Koronare Herzkrankheit

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Koronare Herzkrankheit
Definition und Klassifikation
Herz
Bei der koronaren Herzkrankheit (KHK) führt
eine Verengung der Koronararterien zu einem
Missverhältnis zwischen myokardialem Sauerstoffangebot und -bedarf. Hauptsymptom der
KHK ist die Angina pectoris. Sie beruht meist auf
einer Koronarsklerose, kann aber auch bei Gefäßspasmen auftreten (Prinzmetal-Angina).
Stabile Angina pectoris. Hierbei besteht in Ruhe
Beschwerdefreiheit. Symptome treten auf bei
körperlicher oder emotionaler Belastung, nach
schweren Mahlzeiten oder bei Kälte. Die Belastungsgrenze kann dabei stark variieren.
Instabile Angina pectoris. Wenn der typische
Brustschmerz erstmals bemerkt wird, sich in Intensität oder Häufigkeit verändert oder bereits
bei geringer Belastung oder in Ruhe auftritt,
handelt es sich um eine instabile Angina pectoris. Sie wird zusammen mit dem Myokardinfarkt (S. 8 f) zum akuten Koronarsyndrom zusammengefasst und ist ein Notfall, der eine sofortige
Abklärung und Behandlung erfordert.
Klassifikation. Eingeteilt wird die Angina pectoris (AP) nach dem klinischen Schema der Canadian Cardiovascular Society (CCS):
Grad
CCS I
Definition
keine AP bei normaler Aktivität, nur bei
sehr starker/langer Belastung
CCS II
AP bei starker Belastung, z. B. Treppensteigen über mehrere Stockwerke
CCS III
AP bei leichter Belastung, z. B. Treppensteigen über ein halbes Stockwerk
CCS IV
Angina pectoris in Ruhe
Epidemiologie
Die KHK ist in den Industrieländern die häufigste
Todesursache. In Westeuropa leiden ca. 15 % der
über 65-Jährigen an einer KHK. Frauen sind bis
zur Menopause weniger häufig als Männer betroffen, nach dem 60. Lebensjahr ebenso häufig.
Ätiologie
2
Stabile Angina pectoris. Bei der Koronarsklerose kommt es durch LDL-Einlagerung in die
Gefäßwand zunächst zu arteriosklerotischen Läsionen und später zur Plaquebildung.
Beim Gesunden kann der koronare Blutfluss bei
Belastung um das 4–5fache gesteigert werden.
Beim KHK-Patienten bestehen jedoch Stenosen
der Koronargefäße, wodurch die Widerstandsgefäße zur Aufrechterhaltung des Blutflusses
bereits in Ruhe dilatieren. Unter Belastung ist
dann eine Steigerung des koronaren Blutflusses
nur noch unzureichend oder gar nicht mehr
möglich (eingeschränkte Koronarreserve).
Instabile Angina pectoris. Bei der instabilen Angina pectoris kommt es durch Plaqueruptur zu
einer thrombotischen Auflagerung im Koronargefäß. Entzündliche Vorgänge und vasokonstriktorische Substanzen verringern zusätzlich den
Blutfluss. Der Stenosierungsgrad des Koronargefäßes ist durch Thrombosierung und Thrombolyse veränderlich, jedoch nicht vollständig wie
beim Myokardinfarkt (S. 8 f).
Risikofaktoren
Risikofaktoren, die die Entstehung einer KHK
begünstigen, werden statistisch ermittelt, ohne
dass die kausalen Zusammenhänge immer bekannt sind. Bei über der Hälfte der Patienten
sind die kardiovaskulären Erkrankungen nicht
durch Risikofaktoren zu erklären.
Bislang erkannte Risikofaktoren sind:
➤ arterielle Hypertonie: sowohl erhöhte systolische als auch diastolische Blutdruckwerte
erhöhen das KHK-Risiko,
➤ Hypercholesterinämie (LDL erhöht, HDL erniedrigt); diätetische/medikamentöse Cholesterinsenkung verringert das KHK-Risiko,
➤ familiäre Störungen des Lipidstoffwechsels:
Hypertriglyzeridämie, Dys-β-Lipoproteinämie,
kombinierte Hyperlipoproteinämie,
➤ Diabetes mellitus: erhöhtes KHK-Risiko u. a.
durch assoziierte Störung des Lipidstoffwechsels, strukturelle Gefäßwandveränderungen
und endotheliale Dysfunktion,
➤ Rauchen: Tabakkonsum schädigt das Endothel u. a. durch freie Radikale, die Aktivierung
von Zytokinen, Entzündungsmediatoren sowie Komplement- und Gerinnungsfaktoren;
Nikotinkarenz erhöht auch nach langjährigem Rauchen die Lebenserwartung,
➤ weitere Risikofaktoren sind Adipositas, Bewegungsmangel, genetische Disposition, sozialer und beruflicher Stress, Persönlichkeitsmerkmale, hochdosierte Östrogeneinnahme
(Kontrazeption), erhöhte Fibrinogen-, Lipoprotein(a)- und Homocysteinspiegel.
aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag
Angina pectoris I
Schwere Stenose
Leichte Stenose
Thrombus
auf Plaque
Plaque
fibröse
Auflagerung
Lipidkern
Koronararterie
Schaumzellen
Lipideinlagerung
geringer Sauerstoffbedarf (auch in Ruhe
symptomatisch)
hoher Sauerstoffbedarf (leichte
Symptome)
Sauerstoffbedarf
mäßiger Sauerstoffbedarf
(asymptomatisch)
Koronardurchblutung selbst bei niedrigem Sauerstoffbedarf nicht ausreichend
CK-, CK-MBund TroponinFreisetzung
Herz
Koronardurchblutung bei erhöhtem Sauerstoffbedarf nicht ausreichend (Myokardischämie)
Myokard
Koronardurchblutung entspricht Sauerstoffbedarf (ausreichende Myokardversorgung)
Ischämie/Infarkt
transiente Ischämie
Ischämie
Labor
EKG
ausreichende Durchblutung
CK
CK
CK
CK-MB
CK-MB
CK-MB
Troponin T
Troponin T
Troponin T
Troponin I
Troponin I
Troponin I
3
aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag
Koronare Herzkrankheit
Herz
Klinik
Die Symptomatik der KHK ist abhängig vom Stenosegrad und der Kollateralisierung:
➤ Stenosegrad bis 40 %: keine relevanten Konsequenzen für den koronaren Fluss,
➤ Stenosegrad 40–70 %: gering eingeschränkte
Koronarreserve, die nur bei sehr starker Belastung zu Symptomen führt,
➤ Stenosegrad 70–90 %: kann bereits bei mäßiger
körperlicher Belastung eine Angina pectoris
auslösen,
➤ Stenosegrad über 90 %: Koronarreserve sehr
stark eingeschränkt; je nach Kollateralisierung kann bereits eine geringe Herzbelastung
zur Ischämie führen.
Über die Hälfte der KHK-Patienten wird durch
einen Myokardinfarkt oder plötzlichen Herztod
erstmals symptomatisch.
Die typische Angina pectoris besteht in anfallsartig auftretenden, krampfartigen, beklemmenden, mitunter auch brennenden Missempfindungen oder Schmerzen oder auch einem
Druckgefühl, das meist retrosternal gelegen ist
und in die linke Thoraxhälfte oder den linken
Arm ausstrahlen kann. Seltener wird der
Schmerz auch in der Hals- und Kieferregion, im
Oberbauch oder im Rücken angegeben. Mitunter bestehen Todesangst und ein Vernichtungsgefühl (v. a. beim erstmaligen Auftreten der Beschwerden).
Der Anfall dauert selten länger als wenige Minuten und spricht meist gut auf Glyceroltrinitrat
an. Hält der Schmerz länger als 20 Minuten an
und ist er durch Glyceroltrinitrat nicht zu beeinflussen, besteht der dringende Verdacht auf einen Myokardinfarkt.
Diagnostik
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Stabile Angina pectoris. Zur Diagnostik gehören:
➤ ausführliche Anamnese (Schmerzcharakter
und -verlauf, Belastungsabhängigkeit, Auslöser, Risikofaktoren),
➤ körperliche Untersuchung (Anhalt für nichtkardiale Ursachen, z. B. Herzinsuffizienz),
➤ 12-Kanal-EKG (Ischämiezeichen),
➤ evtl. Belastungs-EKG (Belastungsgrenze, prognostische Einstufung).
Spezielle Verfahren wie Stress-Echokardiographie, Ultrafast-CT, MRT und Koronarangiographie werden nur in Sonderfällen eingesetzt.
Instabile Angina pectoris. Da es sich bei der instabilen Angina pectoris um einen kardialen
Notfall handelt, kommt es auf eine rasche Abklärung und Therapieeinleitung an. Daher muss
eine unverzügliche Klinikeinweisung mit Arztbegleitung veranlasst werden.
Zur Diagnostik gehören wie bei der stabilen Angina pectoris Anamnese, körperlicher Befund
und 12-Kanal-EKG.
Zusätzlich werden Laboruntersuchungen (CKMB, Troponin T oder I, CRP) zum Infarktausschluss herangezogen, da es sich um einen Myokardinfarkt ohne Ischämiezeichen (NSTEMI)
handeln könnte.
Eine Angina pectoris bei Patienten mit einer
Troponinerhöhung, Ischämiezeichen im EKG,
hämodynamischer Instabilität, Rhythmusinstabilität oder Diabetes mellitus muss durch eine
Katheterangiographie abgeklärt werden.
Differenzialdiagnose
In der Regel ist bereits die Anamnese diagnostisch richtungsweisend. Insbesondere wenn die
Belastungsabhängigkeit des Schmerzes fehlt,
müssen die Differenzialdiagnosen des akuten
Thoraxschmerzes bedacht werden:
➤ Aorta/Herz: Aortendissektion, Myokarditis,
Perikarditis, Herzrhythmusstörungen, Herzphobie,
➤ Lunge: Lungenembolie, Pleuritis, Pneumothorax,
➤ Magen-Darm-Trakt: Ösophagus- und Kardiaspasmen, Ösophagitis, Gastritis, Ulkus, Pankreatitis, Cholezystitis,
➤ Skelett: Rippenfraktur/-prellung, Tietze-Syndrom, Schulter-Arm-Syndrom, BWS-Erkrankungen.
aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag
Herz
Angina pectoris II
Häufige auslösende Ursachen der Angina pectoris:
schweres Essen, Anstrengung, Kälte, Rauchen
Charakteristische Schmerzausstrahlung bei Angina pectoris
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aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag
Herzrhythmusstörungen
Definition und Epidemiologie
Beim Vorhofflimmern besteht eine Vorhoffrequenz von über 350/min. Die Vorhöfe verharren
dabei in einer nahezu diastolischen Stellung.
Hämodynamisch entspricht dies einem Vorhofstillstand. Insbesondere bei bereits eingeschränkter Ventrikelfunktion führt dies zu einem
um ca. 20–30 % verminderten Herzzeitvolumen
(A.). Außerdem können sich atriale Thromben
bilden.
Vorhofflimmern ist die häufigste Herzrhythmusstörung des Erwachsenen. Bezogen auf die Gesamtbevölkerung beträgt die Prävalenz ca. 0,4 %.
Bei über 60-Jährigen liegt sie bei 2–4 % und
steigt bis zum 9. Lebensjahrzehnt auf ca. 8 % an.
Herz
Ätiologie
Dem Vorhofflimmern liegen unkoordinierte Erregungswellen durch Mikro-Reentrys zugrunde,
die ihre anatomische Lage ständig ändern. Es
kann intermittierend, paroxysmal oder – am
häufigsten – permanent auftreten (C.).
In seiner primären Form kann das Vorhofflimmern vagal oder adrenerg induziert sein. Sehr
viel häufiger sind sekundäre Formen auf dem
Boden einer kardialen Erkrankung. Die häufigsten Ursachen des sekundären Vorhofflimmerns
sind arterielle Hypertonie, koronare Herzkrankheit, Mitralklappenfehler und Hyperthyreose.
Klinik (A.)
Durch die hochfrequenten, unkoordinierten Vorhoferregungen kommt es zu einer ebenfalls unregelmäßigen Erregung der Ventrikel, was zu
einer Arrhythmia absoluta führt. Die Patienten
klagen über Herzklopfen, Palpitationen oder
Herzrasen. Zudem berichten sie über Schwindelattacken, eine allgemeine Schwäche oder
auch Unruhe, gelegentlich auch über Übelkeit
und Erbrechen. Mitunter kann es auch zu Steonokardien und/oder Luftnot kommen.
Diagnostik
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Bereits die Anamnese kann wegweisend sein.
Bei der körperlichen Untersuchung findet man
eine absolute Arrhythmie mit Pulsdefizit.
Entscheidend ist der EKG-Befund (C.). Hier findet man sehr variable Flimmerwellen, die in der
Mehrzahl eine niedrige Amplitude haben und
ein sehr unterschiedliches morphologisches Bild
bieten. Bei sehr hochfrequentem Vorhofflimmern führen die Flimmerwellen zu einem breiten Band um die Nulllinie, in dem einzelne Erregungswellen kaum mehr auszumachen sind.
Durch die unregelmäßige Überleitung besteht
eine Arrhythmia absoluta. Die QRS-Komplexe
sind meist nicht verbreitert oder deformiert.
Therapie
Akuttherapie. Bei akut aufgetretenem Vorhofflimmern mit hoher Frequenz und hämodynamischer Instabilität handelt es sich um einen
Notfall, der durch eine elektrische Kardioversion
behandelt werden muss. Bei stabiler Hämodynamik können vagale Manöver versucht werden
(Karotissinusmassage, Trendelenburg-Lagerung,
Valsalva-Manöver, Brechreiz auslösen oder kaltes Mineralwasser trinken lassen). Bleibt dies
ohne Erfolg, wird eine medikamentöse Rhythmisierung durchgeführt (immer unter EKG-Kontrolle und in Reanimationsbereitschaft). Mittel
der Wahl ist Adenosintriphosphat, alternativ
kommen Verapamil, Esmolol oder Ajmalin infrage.
Dauertherapie. Der Versuch einer Rhythmisierung ist bei bereits länger bestehendem Vorhofflimmern (über 6 Monate) praktisch aussichtslos. Ziel ist es dann, hohe Kammerfrequenzen
durch eine Kombination von Digitalis mit Verapamil, einem Betablocker oder Amiodaron zu
unterdrücken.
Die Indikation zur Dauerantikoagulation hängt
vom Risiko für thromboembolische Komplikationen (B.) ab und ist nur bei niedrigem Risiko
nicht gegeben:
➤ niedriges Risiko: Alter unter 60 Jahre, keine
Risikofaktoren,
➤ mittleres Risiko: Alter über 60 Jahre, Frauen,
Hypertonie, Herzinsuffizienz, Diabetes mellitus oder Funktionsstörung des linken Ventrikels,
➤ hohes Risiko: frühere Embolie, Mitralstenose,
nachgewiesene atriale Thrombosierung.
aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag
Vorhofflimmern
evtl. Luftnot
Sinusrhythmus
Arrhythmie
Vorhofflimmern
EKG
Arrhythmie,
Pulsdefizit
Auswurfvolumen
Verringerung der Auswurfleistung und damit des
Herzzeitvolumens bei Vorhofflimmern
A. Klinik bei Vorhofflimmern
Thrombus im linken
Herzohr
Emboli
Mitralstenose
Herz
Hirninfarkt
B. Thromboembolische Komplikationen
Verschleppung von Emboli
in den Körperkreislauf
bei Vorhofflimmern
Verschluss kleiner Gefäße
durch Mikroemboli,
z. B. in Retina oder Niere
regellose multifokale
kreisende
Erregung und
multiple refraktäre Bezirke in
den Vorhöfen
AV-Block unterschiedlichen
Grades
rasche Kammerreaktion
langsame Kammerreaktion
C. Reizleitung und EKG bei Vorhofflimmern
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aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag
Herzrhythmusstörungen
Die normale Erregungsleitung geht vom Sinusknoten aus. Er befindet sich in der Wand des
rechten Vorhofes unmittelbar an der Mündung
der V. cava superior. Von ihm wandert die Erregung über die normale Vorhofmuskulatur zum
AV-Knoten, von diesem wiederum – leicht verzögert – zum His-Bündel, das sich in den rechten und linken Tawara-Schenkel teilt. Beide leiten die Erregung sehr schnell weiter und enden
mit den Purkinje-Fasern in der Kammermuskulatur.
Herz
Schenkelblock
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Die kardiale Erregungsleitung ist gestört, wovon
beide Schenkel einzeln oder gemeinsam betroffen sein können. Die jeweiligen Blöcke können
darüber hinaus komplett oder inkomplett vorliegen.
Rechtsschenkelblock. Ein geringfügiger Defekt
im rechten Tawara-Schenkel kann bereits zu
einem Rechtsschenkelblock führen. Ursache sind
oft eine Arteriosklerose oder eine lang dauernde
Belastung des rechten Ventrikels durch pulmonale Hypertonie oder Pulmonalstenose. Die Erregung breitet sich zunächst in die linke Kammer aus (Q-Zacke in V5 und V6), zieht dort vom
Endo- bis ins Epikard (normale R-Zacke in V5
und V6) und breitet sich zuletzt über das Septum in die rechte Kammer aus (breite S-Zacke in
V5 und V6). Insgesamt läuft die Depolarisation
zuerst nach rechts, dreht dann nach links und
kehrt wieder nach rechts zurück. Dabei dauert
der QRS-Komplex länger als 0,11 s und ist v. a.
in V1 und aVR M-förmig deformiert. Folgende
Charakteristika kennzeichnen den kompletten
Rechtsschenkelblock im EKG (A.):
➤ R in V1 M-förmig deformiert,
➤ oberer Umschlagpunkt in V1 verspätet,
➤ S in I, aVL, V5, V6 breit und tief,
➤ ST-Strecke rechtspräkordial negativ.
Linksschenkelblock. Mögliche Ursachen sind
Arteriosklerose, Myokardinfarkt, Herzinsuffizienz oder hochgradige Belastung des linken
Ventrikels z. B. durch eine Hypertonie. Eine Blockade im linken Schenkel des Herzens ändert
den gesamten Depolarisationsablauf: Er beginnt
an der rechten Seite des Septums und schreitet
zunächst nach links vorne fort (R-Zacken in V1
und V3); über die Herzspitze wandert die Erre-
gung dann zur linken Herzbasis (hohe R-Zacken
in I, V3 und V6, S-Zacken in V1 und V2). Insgesamt sind die Kammerkomplexe in allen Extremitätenableitungen deformiert und Rückbildungsstörungen nachweisbar. Der QRS-Komplex
ist verbreitert (> 0,11 s). Zusammenfassend sind
für den kompletten Linksschenkelblock charakteristisch (B.):
➤ QRS in I, aVL, V5, V6 verbreitert und gesplittet,
➤ S in III, aVL, V1, V2 breit und tief, S ist nie in I,
aVL zu finden,
➤ ST-Strecke linkspräkordial deszendierend negativ,
➤ oberer Umschlagpunkt in V6 verspätet.
Sind Rechts- und Linksschenkelblock kombiniert, kommt es zu einem ähnlichen klinischen
Bild wie beim AV-Block III. Grades (S. 24).
Bradykarde Herzrhythmusstörungen
Bradykarde Herzrhythmusstörungen sind durch
eine Herzfrequenz von weniger als 60/min gekennzeichnet. Beispiele dafür sind Sinusbradykardie, SA-Block, Sinusknotensyndrom, Bradyarrhythmia absoluta, das Karotissinussyndrom und
die AV-Blockierungen.
Sinusbradykardie. Die Reizbildung im Sinusknoten ist auf Werte unter 60/min verringert.
Mögliche Ursachen sind hoher Vagotonus, Hypothyreose, Hirndrucksteigerung sowie körperliches Training oder Digitalis- bzw. Betablockertherapie.
SA-Block. Die Überleitung vom Sinusknoten zu
den Vorhöfen ist verzögert (I. und II. Grad) oder
blockiert (III. Grad). Beim II. Grad unterscheidet
man:
➤ Typ I = Wenckebach: bei gleich bleibender
PQ-Zeit verkürzen sich die PP-Intervalle,
➤ Typ II = Mobitz: die PP-Intervalle bleiben unverändert, aber in regelmäßigen Abständen
unterbleibt eine Herzaktion vollständig.
Beim III. Grad fallen eine oder mehrere Herzaktionen aus, die P-Wellen fehlen; ein Ersatzrhythmus durch ein sekundäres Zentrum ist
nachweisbar. Häufige Folgen sind Synkopen.
aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag
Schenkelblock und bradykarde Herzrhythmusstörungen
AV-Knoten
Block
Block
Block
QRS-Dauer über 0,12 s: breiteste QRS-Zacke
in Ableitung I und linken Brustwandableitungen negativ,
in rechten Brustwandableitungen positiv;
P und PQ-Dauer normal.
A. Kompletter Rechtsschenkelblock
Block
Block
Block
Herz
AV-Knoten
atypisch
typisch
QRS-Dauer über 0,12 s: breiteste QRS-Zacke
in Ableitung I und linken Brustwandableitungen positiv,
in rechten Brustwandableitungen negativ;
P und PQ-Dauer normal.
B. Kompletter Linksschenkelblock
aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag
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Herz
Herzrhythmusstörungen
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Sinusknotensyndrom. Sammelbegriff für Störungen des Sinusknotens, die zurückgehen auf:
➤ anhaltende Phasen einer Sinusbradykardie,
kombiniert mit Sinusarrhythmie,
➤ Sinusstillstand oder sinuatrialen Block (A.) mit
verschiedenen Formen von Ersatzrhythmen,
➤ Bradykardie-Tachykardie-Syndrom.
Letzteres ist gekennzeichnet durch sich abwechselnde Phasen langsamer und hoher Herzfrequenz, wobei das subjektive Herzrasen meist
durch Vorhofflimmern oder -flattern hervorgerufen wird.
Bradyarrhythmia absoluta. Chronisches Vorhofflimmern mit gestörter AV-Überleitung und
konsekutiver bradykarder Ventrikelfrequenz. Sie
entsteht meist bei fortgeschrittener kardialer
Grundkrankheit wie KHK, Klappenfehlern oder
Kardiomyopathie.
Karotissinussyndrom. Durch Druck auf den
Sinus caroticus wird reflektorisch eine Bradykardie ausgelöst (hypersensitiver Karotissinus)
und gleichzeitig eine Vasodilatation in der
Kreislaufperipherie. Es kommt zur Synkope, selten auch zum Herzstillstand. Klinisch kommt es
bei extremen Halsbewegungen, beim Rasieren
oder beim Zuknöpfen eines engen Hemdkragens
zu Schwindel und Synkopen.
AV-Block. Die Erregungsleitung zwischen Vorhöfen und Kammern ist gestört. Mögliche Ursachen sind Digitalis, Betablocker, Chinidin und
andere Antiarrhythmika; außerdem Myokardinfarkt, Myokarditis oder KHK. Unterschieden
werden die folgenden Grade (B.):
➤ I. Grad: die PQ-Zeit ist verlängert, alle Erregungen werden aber weitergeleitet. Klinisch
zeigen sich meist keine Auffälligkeiten.
➤ II. Grad: intermittierend fällt ein Kammerschlag aus; dabei unterscheidet man den
Typ I = Wenckebach, bei dem die PQ-Zeit zunehmend verlängert ist bis zum Ausfall einer
Überleitung und den Typ II = Mobitz, bei dem
die Vorhoferregungen in einem festen Rhythmus übergeleitet werden: bei der 2:1-Überleitung nur jede zweite, bei der 3:1-Überleitung nur jede dritte usw. Der Typ II ist prognostisch ungünstiger, da er in den Typ III
übergehen kann.
➤ III. Grad: Vorhöfe und Kammern schlagen unabhängig voneinander (AV-Dissoziation), der
Kammerrhythmus ist dabei deutlich bradykard und prädestiniert zu zerebralen Ischämien.
Adams-Stokes-Morgagni-Syndrom. Aufgrund
hochgradiger Bradykardie bzw. lang anhaltender Asystolie kommt es zur zerebralen Ischämie,
die ihrerseits Synkopen zur Folge hat. Das klinische Bild ist identisch mit dem beim Karotissinussyndrom, muss aber ätiologisch davon abgegrenzt werden.
Diagnostik
Die Klinik bei Bradykardien erlaubt fast keine
Rückschlüsse auf die Ätiologie. Viele Bradykardien äußern sich klinisch überhaupt nicht oder
nur bei körperlicher Anstrengung. Die Diagnostik ist also Domäne des EKG. Rhythmus und
Breite des QRS-Komplexes sind dabei wichtige
Unterscheidungskriterien. Zum Beispiel entstehen verbreiterte QRS-Komplexe bei regelmäßigem Rhythmus durch einen ventrikulären Ersatzrhythmus wie er beim AV-Block III. Grades
auftritt. Dagegen spricht ein unregelmäßiger
Rhythmus bei nicht verbreitertem QRS-Komplex
z. B. für einen SA- oder AV-Block II. Grades. Alle
Bradykardien können z. B. durch Medikamente,
eine Hypothyreose oder eine Hyperkaliämie
ausgelöst sein.
Schrittmachertherapie
Die Implantation eines Herzschrittmachers ist
bei symptomatischen Bradykardien indiziert,
sofern dadurch eine Besserung zu erwarten ist.
Der Schrittmacher registriert die Herzaktionen
und steuert dementsprechend die Impulsabgabe
(Demandfunktion). Die Schrittmacherart ist
über 3 Buchstaben kodiert:
➤ Ort der Stimulation: V = Ventrikel, A = Vorhof
oder D = beide,
➤ Ort der Wahrnehmung: V, A, D,
➤ Betriebsart: I = Inhibition, T = Triggerung, D =
beide.
Am häufigsten werden VVI-Schrittmacher verwendet.
aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag
Bradykarde Herzrhythmusstörungen II
Ersatzmechanismus
Vagus
Sinusarrest
Sinusknotenausfall
Sinusersatzschlag
AV-Knoten-Ersatzschlag
AV-Knoten-Ersatzschlag
mit retrograder Erregung
Kammerersatzschlag
Impuls
blockiert
Sinusknoten
blockiert durch
organische
Erkrankungen
Impuls
blockiert
Intermittierender
Block
AV-Knotenrhythmus,
Ableitung II
P
P
P
P
P
Herz
A. Sinusarrest, sinuatrialer Block
Reizbildung
im Sinusknoten
Verlängerte PQ-Dauer (AV-Block I. Grades)
Ableitung I
P
P
AV-Block
III. Grades
im oberen
AV-Knoten
P
P
P
P
Ableitung I
P
Schrittmacher
in Kammermuskulatur
P
P
P
Vorhöfe und Kammern schlagen getrennt
normales QRS (AV-Block III. Grades)
R
R
AV-Block
III. Grades
P
P
Intermittierend fehlender Kammerschlag
(AV-Block II. Grades)
Ableitung I
Schrittmacher
im unteren
AV-Knoten oder
His-Bündel
QRS
fehlt
QRS
fehlt
partieller
AV-Block
P
Ableitung I
P
T
P
R
P
P
T
Vorhöfe und Kammern schlagen getrennt
Kammereigenrhythmus, QRS verbreitert
B. Atrioventrikulärer Block
aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag
P
T
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Kreislauf und Gefäße
Arterielle Hypertonie
Definition
Ätiologie und Epidemiologie
Als arterielle Hypertonie wird jede chronische
Erhöhung des diastolischen Blutdrucks bezeichnet, wobei meist auch die systolischen Werte erhöht sind.
Grenzwerte. Eine scharfe Grenze zwischen normalem und erhöhtem Blutdruck gibt es jedoch
im Grunde nicht. Prinzipiell steigt das Risiko kardiovaskulärer Komplikationen und insbesondere
die Mortalität mit dem Blutdruck exponentiell
an.
Nach der WHO-Definition von 1999 gelten
Druckwerte von über 140/90 mmHg als hyperton. Die oberen Grenzwerte der Deutschen Hochdruckliga berücksichtigen dagegen die Altersabhängigkeit des Blutdrucks:
➤ bis zum 40. Lebensjahr: 140/90 mmHg,
➤ 40.–60. Lebensjahr: 150/90 mmHg,
➤ ab dem 60. Lebensjahr: 160/90 mmHg.
Einteilung. Auch die Einteilung der Hypertonie
in verschiedene Schweregrade ist problematisch.
Gebräuchlich sind u. a. die Kriterien der WHO
und des Joint National Committee (JNC).
Die WHO klassifiziert die Hypertonie getrennt
nach systolischen und diastolischen Werten. Für
den systolischen Wert gilt dabei:
➤ < 140 mmHg: normal,
➤ 140–160 mmHg: Grenzwerthypertonie,
➤ > 160 mmHg: Hypertonie.
Der diastolische Wert wird differenzierter bewertet:
➤ < 85 mmHg: normal,
➤ 85–89 mmHg: hoch normal,
➤ 90–104 mmHg: milde Hypertonie,
➤ 105–115 mmHg: moderate Hypertonie,
➤ ≥ 115 mmHg: schwere Hypertonie.
Die Klassifikation des Joint National Committee
(JNC) weicht von derjenigen der WHO ab und
teilt den Schweregrad einer Hypertonie folgendermaßen ein:
➤ < 130/< 85 mmHg: normal,
➤ 130–139/85–89 mmHg: hochnormal,
➤ 140–159/90–99 mmHg: milde Hypertonie,
➤ 160–179/100–109 mmHg: mittelschwere Hypertonie,
➤ 180–209/110–119 mmHg: schwere Hypertonie,
➤ > 210/> 120 mmHg: sehr schwere Hypertonie.
Die Prävalenz der arteriellen Hypertonie steigt
mit dem Alter an und liegt zwischen 10 und über
35 %. Im jüngeren Lebensalter sind Männer vermehrt betroffen, im höheren Alter (Postmenopause bei Frauen) gleichen sich die Geschlechterunterschiede aus.
Primäre (essenzielle) Hypertonie. Die Ätiologie
dieser häufigsten Form (> 90–95 %) ist vielschichtig und bleibt in den meisten Fällen unklar. Zu
den Risikofaktoren zählen:
➤ genetische Faktoren (z. B. Salzempfindlichkeit,
Veränderungen des Angiotensinogen-Gens,
sympathoadrenerge Aktivität),
➤ Ernährungsfehler und Übergewicht,
➤ Stress,
➤ möglicherweise psychische und soziale Faktoren.
Sekundäre Hypertonie. Bei diesen Formen bestehen fassbare Ursachen für die Hypertonie, z. B.:
➤ renovaskuläre Hypertonie: häufigste Ursache
einer sekundären Hypertonie (3–5 % aller Hypertonien). Meist arteriosklerotische Nierenarterienstenose (70–75 %), seltener Thrombose, Embolie oder Arteriitis der A. renalis
oder angeborene Defekte wie die fibromuskuläre Dysplasie; die Verminderung der Nierendurchblutung führt über das Renin-Angiotensin-System zur Hypertonie,
➤ renoparenchymatöse Hypertonie: durch Parenchymveränderungen (z. B. Zysten, nephritische Veränderungen) Einschränkung der
Natrium- und Volumenausscheidung,
➤ endokrine Hypertonie (Cushing-Syndrom: Erhöhung der Glucocorticoide, Conn-Syndrom:
Erhöhung der Mineralocorticoide, Phäochromozytom: überschießende Catecholaminsekretion, primärer Hyperreninismus),
➤ Aortenisthmusstenose (Hypertonie der oberen Körperhälfte, S. 80),
➤ Schwangerschaftshypertonie (EPH-Gestose),
➤ medikamentös induzierte Hypertonie (z. B.
hormonelle Kontrazeptiva, Steroide, Sympathikomimetika, Carbenoxolon, Ciclosporin).
92
aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag
Hypertonie I
Ätiologie der Hypertonie
Essenzielle Hypertonie
Ätiologie unbekannt
parenchymale
Nierenerkrankungen
Glomerulonephritis
chronische Pyelonephritis
diabetische Nephropathie
interstitielle Nephritis
polyzystische Nieren
"connective tissue disease"
Hydronephrose
renovaskuläre
Erkrankungen
arteriosklerotische, thrombotische oder embolische Verlegung
fibromuskuläre Hyperplasie
Aneurysma oder Aortendissektion
Entzündung
Hypoplasie
Hypernephrom
Tumor der juxtaglomerulären Zellen
Wilms-Tumor
solitäre Nierenzyste
Perirenitis
renales Hämatom
Nephrosklerose
Systolische und diastolische Hypertonie
Nierenerkrankungen
Erkrankungen der
Nebenniere
kortikal
Hyperaldosteronismus
Cushing-Syndrom
adrenogenitales Syndrom
Isolierte systolische
Hypertonie
Rückenmarksdurchtrennung
Hirntumoren
Enzephalitis
Polyneuritis
Neurologische
Erkrankungen
erhöhter intrakranialer Druck
bulbäre Poliomyelitis
dienzephale Syndrome
Neuroblastom
Hämatologische
Erkrankungen
Polyzythämie
Erythropoetin-Therapie
Erkrankungen der
Schilddrüse und
Nebenschilddrüse
Hyperparathyreoidismus
andere Ursachen einer Hyperkalzämie
Myxödem
Hyperthyreoidismus
Aortenstenose
thorakale Aortenstenose
abdominale Aortenstenose (mit/ohne Einbeziehung der A. renalis)
Schwangerschaftstoxikose
Präeklampsie
Eklampsie
Medikamente und
Ernährung
orale Kontrazeptiva
Östrogene
Lakritze
Ciclosporin
Cocain
Amphetamine
Sympathomimetika
MAO-Hemmer
erhöhtes
linksventrikuläres
Schlagvolumen
totaler AV-Block
Aortenklappeninsuffizienz
persistierender Ductus arteriosus
arteriovenöse Fisteln
schwere Anämie
Beriberi
Morbus Paget
verminderte
Elastizität der Aorta
Arteriosklerose der Aorta
Aortenisthmusstenose
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Kreislauf und Gefäße
medullär - Phäochromozytom
93
Arterielle Hypertonie
Klinik
Primäre Hypertonie. Die primäre Hypertonie ist
meist eine Zufallsdiagnose, da die Mehrzahl der
Hypertoniker lange Zeit keine Beschwerden hat.
Erst durch sekundäre Organschäden werden
Symptome verursacht (S. 96). Mitunter sind rezidivierende Kopfschmerzen, Palpitationen oder
Sehstörungen erste Anzeichen.
Sekundäre Hypertonie. Bei diesen Hypertonieformen steht die Symptomatik der Grunderkrankung im Vordergrund.
Kreislauf und Gefäße
Diagnostik
94
Anamnese. Neben der Erhebung der Beschwerden, ihrer Dauer und ihres Verlauf, ist die Erfassung von disponierenden Faktoren (Familienanamnese, berufliche Situation, Ernährungsgewohnheiten, Alkohol-, Koffein- und Nikotinkonsum) sowie von zusätzlichen Risikofaktoren für
kardiovaskuläre Folgeschäden (Stoffwechselstörungen wie Diabetes mellitus, Fettstoffwechselstörungen) wichtig.
Blutdruckmessung. Der Blutdruck sollte nach
2–3 min Ruhe im Sitzen an beiden Armen gemessen werden. Eine Druckdifferenz von mehr
als 20 mmHg zwischen beiden Armen bedarf der
Abklärung. Wichtig ist, dass die Blutdruckmanschette dem Oberarmumfang angepasst ist. Bei
sehr kräftigen Oberarmen wird eine Oberschenkelmanschette verwendet, bei Kindern und sehr
zierlichen Personen eine schmale Manschette.
Ein einzelner erhöhter Messwert hat keine
große Aussagekraft, muss aber kontrolliert werden. Bestehen über mehrere Messungen an verschiedenen Tagen chronisch erhöhte Werte, muss
eine weitere Diagnostik eingeleitet werden.
In unklaren Fällen kann eine 24-h-Blutdruckmessung sinnvoll sein.
Körperliche Untersuchung. Zur Beurteilung des
Gefäßsystems wird ein Pulsstatus erhoben und
eine Auskultation der großen Gefäße (A. carotis,
A. femoralis, A. renalis) vorgenommen. Zur Einschätzung der kardialen Situation dient die Auskultation.
Labor. Zur Routinediagnostik bei Hypertonieverdacht gehören Kreatinin, Kalium und Harnsäure (Nierenstatus) sowie Glucose und Cholesterin/Triglyceride (Stoffwechsel). Außerdem empfiehlt sich die Urinuntersuchung auf Glucose,
Protein und Sediment.
Weitere Diagnostik. Bei erwiesener Hypertonie
wird die Diagnostik ausgeweitet auf mögliche
Ursachen einer sekundären Hypertonie und evtl.
bereits eingetretene Folgeschäden (S. 96).
Therapie
Therapieziel ist es, den Blutdruck auf einen
Wert von 140/90 mmHg zu senken. Höhere Werte sollten nur bei Schwangeren, Patienten über
65 Jahre und Diabetikern mit einer Nephropathie toleriert werden.
Allgemeine Maßnahmen. Nur bei einer milden
Hypertonie kann zunächst ein Versuch mit allgemeinen Maßnahmen durchgeführt werden:
➤ Gewicht reduzieren,
➤ Kochsalzzufuhr einschränken
➤ nur mäßig Kaffee und Alkohol, Nikotinkarenz,
➤ geregelte Lebensführung anstreben und beruflichen Stress vermeiden,
➤ regelmäßig leichten Ausdauersport betreiben.
Medikamentöse Therapie. Bringen die allgemeinen Maßnahmen innerhalb von 2–3 Monaten keine ausreichende Wirkung, muss der Blutdruck zur Vermeidung von Sekundärschäden
zusätzlich medikamentös gesenkt werden.
Die medikamentöse Hypertonietherapie folgt
einem festen Schema. Als Antihypertonika stehen zur Verfügung:
➤ Diuretika,
➤ Betablocker,
➤ Calciumantagonisten,
➤ ACE-Hemmer,
➤ postsynaptische Alphablocker.
Begonnen wird die Behandlung mit einer Monotherapie mit einem der genannten Medikamente (Stufe 1). Bringt dies nicht den gewünschten Erfolg, muss ebenso wie primär bei einer
schweren Hypertonie eine Zweierkombination
(Wechselwirkungen beachten!) eingesetzt werden (Stufe 2). Reicht auch dies nicht aus, wird
eine Dreierkombination versucht (Stufe 3).
Reicht auch diese Stufe nicht aus, sollte erneut
das Bestehen einer sekundären Hypertonie überdacht und der Patient in eine Hypertonie-Ambulanz überwiesen werden.
Ab der Stufe 2 kann das medikamentöse Spektrum ausgeweitet werden, z. B. mit einem zentralen Sympatholytikum, ATI-Rezeptorantagonisten, Minoxidil oder Reserpin.
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Hypertonie II
Ätiologie und Pathogenese
Klinik
verminderte
Empfindlichkeit
der Barorezeptoren
häufig
asymptomatisch,
evtl. Symptome der
zerebro- oder kardiovaskulären Insuffizienz
nach dem Aufstehen
häufig Hypotonie;
daher Messung erst
nach 3 min Stehen
Kreislauf und Gefäße
erhöhter
peripherer
Widerstand
erniedrigter
Reninspiegel,
erhöhte Natriumempfindlichkeit
verminderte
glomeruläre
Filtrationsrate
verminderte
maximale
Ausscheidung
von Natrium
Eine Pseudohypertonie
muss erwogen werden,
wenn unter antihypertensiver Therapie
synkopale Symptome
auftreten. Evtl. treten
hypertone Werte auch
nur beim Arztbesuch auf
(„Weißkittel-Syndrom“).
Nierenarterienstenose
95
aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag
Lunge
Infektiöse Lungenerkrankungen
Definition und Ätiologie
Pneumokokken-Pneumonie
Pneumonien sind infektiöse Lungenerkrankungen, bei denen das alveoläre Parenchym und/
oder das perilobuläre bzw. peribronchiale Interstitium betroffen sein können. Gemeinsam ist
allen Pneumonieformen, dass betroffene Alveolen und Alveolargänge nicht mit Luft, sondern
mit einem entzündlichen Infiltrat gefüllt bzw.
Alveolarwände und Interstitium mit Entzündungszellen infiltriert sind.
Ätiologische Einteilung. Die gängigste Klassifizierung ist die nach der Ätiologie:
➤ bakterielle Pneumonien (Pneumokokken, Haemophilus influenzae, Legionellen, Staphylokokken, Anaerobier),
➤ virale Pneumonien (Influenza-, Parainfluenza-, Adeno-Viren),
➤ Mykoplasma-Pneumonien (Mycoplasma pneumoniae),
➤ mykotische Pneumonien (Aspergillus, Candida),
➤ parasitäre Pneumonien (Pneumocystis carinii, Askariden),
➤ allergische Pneumonien (allergenbelastete
Stäube, Ruptur von Echinokokkenzysten),
➤ Autoimmun-Pneumonien,
➤ chemische Pneumonien (Reizgase, metallhaltige Dämpfe, Säuren, Mineralöl, Medikamente),
➤ Strahlenpneumonie (ionisierende Strahlung).
Seltenere weitere Erreger sind Rickettsien (Coxiella burnetii) und Chlamydien (Chlamydia
psittaci). Gelegentlich wird eine Pneumonie
nicht infektiöser Ursache auch als „Pneumonitis“ bezeichnet.
Klinische Einteilung. Klinisch wichtiger ist die
Unterscheidung in eine ambulant oder nosokomial erworbene Pneumonie.
Einteilung nach Verlauf. In aller Regel verläuft
die Erkrankung akut. Von einer chronischen
Pneumonie spricht man, wenn nach 6 Wochen
unter Behandlung keine wesentliche Befundbesserung eingetreten ist. Als atypische Pneumonie wird jede nicht bakterielle Form bezeichnet, deren Klinik nicht dem klassischen Bild der
Pneumonie entspricht.
Ätiologie und Epidemiologie. Streptococcus
pneumoniae ist der häufigste bakterielle Erreger
einer Pneumonie, aber auch bei über der Hälfte
der gesunden Bevölkerung in den oberen Atemwegen nachweisbar. Die Erkrankung verläuft
entweder als lobäre oder als Bronchopneumonie (A.). Gehäuft tritt sie im Winter und zu
Frühjahrsbeginn auf, wobei sie meist nach mehreren Tagen einem Virusinfekt der Atemwege
folgt. Vorwiegend sind Kinder und alte Menschen betroffen. Besonders anfällig sind Patienten nach Splenektomie oder mit Sichelzellanämie, die daher gegen Pneumokokken immunisiert werden sollten.
Pathogenese und Verlauf. Nach Virusinfekten
im oberen Respirationstrakt befinden sich im
Nasen-Rachen-Raum vermehrt Sekret und damit eine größere Zahl potenziell pathogener
Keime. Durch Aspiration des Sekrets gelangen
Bakterien in die Alveolen, wo sie sich vermehren. Die typischen Lungenveränderungen lassen
sich in 4 charakteristische Stadien einteilen, die
sich im pneumonischen Herd von zentral nach
peripher ausbreiten:
➤ Ödem und Anschoppung (1. Tag): entzündliches alveoläres Ödem,
➤ beginnende Verdichtung (2.–3. Tag): Leukozyten und Erythrozyten wandern ein (rote
Hepatisation),
➤ fortgeschrittene Verdichtung (4.–8. Tag): Leukozyten und Makrophagen infiltrieren massenhaft die Alveolen (graue Hepatisation),
➤ Lyse (9.–10. Tag): Makrophagen treten an die
Stelle der Granulozyten, das Exsudat wird enzymatisch aufgelöst und resorbiert.
Auch wenn der klinische Verlauf durch die antibiotische Behandlung nicht mehr dem klassischen Bild entspricht, werden in der Lunge dennoch die genannten Stadien unverändert durchlaufen.
166
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Pneumonie/Pneumokokken-Pneumonie I
A. Lobärpneumonie, rechter
Lunge
Oberlappen.
Rote und graue Hepatisation (Übergangsstadium).
Fibrinöses Pleuraexsudat
B. Pneumonie im rechten Oberlappen und in einem
Segment des rechten Unterlappens
167
C. Purulentes Sputum mit Pneumokokken (Gram-Färbung)
D. Pneumokokkenkolonie auf
Agarmedium
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Infektiöse Lungenerkrankungen
Lunge
Pneumokokken-Pneumonie (Forts.)
168
Klinik. Die Pneumokokken-Pneumonie setzt typischerweise plötzlich mit Schüttelfrost und
hohem Fieber (39–40 °C und darüber) ein. Kurz
danach oder aber auch als Erstsymptom werden
bei tiefer Atmung Schmerzen angegeben. Dies
ist Ausdruck einer Pleurabeteiligung.
Im weiteren Verlauf wird der Husten zum auffälligsten Symptom. Dabei wird typischerweise
ein rötlicher bis rostbrauner blutig tingierter
Auswurf abgehustet. Während des fiebernden
Verlaufs leidet der Patient unter ausgeprägter
Schwäche und schwerem Krankheitsgefühl.
Häufig beobachtet man einen Herpes labialis
(Fieberblasen). Es besteht eine Tachykardie und
Tachypnoe, die Atmung ist jedoch flach, weil die
betroffenen Lungenpartien geschont werden.
Aus dem Zurückbleiben der Thoraxexkursionen
während des Inspiriums lässt sich oft schon auf
die Lokalisation der Pneumonie schließen.
Die Pneumokokken-Pneumonie bleibt im Allgemeinen auf einen Lappen oder ein Segment beschränkt. Am häufigsten betroffen sind die Unterlappen und der Mittellappen.
Diagnostik. Auskultatorisch imponieren Dämpfung, Bronchialatmung, verstärkter Stimmfremitus und feines Knisterrasseln (Crepitatio indux).
Häufig ist ein Pleurareiben zu hören. Das Abdomen erscheint oft aufgetrieben. Im Blutbild
findet sich typischerweise eine ausgeprägte
Leukozytose mit deutlicher Linksverschiebung.
Der Sputumausstrich zeigt nach Gram-Färbung
massenhaft polymorphkernige Leukozyten und
grampositive Diplokokken in großer Zahl
(S. 166 C.).
Sobald die Pneumonie beginnt sich zurückzubilden, tritt an die Stelle des Bronchialatmens
und der feinen Knistergeräusche ein grobblasiges, feuchtes Rasseln (Crepitatio redux). In den
darauf folgenden Wochen bildet sich das Infiltrat im Röntgenbild allmählich zurück. Bis zur
vollständigen Resolution vergeht aber oft noch
einige Zeit. Der hier geschilderte klassische klinische Verlauf ist durch die Anwendung von
Antibiotika heute meist abgekürzt und so vollständig kaum mehr zu beobachten.
Therapie. Mit Penicillin kann oft schon innerhalb von 24 Stunden eine auffällige Besserung
erzielt werden; allerdings bleibt das Fieber oft
noch einige Tage lang bestehen.
Unterbleibt die Auflösung des Prozesses, muss
an die Möglichkeit einer Bronchialobstruktion
infolge eines Tumors gedacht werden. Jedoch
auch ohne jegliche endobronchiale Veränderung
normalisiert sich der Röntgenbefund mitunter
erst langsam, insbesondere bei Beteiligung des
rechten Oberlappens.
Komplikationen (B.). Zu Komplikationen kann
es im Frühstadium ebenso wie im gesamten
Verlauf einer Pneumokokken-Pneumonie kommen. So treten kleine sterile Pleuraergüsse als
Folge der entzündlichen Beteiligung der Pleura
über dem betroffenen Lungenareal auf. Gelegentlich, und zwar meist bei Alkoholikern, die
oft erst spät zum Arzt kommen, enthält das Exsudat Keime, sodass sich ein Pleuraempyem ausbildet. Zur diagnostischen Abgrenzung ist eine
Thoraxpunktion, zur Beherrschung der Infektion
und Prophylaxe von restriktiven Ventilationsstörungen eine Drainage erforderlich.
Breitet sich der Infekt entweder per continuitatem aus dem Pleuraraum oder über eine Bakteriämie in das Perikard aus, entsteht eine purulente Perikarditis. Sie ist seit der Einführung der
Antibiotika jedoch selten geworden, ebenso wie
die akute bakterielle Endokarditis, die in der
Regel an der Aortenklappe lokalisiert ist.
Eine sehr seltene Komplikation ist der Lungenabszess. Er kann durch Pneumokokken mit nicht
phagozytierbarer Kapsel verursacht werden.
Meist liegt in diesen Fällen aber eine bakterielle
Superinfektion mit Staphylococcus aureus oder
Klebsiellen oder aber eine Bronchialobstruktion
vor.
Bei etwa 30 % der Pneumokokken-Pneumonien
stellt sich eine Bakteriämie ein, die manchmal
zu metastatischen Infektionen führt, worunter
die Pneumokokkenmeningitis am häufigsten vorkommt. Sie muss bei Verwirrtheit und herabgesetztem Sensorium stets bedacht werden.
An weiteren septischen Komplikationen kommen die Pneumokokkenarthritis und Pneumokokkenperitonitis vor.
Bei Asplenie oder nach Splenektomie kann eine
schwere und fulminant verlaufende disseminierte intravasale Koagulopathie auftreten.
aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag
Pneumokokken-Pneumonie II
Zone des entzündlichen Ödems
Alveolen sind mit keimhaltiger Ödemflüssigkeit angeschoppt
Zone der fortgeschrittenen Verdichtung
Exsudat mit massenhaft polymorphkernigen Leukozyten; Pneumokokken werden phagozytiert
und zerstört
normales
Lungengewebe
Lunge
Zone der beginnenden Verdichtung
Exsudat mit polymorphkernigen Leukozyten
und einigen Erythrozyten
Zone der Lyse
Alveolarmakrophagen treten an die Stelle der Leukozyten
A. Pathologische Veränderungen in verschiedenen Bezirken des pneumonischen Herdes
septische
Arthritis
intravaskuläre
Koagulopathie
(bei Asplenie)
purulente Perikarditis
steriler Pleuraerguss
Endokarditis
Empyem
B. Komplikationen bei Pneumokokkenpneumonie
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169
Leitsymptome
Definition
Unter Diarrhö versteht man die
➤ Zunahme der Stuhlfrequenz auf über 3-mal
täglich,
➤ Erhöhung des Stuhlgewichts auf über 250 g
täglich oder
➤ Vermehrung des Wasseranteils des Stuhls auf
über 75 %.
Außerdem unterscheidet man die akute Diarrhö
und die länger als 4 Wochen (evtl. bis Monate)
anhaltende chronische Diarrhö.
Dünn- und Dickdarm
Einteilung
294
Für die differenzialdiagnostische Betrachtung
hat sich eine Einteilung der Diarrhö nach der
Ätiologie bewährt.
Infektiöse Diarrhö. Häufigste bakterielle Erreger
in unseren Breiten sind E. coli, Staphylokokken,
nicht typhöse Salmonellen, Campylobacter jejuni und Yersinia enterocolitica (S. 300 ff.). Nach
Reisen in tropische Länder kommen Salmonella
typhi (nicht typischerweise mit Durchfällen vergesellschaftet), Shigellen, sowie Vibrio cholerae
hinzu. Häufigste Erreger der „Lebensmittelvergiftung“ sind Enterotoxin bildende Bakterien wie
Staphylococcus aureus, Bacillus cereus und Clostridium perfringens.
Virale Erreger einer Diarrhö sind Rotavirus, Adenovirus und Norwalkvirus.
Als Protozoen kommen Gardia lamblia und nach
Reisen ins Ausland Entamoeba histolytica infrage.
Nebenwirkungen von Medikamenten. Hier
kommen insbesondere Antibiotika und Zytostatika in Betracht. Eine Sonderstellung nimmt die
pseudomembranöse Kolitis durch Clostridium
difficile nach einer Antibiotikatherapie ein. Bei
Jugendlichen, v. a. Mädchen, muss auch an einen
Laxanzienabusus gedacht werden.
Nahrungsmittelallergien. Zwar äußern sich
diese häufiger in Haut- und Schleimhautsymptomen, Diarrhöen kommen jedoch vor.
Erkrankungen, die zu einer Maldigestion führen. Typische Beispiele sind Gallensäureverlustsyndrom, exokrine Pankreasinsuffizienz und
Gastrektomie.
Erkrankungen, die zu einer Malabsorption führen. Hierzu gehören die Dünndarmerkrankungen Morbus Whipple (S. 342), einheimische Sprue
(S. 344), eine Laktoseintoleranz, die Strahlenenteritis sowie die seltenen Tumoren des Dünndarms (S. 346 ff.).
Erkrankungen des Kolons. Ein Kolonkarzinom
führt manchmal zu paradoxen Diarrhöen, eine
kollagene oder eosinophile Kolitis führt durch
die Entzündung zu Durchfall.
Chronisch entzündliche Darmerkrankungen.
Morbus Crohn (S. 314 ff.), Colitis ulcerosa (S. 318),
Colitis indeterminata.
Funktionelles Darmsyndrom. Synonym: Reizdarm-Syndrom, Syndrom des irritablen Darms,
Colon irritabile. Hierzu zählt ein Großteil der
Patienten, bei denen organische Darmerkrankungen ausgeschlossen wurden.
Endokrine Ursachen. Seltene Tumorerkrankungen mit Produktion von gastrointestinal wirksamen Hormonen bewirken massive Diarrhöen.
Hierzu zählen das Karzinoid, Gastrinom und
Vipom. Auch bei einer Hyperthyreose treten
neben anderen Symptomen typischerweise Diarrhöen auf.
Anamnese
Die wichtigsten Hinweise auf die Ursache einer
Diarrhö ergeben sich aus der Anamnese:
➤ Dauer, Frequenz, zeitliches Auftreten der Diarrhö im Tagesverlauf,
➤ Zusammenhang mit der Einnahme bestimmter Lebensmittel (Milch und Milchprodukte,
Brot),
➤ Blut- oder Schleimbeimengung sowie begleitende abdominale Symptome wie Übelkeit,
Erbrechen, Meteorismus oder Schmerzen.
Von entscheidender Bedeutung ist auch, ob ein
Aufenthalt im Mittelmeerraum und außereuropäischen Ausland den Beschwerden vorausgegangen ist. Die dortigen hygienischen Verhältnisse, der Genuss von „gefährlichen“ Nahrungsmitteln wie Muscheln, Schalentieren oder ungewaschenem Obst und das Auftreten von Diarrhöen bei Mitreisenden müssen erfragt werden.
Ergänzt wird die Anamnese durch Fragen nach
Gelenkbeschwerden, Hautveränderungen oder
Augensymptomen.
aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag
Leitsymptom Diarrhö
chirurgisch
Hyperthyreose
Nebennierenrindeninsuffizienz
Vaguseinfluss
(Hypermotilität
des gesamten
Verdauungstrakts)
über sakrale Kerne
vermittelte Einflüsse (Diarrhö
wechselt mit
Obstipation, z.B.
irritables Kolon)
Karzinoid
(Serotoninproduktion)
mechanisch
harter Stuhl,
Fremdkörper,
Neoplasmen,
Invagination,
Kompression
von außen,
Abknickung
bakteriell
Salmonellen,
Shigellen,
Staphylokokken,
Streptokokken,
E. coli,
Clostridien u. a.
irritativ
chemisch
Toxine,
Abführmittel
parasitär
Amöben,
Trichinen,
Askariden
ernährungsbedingt
Lebensmittelintoleranz,
Vitaminmangel,
ballaststoffreiche Kost
osmotisch
salinische
Abführmittel
Dünn- und Dickdarm
Gastrektomie
endokrin
psychogen und/oder neurogen
Vagotomie
Arznei- oder
Lebensmittelüberempfindlichkeit
allergisch
tropische und
einheimische Sprue,
Zöliakie,
Morbus Whipple
malabsorptionsbedingt
entzündlich
Morbus Crohn
Colitis ulcerosa
295
aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag
Leitsymptome
Definition
Die „normale“ Stuhlfrequenz ist eine interindividuell sehr variable Größe. Von 3-mal täglich
bis 3-mal wöchentlich reicht die Bandbreite, die
man als normal bezeichnet. Entsprechend versteht man unter „Obstipation“ eine Stuhlfrequenz von weniger als 3-mal wöchentlich, häufig verbunden mit hartem Stuhlgang und
Schmerzen bei der Defäkation.
Epidemiologie
Dünn- und Dickdarm
Die Obstipation ist das in der klinischen Praxis
am häufigsten geklagte Einzelsymptom. Etwa
10–20 % der Bevölkerung der Industriestaaten
klagen über Obstipation, wobei der Anteil mit
zunehmendem Alter ansteigt. Frauen sind häufiger betroffen als Männer.
296
Einteilung
Einteilung der Obstipation nach der Ätiologie:
Chronische funktionelle Obstipation. Die Obstipation ist bei dieser häufigsten Ursache das
Resultat der Lebensführung. Eine faserarme
Ernährung, geringe Flüssigkeitsaufnahme, Bewegungsmangel und sitzende Tätigkeit sowie
die häufig situativ bedingte Unterdrückung des
Defäkationsreizes führen zur Obstipation. Beim
funktionellen Darmsyndrom ist der Wechsel von
Obstipation und Diarrhö typisch.
Nebenwirkungen von Medikamenten. Hier
kommen viele Medikamente sehr unterschiedlicher Substanzgruppen in Betracht. Häufig führen
Antazida, Anticholinergika, Opiate einschließlich Codein, Antidepressiva, Antihypertensiva,
Antiepileptika, Colestyramin, Neuroleptika, Antiarrhythmika und Eisenpräparate zur Obstipation.
Elektrolytstörungen. Eine Hyperkalzämie und
insbesondere eine Hypokaliämie führen zur Hypomotilität des Darms. Besonders fatal ist die
Hypokaliämie, wenn sie durch einen Laxanzienabusus hervorgerufen wird, der hierdurch noch
gesteigert wird.
Erkrankungen, die zu einer intestinalen Obstruktion führen. Hierzu zählen im Dünndarm
Tumoren, narbige Strikturen und Stenosen,
Fremdkörper, Briden, Volvulus und Hernien. Im
Dickdarm handelt es sich eher um Adenome,
Divertikel oder Karzinome.
Entzündliche Erkrankungen des Bauchraums.
Alle entzündlichen Erkrankungen des Darms
oder anderer Abdominalorgane können reflektorisch zu einer Darmparalyse führen. Am häufigsten sind die Divertikulitis, Appendizitis, Cholezystitis, ein intraabdominaler Abszess, die
Pankreatitis und gynäkologische Entzündungen.
Analerkrankungen. Schmerzhafte Fissuren,
Analthrombosen, Ekzeme, Hämorrhoiden, Fisteln
oder Abszesse können durch fortgesetzte Unterdrückung der schmerzhaften Defäkation zu dauerhafter Obstipation führen.
Erkrankungen, die zu einer neurogenen Störung des Darms führen. Hierzu gehören das diabetische Spätsyndrom mit autonomer Neuropathie, der Morbus Parkinson sowie die multiple
Sklerose.
Endokrine Störungen. Sowohl während einer
Schwangerschaft als auch bei einer Hypothyreose kommt es hormonell bedingt zu einer Obstipation.
Anamnese
Bei der Obstipation ist die Unterscheidung zwischen akuter und chronischer, d. h. der über
mehrere Monate anhaltenden Verstopfung, am
wichtigsten. Eine akute, neu aufgetretene Obstipation spricht eher für eine organische Ursache,
während eine chronische Problematik eher auf
eine funktionelle Obstipation, manchmal auch
auf eine neurotische Stuhlfixierung hinweist.
Weitere Fragen müssen vorausgegangene Operationen, Entzündungen oder mögliche schmerzhafte anale Veränderungen sowie die Medikamenteneinnahme klären und Hinweise für eine
endokrine Störung oder andere Grunderkrankung aufdecken. Von Bedeutung ist außerdem
die tägliche Flüssigkeitsaufnahme und die Art
der Ernährung, insbesondere der Anteil an faserreichen Nahrungsmitteln. Ergänzend wird explizit nach obstipierenden Nahrungsmitteln wie
z. B. Weißmehlprodukten, Bananen, Schokolade
und Kakao gefragt.
aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag
Leitsymptom Obstipation
reduzierte
Ernährung
psychogen
Obstipation und Diarrhö können wechseln
(z.B. bei Colon irritabile)
funktionell
diätetisch
verhaltensbedingt
Fehlverhalten,
Suppression
des Stuhldrangs
atonisch
Darmwandatonie im Alter
postdiarrhoisch
Dünn- und Dickdarm
obstipierende
Nahrungsmittel
(fester
Stuhl)
iatrogen
nach dem
Rauchen
Barium
• obstipierende Aluminiumhydroxid
Agenzien
Calciumkarbonat
• eindickende Agenzien (Muzilaginosa)
• inhibitorische Agenzien
(z.B. Opiate, Anticholinergika)
organisch
Neoplasma
Aganglionose
Obstruktion
reflektorische
Obstipation bei
Organerkrankung
z.B. der Appendix
Abszess Fissur Hämorrhoiden
Analerkrankungen
Anorexie durch
systemische, lokale
oder psychische
Erkrankungen
297
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Strukturelle und funktionelle Lebererkrankungen
Leber und Gallenwege
Definition und Epidemiologie
378
Unter Leberzirrhose versteht man den irreversiblen Endzustand unterschiedlichster chronischer
Lebererkrankungen, bei dem die normale Läppchen- und Gefäßarchitektur der Leber aufgehoben ist. Es entsteht eine entzündliche Fibrose
mit Ausbildung bindegewebiger Septen und Regeneratknoten.
Je nach Größe dieser Knoten unterscheidet man
verschiedene Formen der Zirrhose:
➤ makronoduläre Form: Knoten > 3 mm, meist
nach schweren Parenchymnekrosen oder bei
rasch progredientem alkoholischem Leberschaden,
➤ mikronoduläre Form (auch als septale oder
portale Form bezeichnet): Knoten < 3 mm,
meist bei biliären Zirrhosen oder langsam
progredientem alkoholischem Leberschaden,
➤ gemischte Form.
Für Deutschland wird die Zahl der Zirrhosekranken auf mehrere Hunderttausend geschätzt;
75 % hiervon sind Männer. Eine Leberzirrhose
bzw. ihre Komplikationen steht an 5. Stelle der
häufigsten Todesursachen in Deutschland.
Ätiologie
In Europa liegen der Zirrhose meist die Alkoholkrankheit und die Hepatitis zugrunde, in den
Entwicklungsländern sind es Infektionskrankheiten (z. B. Parasitosen).
Alkohol. Für bis zu 70 % aller Leberzirrhosen ist
in Europa und Nordamerika ein Alkoholabusus
verantwortlich. Als toxische Alkoholmengen gelten für Männer 60 g/d bzw. für Frauen 20 g/d.
Virushepatitis. Die posthepatitische Leberzirrhose bei chronischer Hepatitis macht 20–25 %
aller Fälle aus.
Medikamente. Schädigungen der Leber durch
Medikamente äußern sich eher in einer akuten
oder chronischen Hepatitis; eine Leberzirrhose
durch Medikamente oder andere Toxine ist seltener.
Weitere Erkrankungen. Seltenere Ursachen einer Leberzirrhose sind:
➤ autoimmune Hepatitis,
➤ primär biliäre Zirrhose,
➤ primär sklerosierende Cholangitis
➤ α1-Antitrypsinmangel,
➤ Abetalipoproteinämie,
➤ Morbus Wilson,
➤ Hämochromatose,
➤ Galaktosämie,
➤ Glykogenosen,
➤ Tyrosinämie I,
➤ Mukoviszidose,
➤ hepatische Porphyrie,
➤ eine „cirrhose cardiaque“ bei chronischer
schwerer Rechtsherzinsuffizienz mit Leberstauung (z. B. bei Perikarditis constrictiva) ist
eine Rarität.
Bis zu 10 % der Leberzirrhosen bleiben ätiologisch
unklar (kryptogene Leberzirrhose).
Klinik
Beschwerden treten meist spät auf und sind zunächst unspezifisch. Es handelt sich v. a. um
Allgemeinsymptome wie Müdigkeit, Antriebsschwäche und Abgeschlagenheit. Dazu kommen
ebenfalls unspezifische intestinale Probleme
wie Appetitlosigkeit, Völlegefühl, Verdauungsbeschwerden sowie ein Druckgefühl im Epigastrium oder in der Leberloge am rechten Rippenbogen.
Zu den etwas spezifischeren Klagen der Patienten zählen hormonelle Störungen. Männer berichten über Libido- und Potenzstörungen, Frauen über Zyklusstörungen oder eine Amenorrhö.
Während der floriden Phase der Leberzirrhose
treten auch Fieber und Leberschmerzen auf, welche aber sehr oft nicht beachtet werden, ebenso
wie der zunehmende Bauchumfang („Gürtel
passt nicht mehr“) oder die Beinödeme.
Ein erheblicher Teil der Patienten sucht erst bei
der Dekompensation der Leberzirrhose (Ikterus,
Aszites, hepatische Enzephalopathie) einen Arzt
auf oder wird sogar erst durch Komplikationen,
z. B. eine Ösophagusvarizenblutung, erstmalig
klinisch auffällig.
aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag
Leberzirrhose I
Leber und Gallenwege
Fettleber mit beginnender
Zirrhose
Makronoduläre Zirrhose
Mikronoduläre Zirrhose
aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag
379
Strukturelle und funktionelle Lebererkrankungen
Einteilung
Zur Einschätzung der Schwere bzw. der Prognose einer Leberzirrhose hat sich die Stadieneinteilung nach Child-Pugh bewährt:
Kriterien
1 Punkt
2 Punkte
3 Punkte
Albumin
(g/l Serum)
> 3,5
2,8–3,5
< 2,8
Bilirubin
< 35
(µmol/l Serum)
35–50
< 50
INR
< 1,7
1,7–2,3
> 2,3
Aszites
0
+
++
Grad I–II
Grad III–IV
Leber und Gallenwege
Hepatische
0
Enzephalopathie
380
Die Punktwerte der erhobenen Parameter werden zusammengezählt. Aus der Summe wird
das Child-Stadium abgeleitet:
➤ 5–6 Punkte:
Child A,
➤ 7–9 Punkte:
Child B,
➤ 10–15 Punkte: Child C.
Diagnostik
Anamnese. Wichtig ist eine ausführliche Anamnese. Gefragt werden muss insbesondere nach
Alkohol- und Medikamentenkonsum, Bluttransfusionen in der Vergangenheit sowie durchgemachten Hepatitiden.
Habitus. Der erfahrene Untersucher kann die
Diagnose oft bereits anhand des typischen äußeren Erscheinungsbildes der Patienten stellen
oder zumindest vermuten. Diese haben im Vergleich zum voluminösen Abdomen häufig durch
eine Muskelatrophie sehr schlanke Arme und
Beine (bis auf die Beinödeme). Durch den erhöhten intraabdominalen Druck bei Aszites ist
ein Nabelbruch häufig.
Haut. Die Haut ist oft atroph („Geldscheinhaut“),
mitunter ikterisch oder hyperpigmentiert und
zeigt kleine Einblutungen. Typische Leberhautzeichen sind venöse Teleangiektasien und Spider naevi, am zahlreichsten im Gesicht, am Dekolleté und am oberen Rücken.
Oft findet man ein Palmarerythem, mitunter
auch eine Dupuytren-Kontraktur. Außerdem sind
eine weiße Verfärbung und eine Uhrglasdeformierung der Nägel nicht selten.
Am Abdomen bilden sich Striae, bei Männern
kommt es zur Bauchglatze, zum Verlust der
Brustbehaarung und zu einer Gynäkomastie.
Die Haut weist aufgrund des Juckreizes häufig
überall am Körper Kratzspuren auf.
Ein „Caput medusae“, ein Umgehungskreislauf
der Bauchhautvenen über die V. umbilicalis, findet sich nur bei 1 % der Patienten.
Zum typischen Bild des Zirrhotikers gehören
glatte, glänzende, hochrote Lippen („Lacklippen“), Mundwinkelrhagaden und eine glatte,
hochrote Zunge („Lackzunge“).
Hormonelle Störungen. Bei Männern kommt es
durch das Hormonungleichgewicht zu einer Gynäkomastie, dem Verlust der männlichen Sekundärbehaarung („Bauchglatze“) und einer Hodenatrophie.
Weitere körperliche Befunde. Typisch ist eine
vergrößert tastbare Leber mit höckeriger Oberfläche. Erst im Spätstadium ist die Leber verkleinert und nicht mehr tastbar, was eine schlechte
Prognose andeutet. Nicht selten findet man Hinweise auf neurologische Störungen wie eine periphere Polyneuropathie oder eine funikuläre
Myelose.
Labor. Die INR ist erhöht, Albumin und Cholinesterase sind vermindert. Die Transaminasen
und das Bilirubin können je nach zugrunde liegender Erkrankung normal oder pathologisch
sein, ebenso Ammoniak. Bei unklarer Ätiologie
der Zirrhose gehören noch weitere Laboruntersuchungen zur Erstdiagnostik, z. B.:
➤ Serologie auf Hepatitis-, Zytomegalie- und
Epstein-Barr-Virus,
➤ Kupfer, Coeruloplasmin, Eisen und α1-Antitrypsin.
Bildgebende Verfahren. Die Sonographie gibt
Auskunft über Größe und Beschaffenheit der Leber, über eine Splenomegalie und über Aszites.
Invasive Verfahren. Die einzige verlässliche Methode zur Diagnosesicherung ist die histologische Untersuchung einer Leberbiopsie. Die perkutane, sonographisch gesteuerte Leberpunktion weist allerdings eine hohe Rate falsch negativer Befunde auf. Sicherer ist eine laparoskopisch gewonnene Biopsieentnahme, bei der auch
eine makroskopische Beurteilung der intraabdominalen Situation möglich ist.
aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag
Leberzirrhose II
Leberinsuffizienz
Effekte des
Leberschadens
Östrogendominanz
Effekte der
portalen
Hypertension
portale Hypertension an sich
Hypersplenismus
Koma
Ikterus
Knochenmarkveränderungen
Spider naevi
Verlust der
Brustbehaarung
Ösophagusvarizen
Gynäkomastie
Splenomegalie
Leberschaden
Aszites
Aszites
Bauchglatze
Palmarerythem
Leber und Gallenwege
Caput medusae
Hodenatrophie
Anämie
Anämie
Leukopenie
Thrombozytopenie
Blutungsneigung
Knöchelödeme
Knöchelödeme
381
aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag
Strukturelle und funktionelle Lebererkrankungen
Leber und Gallenwege
Therapie
Die Rückbildung einer einmal eingetretenen Leberzirrhose ist nicht möglich. Die therapeutischen Maßnahmen zielen daher auf die Behandlung bzw. Prophylaxe der Komplikationen ab.
Alkoholkarenz. Wichtigste Basismaßnahme ist
das Meiden der auslösenden Noxe. Nur eine
strikte Alkoholkarenz kann das Fortschreiten
der Erkrankung aufhalten.
Ernährung. Gerade bei Alkoholabhängigen ist
häufig eine ausgewogene Ernährung nicht gewährleistet. Daher muss zur suffizienten Nährstoff- und Energieversorgung auf eine Normalisierung der Ernährung hingewirkt werden. Besondere diätetische Maßnahmen sind erforderlich bei hepatischer Enzephalopathie (Eiweißrestriktion), Diabetes (Kohlenhydratbilanzierung),
Aszites (Salz- und Flüssigkeitsrestriktion) oder
Gallensäuremangel (Fettersatz durch mittelkettige Triglyceride).
Substitution. Zusätzlich zu einer ausgewogenen
Ernährung müssen Substrate, die durch die Synthese- und Stoffwechselstörungen der Leber nicht
mehr in ausreichender Menge verfügbar sind,
substituiert werden, z. B. Vitamine und Spurenelemente.
Außer bei der biliären Zirrhose sollte jedoch
nicht blind substituiert werden, sondern nur bei
einem nachgewiesenen Mangel oder einer Mangelsymptomatik. Bei Gerinnungsstörungen wird
Vitamin K1 gegeben, bei Anämie Vitamin B12
und Folsäure. Weitere häufige Mangelzustände
betreffen die Vitamine B1 und B6 sowie die Spurenelemente Zink und Eisen.
Lebertransplantation. Bei fortschreitendem Organausfall ist die einzige Therapieoption die Lebertransplantation.
Komplikationen
382
Ösophagusvarizenblutung. Eine typische Folge
des Pfortaderhochdrucks (S. 386) ist die Ausbildung von portalen Umgehungskreisläufen. Die
erweiterten Venen im Kollateralstromgebiet können bei Ruptur erheblich bluten. Am gefürchtetsten sind Blutungen aus Ösophagus- (S. 256),
Kardia- und Fundusvarizen. Etwa 50 % der Leberzirrhosepatienten entwickeln Ösophagusvarizen, 30 % davon erleiden auch eine Blutung.
Diese tritt meist ohne Prodromi auf.
Aszites. Der Aszites (S. 388) bei Leberzirrhose
geht einerseits auf den Pfortaderhochdruck zurück, andererseits auf den erniedrigten onkotischen Druck aufgrund der Hypalbuninämie.
Kleinere Aszitesmengen bleiben in aller Regel
klinisch unauffällig. Erst bei größeren Flüssigkeitsansammlungen kommt es zu Dyspnoe, abdominalem Druckgefühl und einer merklichen
Umfangszunahme, später auch zu Hernien.
Spontane Peritonitis. Insbesondere bei einem
zirrhotisch bedingten Aszites kann eine spontane
bakterielle Peritonitis auftreten (s. a. S. 388). Die
Keime gelangen durch eine Durchwanderung
der Darmwand oder hämatogen in die Bauchhöhle.
Hepatische Enzephalopathie. Die Stoffwechselstörungen bei Leberzirrhose führen zu toxischen
Effekten im Gehirn (hepatische Enzephalopathie, S. 390). Diese basieren einerseits auf einer
Erhöhung der Ammoniakkonzentration, andererseits auf Veränderungen des Aminosäurestoffwechsels. Es kommt letztlich zu Veränderungen der Blut-Hirn-Schranke und zur Bildung
von „falschen Transmittern“.
Hepatorenales Syndrom. 40 % der Zirrhosepatienten mit Aszites und fortgeschrittener Leberinsuffizienz entwickeln ein hepatorenales Syndrom (s. a. S. 388). Dabei handelt es sich um ein
oligurisches Nierenversagen, ohne dass eine eigenständige Nierenerkrankung besteht.
Hepatozelluläres Karzinom. Eine Leberzirrhose
erhöht das Risiko für ein hepatozelluläres Karzinom (HCC, S. 408). Besonders hoch ist das Risiko
für Patienten, deren Zirrhose auf dem Boden
einer chronischen Hepatitis entstanden ist. Etwa
3 % aller Zirrhosepatienten entwickeln ein HCC.
Umgekehrt weisen Patienten mit einem hepatozellulären Karzinom in 80 % der Fälle eine Leberzirrhose auf.
Leberkoma. Unterschieden werden 2 Formen
des Verlusts der Leberfunktion:
➤ Leberausfallskoma: Leberfunktionsstörung
durch mangelnde portale Durchblutung,
➤ Leberzerfallskoma:
Leberfunktionsstörung
durch Verlust funktionsfähiger Hepatozyten
(Nekrosen, Raumforderungen, portosystemische Shunts).
aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag
Leberzirrhose III
V. cava superior
V. azygos
Ösophagus
rechter Vorhof
Ösophagusvarizen
V. cava inferior
knotige Regeneration
und Fibrosierung führen
zur Obstruktion der
sublobulären Venen und
der Zentralvenen
V. hepatica
Milz
arteriovenöse
Anastomosen
in fibrösen
Septen
Leber und Gallenwege
V. gastrica
brevis
V. gastrica
sinistra
Shunts zwischen
Portalvenenund Lebervenenästen
vermindern die
Blutversorgung des
Läppchenparenchyms
V. splenica
relative Zunahme des
arteriellen Blutflusses
Portalvenendruck steigt an
Pathogenese der portalen Hypertension
Regeneratknoten
Lebervenen werden durch
knotig umgebautes und
fibröses Gewebe komprimiert
Nekrose
Portalvenenast
Leberarterienast
Shunts zwischen Portalgefäßen und Lebervenen
in fibrösen Septen
arteriovenöse
Anastomosen in
fibrösen Septen
Ursachen der zirrhosebedingten Minderperfusion
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383
Endokrines Pankreas
Endokrinologische Erkrankungen
Definition
622
Der Diabetes mellitus („honigsüßer Durchfluss“)
ist definiert als chronische Hyperglykämie. Dementsprechend orientiert sich die Einteilung des
Diabetes am Blutglucosespiegel:
➤ Diabetes mellitus: Plasmaglucose nüchtern
> 7,0 mmol/l (126 mg/dl) oder 2 h nach oraler
Glucosebelastung (75 g) > 11,1 mmol/l
(200 mg/dl),
➤ pathologische Glucosetoleranz: Plasmaglucose
2 h nach oraler Glucosebelastung (75 g)
7,8–11,1 mmol/l (140–200 mg/dl),
➤ gestörte Nüchternglucose: 6,1–7,0 mmol/l
(110–126 mg/dl).
Bei entsprechend langem Bestehen führt der Diabetes zu Störungen anderer Stoffwechselprozesse
und zu Organschäden.
Einteilung
Primärer Diabetes mellitus. Die primäre Form des
Diabetes mellitus wird unterteilt in:
➤ Insulinabhängiger Diabetes mellitus (IDDM).
Er wird auch als Typ-I-Diabetes oder juveniler
Diabetes bezeichnet.
➤ Nicht insulinabhängiger Diabetes mellitus
(NIDDM). Er wird als Typ-II-Diabetes, Altersdiabetes oder als Untereinheit des metabolischen Syndroms bezeichnet. Der Subtyp IIa
geht auf einen Postrezeptordefekt zurück und
ist nicht mit einer Adipositas verbunden. Häufiger ist aber der Subtyp IIb, dessen Charakteristikum die Adipositas ist (klassische Form des
Typ-II-Diabetes).
➤ Sonderformen, z. B. „Maturity Onset Diabetes
in the Young“ (MODY, autosomal dominant
vererbt, Glucokinasedefekt, Manifestation in
Kindheit und Jugend).
Sekundärer Diabetes mellitus. Der sekundäre
Diabetes mellitus kann folgende Ursachen haben:
➤ Pankreaserkrankungen (z. B. chronische Pankreatitis, Malnutritionsdiabetes),
➤ endokrine Erkrankungen (z. B. Phäochromozytom, Cushing-Syndrom, Akromegalie, Hyperthyreose),
➤ iatrogene oder toxische Noxen (z. B. Glucocorticoide, Diuretika, Diazoxid, Ciclosporin, Cyclophosphamid),
➤ genetische Syndrome.
Gestationsdiabetes. Eine Sonderform ist der Gestationsdiabetes, der als Folge der insulinantagonistischen Wirkungen von HPL, Cortisol, Progesteron und Prolactin angesehen wird.
Epidemiologie und Ätiologie
In den Industrieländern ist der Typ II des Diabetes mellitus am häufigsten (etwa 90 % der Patienten); nur etwa 10 % der Diabetiker haben
einen Typ I-Diabetes. In Deutschland sind ca. 5 %
der Bevölkerung an einem Diabetes erkrankt
(„Volkskrankheit“). Der Typ II ist am häufigsten
im Alter von etwa 45–65 Jahren, der Typ I hat
seinen Altersgipfel zwischen dem 10. und 25. Lebensjahr.
Ätiologisch handelt es sich beim Typ I um eine
immunologisch bedingte (selten auch idiopathische) Zerstörung der B-Zellen des Pankreas mit
konsekutivem absolutem Insulinmangel.
Der Typ II ist durch eine Insulinresistenz (v. a. in
Leber, Muskeln und Fett) und eine Fehlfunktion
der B-Zellen charakterisiert, die zu einem relativen Insulinmangel führen. Die Krankheitsentstehung beruht auf genetischen Faktoren, die mit
äußeren Faktoren zusammenwirken (v. a. zentrale Adipositas).
Bei eineiigen Zwillingen bekommen 30–40 % der
Zwillingsgeschwister ebenfalls einen Typ I-Diabetes, wenn der erste Zwilling daran erkrankt
ist; beim Typ-II-Diabetes betrifft dies 90 % der
Zwillingsgeschwister.
Folgekrankheiten
Insbesondere die Gefäße sind von Veränderungen betroffen und führen indirekt zu den folgenden Komplikationen:
➤ Makroangiopathie mit der möglichen Folge
einer KHK, zerebrovaskulären Insuffizienz,
arteriellen Verschlusskrankheit und Nierenarterienstenose,
➤ Mikroangiopathie und mögliche Glomerulosklerose bzw. diabetische Retino- und Neuropathie.
aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag
Diabetes mellitus I
Mikro- und makrovaskuläre Komplikationen des Diabetes mellitus
Zerebrovaskuläre Komplikationen
Diabetische Retinopathie
Frühstadium
Mikroaneurysmen
Hämorrhagien
Cotton-wool-Herde
harte Exsudate
zerebraler Insult durch
Embolie oder Thrombose
Spätstadium
Kardiovaskuläre Komplikationen
massive
Hämorrhagie
Retinitis
proliferans
Diabetische Nephropathie
Glomerulosklerose
Myokardinfarkt
Endokrinologische Erkrankungen
verengte Arteriden
Atherosklerose
der Aorten und
der großen
Arterien
Dialysepflichtigkeit bei terminaler Niereninsuffizienz
623
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Endokrines Pankreas
Endokrinologische Erkrankungen
Klinik
Typ-I-Diabetes. Die Patienten sind jung, meist
zwischen 15 und 20 Jahre alt. Sie sind schlank,
nicht selten untergewichtig. Relativ akut – häufig
während oder kurz nach einer Infektion – kommt
es zu:
➤ Polydipsie und Polyurie,
➤ Müdigkeit, allgemeiner Schwäche,
➤ Gewichtsabnahme,
➤ Sehstörungen, Muskelkrämpfen,
➤ Infektanfälligkeit und schlechter Wundheilung.
Im Fall einer Ketoazidose sind außerdem abdominale Schmerzen, Übelkeit und Erbrechen, im
schwersten Fall auch ein ketoazidotisches Koma
möglich
Typ-II-Diabetes. Charakteristisch für den nicht insulinabhängigen Typ sind:
➤ Übergewicht in ca. 90% (Typ IIb),
➤ Manifestation meist nach dem 40. Lebensjahr,
➤ allmähliche Entwicklung der Symptome.
Verschiedene Faktoren können die Manifestation
eines Typ-II-Diabetes begünstigen:
➤ körperliche Inaktivität,
➤ Schwangerschaft,
➤ Lebererkrankungen,
➤ Endokrinopathien wie Morbus Cushing, Akromegalie, Phäochromozytom oder Hyperthyreose,
➤ Stress,
➤ Medikamente.
MODY. Die Patienten sind meist jünger als 25 Jahre und weisen die Anzeichen eines mäßigen Diabetes auf, der nicht insulinabhängig ist und bei
dem kein ketoazidotisches Koma auftritt.
Gestationsdiabetes. Er tritt in etwa 1–2 % aller
Schwangerschaften auf und ähnelt meist dem
Typ-II-Diabetes. Bei der Mutter besteht dadurch
ein erhöhtes Risiko für eine EPH-Gestose bzw.
ein Hydramnion, beim Fötus für eine Makrosomie, Hypoglykämie und ein Geburtstrauma.
Diagnostik
624
Die Diagnose eines Diabetes kann durch die typische Anamnese, die typischen klinischen Befunde und die Labordiagnostik gesichert werden.
Bei jeder Diabetesdiagnose müssen auch die evtl.
bereits aufgetretenen Komplikationen festgestellt
werden.
Körperliche Untersuchung. Weil verschiedene Erkrankungen (mit den für sie typischen Symptomen) diabetogen wirken können (z. B. Lebererkrankungen, Endokrinopathien), und weil
Folgeerkrankungen bereits Symptome hervorrufen können, ist eine Vielzahl von Befunden
möglich. Der Gefäßstatus als Indiz für die Folgeschäden des Diabetes (Mikroangiopathie) ist am
besten am Augenhintergrund zu untersuchen;
dabei sind insbesondere Mikroaneurysmen, Verfettungen und fleckförmige Blutungen typisch.
Labor. Mehrere Methoden zum Nachweis der pathologischen Veränderungen sind möglich:
➤ der Glucosespiegel wird mehrfach beim nüchternen Patienten gemessen, und zwar im Kapillar- oder Venenblut; ein Wert von über
6,1 mmol/l (110 mg/dl) ist kontrollbedürftig,
➤ die Bestimmung der Uringlucose ist durch Teststreifen möglich, aber unsicher, da die Nierenschwelle für Glucose (normal bei Werten zwischen 150 und 180 mg/dl) pathologisch verändert sein kann,
➤ eine Bestimmung der Ketonkörper ist nur bei
schwerer Stoffwechselentgleisung indiziert;
sie können im Urin und Plasma semiquantitativ nachgewiesen werden,
➤ glykiertes Hämoglobin ist ein guter Parameter
zur Beurteilung der längerfristigen Stoffwechseleinstellung; bestimmt wird – meist alle
3 Monate – das HbA1c aus venösem oder Kapillarblut; der Wert sollte unter 6,5 % liegen,
➤ insbesondere beim Typ-I-Diabetes können Antikörper nachgewiesen werden (gegen Inselzellen, Insulin oder Glutamatdecarboxylase).
Oraler Glucosetoleranztest (OGTT). Dieser Test
wird in Zweifelsfällen zur Abklärung eingesetzt:
Mindestens 3 Tage vor dem Test sollten die Patienten sich kohlenhydratreich ernähren, 8–12
Stunden vor dem Test aber nüchtern bleiben.
Dann trinken sie innerhalb von 5 Minuten 75 g
Glucose als 25%ige Lösung. Der kapilläre Blutglucosewert wird 60 und 120 Minuten nach
dem Trinken gemessen: Der Wert ist normal
≤ 7,8 mmol/l (140 mg/dl), pathologisch verändert
bei 7,8–11,1 mmol/l (140–200 mg/dl) und manifest diabetisch ≥ 11,1 mmol/l (200 mg/dl).
aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag
Typische Ulkuslokalisationen
Schweres Knöchelulkus und Lymphödem
Puls der A. dorsalis pedis
nicht tastbar
Onychomykose
Fissuren
Endokrinologische Erkrankungen
Diabetes mellitus II
Hyperkeratose
Interdigitalmykose und
Fissuren unter den Zehen
Ausgedehnte Tinea pedis
Onychomykose mit bröckeliger Nagelplatte und scharfen Nagelrändern
Verlust der Behaarung
Verdünnung und
Atrophie der Haut
Gangrän
625
Zehengangrän
Diabetischer Fuß mit vaskulären und
neuropathischen Veränderungen
Aortographie: Verschluss der linken
A. iliaca beim Diabetiker
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Endokrines Pankreas
Endokrinologische Erkrankungen
Therapie
626
Patientenschulung. Die Diagnose „Diabetes“ bedeutet insofern einen Einschnitt für die Patienten, als sie ihre Ernährung (Diät, mehrere Mahlzeiten am Tag) und evtl. ihre Lebensweise
(körperliche Bewegung, Fußpflege) umstellen
müssen. Außerdem müssen sie evtl. mit Komplikationen (z. B. Hypoglykämie) umgehen lernen, mit Folgekrankheiten (Retinopathie, Neuropathie) leben und weitere Risikofaktoren (z. B.
Alkohol, Rauchen) meiden. Im Fall einer medikamentösen Behandlung kommt die Selbstbestimmung des Blutzuckerwerts hinzu und evtl.
der verantwortliche Umgang mit Insulin (Erlernen des geeigneten Spritz-Ess-Abstands, Verhalten in Ausnahmesituationen).
Diät. Insbesondere übergewichtige Patienten sollten unbedingt kalorienreduziert essen. Der Kohlenhydratanteil der Nahrung sollte allen Diabetespatienten bekannt sein; dies umso mehr,
wenn eine Insulintherapie notwendig ist. Es gelten folgende Regeln:
➤ Der Kohlenhydratanteil der Energiezufuhr sollte bei etwa 50 % liegen. Für die Berechnung
der Broteinheiten (1 BE = 10–12 g Kohlenhydrate) gilt die Regel, dass die benötigte tägliche Kalorienmenge, geteilt durch 100, die
maximale tägliche BE-Menge ergibt.
➤ Der Fettanteil sollte höchstens 30 % der Energiezufuhr ausmachen, zu je æße aufgeteilt in gesättigte, einfach ungesättigte und mehrfach
ungesättigte Fettsäuren.
➤ Der Proteinanteil der Energiezufuhr sollte ca.
10–20 % ausmachen (bei bestehender Nephropathie eher weniger).
➤ Insgesamt ist die Verteilung der Mahlzeiten
auf 3 kleine Haupt- und 3–4 Zwischenmahlzeiten günstig und vermindert das Risiko
einer Hypoglykämie.
Orale Antidiabetika. Erst wenn Diät und ausreichende körperliche Bewegung den Blutzuckerspiegel nicht weit genug senken, sind Antidiabetika indiziert:
➤ Kohlenhydratresorptionshemmer: Sie hemmen
die Aufnahme von Kohlenhydraten in den
Körper und sind insbesondere bei starken postprandialen Blutzuckerspitzen indiziert. Sie eignen sich zur initialen medikamentösen Therapie.
➤ Biguanide: Sie hemmen die hepatische Glucoseproduktion, verzögern die Aufnahme der
Glucose im Darm und fördern die Verwertung der Glucose in der Zelle. Sie sind insbesondere bei adipösen Typ-II-Diabetikern indiziert.
➤ Sulfonylharnstoffe: Sie stimulieren die körpereigene Insulinsekretion und sind dementsprechend nur bei noch vorhandener Insulinproduktion indiziert. Sie stehen meist an
letzter Stelle der oralen Medikation.
Insulintherapie. Sie ist beim Sekundärversagen
der oralen Medikation, beim Typ-I-Diabetes und
beim Gestationsdiabetes indiziert. Grundsätzlich
gibt es Insuline vom Rind bzw. Schwein oder
synthetische Humaninsuline, die heute am häufigsten verwendet werden. Nach ihrer Wirkdauer
können sie eingeteilt werden in:
➤ kurz wirksame Insuline: Normalinsulin (früher Altinsulin) und Insulin-Analoga. Sie wirken bereits nach ca. 15–30 Minuten und haben eine Wirkdauer von 2–5 (Insulin-Analogon) bzw. 5–8 h (Normalinsulin),
➤ verzögert wirksame Insuline: Darunter fallen
das Intermediär-Insulin, das Depot-Insulin und
das Langzeitinsulin,
➤ Mischinsuline.
Die Insulinapplikation muss individuell optimiert
werden, um das Ziel einer weitgehenden Normoglykämie zu erreichen:
➤ konventionelle Insulintherapie: Meist werden
Ùße der Insulindosis morgens und æße abends
appliziert. Der Tagesablauf muss dabei regelmäßig, die Nahrungsaufnahme auf meist
6 Mahlzeiten verteilt sein,
➤ intensivierte Insulintherapie: Das Basis-BolusKonzept beinhaltet 50 % der Gesamt-Insulindosis als Basalrate (Intermediärinsulin, Aufteilung auf 2–4 Applikationen) und 50 % als
präprandialen Bolus (Normalinsulin) vor den
Mahlzeiten,
➤ Insulinpumpentherapie: Sie ist bei Versagen
der intensivierten Therapie indiziert; dabei
wird kontinuierlich eine basale Insulinmenge
abgegeben, deren Höhe der Tagesrhythmik
angepasst ist; vor den Mahlzeiten wird jeweils ein zusätzlicher Bolus abgerufen.
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Diabetes mellitus III
Verlust des Vibrationsempfindens
Spitzfuß
Endokrinologische Erkrankungen
Handgelenkschwäche
Parästhesie, Hyperalgesie oder Hypästhesie
Pupillenstörungen
Orthostatische
Hypotension
Augenmuskelparese, Ptose, Strabismus
rezidivierendes akutes Abdomen
nächtlicher Durchfall
Harnstau
Impotenz
Arthropathie
Autonome Dysfunktion
Neuropathisches (schmerzloses) Ulkus
(Fluorescein-Demonstration der guten
Blutversorgung)
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627
Endokrines Pankreas
Endokrinologische Erkrankungen
Definition
Biochemisch werden sehr ähnliche Peptidhormone in Hypophysenvorderlappen, C-Zellen der
Schilddrüse, B-Zellen der Bauchspeicheldrüse,
G-Zellen des Magens und enterochromaffinen
Darmzellen gebildet. Die diese Hormone produzierenden Zellen entstammen der Neuralleiste
und haben die Fähigkeit, Amine bzw. deren Vorstufen aufzunehmen und zu decarboxylieren
(„amine precursor uptake and decarboxylation“). Sie werden daher zum APUD-System gerechnet. Treten in mehreren der genannten Organe gleichzeitig Adenome oder Karzinome auf,
die sowohl kausal als auch zeitlich voneinander
unabhängig sein können, spricht man von multipler endokriner Neoplasie (MEN). Diese kommt
familiär gehäuft vor und lässt sich in 2 Typen
einteilen:
➤ MEN I: Hyperplasie bzw. Adenome der Nebenschilddrüse, Adenome des Hypophysenvorderlappens und Inselzelladenome oder
-karzinome,
➤ MEN II: medulläres Karzinom der Schilddrüse,
multiple Phäochromozytome, Hyperplasie bzw.
Adenome der Nebenschilddrüse.
Das Insulinom tritt in 90 % der Fälle solitär auf
und ist in etwa 10 % „Bestandteil“ einer MEN. Es
ist insgesamt sehr selten und wird definiert als
Adenom oder deutlich seltener auch Karzinom
der B-Zellen des Pankreas, das Insulin (und/oder
andere gastrointestinale Hormone) produziert
und dabei nicht durch den Blutglucosespiegel
beeinflusst wird.
Klinik und Diagnostik
628
Symptomatik. Die durch das übermäßig vorhandene Insulin verursachten Symptome einer Hypoglykämie wurden vor der Entdeckung der
Insulinwirkung (1921) einer Neurasthenie, Epilepsie oder Psychose zugeordnet. Typische Symptome sind:
➤ Hypoglykämien nach längerer Nahrungskarenz
(z. B. nachts oder morgens) oder nach stärkerer körperlicher Anstrengung.
➤ Bei den hypoglykämischen Symptomen dominieren die neuroglykopenischen, d. h. es
kommt zu Verwirrtheit, auffälligem Verhalten, Koma oder Krämpfen. Aber auch MagenDarm-Krämpfe sind möglich.
➤ Whipple-Trias: Damit wird das gleichzeitige
Auftreten hypoglykämischer Symptome (z. B.
morgendliche Magen-Darm-Beschwerden), einer Erniedrigung der Blutglucose und das Verschwinden der Symptome nach Glucosegabe
bezeichnet.
Die Symptome sollen beim Karzinom stärker ausgeprägt sein und häufiger auftreten als beim
Adenom.
72-h-Fastentest. Um die Diagnose zu bestätigen,
wird stationär ein 72-h-Fastentest durchgeführt.
Dabei bleiben die Patienten über volle 3 Tage
nüchtern und sollen viel trinken (2–3 l Mineralwasser täglich). Alle 4–6 Stunden werden die
Spiegel von Blutzucker, Insulin, C-Peptid und
Pro-Insulin bestimmt. Kommt es zu hypoglykämischen Symptomen, und liegt der Blutzuckerwert unter 45 mg/dl, oder liegt er bei 2 aufeinander folgenden Messungen unter 40 mg/dl,
wird der Test abgebrochen. Sonst sprechen ein
Endwert von weniger als 45 mg/dl bei gleichzeitigem Insulinwert von mehr als 6 mU/l für ein
Insulinom.
Lokalisationsdiagnostik. Mithilfe der Sonographie, CT und MRT kann die pathologische Veränderung im Pankreas nachgewiesen werden.
Die Inselzelladenome sind dabei in aller Regel
zwischen 0,5 und 2 cm groß und können multipel auftreten. Die Karzinome sind meist etwas
größer.
Therapie und Prognose
Akute hypoglykämische Zustände müssen schnell
durch eine intravenöse Glucosezufuhr therapiert
werden.
Langfristig sollte der Tumor reseziert werden.
Eine medikamentöse Therapie ist beim Adenom
nur indiziert, wenn der Patient inoperabel ist
oder ein Tumor nicht nachgewiesen werden
kann. Beim metastasierenden Insulinom kann
eine Therapie mit Streptomycin und 5-Fluoruracil indiziert sein.
Das Insellzellkarzinom metastasiert frühzeitig,
am häufigsten in die Leber.
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Inselzelladenom
80 mg/100 ml
Hypoglykämie
Inselzellkarzinom
Tochtergeschwulst
und Lebermetastasen
Endokrinologische Erkrankungen
Insulinom
629
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Schilddrüse
Endokrinologische Erkrankungen
Definition
Jede Schilddrüsenvergrößerung wird als Struma
bezeichnet und sagt nichts darüber aus, ob die
Stoffwechsellage euthyreot, hypothyreot oder
hyperthyreot ist. Je nach Größe und Symptomen
werden Strumen wie folgt eingeteilt:
➤ Stadium I: tastbare Struma (Ia: solitärer Knoten, Ib: bei rekliniertem Kopf sichtbare Struma),
➤ Stadium II: bei normaler Kopfhaltung sichtbare Struma,
➤ Stadium III: sehr große und auf einige Distanz
sichtbare Struma, ggf. mit Verdrängungssymptomen (z. B. Trachealeinengung).
Wenn innerhalb eines geographisch umschriebenen Gebiets über 10 % der Bevölkerung eine Struma haben, spricht man von endemischer, andernfalls von sporadischer Struma. Da in Deutschland
teils sogar weit mehr als 10 % betroffen sind
(Strumaprävalenz bei Jugendlichen bis zu 50 %),
gilt es als Strumaendemiegebiet.
Ätiologie
Mögliche Ursachen sind:
➤ Iodmangel (z. B. Iodmangelgebiete im Alpenraum) und Iodfehlverwertung,
➤ Morbus Basedow und andere Immunthyreopathien,
➤ Autonomie (z. B. Adenombildung),
➤ Medikamente (z. B. Carbimazol, Lithium, Phenytoin, Hydantoin),
➤ Schilddrüsenkarzinom (Struma maligna),
➤ Entzündungen, Zysten,
➤ Akromegalie.
Die Schilddrüse kann dabei homogen (Struma
diffusa) oder knotig (Struma nodosa) vergrößert
sein.
Klinik
630
Das Beschwerdebild hängt im Wesentlichen von
Ursache und Größe ab und variiert zwischen
völliger Beschwerdefreiheit bis zum Koma durch
Stoffwechselentgleisung.
Unabhängig von der Stoffwechsellage kann die
Struma selbst zu Verdrängungserscheinungen
führen, so z. B.:
➤ Atemnot durch Kompression der Trachea,
➤ Einflussstauung durch Kompression der großen Halsvenen,
➤ Schluckbeschwerden durch Kompression des
Ösophagus,
➤ ggf. Schmerzen, wenn es zu intrathyreoidalen
Einblutungen kommt.
Diagnostik
Anamnese. Fragen nach Schilddrüsenerkrankungen in der Familie und in der Eigenanamnese,
der Geschwindigkeit des Strumawachstums
(Malignom?), nach den Lebensumständen (z. B.
iodiertes Speisesalz) und nach der Einnahme
von Medikamenten mit strumigener Wirkung.
Körperliche Untersuchung. Einteilung des Strumastadiums nach dem Inspektions- und Palpationsbefund: Größe, Beschaffenheit (diffuse oder
knotige Vergrößerung, Konsistenz, tastbares
Schwirren?), Verschieblichkeit, Druckschmerz?
Labor. Als Basisuntersuchung werden TSH und
T4 bzw. das freie T4 (fT4) im Serum bestimmt. Je
nach Befund und/oder Klinik schließen sich weitere Laboruntersuchungen an, z. B. eine Antikörpersuche.
Bildgebende Verfahren. Zur Basisdiagnostik gehört die sonographische Volumen- und Konsistenzbestimmung. Je nach Befund ist eine erweiterte Diagnostik indiziert, z. B. Schilddrüsenszintigramm (funktionelle Autonomie?), ggf. mit
Suppressionstest, Röntgenuntersuchungen (z. B.
bei großen Strumen, Tracheaeinengung, präoperativ; Breischluck bei Ösophaguseinengung).
Schilddrüsenpunktion. Zum Ausschluss einer Entzündung oder eines Malignoms (z. B. bei „kaltem
Knoten» im Szintigramm) ist eine Feinnadelpunktion mit zytologischer Diagnostik indiziert.
Therapie und Prophylaxe
Konservative Behandlung. Indikation sind alle
diffusen Strumen, bei denen keine Autonomie
festgestellt wurde.
➤ L-Thyroxin (Levothyroxin), um die TSH-Ausschüttung zu unterdrücken,
➤ Iodid, um die Wachstumsvorgänge innerhalb
der Schilddrüse zu bremsen,
➤ kombinierte Gabe von L-Thyroxin und Iodid.
Operative Therapie. Indiziert bei großen und verdrängend wachsenden Strumen sowie bei erfolgloser konservativer Therapie einer großen Struma.
Radioiodtherapie. 131I wird gegeben, wenn ein hohes OP-Risiko besteht, bei Rezidivstruma, bei
funktioneller Autonomie und evtl. bei Strumen,
die auf Medikamente nicht ansprechen, für die
aber auch keine OP-Indikation besteht.
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Endokrinologische Erkrankungen
Struma
Knotige
Struma
Mäßige diffuse Struma
Zungenstruma
Szintigramm: Zungenstruma
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Schilddrüse
Endokrinologische Erkrankungen
Definition und Epidemiologie
Der Begriff „Hyperthyreose“ umfasst alle Symptome, die verursacht werden durch eine inadäquat hohe, bedarfsunabhängige Konzentration
von Schilddrüsenhormon. Einer solchen Situation können sehr unterschiedliche Erkrankungen zugrunde liegen.
Nach der Iodmangelstruma ist die Hyperthyreose die häufigste Schilddrüsenerkrankung und
betrifft etwa 5 % der Bevölkerung. Je nach Ursache tritt sie besonders häufig im 3.–4. Lebensjahrzehnt (Morbus Basedow) oder nach dem
50. Lebensjahr (funktionelle Autonomie) auf. Im
Kindesalter ist die Hyperthyreose generell selten. Frauen sind etwa 5- bis 7-mal häufiger betroffen als Männer.
Einteilung
Die Einteilung der Hyperthyreose richtet sich nach
ihrer klinischen Relevanz oder nach ihrer Ursache.
Nach dem klinischen Bild unterscheidet man:
➤ latente oder subklinische Hyperthyreose (normale T4-Werte im Serum bei supprimiertem
TSH-Spiegel),
➤ manifeste Hyperthyreose; ihre schwerste Ausprägung ist die thyreotoxische Krise.
Die Einteilung nach Ätiologie und Pathogenese
umfasst:
➤ Immunthyreopathien wie Morbus Basedow
(ca. 30–50 %) oder im Rahmen entzündlicher
Veränderungen (z. B. Hashimoto-Thyreoiditis),
➤ entzündliche Veränderungen, z. B. Thyreoiditis
nach Strahlentherapie, Thyreoiditis de Quervain,
➤ funktionelle Autonomie (ca. 50–60 %), die disseminiert oder unifokal (veraltet: autonomes
Adenom) bzw. multifokal auftreten kann,
➤ Tumoren, z. B. Karzinome oder Adenome,
➤ sekundäre Ursachen, z. B. Stimulierung durch
TSH oder TSH-ähnliche Substanzen (Hypophysentumor, paraneoplastisches Syndrom)
oder durch übermäßige exogene Iod- (z. B.
Kontrastmittel) oder Thyroxinzufuhr (iatrogene Hyperthyreose, Hyperthyreosis factitia).
sich trotz unterschiedlicher Ursachen prinzipiell
sehr ähnlich, wenn auch je nach Krankheitsbild
spezifische Symptome dazukommen können.
Die unten genannten Symptome können im höheren Alter allerdings fehlen. Nicht selten verläuft die Hyperthyreose stattdessen oligosymptomatisch, maskiert oder untypisch.
Allgemein besteht ein Hypermetabolismus, der
alle Organsysteme beeinflusst und sich wie folgt
äußert:
Allgemeine Symptome. Appetitsteigerung, Gewichtsverlust, Wärmeintoleranz, Hyperaktivität,
Reizbarkeit, vegetative Labilität, Konzentrationsschwäche.
Haut. Die Haut ist meist warm, samtweich und
durch eine erhöhte Schweißneigung feucht. Sie
kann über- oder fehlpigmentiert sein. Die Haare
sind fein und fallen leichter aus.
Herz und Kreislauf. Hypertonie und Tachykardie
sind typisch. Es besteht eine Neigung zu Herzrhythmusstörungen und Herzinsuffizienz (v. a.
im höheren Alter). Vergrößerte Blutdruckamplitude, evtl. Mitralklappenprolaps.
Blut. Leichte Anämien kommen vor. Bei Autoimmunprozessen evtl. Lymphozytose.
Knochen und Muskulatur. In bis zu einem Drittel der Fälle kommen Muskelschwäche und -atrophien vor, evtl. auch Paralysen. Eine vermehrte
Calciummobilisierung aus dem Skelett kann zur
Osteoporose und zu leichten Hyperkalzämien
führen.
Magen-Darm-Trakt. Diarrhöen durch eine Übermotilität des Darms sind häufig.
Nervensystem. Oft treten feinschlägiger Tremor,
gesteigerte Reflexe, Unruhe und Schlafstörungen
auf; gelegentlich psychoseartige Zustände oder
Delir, selten Apathie (besonders bei alten Menschen).
Augen. Die reine Hyperthyreose kann zu Augensymptomen führen, z. B. Glanzauge und weite
Lidspalte. Zeichen der endokrinen Orbitopathie
gehören aber nicht dazu, da sie eine eigene
Krankheitsentität bilden.
Schilddrüse. Häufig Struma.
Therapie
632
Klinik und Befund
Die Manifestationsformen der Hyperthyreose sowie deren Ausprägung variieren stark. Sie sind
Die Therapie der Hyperthyreose ist abhängig von
der auslösenden Grunderkrankung.
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Hyperthyreose
Schwitzen
Nervosität
Übererregbarkeit
Unruhe
Labilität
Schlafstörungen
Flush
Alter: 3. und 4.
Lebensjahrzehnt
Exophthalmus
Lymphknotenvergrößerung
Struma
Muskelschwund
warme samtige Haut
Palpitation, Tachykardie
Brustvergrößerung
Appetitsteigerung
Gewichtsverlust
Pulsfrequenz ­
feucht-warme
Handflächen
Diarrhö
Tremor
selten Trommelschlegelfinger
Oligo-/Amenorrhö
Endokrinologische Erkrankungen
Kurzatmigkeit
Muskelschwäche,
-ermüdung
prätibiales Myxödem
633
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Rheumatische Gelenkerkrankungen
Rheumatische Erkrankungen
Definition und Epidemiologie
706
Die rheumatoide Arthritis, die auch als chronische
Polyarthritis (cP) bezeichnet wird, ist eine chronische Allgemeinerkrankung mit Beteiligung zahlreicher Gewebe. Sie kann in jedem Alter auftreten, manifestiert sich jedoch meist im 4. oder
5. Lebensjahrzehnt, kommt in allen Teilen der
Welt vor und findet sich bei Frauen 2- bis 3-mal
so häufig wie bei Männern. Die Prävalenz beträgt weltweit ca. 1 %.
Hauptmerkmal der rheumatoiden Arthritis ist
eine Entzündung mehrerer Gelenke (Polyarthritis), wobei vorwiegend die Gelenke der Extremitäten betroffen sind. Obwohl nicht selten
Teilremissionen beobachtet werden, ist ein wechselnder, schubweiser Verlauf die Regel. Unbehandelt führt die Gelenkentzündung zu einer irreversiblen Schädigung des Gelenkknorpels und
Knochens mit Gelenkdeformitäten, Behinderungen und Invalidisierung.
Pathogenese
Über die Ursache der rheumatoiden Arthritis
herrscht noch weitgehend Unklarheit. Es wird
angenommen, dass es durch eine genetische
Disposition zu einer inadäquaten Immunreaktion auf Viren- oder Bakterien-Antigene kommt.
Dadurch wird möglicherweise eine chronische
bzw. chronisch rezidivierende immunologische
Kreuzreaktion gegen körpereigenes Gewebe,
hauptsächlich Synovialgewebe, ausgelöst.
Die klinische Erfahrung zeigt, dass unterschiedlichste Faktoren Einfluss auf den Ausbruch und
den Verlauf der rheumatoiden Arthritis haben
können, ohne dass die genauen Mechanismen bekannt sind. Zu diesen Faktoren zählen u. a. Ernährungsgewohnheiten, aber auch die psychische
Konstitution bzw. deren Beeinträchtigung durch
Stress, Trauer oder chronische soziale Konflikte.
Die rheumatoide Arthritis ist streng genommen
eine entzündliche Erkrankung mit Befall des
Bindegewebes. Die Erkrankung verläuft schubweise über Jahre und lässt sich in 4 Stadien einteilen, die fließend ineinander übergehen:
Stadium 1 (proliferative Phase). In den Gelenken
beginnt die rheumatoide Arthritis als Entzündung
der Synovialmembran (Synovialitis), die ödematös aufquillt und von mononukleären Zellen, vorwiegend Lymphozyten und Plasmazellen, infil-
triert wird. Dadurch wird eine diffuse Proliferation der Synovialmembran und einer vermehrten Produktion von Gelenkflüssigkeit in Gang
gesetzt. Gelenkknorpel und subchondraler Knochen sind in diesem Frühstadium noch nicht in
Mitleidenschaft gezogen.
Stadium 2 (destruktive Phase). Mit fortschreitender Erkrankung wachsen infolge der anhaltenden Proliferation der entzündeten Synovialmembran zottenartige Gebilde in den Gelenkraum vor (villöse Synovialitis). Die Zotten werden von Lymphozyten infiltriert, die sich zu
Lymphfollikeln sammeln können. Die Proliferationen decken nach und nach die Knorpeloberfläche unter Arrodierung und Ausdünnung des
Knorpels ab (Pannusbildung). Durch die Granulationen kommt es zu einer Überdehnung der
Gelenkkapsel, was eine Gelenkinstabilität zur
Folge hat (rheumatisches Schlottergelenk).
Stadium 3 (degenerative Phase). Im weiteren
Verlauf wird zusätzlich der subchondrale Knochen infiltriert. In den metaphysären Abschnitten wird der Knochen osteoporotisch und dadurch mitunter so sehr geschwächt, dass die
Kortikalis ebenfalls arrodiert und das Gelenkgefüge zerstört wird. Mit der Chronifizierung der
Erkrankung wandern Fibroblasten in die entzündete Gelenkkapsel ein, die dadurch verdickt
und höckerig wird. Der Pannus breitet sich weiter aus, wodurch die Destruktion weiter um sich
greift und zur Deformität des Gelenks führt.
Stadium 4 (ausgebrannte Phase). Nach monatebis jahrelangem schubweisem Verlauf klingt die
Entzündung ab. Es bildet sich aber weiter fibröses Gewebe, sodass der Bewegungsumfang des
Gelenks im Sinne einer fibrösen Ankylose weiter eingeschränkt wird. Schließlich wird der Gelenkspalt durch Knochenspangen überbrückt,
und das an sich schon steife, deformierte Gelenk
wird in dem auch als knöcherne Ankylose bezeichneten Endstadium vollends bewegungsunfähig. Mit dem Abklingen der Entzündung lassen zwar die Schmerzen nach; die Destruktion
bleibt jedoch bestehen und ist die Ursache der
Versteifung und Deformierung der Gelenke und
damit der Behinderung und Invalidisierung des
Betroffenen.
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Stadium 1
Stadium 2
Stadium 3
Stadium 4
Stadienverlauf der pathologischen Gelenkveränderungen
Ausdünnung des Knorpels
in beiden Kniegelenkskompartimenten
Rheumatische Erkrankungen
Rheumatoide Arthritis I
Derselbe Patient 4 Jahre später:
progrediente erosive Knochenschädigung und ausgeprägte
Osteoporose
Typischer Befund im Frühstadium:
spindelförmige Schwellung der Finger infolge der
Entzündung der proximalen Interphalangealgelenke
Beteiligung des Schultergelenks.
Hochgradige Osteoporose des
Humeruskopfes und Ausdünnung des Gelenkknorpels
Beteiligung des Hüftgelenks.
Ausdünnung des Gelenkknorpels und Abflachung
sowie Wanderung des
Femurkopfes nach medial
Im fortgeschritteneren
Stadium finden sich
subkutan Rheumaknoten
und eine beginnende
Ulnardeviation
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707
Rheumatische Gelenkerkrankungen
Rheumatische Erkrankungen
Klinik
708
Finger- und Handgelenke. Zu den häufigsten und
ersten befallenen Gelenken gehören die Handund Fingergelenke. Einige oder auch alle proximalen Interphalangealgelenke sind meist beidseits befallen, während die distalen Interphalangealgelenke meist verschont bleiben. An den
betroffenen Gelenken machen sich eine diffuse
Schwellung, Überwärmung und Druckdolenz
bemerkbar. Dadurch wird der Faustschluss unmöglich, und die Greifkraft ist reduziert. Die Finger nehmen durch die Schwellung bereits früh
eine Spindelform an. Auch die Metakarpophalangealgelenke und die Handwurzel können von der
Entzündung erfasst werden. Gelenkbewegungen
sind schmerzhaft, und befallene Gelenke werden
infolge der Schwellung der Gelenkkapsel als steif
empfunden, v. a. morgens nach dem Aufstehen
(Morgensteifigkeit).
Mit Fortschreiten des entzündlichen Prozesses
werden Gelenkknorpel und Knochen destruiert.
Dadurch wird die Beweglichkeit der Gelenke erheblich eingeschränkt, und es bilden sich Gelenkdeformitäten. Sowohl die Streckung als
auch die Beugung der Finger gelingen nicht
mehr vollständig, und die Greifkraft wird zunehmend geringer. Nach jahrelang bestehender
chronischer Entzündung sind die Gelenke
schwer geschädigt. Die Gelenkkapsel lockert
sich, die Muskulatur atrophiert und verliert an
Kraft, die Sehnen werden überdehnt und können reißen.
Im Spätstadium der rheumatoiden Arthritis sind
regelmäßig Deformitäten des Handskeletts zu
beobachten. Dazu gehört die Ulnardeviation der
Finger in den Metakarpophalangealgelenken,
die dadurch zustande kommt, dass der Muskelzug an der ulnaren Seite der Langfinger bei nach
radial verkipptem Handgelenk überwiegt. Davon
kann das Handgelenk ebenfalls betroffen sein.
Häufig finden sich an den Langfingern auch eine
Schwanenhalsdeformität und/oder eine Knopflochdeformität. Die lange Strecksehne kann in der
Umgebung des distalen Interphalangealgelenks
reißen, sodass die distale Phalanx in Beugestellung fixiert wird. Bei langer Krankheitsdauer kann
es zur persistierenden Subluxation bzw. Luxation
der Fingergelenke kommen.
Schwere erosive Knorpel- und Knochenveränderungen im Handgelenk können zu schwersten
Mutilationen mit völliger Gebrauchsunfähigkeit
der Hand führen.
Ausbreitung auf andere Gelenke. Die Progredienz der Gelenkentzündung lässt keine eindeutige Gesetzmäßigkeit erkennen. In der Regel sind
aber zu Beginn mehrere periphere Gelenke paarweise betroffen. Nach Monaten bis Jahren kommen weitere Gelenke hinzu, darunter das Akromioklavikular-, das Sternoklavikular- und das
Kiefergelenk. Selbst kleine Gelenke wie die Krikoarytänoidgelenke werden nicht ausgespart.
Einige Gelenke bleiben jedoch in aller Regel selbst
bei jahrelang aktivem Krankheitsverlauf und
frühzeitigem Funktionsverlust der erkrankten
Gelenke verschont. Welche Faktoren für die Lokalisation der rheumatoiden Arthritis und den
Schweregrad des entzündlichen Prozesses ausschlaggebend sind, ist unklar.
Monoartikulärer Beginn. Vor allem bei Ausbruch
im jüngeren Alter beginnt die Erkrankung oft
mit dem Befall nur eines der großen Gelenke,
meist des Kniegelenks, seltener des Ellenbogenoder Schultergelenks. Auch die Halswirbelsäule
kann betroffen sein, meist in Höhe C1/C2.
Extraartikuläre Manifestationen. Tendovaginitiden mit Sehnenrupturen, Bursitiden und Rheumaknoten sind häufige Begleiterscheinungen des
Gelenkbefalls. Die Rheumaknoten haben einen
Durchmesser von 1–20 mm und bestehen aus
einer zentralen fibrinoiden Nekrose mit umgebenden Mesenchymzellen und Granulationsgewebe. Häufig findet man sie subkutan etwas
distal des Olekranons, aber auch über anderen
Knochenvorsprüngen, im Weichteilgewebe oder
periostal.
Organschäden sind bei der rheumatoiden Arthritis eher selten. In der Lunge kann es zu einer
interstitiellen Fibrose oder einer Pleuritis kommen. Typische kardiale Manifestationen sind eine
Perikarditis oder Reizleitungsstörungen durch
myokardiale Rheumaknoten. Am Auge kann es
zu einer Keratokonjunktivitis oder granulomatösen Skleritis kommen. Weitere typische extraartikuläre Komplikationen sind Vaskulitiden,
Lymphknotenschwellungen oder eine Anämie.
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Rheumatoide Arthritis II
Ausgeprägte Ulnardeviation in den Metakarpophalangealgelenken,
Knopflochdeformität
des Daumens und Synovialitis des Handgelenks
Rheumatische Erkrankungen
Röntgenbefund: Gelenkknorpel in den proximalen Interphalangealgelenken ausgedünnt, Karpus und Handgelenk arrodiert,
Osteoporose und Fingerdeformitäten
Mutilation der Metakarpophalangealund Interphalangealgelenke beider
Hände. Schwanenhalsdeformität an
fast allen Fingern, Knopflochdeformität der Daumen und zahlreiche
subkutan gelegene Rheumaknoten
Röntgenaufnahme:
Destruktion des Gelenkknorpels mit Osteopenie
im Frühstadium
Derselbe Fall 14 Jahre
später: Karpus, Handgelenk und Ulnaköpfchen
vollständig arrodiert
709
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Rheumatische Erkrankungen
Systemische Vaskulitis
726
Definition und Epidemiologie
Diagnostik
Die Polymyalgia rheumatica gehört zu den weichteilrheumatischen Erkrankungen. Zugrunde liegt
eine systemische Vaskulitis. In den meisten Fällen findet man histologisch eine Riesenzellarteriitis. Umstritten ist, ob es sich bei der Arteriitis
temporalis (Morbus Horton, S. 114) nur um eine
Verlaufsform der Polymyalgia rheumatica handelt
und nicht um ein eigenständiges Krankheitsbild.
Die Ätiologie der Polymyalgia rheumatica ist unklar. Diskutiert wird eine Autoimmunkrankheit
mit Induktion durch virale Infekte. Bekannt ist
eine Assoziation mit HLA-DR1 und HLA-DR4.
Die Erkrankung betrifft Frauen etwa 3-mal häufiger als Männer. Weiße sind häufiger betroffen
als Schwarze. Das Manifestationsalter liegt meist
jenseits des 50. Lebensjahrs, durchschnittlich zwischen dem 65. und 70. Lebensjahr. Die Häufigkeit ist nicht bekannt, da die Erkrankung wahrscheinlich häufig nicht diagnostiziert wird.
Schätzungen gehen von einer Inzidenz von
30–70 : 100 000/a aus.
Die Diagnose stützt sich auf die charakteristischen klinischen Befunde und auf das Fehlen
physikalischer, röntgenologischer und laborchemischer Auffälligkeiten, die für eine andere,
häufigere rheumatische Erkrankung sprechen
würden. Für eine Polymyalgia rheumatica spricht
außerdem die rasche klinische Besserung auf
Glucocorticoide.
Körperliche Untersuchung. Bei der klinischen Untersuchung sind zwar an der Muskulatur keine
pathologischen Veränderungen zu erkennen, die
betroffenen Muskeln, Sternum und Thorax sind
jedoch ausgesprochen druckschmerzhaft.
Labor. Die BSG liegt oft über 100 mm/h, AkutePhase-Proteine sind ebenfalls erhöht. Häufig besteht eine leichte Anämie. Die Rheumafaktoren
sind negativ, ebenso die antinukleären Antikörper. In 20 % der Fälle kommt es zu einem Anstieg
der Leberenzyme.
DD. Aufgrund der BSG-Beschleunigung und des
Appetit- und Gewichtsverlusts könnte man zunächst an eine Tumorerkrankung denken. Wichtige Differenzialdiagnosen sind rheumatoide Arthritis, Polymyositis und Myopathien, Morbus
Parkinson (aufgrund des häufig kleinschrittigen
Gangs) und paraneoplastische Syndrome.
Klinik
Die Betroffenen klagen über symmetrische
Schmerzen und Steifigkeit in der Nacken- und
Schulter- sowie der Interskapularregion, im Lumbosakralbereich und im Beckengürtel, die rasch
an Intensität zunehmen. Es besteht eine ausgeprägte Morgensteifigkeit, außerdem eine stammnahe Muskelschwäche.
Im Frühverlauf kann an größeren Gelenken, meist
am Kniegelenk, eine Synovialitis auftreten.
Häufig treten subfebrile Temperaturen oder mildes
Fieber sowie Inappetenz, Gewichtsverlust, Müdigkeit und allgemeines Krankheitsgefühl auf.
Charakteristisch ist eine über den Tag wechselnde
Intensität der Muskelschmerzen. Sie beginnen
nachts, sind morgens am stärksten und bessern
sich im Tagesverlauf. Typisch ist außerdem die
häufige Kombination mit einer rasch einsetzenden depressiven Verstimmung.
Die Polymyalgia rheumatica heilt spontan aus,
wobei die Krankheitsdauer jedoch stark variiert
zwischen á und 5 Jahren, in seltenen Extremfällen sogar bis zu 10 Jahre. Meist jedoch ist mit
einer Heilung innerhalb von 6–24 Monaten zu
rechnen. Allerdings kann es zu einem Übergang
in eine rheumatoide Arthritis kommen.
Therapie
Glucocorticoide werden in einer höheren Initialdosis gegeben und dann – relativ schnell – symptomabhängig reduziert. Damit können die Beschwerden beherrscht und die körperliche Leistungsfähigkeit rasch wieder hergestellt werden.
Bei schwerer Erkrankung ist evtl. eine SteroidDauertherapie mit individuell angepassten niedrigen Dosen über 1–2, evtl. auch bis 5 Jahre erforderlich. Bei persistierenden Schmerzen sind
daneben nichtsteroidale Antiphlogistika indiziert.
Die Polymyalgia rheumatica hat eine günstige
Prognose, neigt aber zu Rezidiven, wenn die Steroide zu schnell abgesetzt werden.
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Polymyalgia rheumatica
Kauschmerzen
temporale Kopfschmerzen, Druckdolenz der behaarten Kopfhaut
Visusstörungen:
rasche Erblindung möglich
Gewichtsverlust,
Schwäche
subfebrile Temperaturen,
allgemeines Krankheitsgefühl
Rheumatische Erkrankungen
symmetrische Schmerzen und
Steifigkeit der Schulterund Beckengürtelmuskulatur
Ventrale ischämische
Optikusneuropathie
727
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Orthopädische Erkrankungen
Erkrankungen der Weichteile
812
Definition
Klinik
Eine Bursa (Bursa synovialis, Schleimbeutel) wirkt
im Prinzip wie ein Wasserkissen. Sie schützt die
Haut über kantigen Knochenvorsprüngen, indem
sie Stöße dämpft. Außerdem sind Bursen immer
dort zu finden, wo Sehnen oder Muskeln über
Knochenkanten verlaufen. Sie bilden dabei eine
Gleitschicht, die Scher- und Reibungskräfte verringert.
Wichtige Bursen sind:
➤ am Kniegelenk: Bursa infrapatellaris zwischen
Patellarsehne und Tibia; die Lage der Bursa
praepatellaris ist nicht konstant, weil sie eigentlich aus einer Gruppe von 3 Bursen (subkutan, subfaszial und subtendinös) besteht,
von denen aber meist nur eine ausgebildet ist,
➤ am Ellenbogengelenk: Bursa subcutanea olecrani zwischen dem Olekranon und der Haut,
Bursa bicipitoradialis zwischen der Sehne des
M. biceps brachii und dem Radius,
➤ am Schultergelenk: Bursa subacromialis zwischen M. infraspinatus und Akromion, Bursa
subcoracoidea zwischen M. subscapularis und
Processus coracoideus, Bursa subdeltoidea
zwischen M. deltoideus und Tuberculum majus
humeri,
➤ am Hüftgelenk: Bursa trochanterica zwischen
der Sehne des M. glutaeus maximus und Trochanter major, Bursa glutaeofemoralis zwischen M. glutaeus und Femur, Bursa iliopectinea zwischen M. iliacus und Hüftgelenkkapsel,
➤ am Fußgelenk: Bursa tendinis calcanei zwischen Achillessehne und Kalkaneus.
Eine Bursa kann entweder unabhängig im Gewebe liegen oder auch mit einer benachbarten
Gelenkhöhle kommunizieren.
Aufgebaut ist eine Bursa aus einem derben Bindegewebe, das sackförmig einen Hohlraum umschließt, welcher mit visköser Synovialflüssigkeit
gefüllt ist. Diese Flüssigkeit ermöglicht ein leichtes Gleiten der beiden gegenüberliegenden Bursawände gegeneinander.
Zur Entzündung einer Bursa kann es kommen
durch:
➤ chronisch rezidivierende Reizungen, z. B. häufiges Arbeiten im Knien bei Fliesenlegern,
➤ Verletzungen, bei denen Keime in die eröffnete Bursa eindringen,
➤ rheumatische Erkrankungen, die zu einer Synovitis führen.
Die entzündete Bursa schwillt aufgrund der vermehrten Produktion von Synovia an. Bei akuter
Entzündung ist die Haut über der Bursa gerötet
und überwärmt. Bei schweren eitrigen Bursitiden
kann es auch zu systemischen Infektionszeichen
(Fieber, Schüttelfrost) kommen. Es besteht ein
Bewegungs- und Druckschmerz.
In chronischen Fällen kommt es zu einer derben
Wandverdickung und in der Bursa zu Fibrinniederschlägen, die sich bei Palpation wie Hirsekörner tasten lassen.
Diagnostik
Der klinische Aspekt ermöglicht zusammen mit
der Anamnese in aller Regel eine eindeutige Diagnose.
Im Labor findet man eine Erhöhung der Entzündungsparameter. Sonographisch ist die Vermehrung des Bursainhalts erkennbar. Normalerweise
ist der Hohlraum lediglich ein Flüssigkeitsspalt.
Jede Aufweitung weist auf eine vermehrte Produktion von Synovialflüssigkeit hin. Die Wandverdickung bei chronischen Bursitiden ist sonographisch ebenfalls erfassbar.
Therapie
Eine unkomplizierte Bursitis wird unter antiphlogistischer Medikation ruhig gestellt. Bei sehr
ausgeprägter Schwellung kann die Bursa zur Entