sich diese häufiger in Haut- und Schleimhautsymptomen, Diarrhöen kommen jedoch vor. Erkrankungen, die zu einer Maldigestion führen. Typische Beispiele sind Gallensäureverlustsyndrom, exokrine Pankreasinsuffizienz und Gastrektomie. Erkrankungen, die zu einer Malabsorption führen. Hierzu gehören die Dünndarmerkrankungen Morbus Whipple (S. 342), einheimische Sprue (S. 344), eine Laktoseintoleranz, die Strahlenenteritis sowie die seltenen Tumoren des Dünndarms (S. 346 ff.). Erkrankungen des Kolons. Ein Kolonkarzinom führt manchmal zu paradoxen Diarrhöen, eine kollagene oder eosinophile Kolitis führt durch die Entzündung zu Durchfall. Chronisch entzündliche Darmerkrankungen. Morbus Crohn (S. 314 ff.), Colitis ulcerosa (S. 318), Colitis indeterminata. Funktionelles Darmsyndrom. Synonym: Reizdarm-Syndrom, Syndrom des irritablen Darms, Colon irritabile. Hierzu zählt ein Großteil der Patienten, bei denen organische Darmerkrankungen ausgeschlossen wurden. Endokrine Ursachen. Seltene Tumorerkrankungen mit Produktion von gastrointestinal wirksamen Hormonen bewirken massive Diarrhöen. Hierzu zählen das Karzinoid, Gastrinom und Vipom. Auch bei einer Hyperthyreose treten neben anderen Symptomen typischerweise Diarrhöen auf. Anamnese Die wichtigsten Hinweise auf die Ursache einer Diarrhö ergeben sich aus der Anamnese: ➤ Dauer, Frequenz, zeitliches Auftreten der Diarrhö im Tagesverlauf, ➤ Zusammenhang mit der Einnahme bestimmter Lebensmittel (Milch und Milchprodukte, Brot), ➤ Blut- oder Schleimbeimengung sowie begleitende abdominale Symptome wie Übelkeit, Erbrechen, Meteorismus oder Schmerzen. Von entscheidender Bedeutung ist auch, ob ein Aufenthalt im Mittelmeerraum und außereuropäischen Ausland den Beschwerden vorausgegangen ist. Die dortigen hygienischen Verhältnisse, der Genuss von „gefährlichen“ Nahrungsmitteln wie Muscheln, Schalentieren oder ungewaschenem Obst und das Auftreten von Diarrhöen bei Mitreisenden müssen erfragt werden. Ergänzt wird die Anamnese durch Fragen nach Gelenkbeschwerden, Hautveränderungen oder Augensymptomen. aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag Leitsymptom Diarrhö chirurgisch Hyperthyreose Nebennierenrindeninsuffizienz Vaguseinfluss (Hypermotilität des gesamten Verdauungstrakts) über sakrale Kerne vermittelte Einflüsse (Diarrhö wechselt mit Obstipation, z.B. irritables Kolon) Karzinoid (Serotoninproduktion) mechanisch harter Stuhl, Fremdkörper, Neoplasmen, Invagination, Kompression von außen, Abknickung bakteriell Salmonellen, Shigellen, Staphylokokken, Streptokokken, E. coli, Clostridien u. a. irritativ chemisch Toxine, Abführmittel parasitär Amöben, Trichinen, Askariden ernährungsbedingt Lebensmittelintoleranz, Vitaminmangel, ballaststoffreiche Kost osmotisch salinische Abführmittel Dünn- und Dickdarm Gastrektomie endokrin psychogen und/oder neurogen Vagotomie Arznei- oder Lebensmittelüberempfindlichkeit allergisch tropische und einheimische Sprue, Zöliakie, Morbus Whipple malabsorptionsbedingt entzündlich Morbus Crohn Colitis ulcerosa 295 aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag Leitsymptome Definition Die „normale“ Stuhlfrequenz ist eine interindividuell sehr variable Größe. Von 3-mal täglich bis 3-mal wöchentlich reicht die Bandbreite, die man als normal bezeichnet. Entsprechend versteht man unter „Obstipation“ eine Stuhlfrequenz von weniger als 3-mal wöchentlich, häufig verbunden mit hartem Stuhlgang und Schmerzen bei der Defäkation. Epidemiologie Dünn- und Dickdarm Die Obstipation ist das in der klinischen Praxis am häufigsten geklagte Einzelsymptom. Etwa 10–20 % der Bevölkerung der Industriestaaten klagen über Obstipation, wobei der Anteil mit zunehmendem Alter ansteigt. Frauen sind häufiger betroffen als Männer. 296 Einteilung Einteilung der Obstipation nach der Ätiologie: Chronische funktionelle Obstipation. Die Obstipation ist bei dieser häufigsten Ursache das Resultat der Lebensführung. Eine faserarme Ernährung, geringe Flüssigkeitsaufnahme, Bewegungsmangel und sitzende Tätigkeit sowie die häufig situativ bedingte Unterdrückung des Defäkationsreizes führen zur Obstipation. Beim funktionellen Darmsyndrom ist der Wechsel von Obstipation und Diarrhö typisch. Nebenwirkungen von Medikamenten. Hier kommen viele Medikamente sehr unterschiedlicher Substanzgruppen in Betracht. Häufig führen Antazida, Anticholinergika, Opiate einschließlich Codein, Antidepressiva, Antihypertensiva, Antiepileptika, Colestyramin, Neuroleptika, Antiarrhythmika und Eisenpräparate zur Obstipation. Elektrolytstörungen. Eine Hyperkalzämie und insbesondere eine Hypokaliämie führen zur Hypomotilität des Darms. Besonders fatal ist die Hypokaliämie, wenn sie durch einen Laxanzienabusus hervorgerufen wird, der hierdurch noch gesteigert wird. Erkrankungen, die zu einer intestinalen Obstruktion führen. Hierzu zählen im Dünndarm Tumoren, narbige Strikturen und Stenosen, Fremdkörper, Briden, Volvulus und Hernien. Im Dickdarm handelt es sich eher um Adenome, Divertikel oder Karzinome. Entzündliche Erkrankungen des Bauchraums. Alle entzündlichen Erkrankungen des Darms oder anderer Abdominalorgane können reflektorisch zu einer Darmparalyse führen. Am häufigsten sind die Divertikulitis, Appendizitis, Cholezystitis, ein intraabdominaler Abszess, die Pankreatitis und gynäkologische Entzündungen. Analerkrankungen. Schmerzhafte Fissuren, Analthrombosen, Ekzeme, Hämorrhoiden, Fisteln oder Abszesse können durch fortgesetzte Unterdrückung der schmerzhaften Defäkation zu dauerhafter Obstipation führen. Erkrankungen, die zu einer neurogenen Störung des Darms führen. Hierzu gehören das diabetische Spätsyndrom mit autonomer Neuropathie, der Morbus Parkinson sowie die multiple Sklerose. Endokrine Störungen. Sowohl während einer Schwangerschaft als auch bei einer Hypothyreose kommt es hormonell bedingt zu einer Obstipation. Anamnese Bei der Obstipation ist die Unterscheidung zwischen akuter und chronischer, d. h. der über mehrere Monate anhaltenden Verstopfung, am wichtigsten. Eine akute, neu aufgetretene Obstipation spricht eher für eine organische Ursache, während eine chronische Problematik eher auf eine funktionelle Obstipation, manchmal auch auf eine neurotische Stuhlfixierung hinweist. Weitere Fragen müssen vorausgegangene Operationen, Entzündungen oder mögliche schmerzhafte anale Veränderungen sowie die Medikamenteneinnahme klären und Hinweise für eine endokrine Störung oder andere Grunderkrankung aufdecken. Von Bedeutung ist außerdem die tägliche Flüssigkeitsaufnahme und die Art der Ernährung, insbesondere der Anteil an faserreichen Nahrungsmitteln. Ergänzend wird explizit nach obstipierenden Nahrungsmitteln wie z. B. Weißmehlprodukten, Bananen, Schokolade und Kakao gefragt. aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag Leitsymptom Obstipation reduzierte Ernährung psychogen Obstipation und Diarrhö können wechseln (z.B. bei Colon irritabile) funktionell diätetisch verhaltensbedingt Fehlverhalten, Suppression des Stuhldrangs atonisch Darmwandatonie im Alter postdiarrhoisch Dünn- und Dickdarm obstipierende Nahrungsmittel (fester Stuhl) iatrogen nach dem Rauchen Barium • obstipierende Aluminiumhydroxid Agenzien Calciumkarbonat • eindickende Agenzien (Muzilaginosa) • inhibitorische Agenzien (z.B. Opiate, Anticholinergika) organisch Neoplasma Aganglionose Obstruktion reflektorische Obstipation bei Organerkrankung z.B. der Appendix Abszess Fissur Hämorrhoiden Analerkrankungen Anorexie durch systemische, lokale oder psychische Erkrankungen 297 aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag Strukturelle und funktionelle Lebererkrankungen Leber und Gallenwege Definition und Epidemiologie 378 Unter Leberzirrhose versteht man den irreversiblen Endzustand unterschiedlichster chronischer Lebererkrankungen, bei dem die normale Läppchen- und Gefäßarchitektur der Leber aufgehoben ist. Es entsteht eine entzündliche Fibrose mit Ausbildung bindegewebiger Septen und Regeneratknoten. Je nach Größe dieser Knoten unterscheidet man verschiedene Formen der Zirrhose: ➤ makronoduläre Form: Knoten > 3 mm, meist nach schweren Parenchymnekrosen oder bei rasch progredientem alkoholischem Leberschaden, ➤ mikronoduläre Form (auch als septale oder portale Form bezeichnet): Knoten < 3 mm, meist bei biliären Zirrhosen oder langsam progredientem alkoholischem Leberschaden, ➤ gemischte Form. Für Deutschland wird die Zahl der Zirrhosekranken auf mehrere Hunderttausend geschätzt; 75 % hiervon sind Männer. Eine Leberzirrhose bzw. ihre Komplikationen steht an 5. Stelle der häufigsten Todesursachen in Deutschland. Ätiologie In Europa liegen der Zirrhose meist die Alkoholkrankheit und die Hepatitis zugrunde, in den Entwicklungsländern sind es Infektionskrankheiten (z. B. Parasitosen). Alkohol. Für bis zu 70 % aller Leberzirrhosen ist in Europa und Nordamerika ein Alkoholabusus verantwortlich. Als toxische Alkoholmengen gelten für Männer 60 g/d bzw. für Frauen 20 g/d. Virushepatitis. Die posthepatitische Leberzirrhose bei chronischer Hepatitis macht 20–25 % aller Fälle aus. Medikamente. Schädigungen der Leber durch Medikamente äußern sich eher in einer akuten oder chronischen Hepatitis; eine Leberzirrhose durch Medikamente oder andere Toxine ist seltener. Weitere Erkrankungen. Seltenere Ursachen einer Leberzirrhose sind: ➤ autoimmune Hepatitis, ➤ primär biliäre Zirrhose, ➤ primär sklerosierende Cholangitis ➤ α1-Antitrypsinmangel, ➤ Abetalipoproteinämie, ➤ Morbus Wilson, ➤ Hämochromatose, ➤ Galaktosämie, ➤ Glykogenosen, ➤ Tyrosinämie I, ➤ Mukoviszidose, ➤ hepatische Porphyrie, ➤ eine „cirrhose cardiaque“ bei chronischer schwerer Rechtsherzinsuffizienz mit Leberstauung (z. B. bei Perikarditis constrictiva) ist eine Rarität. Bis zu 10 % der Leberzirrhosen bleiben ätiologisch unklar (kryptogene Leberzirrhose). Klinik Beschwerden treten meist spät auf und sind zunächst unspezifisch. Es handelt sich v. a. um Allgemeinsymptome wie Müdigkeit, Antriebsschwäche und Abgeschlagenheit. Dazu kommen ebenfalls unspezifische intestinale Probleme wie Appetitlosigkeit, Völlegefühl, Verdauungsbeschwerden sowie ein Druckgefühl im Epigastrium oder in der Leberloge am rechten Rippenbogen. Zu den etwas spezifischeren Klagen der Patienten zählen hormonelle Störungen. Männer berichten über Libido- und Potenzstörungen, Frauen über Zyklusstörungen oder eine Amenorrhö. Während der floriden Phase der Leberzirrhose treten auch Fieber und Leberschmerzen auf, welche aber sehr oft nicht beachtet werden, ebenso wie der zunehmende Bauchumfang („Gürtel passt nicht mehr“) oder die Beinödeme. Ein erheblicher Teil der Patienten sucht erst bei der Dekompensation der Leberzirrhose (Ikterus, Aszites, hepatische Enzephalopathie) einen Arzt auf oder wird sogar erst durch Komplikationen, z. B. eine Ösophagusvarizenblutung, erstmalig klinisch auffällig. aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag Leberzirrhose I Leber und Gallenwege Fettleber mit beginnender Zirrhose Makronoduläre Zirrhose Mikronoduläre Zirrhose aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag 379 Strukturelle und funktionelle Lebererkrankungen Einteilung Zur Einschätzung der Schwere bzw. der Prognose einer Leberzirrhose hat sich die Stadieneinteilung nach Child-Pugh bewährt: Kriterien 1 Punkt 2 Punkte 3 Punkte Albumin (g/l Serum) > 3,5 2,8–3,5 < 2,8 Bilirubin < 35 (µmol/l Serum) 35–50 < 50 INR < 1,7 1,7–2,3 > 2,3 Aszites 0 + ++ Grad I–II Grad III–IV Leber und Gallenwege Hepatische 0 Enzephalopathie 380 Die Punktwerte der erhobenen Parameter werden zusammengezählt. Aus der Summe wird das Child-Stadium abgeleitet: ➤ 5–6 Punkte: Child A, ➤ 7–9 Punkte: Child B, ➤ 10–15 Punkte: Child C. Diagnostik Anamnese. Wichtig ist eine ausführliche Anamnese. Gefragt werden muss insbesondere nach Alkohol- und Medikamentenkonsum, Bluttransfusionen in der Vergangenheit sowie durchgemachten Hepatitiden. Habitus. Der erfahrene Untersucher kann die Diagnose oft bereits anhand des typischen äußeren Erscheinungsbildes der Patienten stellen oder zumindest vermuten. Diese haben im Vergleich zum voluminösen Abdomen häufig durch eine Muskelatrophie sehr schlanke Arme und Beine (bis auf die Beinödeme). Durch den erhöhten intraabdominalen Druck bei Aszites ist ein Nabelbruch häufig. Haut. Die Haut ist oft atroph („Geldscheinhaut“), mitunter ikterisch oder hyperpigmentiert und zeigt kleine Einblutungen. Typische Leberhautzeichen sind venöse Teleangiektasien und Spider naevi, am zahlreichsten im Gesicht, am Dekolleté und am oberen Rücken. Oft findet man ein Palmarerythem, mitunter auch eine Dupuytren-Kontraktur. Außerdem sind eine weiße Verfärbung und eine Uhrglasdeformierung der Nägel nicht selten. Am Abdomen bilden sich Striae, bei Männern kommt es zur Bauchglatze, zum Verlust der Brustbehaarung und zu einer Gynäkomastie. Die Haut weist aufgrund des Juckreizes häufig überall am Körper Kratzspuren auf. Ein „Caput medusae“, ein Umgehungskreislauf der Bauchhautvenen über die V. umbilicalis, findet sich nur bei 1 % der Patienten. Zum typischen Bild des Zirrhotikers gehören glatte, glänzende, hochrote Lippen („Lacklippen“), Mundwinkelrhagaden und eine glatte, hochrote Zunge („Lackzunge“). Hormonelle Störungen. Bei Männern kommt es durch das Hormonungleichgewicht zu einer Gynäkomastie, dem Verlust der männlichen Sekundärbehaarung („Bauchglatze“) und einer Hodenatrophie. Weitere körperliche Befunde. Typisch ist eine vergrößert tastbare Leber mit höckeriger Oberfläche. Erst im Spätstadium ist die Leber verkleinert und nicht mehr tastbar, was eine schlechte Prognose andeutet. Nicht selten findet man Hinweise auf neurologische Störungen wie eine periphere Polyneuropathie oder eine funikuläre Myelose. Labor. Die INR ist erhöht, Albumin und Cholinesterase sind vermindert. Die Transaminasen und das Bilirubin können je nach zugrunde liegender Erkrankung normal oder pathologisch sein, ebenso Ammoniak. Bei unklarer Ätiologie der Zirrhose gehören noch weitere Laboruntersuchungen zur Erstdiagnostik, z. B.: ➤ Serologie auf Hepatitis-, Zytomegalie- und Epstein-Barr-Virus, ➤ Kupfer, Coeruloplasmin, Eisen und α1-Antitrypsin. Bildgebende Verfahren. Die Sonographie gibt Auskunft über Größe und Beschaffenheit der Leber, über eine Splenomegalie und über Aszites. Invasive Verfahren. Die einzige verlässliche Methode zur Diagnosesicherung ist die histologische Untersuchung einer Leberbiopsie. Die perkutane, sonographisch gesteuerte Leberpunktion weist allerdings eine hohe Rate falsch negativer Befunde auf. Sicherer ist eine laparoskopisch gewonnene Biopsieentnahme, bei der auch eine makroskopische Beurteilung der intraabdominalen Situation möglich ist. aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag Leberzirrhose II Leberinsuffizienz Effekte des Leberschadens Östrogendominanz Effekte der portalen Hypertension portale Hypertension an sich Hypersplenismus Koma Ikterus Knochenmarkveränderungen Spider naevi Verlust der Brustbehaarung Ösophagusvarizen Gynäkomastie Splenomegalie Leberschaden Aszites Aszites Bauchglatze Palmarerythem Leber und Gallenwege Caput medusae Hodenatrophie Anämie Anämie Leukopenie Thrombozytopenie Blutungsneigung Knöchelödeme Knöchelödeme 381 aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag Strukturelle und funktionelle Lebererkrankungen Leber und Gallenwege Therapie Die Rückbildung einer einmal eingetretenen Leberzirrhose ist nicht möglich. Die therapeutischen Maßnahmen zielen daher auf die Behandlung bzw. Prophylaxe der Komplikationen ab. Alkoholkarenz. Wichtigste Basismaßnahme ist das Meiden der auslösenden Noxe. Nur eine strikte Alkoholkarenz kann das Fortschreiten der Erkrankung aufhalten. Ernährung. Gerade bei Alkoholabhängigen ist häufig eine ausgewogene Ernährung nicht gewährleistet. Daher muss zur suffizienten Nährstoff- und Energieversorgung auf eine Normalisierung der Ernährung hingewirkt werden. Besondere diätetische Maßnahmen sind erforderlich bei hepatischer Enzephalopathie (Eiweißrestriktion), Diabetes (Kohlenhydratbilanzierung), Aszites (Salz- und Flüssigkeitsrestriktion) oder Gallensäuremangel (Fettersatz durch mittelkettige Triglyceride). Substitution. Zusätzlich zu einer ausgewogenen Ernährung müssen Substrate, die durch die Synthese- und Stoffwechselstörungen der Leber nicht mehr in ausreichender Menge verfügbar sind, substituiert werden, z. B. Vitamine und Spurenelemente. Außer bei der biliären Zirrhose sollte jedoch nicht blind substituiert werden, sondern nur bei einem nachgewiesenen Mangel oder einer Mangelsymptomatik. Bei Gerinnungsstörungen wird Vitamin K1 gegeben, bei Anämie Vitamin B12 und Folsäure. Weitere häufige Mangelzustände betreffen die Vitamine B1 und B6 sowie die Spurenelemente Zink und Eisen. Lebertransplantation. Bei fortschreitendem Organausfall ist die einzige Therapieoption die Lebertransplantation. Komplikationen 382 Ösophagusvarizenblutung. Eine typische Folge des Pfortaderhochdrucks (S. 386) ist die Ausbildung von portalen Umgehungskreisläufen. Die erweiterten Venen im Kollateralstromgebiet können bei Ruptur erheblich bluten. Am gefürchtetsten sind Blutungen aus Ösophagus- (S. 256), Kardia- und Fundusvarizen. Etwa 50 % der Leberzirrhosepatienten entwickeln Ösophagusvarizen, 30 % davon erleiden auch eine Blutung. Diese tritt meist ohne Prodromi auf. Aszites. Der Aszites (S. 388) bei Leberzirrhose geht einerseits auf den Pfortaderhochdruck zurück, andererseits auf den erniedrigten onkotischen Druck aufgrund der Hypalbuninämie. Kleinere Aszitesmengen bleiben in aller Regel klinisch unauffällig. Erst bei größeren Flüssigkeitsansammlungen kommt es zu Dyspnoe, abdominalem Druckgefühl und einer merklichen Umfangszunahme, später auch zu Hernien. Spontane Peritonitis. Insbesondere bei einem zirrhotisch bedingten Aszites kann eine spontane bakterielle Peritonitis auftreten (s. a. S. 388). Die Keime gelangen durch eine Durchwanderung der Darmwand oder hämatogen in die Bauchhöhle. Hepatische Enzephalopathie. Die Stoffwechselstörungen bei Leberzirrhose führen zu toxischen Effekten im Gehirn (hepatische Enzephalopathie, S. 390). Diese basieren einerseits auf einer Erhöhung der Ammoniakkonzentration, andererseits auf Veränderungen des Aminosäurestoffwechsels. Es kommt letztlich zu Veränderungen der Blut-Hirn-Schranke und zur Bildung von „falschen Transmittern“. Hepatorenales Syndrom. 40 % der Zirrhosepatienten mit Aszites und fortgeschrittener Leberinsuffizienz entwickeln ein hepatorenales Syndrom (s. a. S. 388). Dabei handelt es sich um ein oligurisches Nierenversagen, ohne dass eine eigenständige Nierenerkrankung besteht. Hepatozelluläres Karzinom. Eine Leberzirrhose erhöht das Risiko für ein hepatozelluläres Karzinom (HCC, S. 408). Besonders hoch ist das Risiko für Patienten, deren Zirrhose auf dem Boden einer chronischen Hepatitis entstanden ist. Etwa 3 % aller Zirrhosepatienten entwickeln ein HCC. Umgekehrt weisen Patienten mit einem hepatozellulären Karzinom in 80 % der Fälle eine Leberzirrhose auf. Leberkoma. Unterschieden werden 2 Formen des Verlusts der Leberfunktion: ➤ Leberausfallskoma: Leberfunktionsstörung durch mangelnde portale Durchblutung, ➤ Leberzerfallskoma: Leberfunktionsstörung durch Verlust funktionsfähiger Hepatozyten (Nekrosen, Raumforderungen, portosystemische Shunts). aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag Leberzirrhose III V. cava superior V. azygos Ösophagus rechter Vorhof Ösophagusvarizen V. cava inferior knotige Regeneration und Fibrosierung führen zur Obstruktion der sublobulären Venen und der Zentralvenen V. hepatica Milz arteriovenöse Anastomosen in fibrösen Septen Leber und Gallenwege V. gastrica brevis V. gastrica sinistra Shunts zwischen Portalvenenund Lebervenenästen vermindern die Blutversorgung des Läppchenparenchyms V. splenica relative Zunahme des arteriellen Blutflusses Portalvenendruck steigt an Pathogenese der portalen Hypertension Regeneratknoten Lebervenen werden durch knotig umgebautes und fibröses Gewebe komprimiert Nekrose Portalvenenast Leberarterienast Shunts zwischen Portalgefäßen und Lebervenen in fibrösen Septen arteriovenöse Anastomosen in fibrösen Septen Ursachen der zirrhosebedingten Minderperfusion aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag 383 Endokrines Pankreas Endokrinologische Erkrankungen Definition 622 Der Diabetes mellitus („honigsüßer Durchfluss“) ist definiert als chronische Hyperglykämie. Dementsprechend orientiert sich die Einteilung des Diabetes am Blutglucosespiegel: ➤ Diabetes mellitus: Plasmaglucose nüchtern > 7,0 mmol/l (126 mg/dl) oder 2 h nach oraler Glucosebelastung (75 g) > 11,1 mmol/l (200 mg/dl), ➤ pathologische Glucosetoleranz: Plasmaglucose 2 h nach oraler Glucosebelastung (75 g) 7,8–11,1 mmol/l (140–200 mg/dl), ➤ gestörte Nüchternglucose: 6,1–7,0 mmol/l (110–126 mg/dl). Bei entsprechend langem Bestehen führt der Diabetes zu Störungen anderer Stoffwechselprozesse und zu Organschäden. Einteilung Primärer Diabetes mellitus. Die primäre Form des Diabetes mellitus wird unterteilt in: ➤ Insulinabhängiger Diabetes mellitus (IDDM). Er wird auch als Typ-I-Diabetes oder juveniler Diabetes bezeichnet. ➤ Nicht insulinabhängiger Diabetes mellitus (NIDDM). Er wird als Typ-II-Diabetes, Altersdiabetes oder als Untereinheit des metabolischen Syndroms bezeichnet. Der Subtyp IIa geht auf einen Postrezeptordefekt zurück und ist nicht mit einer Adipositas verbunden. Häufiger ist aber der Subtyp IIb, dessen Charakteristikum die Adipositas ist (klassische Form des Typ-II-Diabetes). ➤ Sonderformen, z. B. „Maturity Onset Diabetes in the Young“ (MODY, autosomal dominant vererbt, Glucokinasedefekt, Manifestation in Kindheit und Jugend). Sekundärer Diabetes mellitus. Der sekundäre Diabetes mellitus kann folgende Ursachen haben: ➤ Pankreaserkrankungen (z. B. chronische Pankreatitis, Malnutritionsdiabetes), ➤ endokrine Erkrankungen (z. B. Phäochromozytom, Cushing-Syndrom, Akromegalie, Hyperthyreose), ➤ iatrogene oder toxische Noxen (z. B. Glucocorticoide, Diuretika, Diazoxid, Ciclosporin, Cyclophosphamid), ➤ genetische Syndrome. Gestationsdiabetes. Eine Sonderform ist der Gestationsdiabetes, der als Folge der insulinantagonistischen Wirkungen von HPL, Cortisol, Progesteron und Prolactin angesehen wird. Epidemiologie und Ätiologie In den Industrieländern ist der Typ II des Diabetes mellitus am häufigsten (etwa 90 % der Patienten); nur etwa 10 % der Diabetiker haben einen Typ I-Diabetes. In Deutschland sind ca. 5 % der Bevölkerung an einem Diabetes erkrankt („Volkskrankheit“). Der Typ II ist am häufigsten im Alter von etwa 45–65 Jahren, der Typ I hat seinen Altersgipfel zwischen dem 10. und 25. Lebensjahr. Ätiologisch handelt es sich beim Typ I um eine immunologisch bedingte (selten auch idiopathische) Zerstörung der B-Zellen des Pankreas mit konsekutivem absolutem Insulinmangel. Der Typ II ist durch eine Insulinresistenz (v. a. in Leber, Muskeln und Fett) und eine Fehlfunktion der B-Zellen charakterisiert, die zu einem relativen Insulinmangel führen. Die Krankheitsentstehung beruht auf genetischen Faktoren, die mit äußeren Faktoren zusammenwirken (v. a. zentrale Adipositas). Bei eineiigen Zwillingen bekommen 30–40 % der Zwillingsgeschwister ebenfalls einen Typ I-Diabetes, wenn der erste Zwilling daran erkrankt ist; beim Typ-II-Diabetes betrifft dies 90 % der Zwillingsgeschwister. Folgekrankheiten Insbesondere die Gefäße sind von Veränderungen betroffen und führen indirekt zu den folgenden Komplikationen: ➤ Makroangiopathie mit der möglichen Folge einer KHK, zerebrovaskulären Insuffizienz, arteriellen Verschlusskrankheit und Nierenarterienstenose, ➤ Mikroangiopathie und mögliche Glomerulosklerose bzw. diabetische Retino- und Neuropathie. aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag Diabetes mellitus I Mikro- und makrovaskuläre Komplikationen des Diabetes mellitus Zerebrovaskuläre Komplikationen Diabetische Retinopathie Frühstadium Mikroaneurysmen Hämorrhagien Cotton-wool-Herde harte Exsudate zerebraler Insult durch Embolie oder Thrombose Spätstadium Kardiovaskuläre Komplikationen massive Hämorrhagie Retinitis proliferans Diabetische Nephropathie Glomerulosklerose Myokardinfarkt Endokrinologische Erkrankungen verengte Arteriden Atherosklerose der Aorten und der großen Arterien Dialysepflichtigkeit bei terminaler Niereninsuffizienz 623 aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag Endokrines Pankreas Endokrinologische Erkrankungen Klinik Typ-I-Diabetes. Die Patienten sind jung, meist zwischen 15 und 20 Jahre alt. Sie sind schlank, nicht selten untergewichtig. Relativ akut – häufig während oder kurz nach einer Infektion – kommt es zu: ➤ Polydipsie und Polyurie, ➤ Müdigkeit, allgemeiner Schwäche, ➤ Gewichtsabnahme, ➤ Sehstörungen, Muskelkrämpfen, ➤ Infektanfälligkeit und schlechter Wundheilung. Im Fall einer Ketoazidose sind außerdem abdominale Schmerzen, Übelkeit und Erbrechen, im schwersten Fall auch ein ketoazidotisches Koma möglich Typ-II-Diabetes. Charakteristisch für den nicht insulinabhängigen Typ sind: ➤ Übergewicht in ca. 90% (Typ IIb), ➤ Manifestation meist nach dem 40. Lebensjahr, ➤ allmähliche Entwicklung der Symptome. Verschiedene Faktoren können die Manifestation eines Typ-II-Diabetes begünstigen: ➤ körperliche Inaktivität, ➤ Schwangerschaft, ➤ Lebererkrankungen, ➤ Endokrinopathien wie Morbus Cushing, Akromegalie, Phäochromozytom oder Hyperthyreose, ➤ Stress, ➤ Medikamente. MODY. Die Patienten sind meist jünger als 25 Jahre und weisen die Anzeichen eines mäßigen Diabetes auf, der nicht insulinabhängig ist und bei dem kein ketoazidotisches Koma auftritt. Gestationsdiabetes. Er tritt in etwa 1–2 % aller Schwangerschaften auf und ähnelt meist dem Typ-II-Diabetes. Bei der Mutter besteht dadurch ein erhöhtes Risiko für eine EPH-Gestose bzw. ein Hydramnion, beim Fötus für eine Makrosomie, Hypoglykämie und ein Geburtstrauma. Diagnostik 624 Die Diagnose eines Diabetes kann durch die typische Anamnese, die typischen klinischen Befunde und die Labordiagnostik gesichert werden. Bei jeder Diabetesdiagnose müssen auch die evtl. bereits aufgetretenen Komplikationen festgestellt werden. Körperliche Untersuchung. Weil verschiedene Erkrankungen (mit den für sie typischen Symptomen) diabetogen wirken können (z. B. Lebererkrankungen, Endokrinopathien), und weil Folgeerkrankungen bereits Symptome hervorrufen können, ist eine Vielzahl von Befunden möglich. Der Gefäßstatus als Indiz für die Folgeschäden des Diabetes (Mikroangiopathie) ist am besten am Augenhintergrund zu untersuchen; dabei sind insbesondere Mikroaneurysmen, Verfettungen und fleckförmige Blutungen typisch. Labor. Mehrere Methoden zum Nachweis der pathologischen Veränderungen sind möglich: ➤ der Glucosespiegel wird mehrfach beim nüchternen Patienten gemessen, und zwar im Kapillar- oder Venenblut; ein Wert von über 6,1 mmol/l (110 mg/dl) ist kontrollbedürftig, ➤ die Bestimmung der Uringlucose ist durch Teststreifen möglich, aber unsicher, da die Nierenschwelle für Glucose (normal bei Werten zwischen 150 und 180 mg/dl) pathologisch verändert sein kann, ➤ eine Bestimmung der Ketonkörper ist nur bei schwerer Stoffwechselentgleisung indiziert; sie können im Urin und Plasma semiquantitativ nachgewiesen werden, ➤ glykiertes Hämoglobin ist ein guter Parameter zur Beurteilung der längerfristigen Stoffwechseleinstellung; bestimmt wird – meist alle 3 Monate – das HbA1c aus venösem oder Kapillarblut; der Wert sollte unter 6,5 % liegen, ➤ insbesondere beim Typ-I-Diabetes können Antikörper nachgewiesen werden (gegen Inselzellen, Insulin oder Glutamatdecarboxylase). Oraler Glucosetoleranztest (OGTT). Dieser Test wird in Zweifelsfällen zur Abklärung eingesetzt: Mindestens 3 Tage vor dem Test sollten die Patienten sich kohlenhydratreich ernähren, 8–12 Stunden vor dem Test aber nüchtern bleiben. Dann trinken sie innerhalb von 5 Minuten 75 g Glucose als 25%ige Lösung. Der kapilläre Blutglucosewert wird 60 und 120 Minuten nach dem Trinken gemessen: Der Wert ist normal ≤ 7,8 mmol/l (140 mg/dl), pathologisch verändert bei 7,8–11,1 mmol/l (140–200 mg/dl) und manifest diabetisch ≥ 11,1 mmol/l (200 mg/dl). aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag Typische Ulkuslokalisationen Schweres Knöchelulkus und Lymphödem Puls der A. dorsalis pedis nicht tastbar Onychomykose Fissuren Endokrinologische Erkrankungen Diabetes mellitus II Hyperkeratose Interdigitalmykose und Fissuren unter den Zehen Ausgedehnte Tinea pedis Onychomykose mit bröckeliger Nagelplatte und scharfen Nagelrändern Verlust der Behaarung Verdünnung und Atrophie der Haut Gangrän 625 Zehengangrän Diabetischer Fuß mit vaskulären und neuropathischen Veränderungen Aortographie: Verschluss der linken A. iliaca beim Diabetiker aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag Endokrines Pankreas Endokrinologische Erkrankungen Therapie 626 Patientenschulung. Die Diagnose „Diabetes“ bedeutet insofern einen Einschnitt für die Patienten, als sie ihre Ernährung (Diät, mehrere Mahlzeiten am Tag) und evtl. ihre Lebensweise (körperliche Bewegung, Fußpflege) umstellen müssen. Außerdem müssen sie evtl. mit Komplikationen (z. B. Hypoglykämie) umgehen lernen, mit Folgekrankheiten (Retinopathie, Neuropathie) leben und weitere Risikofaktoren (z. B. Alkohol, Rauchen) meiden. Im Fall einer medikamentösen Behandlung kommt die Selbstbestimmung des Blutzuckerwerts hinzu und evtl. der verantwortliche Umgang mit Insulin (Erlernen des geeigneten Spritz-Ess-Abstands, Verhalten in Ausnahmesituationen). Diät. Insbesondere übergewichtige Patienten sollten unbedingt kalorienreduziert essen. Der Kohlenhydratanteil der Nahrung sollte allen Diabetespatienten bekannt sein; dies umso mehr, wenn eine Insulintherapie notwendig ist. Es gelten folgende Regeln: ➤ Der Kohlenhydratanteil der Energiezufuhr sollte bei etwa 50 % liegen. Für die Berechnung der Broteinheiten (1 BE = 10–12 g Kohlenhydrate) gilt die Regel, dass die benötigte tägliche Kalorienmenge, geteilt durch 100, die maximale tägliche BE-Menge ergibt. ➤ Der Fettanteil sollte höchstens 30 % der Energiezufuhr ausmachen, zu je æße aufgeteilt in gesättigte, einfach ungesättigte und mehrfach ungesättigte Fettsäuren. ➤ Der Proteinanteil der Energiezufuhr sollte ca. 10–20 % ausmachen (bei bestehender Nephropathie eher weniger). ➤ Insgesamt ist die Verteilung der Mahlzeiten auf 3 kleine Haupt- und 3–4 Zwischenmahlzeiten günstig und vermindert das Risiko einer Hypoglykämie. Orale Antidiabetika. Erst wenn Diät und ausreichende körperliche Bewegung den Blutzuckerspiegel nicht weit genug senken, sind Antidiabetika indiziert: ➤ Kohlenhydratresorptionshemmer: Sie hemmen die Aufnahme von Kohlenhydraten in den Körper und sind insbesondere bei starken postprandialen Blutzuckerspitzen indiziert. Sie eignen sich zur initialen medikamentösen Therapie. ➤ Biguanide: Sie hemmen die hepatische Glucoseproduktion, verzögern die Aufnahme der Glucose im Darm und fördern die Verwertung der Glucose in der Zelle. Sie sind insbesondere bei adipösen Typ-II-Diabetikern indiziert. ➤ Sulfonylharnstoffe: Sie stimulieren die körpereigene Insulinsekretion und sind dementsprechend nur bei noch vorhandener Insulinproduktion indiziert. Sie stehen meist an letzter Stelle der oralen Medikation. Insulintherapie. Sie ist beim Sekundärversagen der oralen Medikation, beim Typ-I-Diabetes und beim Gestationsdiabetes indiziert. Grundsätzlich gibt es Insuline vom Rind bzw. Schwein oder synthetische Humaninsuline, die heute am häufigsten verwendet werden. Nach ihrer Wirkdauer können sie eingeteilt werden in: ➤ kurz wirksame Insuline: Normalinsulin (früher Altinsulin) und Insulin-Analoga. Sie wirken bereits nach ca. 15–30 Minuten und haben eine Wirkdauer von 2–5 (Insulin-Analogon) bzw. 5–8 h (Normalinsulin), ➤ verzögert wirksame Insuline: Darunter fallen das Intermediär-Insulin, das Depot-Insulin und das Langzeitinsulin, ➤ Mischinsuline. Die Insulinapplikation muss individuell optimiert werden, um das Ziel einer weitgehenden Normoglykämie zu erreichen: ➤ konventionelle Insulintherapie: Meist werden Ùße der Insulindosis morgens und æße abends appliziert. Der Tagesablauf muss dabei regelmäßig, die Nahrungsaufnahme auf meist 6 Mahlzeiten verteilt sein, ➤ intensivierte Insulintherapie: Das Basis-BolusKonzept beinhaltet 50 % der Gesamt-Insulindosis als Basalrate (Intermediärinsulin, Aufteilung auf 2–4 Applikationen) und 50 % als präprandialen Bolus (Normalinsulin) vor den Mahlzeiten, ➤ Insulinpumpentherapie: Sie ist bei Versagen der intensivierten Therapie indiziert; dabei wird kontinuierlich eine basale Insulinmenge abgegeben, deren Höhe der Tagesrhythmik angepasst ist; vor den Mahlzeiten wird jeweils ein zusätzlicher Bolus abgerufen. aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag Diabetes mellitus III Verlust des Vibrationsempfindens Spitzfuß Endokrinologische Erkrankungen Handgelenkschwäche Parästhesie, Hyperalgesie oder Hypästhesie Pupillenstörungen Orthostatische Hypotension Augenmuskelparese, Ptose, Strabismus rezidivierendes akutes Abdomen nächtlicher Durchfall Harnstau Impotenz Arthropathie Autonome Dysfunktion Neuropathisches (schmerzloses) Ulkus (Fluorescein-Demonstration der guten Blutversorgung) aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag 627 Endokrines Pankreas Endokrinologische Erkrankungen Definition Biochemisch werden sehr ähnliche Peptidhormone in Hypophysenvorderlappen, C-Zellen der Schilddrüse, B-Zellen der Bauchspeicheldrüse, G-Zellen des Magens und enterochromaffinen Darmzellen gebildet. Die diese Hormone produzierenden Zellen entstammen der Neuralleiste und haben die Fähigkeit, Amine bzw. deren Vorstufen aufzunehmen und zu decarboxylieren („amine precursor uptake and decarboxylation“). Sie werden daher zum APUD-System gerechnet. Treten in mehreren der genannten Organe gleichzeitig Adenome oder Karzinome auf, die sowohl kausal als auch zeitlich voneinander unabhängig sein können, spricht man von multipler endokriner Neoplasie (MEN). Diese kommt familiär gehäuft vor und lässt sich in 2 Typen einteilen: ➤ MEN I: Hyperplasie bzw. Adenome der Nebenschilddrüse, Adenome des Hypophysenvorderlappens und Inselzelladenome oder -karzinome, ➤ MEN II: medulläres Karzinom der Schilddrüse, multiple Phäochromozytome, Hyperplasie bzw. Adenome der Nebenschilddrüse. Das Insulinom tritt in 90 % der Fälle solitär auf und ist in etwa 10 % „Bestandteil“ einer MEN. Es ist insgesamt sehr selten und wird definiert als Adenom oder deutlich seltener auch Karzinom der B-Zellen des Pankreas, das Insulin (und/oder andere gastrointestinale Hormone) produziert und dabei nicht durch den Blutglucosespiegel beeinflusst wird. Klinik und Diagnostik 628 Symptomatik. Die durch das übermäßig vorhandene Insulin verursachten Symptome einer Hypoglykämie wurden vor der Entdeckung der Insulinwirkung (1921) einer Neurasthenie, Epilepsie oder Psychose zugeordnet. Typische Symptome sind: ➤ Hypoglykämien nach längerer Nahrungskarenz (z. B. nachts oder morgens) oder nach stärkerer körperlicher Anstrengung. ➤ Bei den hypoglykämischen Symptomen dominieren die neuroglykopenischen, d. h. es kommt zu Verwirrtheit, auffälligem Verhalten, Koma oder Krämpfen. Aber auch MagenDarm-Krämpfe sind möglich. ➤ Whipple-Trias: Damit wird das gleichzeitige Auftreten hypoglykämischer Symptome (z. B. morgendliche Magen-Darm-Beschwerden), einer Erniedrigung der Blutglucose und das Verschwinden der Symptome nach Glucosegabe bezeichnet. Die Symptome sollen beim Karzinom stärker ausgeprägt sein und häufiger auftreten als beim Adenom. 72-h-Fastentest. Um die Diagnose zu bestätigen, wird stationär ein 72-h-Fastentest durchgeführt. Dabei bleiben die Patienten über volle 3 Tage nüchtern und sollen viel trinken (2–3 l Mineralwasser täglich). Alle 4–6 Stunden werden die Spiegel von Blutzucker, Insulin, C-Peptid und Pro-Insulin bestimmt. Kommt es zu hypoglykämischen Symptomen, und liegt der Blutzuckerwert unter 45 mg/dl, oder liegt er bei 2 aufeinander folgenden Messungen unter 40 mg/dl, wird der Test abgebrochen. Sonst sprechen ein Endwert von weniger als 45 mg/dl bei gleichzeitigem Insulinwert von mehr als 6 mU/l für ein Insulinom. Lokalisationsdiagnostik. Mithilfe der Sonographie, CT und MRT kann die pathologische Veränderung im Pankreas nachgewiesen werden. Die Inselzelladenome sind dabei in aller Regel zwischen 0,5 und 2 cm groß und können multipel auftreten. Die Karzinome sind meist etwas größer. Therapie und Prognose Akute hypoglykämische Zustände müssen schnell durch eine intravenöse Glucosezufuhr therapiert werden. Langfristig sollte der Tumor reseziert werden. Eine medikamentöse Therapie ist beim Adenom nur indiziert, wenn der Patient inoperabel ist oder ein Tumor nicht nachgewiesen werden kann. Beim metastasierenden Insulinom kann eine Therapie mit Streptomycin und 5-Fluoruracil indiziert sein. Das Insellzellkarzinom metastasiert frühzeitig, am häufigsten in die Leber. aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag Inselzelladenom 80 mg/100 ml Hypoglykämie Inselzellkarzinom Tochtergeschwulst und Lebermetastasen Endokrinologische Erkrankungen Insulinom 629 aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag Schilddrüse Endokrinologische Erkrankungen Definition Jede Schilddrüsenvergrößerung wird als Struma bezeichnet und sagt nichts darüber aus, ob die Stoffwechsellage euthyreot, hypothyreot oder hyperthyreot ist. Je nach Größe und Symptomen werden Strumen wie folgt eingeteilt: ➤ Stadium I: tastbare Struma (Ia: solitärer Knoten, Ib: bei rekliniertem Kopf sichtbare Struma), ➤ Stadium II: bei normaler Kopfhaltung sichtbare Struma, ➤ Stadium III: sehr große und auf einige Distanz sichtbare Struma, ggf. mit Verdrängungssymptomen (z. B. Trachealeinengung). Wenn innerhalb eines geographisch umschriebenen Gebiets über 10 % der Bevölkerung eine Struma haben, spricht man von endemischer, andernfalls von sporadischer Struma. Da in Deutschland teils sogar weit mehr als 10 % betroffen sind (Strumaprävalenz bei Jugendlichen bis zu 50 %), gilt es als Strumaendemiegebiet. Ätiologie Mögliche Ursachen sind: ➤ Iodmangel (z. B. Iodmangelgebiete im Alpenraum) und Iodfehlverwertung, ➤ Morbus Basedow und andere Immunthyreopathien, ➤ Autonomie (z. B. Adenombildung), ➤ Medikamente (z. B. Carbimazol, Lithium, Phenytoin, Hydantoin), ➤ Schilddrüsenkarzinom (Struma maligna), ➤ Entzündungen, Zysten, ➤ Akromegalie. Die Schilddrüse kann dabei homogen (Struma diffusa) oder knotig (Struma nodosa) vergrößert sein. Klinik 630 Das Beschwerdebild hängt im Wesentlichen von Ursache und Größe ab und variiert zwischen völliger Beschwerdefreiheit bis zum Koma durch Stoffwechselentgleisung. Unabhängig von der Stoffwechsellage kann die Struma selbst zu Verdrängungserscheinungen führen, so z. B.: ➤ Atemnot durch Kompression der Trachea, ➤ Einflussstauung durch Kompression der großen Halsvenen, ➤ Schluckbeschwerden durch Kompression des Ösophagus, ➤ ggf. Schmerzen, wenn es zu intrathyreoidalen Einblutungen kommt. Diagnostik Anamnese. Fragen nach Schilddrüsenerkrankungen in der Familie und in der Eigenanamnese, der Geschwindigkeit des Strumawachstums (Malignom?), nach den Lebensumständen (z. B. iodiertes Speisesalz) und nach der Einnahme von Medikamenten mit strumigener Wirkung. Körperliche Untersuchung. Einteilung des Strumastadiums nach dem Inspektions- und Palpationsbefund: Größe, Beschaffenheit (diffuse oder knotige Vergrößerung, Konsistenz, tastbares Schwirren?), Verschieblichkeit, Druckschmerz? Labor. Als Basisuntersuchung werden TSH und T4 bzw. das freie T4 (fT4) im Serum bestimmt. Je nach Befund und/oder Klinik schließen sich weitere Laboruntersuchungen an, z. B. eine Antikörpersuche. Bildgebende Verfahren. Zur Basisdiagnostik gehört die sonographische Volumen- und Konsistenzbestimmung. Je nach Befund ist eine erweiterte Diagnostik indiziert, z. B. Schilddrüsenszintigramm (funktionelle Autonomie?), ggf. mit Suppressionstest, Röntgenuntersuchungen (z. B. bei großen Strumen, Tracheaeinengung, präoperativ; Breischluck bei Ösophaguseinengung). Schilddrüsenpunktion. Zum Ausschluss einer Entzündung oder eines Malignoms (z. B. bei „kaltem Knoten» im Szintigramm) ist eine Feinnadelpunktion mit zytologischer Diagnostik indiziert. Therapie und Prophylaxe Konservative Behandlung. Indikation sind alle diffusen Strumen, bei denen keine Autonomie festgestellt wurde. ➤ L-Thyroxin (Levothyroxin), um die TSH-Ausschüttung zu unterdrücken, ➤ Iodid, um die Wachstumsvorgänge innerhalb der Schilddrüse zu bremsen, ➤ kombinierte Gabe von L-Thyroxin und Iodid. Operative Therapie. Indiziert bei großen und verdrängend wachsenden Strumen sowie bei erfolgloser konservativer Therapie einer großen Struma. Radioiodtherapie. 131I wird gegeben, wenn ein hohes OP-Risiko besteht, bei Rezidivstruma, bei funktioneller Autonomie und evtl. bei Strumen, die auf Medikamente nicht ansprechen, für die aber auch keine OP-Indikation besteht. aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag Endokrinologische Erkrankungen Struma Knotige Struma Mäßige diffuse Struma Zungenstruma Szintigramm: Zungenstruma 631 aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag Schilddrüse Endokrinologische Erkrankungen Definition und Epidemiologie Der Begriff „Hyperthyreose“ umfasst alle Symptome, die verursacht werden durch eine inadäquat hohe, bedarfsunabhängige Konzentration von Schilddrüsenhormon. Einer solchen Situation können sehr unterschiedliche Erkrankungen zugrunde liegen. Nach der Iodmangelstruma ist die Hyperthyreose die häufigste Schilddrüsenerkrankung und betrifft etwa 5 % der Bevölkerung. Je nach Ursache tritt sie besonders häufig im 3.–4. Lebensjahrzehnt (Morbus Basedow) oder nach dem 50. Lebensjahr (funktionelle Autonomie) auf. Im Kindesalter ist die Hyperthyreose generell selten. Frauen sind etwa 5- bis 7-mal häufiger betroffen als Männer. Einteilung Die Einteilung der Hyperthyreose richtet sich nach ihrer klinischen Relevanz oder nach ihrer Ursache. Nach dem klinischen Bild unterscheidet man: ➤ latente oder subklinische Hyperthyreose (normale T4-Werte im Serum bei supprimiertem TSH-Spiegel), ➤ manifeste Hyperthyreose; ihre schwerste Ausprägung ist die thyreotoxische Krise. Die Einteilung nach Ätiologie und Pathogenese umfasst: ➤ Immunthyreopathien wie Morbus Basedow (ca. 30–50 %) oder im Rahmen entzündlicher Veränderungen (z. B. Hashimoto-Thyreoiditis), ➤ entzündliche Veränderungen, z. B. Thyreoiditis nach Strahlentherapie, Thyreoiditis de Quervain, ➤ funktionelle Autonomie (ca. 50–60 %), die disseminiert oder unifokal (veraltet: autonomes Adenom) bzw. multifokal auftreten kann, ➤ Tumoren, z. B. Karzinome oder Adenome, ➤ sekundäre Ursachen, z. B. Stimulierung durch TSH oder TSH-ähnliche Substanzen (Hypophysentumor, paraneoplastisches Syndrom) oder durch übermäßige exogene Iod- (z. B. Kontrastmittel) oder Thyroxinzufuhr (iatrogene Hyperthyreose, Hyperthyreosis factitia). sich trotz unterschiedlicher Ursachen prinzipiell sehr ähnlich, wenn auch je nach Krankheitsbild spezifische Symptome dazukommen können. Die unten genannten Symptome können im höheren Alter allerdings fehlen. Nicht selten verläuft die Hyperthyreose stattdessen oligosymptomatisch, maskiert oder untypisch. Allgemein besteht ein Hypermetabolismus, der alle Organsysteme beeinflusst und sich wie folgt äußert: Allgemeine Symptome. Appetitsteigerung, Gewichtsverlust, Wärmeintoleranz, Hyperaktivität, Reizbarkeit, vegetative Labilität, Konzentrationsschwäche. Haut. Die Haut ist meist warm, samtweich und durch eine erhöhte Schweißneigung feucht. Sie kann über- oder fehlpigmentiert sein. Die Haare sind fein und fallen leichter aus. Herz und Kreislauf. Hypertonie und Tachykardie sind typisch. Es besteht eine Neigung zu Herzrhythmusstörungen und Herzinsuffizienz (v. a. im höheren Alter). Vergrößerte Blutdruckamplitude, evtl. Mitralklappenprolaps. Blut. Leichte Anämien kommen vor. Bei Autoimmunprozessen evtl. Lymphozytose. Knochen und Muskulatur. In bis zu einem Drittel der Fälle kommen Muskelschwäche und -atrophien vor, evtl. auch Paralysen. Eine vermehrte Calciummobilisierung aus dem Skelett kann zur Osteoporose und zu leichten Hyperkalzämien führen. Magen-Darm-Trakt. Diarrhöen durch eine Übermotilität des Darms sind häufig. Nervensystem. Oft treten feinschlägiger Tremor, gesteigerte Reflexe, Unruhe und Schlafstörungen auf; gelegentlich psychoseartige Zustände oder Delir, selten Apathie (besonders bei alten Menschen). Augen. Die reine Hyperthyreose kann zu Augensymptomen führen, z. B. Glanzauge und weite Lidspalte. Zeichen der endokrinen Orbitopathie gehören aber nicht dazu, da sie eine eigene Krankheitsentität bilden. Schilddrüse. Häufig Struma. Therapie 632 Klinik und Befund Die Manifestationsformen der Hyperthyreose sowie deren Ausprägung variieren stark. Sie sind Die Therapie der Hyperthyreose ist abhängig von der auslösenden Grunderkrankung. aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag Hyperthyreose Schwitzen Nervosität Übererregbarkeit Unruhe Labilität Schlafstörungen Flush Alter: 3. und 4. Lebensjahrzehnt Exophthalmus Lymphknotenvergrößerung Struma Muskelschwund warme samtige Haut Palpitation, Tachykardie Brustvergrößerung Appetitsteigerung Gewichtsverlust Pulsfrequenz ­ feucht-warme Handflächen Diarrhö Tremor selten Trommelschlegelfinger Oligo-/Amenorrhö Endokrinologische Erkrankungen Kurzatmigkeit Muskelschwäche, -ermüdung prätibiales Myxödem 633 aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag Rheumatische Gelenkerkrankungen Rheumatische Erkrankungen Definition und Epidemiologie 706 Die rheumatoide Arthritis, die auch als chronische Polyarthritis (cP) bezeichnet wird, ist eine chronische Allgemeinerkrankung mit Beteiligung zahlreicher Gewebe. Sie kann in jedem Alter auftreten, manifestiert sich jedoch meist im 4. oder 5. Lebensjahrzehnt, kommt in allen Teilen der Welt vor und findet sich bei Frauen 2- bis 3-mal so häufig wie bei Männern. Die Prävalenz beträgt weltweit ca. 1 %. Hauptmerkmal der rheumatoiden Arthritis ist eine Entzündung mehrerer Gelenke (Polyarthritis), wobei vorwiegend die Gelenke der Extremitäten betroffen sind. Obwohl nicht selten Teilremissionen beobachtet werden, ist ein wechselnder, schubweiser Verlauf die Regel. Unbehandelt führt die Gelenkentzündung zu einer irreversiblen Schädigung des Gelenkknorpels und Knochens mit Gelenkdeformitäten, Behinderungen und Invalidisierung. Pathogenese Über die Ursache der rheumatoiden Arthritis herrscht noch weitgehend Unklarheit. Es wird angenommen, dass es durch eine genetische Disposition zu einer inadäquaten Immunreaktion auf Viren- oder Bakterien-Antigene kommt. Dadurch wird möglicherweise eine chronische bzw. chronisch rezidivierende immunologische Kreuzreaktion gegen körpereigenes Gewebe, hauptsächlich Synovialgewebe, ausgelöst. Die klinische Erfahrung zeigt, dass unterschiedlichste Faktoren Einfluss auf den Ausbruch und den Verlauf der rheumatoiden Arthritis haben können, ohne dass die genauen Mechanismen bekannt sind. Zu diesen Faktoren zählen u. a. Ernährungsgewohnheiten, aber auch die psychische Konstitution bzw. deren Beeinträchtigung durch Stress, Trauer oder chronische soziale Konflikte. Die rheumatoide Arthritis ist streng genommen eine entzündliche Erkrankung mit Befall des Bindegewebes. Die Erkrankung verläuft schubweise über Jahre und lässt sich in 4 Stadien einteilen, die fließend ineinander übergehen: Stadium 1 (proliferative Phase). In den Gelenken beginnt die rheumatoide Arthritis als Entzündung der Synovialmembran (Synovialitis), die ödematös aufquillt und von mononukleären Zellen, vorwiegend Lymphozyten und Plasmazellen, infil- triert wird. Dadurch wird eine diffuse Proliferation der Synovialmembran und einer vermehrten Produktion von Gelenkflüssigkeit in Gang gesetzt. Gelenkknorpel und subchondraler Knochen sind in diesem Frühstadium noch nicht in Mitleidenschaft gezogen. Stadium 2 (destruktive Phase). Mit fortschreitender Erkrankung wachsen infolge der anhaltenden Proliferation der entzündeten Synovialmembran zottenartige Gebilde in den Gelenkraum vor (villöse Synovialitis). Die Zotten werden von Lymphozyten infiltriert, die sich zu Lymphfollikeln sammeln können. Die Proliferationen decken nach und nach die Knorpeloberfläche unter Arrodierung und Ausdünnung des Knorpels ab (Pannusbildung). Durch die Granulationen kommt es zu einer Überdehnung der Gelenkkapsel, was eine Gelenkinstabilität zur Folge hat (rheumatisches Schlottergelenk). Stadium 3 (degenerative Phase). Im weiteren Verlauf wird zusätzlich der subchondrale Knochen infiltriert. In den metaphysären Abschnitten wird der Knochen osteoporotisch und dadurch mitunter so sehr geschwächt, dass die Kortikalis ebenfalls arrodiert und das Gelenkgefüge zerstört wird. Mit der Chronifizierung der Erkrankung wandern Fibroblasten in die entzündete Gelenkkapsel ein, die dadurch verdickt und höckerig wird. Der Pannus breitet sich weiter aus, wodurch die Destruktion weiter um sich greift und zur Deformität des Gelenks führt. Stadium 4 (ausgebrannte Phase). Nach monatebis jahrelangem schubweisem Verlauf klingt die Entzündung ab. Es bildet sich aber weiter fibröses Gewebe, sodass der Bewegungsumfang des Gelenks im Sinne einer fibrösen Ankylose weiter eingeschränkt wird. Schließlich wird der Gelenkspalt durch Knochenspangen überbrückt, und das an sich schon steife, deformierte Gelenk wird in dem auch als knöcherne Ankylose bezeichneten Endstadium vollends bewegungsunfähig. Mit dem Abklingen der Entzündung lassen zwar die Schmerzen nach; die Destruktion bleibt jedoch bestehen und ist die Ursache der Versteifung und Deformierung der Gelenke und damit der Behinderung und Invalidisierung des Betroffenen. aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag Stadium 1 Stadium 2 Stadium 3 Stadium 4 Stadienverlauf der pathologischen Gelenkveränderungen Ausdünnung des Knorpels in beiden Kniegelenkskompartimenten Rheumatische Erkrankungen Rheumatoide Arthritis I Derselbe Patient 4 Jahre später: progrediente erosive Knochenschädigung und ausgeprägte Osteoporose Typischer Befund im Frühstadium: spindelförmige Schwellung der Finger infolge der Entzündung der proximalen Interphalangealgelenke Beteiligung des Schultergelenks. Hochgradige Osteoporose des Humeruskopfes und Ausdünnung des Gelenkknorpels Beteiligung des Hüftgelenks. Ausdünnung des Gelenkknorpels und Abflachung sowie Wanderung des Femurkopfes nach medial Im fortgeschritteneren Stadium finden sich subkutan Rheumaknoten und eine beginnende Ulnardeviation aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag 707 Rheumatische Gelenkerkrankungen Rheumatische Erkrankungen Klinik 708 Finger- und Handgelenke. Zu den häufigsten und ersten befallenen Gelenken gehören die Handund Fingergelenke. Einige oder auch alle proximalen Interphalangealgelenke sind meist beidseits befallen, während die distalen Interphalangealgelenke meist verschont bleiben. An den betroffenen Gelenken machen sich eine diffuse Schwellung, Überwärmung und Druckdolenz bemerkbar. Dadurch wird der Faustschluss unmöglich, und die Greifkraft ist reduziert. Die Finger nehmen durch die Schwellung bereits früh eine Spindelform an. Auch die Metakarpophalangealgelenke und die Handwurzel können von der Entzündung erfasst werden. Gelenkbewegungen sind schmerzhaft, und befallene Gelenke werden infolge der Schwellung der Gelenkkapsel als steif empfunden, v. a. morgens nach dem Aufstehen (Morgensteifigkeit). Mit Fortschreiten des entzündlichen Prozesses werden Gelenkknorpel und Knochen destruiert. Dadurch wird die Beweglichkeit der Gelenke erheblich eingeschränkt, und es bilden sich Gelenkdeformitäten. Sowohl die Streckung als auch die Beugung der Finger gelingen nicht mehr vollständig, und die Greifkraft wird zunehmend geringer. Nach jahrelang bestehender chronischer Entzündung sind die Gelenke schwer geschädigt. Die Gelenkkapsel lockert sich, die Muskulatur atrophiert und verliert an Kraft, die Sehnen werden überdehnt und können reißen. Im Spätstadium der rheumatoiden Arthritis sind regelmäßig Deformitäten des Handskeletts zu beobachten. Dazu gehört die Ulnardeviation der Finger in den Metakarpophalangealgelenken, die dadurch zustande kommt, dass der Muskelzug an der ulnaren Seite der Langfinger bei nach radial verkipptem Handgelenk überwiegt. Davon kann das Handgelenk ebenfalls betroffen sein. Häufig finden sich an den Langfingern auch eine Schwanenhalsdeformität und/oder eine Knopflochdeformität. Die lange Strecksehne kann in der Umgebung des distalen Interphalangealgelenks reißen, sodass die distale Phalanx in Beugestellung fixiert wird. Bei langer Krankheitsdauer kann es zur persistierenden Subluxation bzw. Luxation der Fingergelenke kommen. Schwere erosive Knorpel- und Knochenveränderungen im Handgelenk können zu schwersten Mutilationen mit völliger Gebrauchsunfähigkeit der Hand führen. Ausbreitung auf andere Gelenke. Die Progredienz der Gelenkentzündung lässt keine eindeutige Gesetzmäßigkeit erkennen. In der Regel sind aber zu Beginn mehrere periphere Gelenke paarweise betroffen. Nach Monaten bis Jahren kommen weitere Gelenke hinzu, darunter das Akromioklavikular-, das Sternoklavikular- und das Kiefergelenk. Selbst kleine Gelenke wie die Krikoarytänoidgelenke werden nicht ausgespart. Einige Gelenke bleiben jedoch in aller Regel selbst bei jahrelang aktivem Krankheitsverlauf und frühzeitigem Funktionsverlust der erkrankten Gelenke verschont. Welche Faktoren für die Lokalisation der rheumatoiden Arthritis und den Schweregrad des entzündlichen Prozesses ausschlaggebend sind, ist unklar. Monoartikulärer Beginn. Vor allem bei Ausbruch im jüngeren Alter beginnt die Erkrankung oft mit dem Befall nur eines der großen Gelenke, meist des Kniegelenks, seltener des Ellenbogenoder Schultergelenks. Auch die Halswirbelsäule kann betroffen sein, meist in Höhe C1/C2. Extraartikuläre Manifestationen. Tendovaginitiden mit Sehnenrupturen, Bursitiden und Rheumaknoten sind häufige Begleiterscheinungen des Gelenkbefalls. Die Rheumaknoten haben einen Durchmesser von 1–20 mm und bestehen aus einer zentralen fibrinoiden Nekrose mit umgebenden Mesenchymzellen und Granulationsgewebe. Häufig findet man sie subkutan etwas distal des Olekranons, aber auch über anderen Knochenvorsprüngen, im Weichteilgewebe oder periostal. Organschäden sind bei der rheumatoiden Arthritis eher selten. In der Lunge kann es zu einer interstitiellen Fibrose oder einer Pleuritis kommen. Typische kardiale Manifestationen sind eine Perikarditis oder Reizleitungsstörungen durch myokardiale Rheumaknoten. Am Auge kann es zu einer Keratokonjunktivitis oder granulomatösen Skleritis kommen. Weitere typische extraartikuläre Komplikationen sind Vaskulitiden, Lymphknotenschwellungen oder eine Anämie. aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag Rheumatoide Arthritis II Ausgeprägte Ulnardeviation in den Metakarpophalangealgelenken, Knopflochdeformität des Daumens und Synovialitis des Handgelenks Rheumatische Erkrankungen Röntgenbefund: Gelenkknorpel in den proximalen Interphalangealgelenken ausgedünnt, Karpus und Handgelenk arrodiert, Osteoporose und Fingerdeformitäten Mutilation der Metakarpophalangealund Interphalangealgelenke beider Hände. Schwanenhalsdeformität an fast allen Fingern, Knopflochdeformität der Daumen und zahlreiche subkutan gelegene Rheumaknoten Röntgenaufnahme: Destruktion des Gelenkknorpels mit Osteopenie im Frühstadium Derselbe Fall 14 Jahre später: Karpus, Handgelenk und Ulnaköpfchen vollständig arrodiert 709 aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag Rheumatische Erkrankungen Systemische Vaskulitis 726 Definition und Epidemiologie Diagnostik Die Polymyalgia rheumatica gehört zu den weichteilrheumatischen Erkrankungen. Zugrunde liegt eine systemische Vaskulitis. In den meisten Fällen findet man histologisch eine Riesenzellarteriitis. Umstritten ist, ob es sich bei der Arteriitis temporalis (Morbus Horton, S. 114) nur um eine Verlaufsform der Polymyalgia rheumatica handelt und nicht um ein eigenständiges Krankheitsbild. Die Ätiologie der Polymyalgia rheumatica ist unklar. Diskutiert wird eine Autoimmunkrankheit mit Induktion durch virale Infekte. Bekannt ist eine Assoziation mit HLA-DR1 und HLA-DR4. Die Erkrankung betrifft Frauen etwa 3-mal häufiger als Männer. Weiße sind häufiger betroffen als Schwarze. Das Manifestationsalter liegt meist jenseits des 50. Lebensjahrs, durchschnittlich zwischen dem 65. und 70. Lebensjahr. Die Häufigkeit ist nicht bekannt, da die Erkrankung wahrscheinlich häufig nicht diagnostiziert wird. Schätzungen gehen von einer Inzidenz von 30–70 : 100 000/a aus. Die Diagnose stützt sich auf die charakteristischen klinischen Befunde und auf das Fehlen physikalischer, röntgenologischer und laborchemischer Auffälligkeiten, die für eine andere, häufigere rheumatische Erkrankung sprechen würden. Für eine Polymyalgia rheumatica spricht außerdem die rasche klinische Besserung auf Glucocorticoide. Körperliche Untersuchung. Bei der klinischen Untersuchung sind zwar an der Muskulatur keine pathologischen Veränderungen zu erkennen, die betroffenen Muskeln, Sternum und Thorax sind jedoch ausgesprochen druckschmerzhaft. Labor. Die BSG liegt oft über 100 mm/h, AkutePhase-Proteine sind ebenfalls erhöht. Häufig besteht eine leichte Anämie. Die Rheumafaktoren sind negativ, ebenso die antinukleären Antikörper. In 20 % der Fälle kommt es zu einem Anstieg der Leberenzyme. DD. Aufgrund der BSG-Beschleunigung und des Appetit- und Gewichtsverlusts könnte man zunächst an eine Tumorerkrankung denken. Wichtige Differenzialdiagnosen sind rheumatoide Arthritis, Polymyositis und Myopathien, Morbus Parkinson (aufgrund des häufig kleinschrittigen Gangs) und paraneoplastische Syndrome. Klinik Die Betroffenen klagen über symmetrische Schmerzen und Steifigkeit in der Nacken- und Schulter- sowie der Interskapularregion, im Lumbosakralbereich und im Beckengürtel, die rasch an Intensität zunehmen. Es besteht eine ausgeprägte Morgensteifigkeit, außerdem eine stammnahe Muskelschwäche. Im Frühverlauf kann an größeren Gelenken, meist am Kniegelenk, eine Synovialitis auftreten. Häufig treten subfebrile Temperaturen oder mildes Fieber sowie Inappetenz, Gewichtsverlust, Müdigkeit und allgemeines Krankheitsgefühl auf. Charakteristisch ist eine über den Tag wechselnde Intensität der Muskelschmerzen. Sie beginnen nachts, sind morgens am stärksten und bessern sich im Tagesverlauf. Typisch ist außerdem die häufige Kombination mit einer rasch einsetzenden depressiven Verstimmung. Die Polymyalgia rheumatica heilt spontan aus, wobei die Krankheitsdauer jedoch stark variiert zwischen á und 5 Jahren, in seltenen Extremfällen sogar bis zu 10 Jahre. Meist jedoch ist mit einer Heilung innerhalb von 6–24 Monaten zu rechnen. Allerdings kann es zu einem Übergang in eine rheumatoide Arthritis kommen. Therapie Glucocorticoide werden in einer höheren Initialdosis gegeben und dann – relativ schnell – symptomabhängig reduziert. Damit können die Beschwerden beherrscht und die körperliche Leistungsfähigkeit rasch wieder hergestellt werden. Bei schwerer Erkrankung ist evtl. eine SteroidDauertherapie mit individuell angepassten niedrigen Dosen über 1–2, evtl. auch bis 5 Jahre erforderlich. Bei persistierenden Schmerzen sind daneben nichtsteroidale Antiphlogistika indiziert. Die Polymyalgia rheumatica hat eine günstige Prognose, neigt aber zu Rezidiven, wenn die Steroide zu schnell abgesetzt werden. aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag Polymyalgia rheumatica Kauschmerzen temporale Kopfschmerzen, Druckdolenz der behaarten Kopfhaut Visusstörungen: rasche Erblindung möglich Gewichtsverlust, Schwäche subfebrile Temperaturen, allgemeines Krankheitsgefühl Rheumatische Erkrankungen symmetrische Schmerzen und Steifigkeit der Schulterund Beckengürtelmuskulatur Ventrale ischämische Optikusneuropathie 727 aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag Orthopädische Erkrankungen Erkrankungen der Weichteile 812 Definition Klinik Eine Bursa (Bursa synovialis, Schleimbeutel) wirkt im Prinzip wie ein Wasserkissen. Sie schützt die Haut über kantigen Knochenvorsprüngen, indem sie Stöße dämpft. Außerdem sind Bursen immer dort zu finden, wo Sehnen oder Muskeln über Knochenkanten verlaufen. Sie bilden dabei eine Gleitschicht, die Scher- und Reibungskräfte verringert. Wichtige Bursen sind: ➤ am Kniegelenk: Bursa infrapatellaris zwischen Patellarsehne und Tibia; die Lage der Bursa praepatellaris ist nicht konstant, weil sie eigentlich aus einer Gruppe von 3 Bursen (subkutan, subfaszial und subtendinös) besteht, von denen aber meist nur eine ausgebildet ist, ➤ am Ellenbogengelenk: Bursa subcutanea olecrani zwischen dem Olekranon und der Haut, Bursa bicipitoradialis zwischen der Sehne des M. biceps brachii und dem Radius, ➤ am Schultergelenk: Bursa subacromialis zwischen M. infraspinatus und Akromion, Bursa subcoracoidea zwischen M. subscapularis und Processus coracoideus, Bursa subdeltoidea zwischen M. deltoideus und Tuberculum majus humeri, ➤ am Hüftgelenk: Bursa trochanterica zwischen der Sehne des M. glutaeus maximus und Trochanter major, Bursa glutaeofemoralis zwischen M. glutaeus und Femur, Bursa iliopectinea zwischen M. iliacus und Hüftgelenkkapsel, ➤ am Fußgelenk: Bursa tendinis calcanei zwischen Achillessehne und Kalkaneus. Eine Bursa kann entweder unabhängig im Gewebe liegen oder auch mit einer benachbarten Gelenkhöhle kommunizieren. Aufgebaut ist eine Bursa aus einem derben Bindegewebe, das sackförmig einen Hohlraum umschließt, welcher mit visköser Synovialflüssigkeit gefüllt ist. Diese Flüssigkeit ermöglicht ein leichtes Gleiten der beiden gegenüberliegenden Bursawände gegeneinander. Zur Entzündung einer Bursa kann es kommen durch: ➤ chronisch rezidivierende Reizungen, z. B. häufiges Arbeiten im Knien bei Fliesenlegern, ➤ Verletzungen, bei denen Keime in die eröffnete Bursa eindringen, ➤ rheumatische Erkrankungen, die zu einer Synovitis führen. Die entzündete Bursa schwillt aufgrund der vermehrten Produktion von Synovia an. Bei akuter Entzündung ist die Haut über der Bursa gerötet und überwärmt. Bei schweren eitrigen Bursitiden kann es auch zu systemischen Infektionszeichen (Fieber, Schüttelfrost) kommen. Es besteht ein Bewegungs- und Druckschmerz. In chronischen Fällen kommt es zu einer derben Wandverdickung und in der Bursa zu Fibrinniederschlägen, die sich bei Palpation wie Hirsekörner tasten lassen. Diagnostik Der klinische Aspekt ermöglicht zusammen mit der Anamnese in aller Regel eine eindeutige Diagnose. Im Labor findet man eine Erhöhung der Entzündungsparameter. Sonographisch ist die Vermehrung des Bursainhalts erkennbar. Normalerweise ist der Hohlraum lediglich ein Flüssigkeitsspalt. Jede Aufweitung weist auf eine vermehrte Produktion von Synovialflüssigkeit hin. Die Wandverdickung bei chronischen Bursitiden ist sonographisch ebenfalls erfassbar. Therapie Eine unkomplizierte Bursitis wird unter antiphlogistischer Medikation ruhig gestellt. Bei sehr ausgeprägter Schwellung kann die Bursa zur Entlastung unter streng aseptischen Kautelen punktiert werden. Wenn unklar ist, ob der Bursainhalt bakteriell infiziert ist, klärt ebenfalls eine Punktion die Situation. Besteht eine eitrige Bursitis, wird über eine Inzision eine Spüldrainage gelegt und nach Abklingen des Infekts eine Bursektomie durchgeführt. Ebenso muss eine traumatisch eröffnete Bursa entfernt werden, um einer Infektion vorzubeugen. Auch in chronischen Fällen empfiehlt sich dieses Vorgehen. aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag Bursitis Bursa praepatellaris gespannt und geschwollen Anatomische Verhältnisse bei Bursitis praepatellaris Bursitis praepatellaris („Dienstmädchen- oder Pastorenknie“) Wiederholte kleine Traumen können zu einer Entzündung der dabei beanspruchten Bursa führen Orthopädische Erkrankungen Gelenkspalt unauffällig Bursitis glutaeofemoralis Bursitis subachillea Bursitis olecrani („Studierellenbogen“) 813 aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag Wirbelsäule und Becken Definition Mit zunehmendem Alter tritt eine Degeneration der Wirbelsäule auf. Allerdings variieren Schweregrad und Progredienz ganz erheblich. Degenerative Veränderungen manifestieren sich an der Wirbelsäule in 2 Formen: ➤ an den Bandscheiben und den jeweils angrenzenden Wirbelkörpern, ➤ an den Intervertebralgelenken. Orthopädische Erkrankungen Bandscheibendegeneration 816 Die Degeneration der knorpeligen Bandscheiben und deren sekundäre Folgen sind wesentlich häufiger als arthrotische Veränderungen an den Gelenkflächen bzw. gehen diesen oft voraus. ➤ Nucleus pulposus: Mit zunehmendem Alter entquellen die Bandscheiben, ihr Proteoglykangehalt nimmt bei vermehrtem Kollagengehalt ab, der zentrale gelatinöse Kern (Nucleus pulposus) wird hart und brüchig. ➤ Anulus fibrosus: In dem den Nucleus pulposus umgebenden Anulus fibrosus entstehen Defekte, und das fibröse Gewebe ordnet sich zu Fibrillen. Durch die damit einhergehende Rissbildung im Anulus fibrosus kann Material des Nucleus pulposus austreten. ➤ Folgen: Die Bandscheibe wird mehr und mehr abgebaut und verliert an Höhe. Es kommt zur Verschiebung von Bandscheibenmaterial mit Kompression der Spinalnervenwurzeln. Da die Wirbelabschlussplatten zu beiden Seiten der betroffenen Bandscheibe infolge der Höhenminderung näher aneinander treten, werden die Gelenkflächen stärker belastet. An den Wirbelrändern bilden sich Osteophyten, die sich mitunter zu Knochenspangen zwischen den Wirbelkörpern vereinigen. Die Bandscheibendegeneration tritt vorwiegend in den am stärksten bewegungsbelasteten Segmenten der Wirbelsäule auf, also neben der Halswirbelsäule auch an der kaudalen Brust- und der Lendenwirbelsäule. Bei Bewegungen der Wirbelsäule treten lokal Schmerzen auf, die durch anstrengende Tätigkeiten, v. a. durch das Heben schwerer Gegenstände, verstärkt werden. treffen. Der Gelenkknorpel verliert dabei an Höhe und raut sich an der Oberfläche und an den Rändern auf. An den knöchernen Gelenkflächenrändern bilden sich Osteophyten. Die Folge davon sind Bewegungseinschränkung und Schmerzen sowie Krepitationen, v. a. an der Halswirbelsäule. Neuropathien Neuropathien verschlimmern das klinische Bild der degenerativen Wirbelsäulenerkrankungen. Durch die an den Wirbelrändern in der Nachbarschaft der betroffenen Bandscheiben und an den Gelenkflächenrändern entstehenden Osteophyten werden die Nervenaustrittsöffnungen verengt. Infolge der Kompression und Reizung der Nervenwurzeln treten Neuralgien, Parästhesien und Paresen auf. Neuralgische Schmerzen in der Okzipital- und Schulterregion können auf eine Osteophytose der Halswirbelsäule zurückzuführen sein. Die Kompression des Rückenmarks infolge einer ausgedehnten Osteophytose oder Bandscheibenprotrusion kann in seltenen Fällen schwere neurologische Komplikationen nach sich ziehen. Diagnostik Das Röntgenbild, das nicht immer dem klinischen Bild entspricht, zeigt die Höhenminderung des Gelenkknorpels, die Osteophytose (Knoten-, Sporn- und Knochenspangenbildung) sowie die Qualitätsminderung des Knochens. Ein evtl. Bandscheibenvorfall kann mit der CT, MRT und evtl. der Myelographie nachgewiesen werden. Therapie Bei degenerativen Wirbelsäulenleiden ist lediglich eine symptomatische Therapie möglich. Verordnet werden v. a. Analgetika und Antiphlogistika. Unterstützend können Wärmeanwendungen und Massagen hilfreich sein. Eine Rückenschulung vermittelt den Patienten ein Verhalten, das schmerzhafte Bewegungen vermeidet und eine möglichst große Beweglichkeit erhält. Nur in seltenen Ausnahmefällen (z. B. bei schweren neurologischen Komplikationen) ist eine Operation zu erwägen. Degenerative Veränderungen der Intervertebralgelenke Diese Veränderungen sind meist bei älteren Menschen an der Hals- und Lendenwirbelsäule anzu- aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag Spondylarthrose Atlas (C1) C7 Deutliche Höhenminderung der zervikalen Bandscheiben und Hyperextensionsdeformität mit Verschmälerung der Foramina intervertebralia. Analoge Veränderungen in der radiologischen Seitenaufnahme Röntgenbefund der Brustwirbelsäule mit Verschmälerung der Zwischenwirbelräume und bandförmig verschmolzenen Osteophyten Degeneration der lumbalen Bandscheiben und hypertrophe Veränderungen an den Wirbelrändern mit Osteophytenbildung. Einengung der Zwischenwirbellöcher durch Osteophyten mit Kompression der Spinalnerven aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag Orthopädische Erkrankungen Axis (C2) 817 Wirbelsäule und Becken Orthopädische Erkrankungen Definition und Epidemiologie Bei der Spondylolyse handelt es sich um eine Spaltbildung der Pars interarticularis des Wirbelbogens. Dadurch geht der Gefügezusammenhalt des betroffenen Wirbels verloren. Kommt es in der Folge zu einem Abgleiten eines solchen „losen“ Wirbels nach ventral, spricht man von Spondylolisthesis. Unterschieden werden nach Wiltse 4 Formen der Spondylolisthesis: ➤ isthmische Spondylolisthesis: Elongation der Interartikularportion, häufig kombiniert mit einer Spina bifida, ➤ dysplastische Spondylolisthesis: Kippung der Gelenkebene der lumbosakralen Wirbelgelenke in die Horizontale, ➤ degenerative Spondylolisthesis: degenerative Veränderungen der Bandscheiben und Wirbelgelenke, vor allem bei L4/5, L3/4 und L5/S1, häufig kombiniert mit einer Sakralisation des 5. Lendenwirbels. ➤ pedunkuläre Spondylolisthesis: Veränderungen der Wirbelbogenwurzeln durch Fraktur der oder Elongation bei Systemerkrankungen (z. B. Osteogenesis imperfecta). Die Spondylolisthesis tritt selten vor dem 5. Lebensjahr auf – meist manifestiert sie sich im 7.– 9. Lebensjahr, mitunter auch wesentlich später. Anamnestisch lassen sich oft Traumen erheben, die jedoch meist Bagatellcharakter haben. In etwa 80 % ist der 5. Lendenwirbelkörper betroffen. Klinik Während der Kindheit sind Beschwerden eher ungewöhnlich. Sie treten zeitgleich mit dem pubertären Wachstumsschub auf. Werden Schmerzen angegeben, befinden sie sich im Kreuz, mitunter auch im Gesäß und in den Oberschenkeln. Die Beschwerden werden durch wiederholte schwere Belastung, z. B. durch eine wiederholte Flexion und Extension der Wirbelsäule beim Rudern oder Turnen, verstärkt, bessern sich jedoch in Ruhe und bei Einschränkung der körperlichen Aktivität. 818 Diagnostik Palpatorisch lässt sich mitunter eine Druckdolenz im Kreuz feststellen. Im akuten Stadium be- steht eine Steifheit der Lendenwirbelsäule. Verspannungen an den ischiokruralen Muskeln und deutliche Einschränkungen beim Beugen der Hüfte sind bei 80 % aller symptomatischen Fälle feststellbar. Neurologische Komplikationen. Im Gegensatz zu Erwachsenen bieten Kinder nur selten objektive Zeichen einer Nervenwurzelkompression wie motorische Schwäche, Reflexanomalien und sensible Ausfälle. Bandscheibenvorfälle kommen ebenfalls nur ausnahmsweise vor. Dennoch ist bei der klinischen Untersuchung auf Zeichen eines Sensibilitätsverlustes im Sakralwurzelbereich und auf eine Blasenfunktionsstörung zu achten. Röntgen. Ausgedehnte Defekte der Pars interarticularis im Sinne einer Spondylolyse sind röntgenologisch fast in allen Aufnahmerichtungen zu erkennen. Bei einseitiger Ausprägung oder bei fehlendem Wirbelgleiten sind jedoch spezielle Aufnahmetechniken und Schrägaufnahmen der Lendenwirbelsäule erforderlich. Die Interartikularportion zeichnet sich verdünnt und elongiert ab. Bei fortgeschrittener Spondylolisthesis kann es zu einem völligen Abgleiten z. B. des 5. Lendenwirbelkörpers über den vorderen Rand von S1 kommen (Spondyloptose). DD. Einseitige Spondylolysen können zu einer reaktiven Sklerose und Hypertrophie der Bogenwurzel und des Bogens auf der Gegenseite führen, sodass die Gefahr der Verwechslung mit Osteoidosteomen besteht. Zur Differenzierung der beiden Krankheitsbilder bewährt sich die Knochenszintigraphie. Therapie Spondylolysen sprechen meist gut auf konservative Behandlungsmaßnahmen an. Sinnvoll sind eine vorübergehende Einschränkung der körperlichen Aktivität und Kräftigungsübungen der Rücken- und Bauchmuskulatur (entlordosierende Krankengymnastik). Die asymptomatischen Spondylolisthesen sind problematisch, da eine Gleitprognose kaum möglich ist. Bei symptomatischen Spondylolisthesen steht ebenfalls die konservative Übungstherapie an erster Stelle. Mitunter wird jedoch eine Stabilisierung der Wirbelsäule durch Korsettbehandlung, Gipsverbände oder eine operative Korrektur notwendig. aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag Spondylolyse und Spondylolisthesis Processus articularis superior (Ohr der Hundefigur) Bogenwurzel (Auge) Processus transversus (Schnauze) Isthmus (Pars interarticularis, Hals) Bogenplatte und Processus spinosus (Körper) Processus articularis inferior (Vorderpfote) Spondylolyse ohne Wirbelgleiten. Auf Aufnahmen im schrägen Strahlengang ist die „Hundefigur“ zu erkennen. Im Seitenbild kann man sich eine Hundefigur mit Halsband vorstellen Orthopädische Erkrankungen Processus articularis inferior der Gegenseite (Hinterpfote) Dysplastische (kongenitale) Spondylolisthese. Vorwärtsgleiten von L5 auf dem Kreuzbein. Der Hals der Hundefigur (Isthmus) erscheint verlängert 819 Isthmische Spondylolyse. Ventralverschiebung von L5 auf dem Kreuzbein infolge einer Dehiszenz des Isthmus (Pars interarticularis). Durch den breiten Spalt erscheint die Hundefigur geköpft aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag Notfallmanagement Traumatologie Grundlagen Eine kardiopulmonale Reanimation ist immer dann erforderlich, wenn durch einen Kreislaufund/oder einen Atemstillstand die Sauerstoffversorgung des Organismus zum Erliegen kommt. Da das Gehirn am empfindlichsten auf einen Sauerstoffmangel reagiert, tritt bereits nach wenigen Minuten Bewusstlosigkeit ein. Die Ursachen für einen Kreislauf- oder Atemstillstand sind vielfältig. Der Ablauf der Reanimation ist jedoch unabhängig davon immer gleich. Indikation. Wird ein Patient bewusstlos aufgefunden, prüft man zunächst die Atmung. Ist diese nicht vorhanden und setzt sie auch nach Freimachen der Atemwege nicht spontan ein, setzt man einen Notruf ab und beginnt dann mit der Beatmung. Nach 2 Beatmungen prüft man den Kreislauf. Ist innerhalb von maximal 10 Sekunden kein Puls feststellbar und auch kein anderes Zeichen eines vorhandenen Kreislaufs vorhanden (z. B. Husten oder Bewegungen), beginnt man unverzüglich mit der kardiopulmonalen Reanimation. Basismaßnahmen. Die Basismaßnahmen der Reanimation richten sich nach dem ABC-Schema: ➤ Atemwege freimachen und freihalten, ➤ Beatmung, ➤ Circulation herstellen. Atemwege 924 Atemwege freimachen. Insbesondere beim Bewusstlosen kann die zurückgefallene Zunge den Atemweg verlegen. Die erste Maßnahme ist daher das Überstrecken des Kopfes. Dazu wird eine Hand auf die Stirn und die andere auf das Kinn gelegt und der Kopf ohne Gewalt nackenwärts gestreckt. Besteht der Verdacht auf eine Verletzung der Halswirbelsäule, so ist besondere Vorsicht erforderlich: In diesem Fall fasst man den Kopf unter einem gleichzeitigen axialen Zug nach kranial und überstreckt ihn nicht zu forciert. Setzt die Atmung nach dem Überstrecken nicht spontan ein, öffnet man mit dem Esmarch-Handgriff den Mund und inspiziert die Mundhöhle auf Fremdkörper. Flüssigkeit lässt man nach seitlich ablaufen, andere Fremdkörper entfernt man mit dem Finger (am besten Zeige- und Mittelfinger mit einem Stück Mullbinde umwickeln und damit die Mundhöhle auswischen). Atemwege freihalten. Um die Atemwege freizuhalten, muss der Kopf weiterhin überstreckt gehalten werden – es sei denn, ein Guedel-Tubus wird eingesetzt. Beatmung Der Patient liegt in Rückenlage und wird vorzugsweise Mund-zu-Nase – oder, wenn dies nicht möglich ist, Mund-zu-Mund (A.) – beatmet. Die nicht verwendete Atemöffnung (Mund bzw. Nase) wird geschlossen gehalten, durch die andere (Nase bzw. Mund) wird über 2 Sekunden gleichmäßig Luft eingeblasen. Als Zeichen einer suffizienten Beatmung hebt sich der Patiententhorax. Anschließend lässt man die Atemluft passiv vollständig entweichen. Erst dann folgt die nächste Beatmung. Herzdruckmassage Der Patient liegt in Rückenlage auf einer harten Unterlage. Zunächst wird der Druckpunkt 2 Querfinger oberhalb des Xiphoids aufgesucht. Auf dem Druckpunkt legt man beide Handballen übereinander. Dann wird das Sternum ca. 4–5 cm gegen die Wirbelsäule gedrückt (C.), indem bei durchgestreckten Ellenbogen das Körpergewicht senkrecht über den Druckpunkt auf die Arme verlagert wird (B.). Die Frequenz soll 100/min betragen, die Druck- und die Entlastungsphase sollen gleich lang dauern (zur Kompression also kein kurzes Stoßen, sondern ein gleichmäßiges Drücken). Unabhängig davon, ob 1 oder 2 Helfer die Reanimation durchführen, wechseln sich jeweils 2 Beatmungen und 15 Herzdruckmassagen ab. Die Reanimation muss so lange fortgesetzt werden, bis die Vitalfunktionen wieder einsetzen oder bis erweiterte Hilfsmaßnahmen zur Verfügung stehen. Die erfolgreiche Wiederbelebung zeigt sich am Engerwerden der Pupillen, einer verbesserten Durchblutung von Haut und Schleimhäuten und evtl. Spontanbewegungen des Patienten. aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag Kardiopulmonale Reanimation A. Vor der Mund-zu Mund-Beatmung wird der Traumatologie Kopf überstreckt, die Nase zugehalten und das Kinn nach vorne gezogen. Zum Schutz vor Infektionen sollten Handschuhe getragen und ein Gazestück auf den Mund gelegt werden; wenn vorhanden, Beatmungshilfe benutzen B. Intermittierend wird mit dem Handballen Druck auf das untere Sternumdrittel ausgeübt; Druckpunkt: 2 Querfinger oberhalb des unteren Sternumrandes C. Das Herz wird intermittierend zwischen Sternum und Wirbelsäule komprimiert 925 aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag Notfallmanagement Traumatologie Diagnostik 926 Anamnese. Auch zur Wundversorgung gehört zunächst die Erhebung der Anamnese. Die Kenntnis des Unfallhergangs bringt Informationen, die für die Behandlung wichtig sein können: ➤ Verletzung durch stumpfe, spitze oder scharfe Gewalt? ➤ Mögliche Wundtiefe? ➤ Mögliche Verschmutzung der Wunde? ➤ Alter der Wunde? ➤ Arbeits- oder Freizeitunfall? ➤ Status des Tetanusimpfschutzes? Inspektion. Bereits der inspektorische Aspekt stellt die Weichen für die Wundversorgung. In den folgenden Fällen muss ein ausgiebigeres Wunddebridement durchgeführt werden: ➤ tiefe oder verschmutzte Wunde, ➤ unregelmäßige Wundränder, ➤ Sehnen oder Knochen verletzt, ➤ stärkere, v. a. spritzende Blutung. Exploration. Vor jedem Wundverschluss muss die Wunde untersucht werden, um versteckte tiefere Verletzungen, Wundtaschen und Fremdkörper auszuschließen. Diese Untersuchung wird meist im Rahmen der Wundversorgung nach Desinfektion und Anästhesie durchgeführt. Soll der Patient zur Wundversorgung an den Chirurgen überwiesen werden, sollte an der Wunde allerdings nicht mehr als unbedingt notwendig manipuliert werden. Auch Fremdkörper werden in diesem Fall in situ belassen. gewickelt. Die meisten Blutungen können auf diese Weise zum Stillstand gebracht werden. Nur als Ultima Ratio kann eine blutende Extremität abgebunden werden, wobei immer der Zeitpunkt der Abbindung auf einen am Tourniquet befestigten Zettel notiert werden muss. Gefäßklemmen sollte man zur primären Blutstillung nach Möglichkeit nicht verwenden. Fremdkörper. Im Rahmen der Primärversorgung belässt man einen Fremdkörper in situ. Falls er den Patiententransport behindert, kann man ihn vorsichtig auf Transportmaß kürzen. Verband. Der primäre Wundverband soll die Wunde vor weiterer Verschmutzung schützen. Dazu legt man einen lockeren Wundverband (Kompresse und Mullbinde) an. Keine Salben, Puder oder gefärbten Desinfektionsmittel verwenden! Ruhigstellung. Bei größeren Verletzungen mit ausgedehntem Weichteilschaden oder einer Beteiligung von Knochen oder Sehnen stellt man den verletzten Gliedmaßenabschnitt ruhig. Bei Fingern und Zehen verwendet man hierzu meist Aluminiumschienen. Für größere Extremitätenabschnitte gibt es stabile Schienen aus Draht, Kunststoff oder aufblasbare Modelle. Amputatversorgung. Bei einer Amputationsverletzung legt man das Amputat in einen Plastikbeutel, verschließt diesen gut und bringt ihn in einen zweiten, mit Eiswasser gefüllten Beutel oder Behälter. Primärversorgung Definitive Wundversorgung Die Primärversorgung von Wunden soll die Wunde vor Sekundärschäden bewahren und von der Wunde ausgehende Gefahren beseitigen. Durchblutung sichern. Da verletztes Gewebe zur Schwellung neigt, muss alles, was zu einer Einengung oder Abschnürung führen kann, sofort entfernt werden. Dazu zählen z. B. Fingerringe, Armreife, Uhren, aber auch Schuhe (insbesondere Stiefel) bei Fußverletzungen. Blutstillung. Die wichtigste Primärmaßnahme der Wundversorgung ist die Blutstillung. Vorrang haben stärkere spritzende Blutungen. Diese werden durch einen Druckverband gestillt. Dazu wird die Wunde mit einer Kompresse abgedeckt. Darauf kommt das Druckpolster, z. B. ein Verbandspäckchen oder eine fest aufgewickelte Binde. Dieses Polster wird mit einer Binde kräftig an- Größere Wunden sollten vom Chirurgen versorgt werden. Wundverschluss. Eine kleine, saubere, nicht zu tiefe Wunde ohne Blutung und ohne eine Verletzung von Begleitstrukturen kann bei glatten Wundrändern ohne Ausschneidung in Lokalanästhesie genäht werden. Alternativ zur Naht kommen Wundzügel (Steristrip) oder Wundkleber (Histoacryl) in Betracht. Insbesondere bei Kindern und ängstlichen Patienten haben diese Verfahren Vorteile. Keinesfalls genäht werden dürfen Bisswunden. Diese sind immer infiziert und müssen sekundär heilen. Tetanusprophylaxe. Zu jeder Wundversorgung gehört obligat die Abklärung des Impfstatus und ggf. die Auffrischung des Impfschutzes. aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag Prinzipien der Wundversorgung Matratzennaht Halbversenkte Matratzennaht Bestimmte oberflächliche Wunden erfordern keinen Nahtverschluss, sondern können mit Klebestreifen adaptiert werden Fortlaufende Subkutannaht Bei offensichtlich verschmutzten Wunden bewährt sich die primäre Wundrandexzision mit offener Wundversorgung über 48 – 72 Stunden und der verzögerte primärre Wundverschluss nach nochmaligem Debridement Traumatologie Einfache Naht. Zur Evertierung der Wundränder wird das Gewebe in der Tiefe breiter gefasst als an der Oberfläche. Nähte in den tiefer liegenden Schichten dienen dem Totraumverschluss aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag 927 Weichteilverletzungen Traumatologie Kontusion Definition und Ätiologie. Eine Kontusion (Prellung) entsteht bei stumpfer Gewalteinwirkung auf das Weichteilgewebe. Das Gewebe wird gequetscht, was zur Ruptur von Blut- und Lymphgefäßen führt. Es kommt zu einem diffusen Einsickern von Blut und Lymphe ins Gewebe. Die Gewebeschädigung führt außerdem zur Freisetzung von Mediatoren, die über eine erhöhte Gefäßpermeabilität ein Ödem verursachen. Klinik. In dem geschädigten Bereich kommt es zu einer teigigen Schwellung, die meist deutlich druckschmerzhaft ist. Eine Muskelkontusion verursacht bei Anspannung des betroffenen Muskels dumpfe bis stechende Schmerzen. Durch den Gefäßschaden entstehen flächige Gewebeeinblutungen, die zunächst rot sind, sich aber nach und nach violett und später grünlich oder gelblich verfärben. Diagnostik. Kontusionen sind anhand der Anamnese und des klinischen Befundes in aller Regel problemlos diagnostizierbar. Mitunter ist es jedoch schwierig, das Ausmaß von zusätzlichen tieferen Gewebe- und Organschäden abzuschätzen. Da eine Kontusion immer durch eine erhebliche stumpfe Gewalteinwirkung zustande kommt, muss stets nach Begleitverletzungen gesucht werden, z. B. nach Frakturen sowie Sehnen-, Bandund Gefäßläsionen. Kontusionen am Abdomen sind verdächtig auf ein stumpfes Bauchtrauma. Therapie. Eine Kontusion benötigt keine spezifische Therapie. In den ersten Tagen kann bei ausgedehnten Befunden eine analgetische und/oder antiphlogistische Medikation hilfreich sein. Die wichtigsten Maßnahmen sind Schonung, Kühlung und Hochlagerung der betroffenen Extremität. Antiphlogistische und kühlende Salben oder Gele können unterstützend wirken, beeinflussen den Verlauf jedoch nicht entscheidend. Wird ein Gel verwendet, muss bei empfindlicher Haut die austrocknende Wirkung der meist alkoholhaltigen Gele beachtet werden. Hämatom 928 Definition und Ätiologie. Unter einem Hämatom versteht man eine Blutansammlung im Gewebe, die jedoch im Gegensatz zu einer Kontusionsblutung nicht diffus verteilt ist, sondern einen „Blutsee“ bildet. Meist ist ein stumpfes Trauma die Ur- sache eines Hämatoms. Kommt es durch die Gewalteinwirkung zur Ruptur eines größeren Gefäßes, so schafft sich das austretende Blut eine Höhle im Gewebe. Die meisten Hämatome bleiben relativ klein und haben keine hämodynamische Relevanz. In Ausnahmefällen kommen jedoch sehr große Hämatome vor, die bis zum hämorrhagischen Schock führen können. Klinik. Ein Hämatom imponiert als fluktuierende Schwellung. Meist sind über dem Hämatom Spuren des auslösenden Traumas zu finden wie Kratzer oder Schürfungen. Bei subkutaner Lage schimmert das Hämatom oft als dunkle Verfärbung durch die Haut. Tiefe Hämatome können bis auf die Schwellung oberflächlich unauffällig bleiben. Zumindest beim frischen Hämatom besteht meist ein lokaler Druckschmerz. Diagnostik. Das Hämatom ist aufgrund der Anamnese und des typischen klinischen Aspekts kaum zu verkennen. Bei nur diskreter Schwellung oder bei adipösen Patienten kann ein Hämatom allerdings auch leicht übersehen werden. Palpatorisch ist es jedoch meist zu erfassen. Im Zweifelsfall ist die blutgefüllte Hämatomhöhle sonographisch identifizierbar. Vom Hämatom aus kann Blut der Schwerkraft folgend ins Gewebe sickern, sodass nicht selten einige Tage nach einem Trauma Verfärbungen an Stellen auftreten, die nicht vom Trauma betroffen waren. Hinsichtlich möglicher Begleitverletzungen gilt das bei der Kontusion Gesagte (s. o.). DD. Die differenzialdiagnostische Abgrenzung eines Hämatoms gegen eine Zyste oder einen Abszess bereitet aufgrund der Anamnese in aller Regel keine Probleme. Therapie. Kleine Hämatome werden spontan resorbiert. Größere Hämatome dagegen organisieren sich und benötigen lange bis zur Resorption. Nicht selten verläuft die Resorption unvollständig und es verbleibt eine fibröse Gewebenarbe. Zudem besteht bei größeren Hämatomen die Gefahr, dass sie sich sekundär infizieren. Daher sollten sie eröffnet und ausgeräumt werden. Bei frischen Hämatomen ist auch eine Punktion möglich. aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag Kontusion und Hämatom Hämatom Schwere Kontusionen der Hand und des Handgelenks werden mit Eisauflagen und Hochlagerung behandelt Traumatologie Kontusion Bei Einkeilung unter einer schweren Last kann die Durchblutung unterbrochen werden und dadurch eine Nekrose entstehen 929 aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag Weichteilverletzungen Schürfwunde Traumatologie Schürfwunden sind die häufigste aller Wundarten. Sie kommen zustande, wenn die Haut über einen rauen Untergrund rutscht. Besonders bei Stürzen kommt es oft zu Schürfungen. Meist sind diese Wunden harmlos und oberflächlich, wenn auch sehr schmerzhaft. In aller Regel sind Schürfwunden mehr oder weniger stark verschmutzt. Daher und wegen der großen Wundfläche ist eine Superinfektion nicht selten. Oberflächliche Schürfwunden (Erosionen) benötigen außer einer Desinfektion keine Therapie. Lediglich bei Kindern kann ein Pflaster oder ein Verband psychologisch hilfreich sein. Die Wundversorgung tieferer Schürfungen besteht aus einem leichten Schutzverband mit einer Wundauflage, die nicht auf der Wunde klebt (z. B. Vaseline-Vlies oder alubedampftes Gewebe). Schnittwunde Schnittwunden sind ebenfalls häufig. Sie haben glatte Wundränder und sind meist relativ sauber, können aber erheblich bluten. Meist sind diese Wunden nicht tief und daher harmlos. Die Wundnaht ist problemlos möglich und die Heilung komplikationslos. Auf Begleitverletzungen, z. B. von Sehnen und Nerven, muss jedoch geachtet werden. Stichwunde Im Gegensatz zur Schnittwunde kann bei der Stichwunde das Verletzungsausmaß leicht unterschätzt werden. Oft sind tiefere Strukturen wie Sehnen, Nerven, Gefäße oder Organe verletzt. Außerdem neigen diese Wunden zur Infektion. Eine eingehende Untersuchung und eine ausgiebige Wundreinigung sind zur Vermeidung von Komplikationen wichtig. Platz-, Riss- und Quetschwunde 930 Diese Wunden entstehen durch stumpfe Gewalt, z. B. bei Stürzen oder Einklemmung. Durch die Zerreißung des Gewebes entstehen unregelmäßige Wundränder und eine große Wundoberfläche. Entsprechend ist die Wundheilung nicht so problemlos wie bei Schnittwunden. Es kann zu Infektion und Nekrosen kommen. Durch eine Wundrandexzision kann jedoch – zumindest bei kleineren Wunden – meist eine befriedigende Heilung erzielt werden. Bisswunde Bisswunden sind immer massiv infiziert und dürfen daher nie genäht werden. Man spült sie ausgiebig und lässt sie sekundär heilen. Bei Tierbissen muss geklärt werden, ob das Tier an Tollwut erkrankt ist. Im Zweifelsfall sollte eine Impfung durchgeführt werden. Schusswunde Schusswunden verursachen meist ausgedehnte Weichteilschäden oder auch Frakturen: Je schneller das Geschoss, desto größer sind die Gewebeschäden (Kavitation). Der Einschuss ist meist klein, der Ausschuss deutlich größer. Bei langsamen Geschossen kann der Ausschuss fehlen (Steckschuss). Schusswunden sind stark infektgefährdet und erfordern ein ausgiebiges Debridement sowie eine Revision des gesamten Schusskanals. Ablederung Durch Scherkräfte (z. B. beim Überrollen eines Verletzten durch ein Fahrzeug) kommt es zur Ablösung von Haut und Unterhaut von der Unterlage. Folge sind ausgedehnte Wundtaschen mit massiver Einblutung. Es kann zu Nekrosen und sekundären Infekten kommen. Therapie und Prognose sind abhängig von der Ausdehnung der Verletzung und den Begleitschäden. Décollement Bei diesem Verletzungstyp wird ein Körperteil (z. B. Finger, Hand, Unterarm) durch eine massive Gewalteinwirkung abgerissen. Der Weichteilschaden ist dabei erheblich. Im Gegensatz zur scharfen Abtrennung von Körperteilen ist beim Décollement eine Replantation meist nicht möglich. Daher bleibt in aller Regel nur die Amputation. Nur in seltenen, sehr günstigen Fällen gelingt eine Replantation zusammen mit aufwendigen plastischen Eingriffen. aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag Wundarten Schürfwunde Risswunden Stichwunden Traumatologie Pigmenteinlagerung infolge unsachgemäßer Reinigung der Schürfwunde vor der Epitheliasierung Riss-Quetsch-Wunde Décollement Schusswunde 931 aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag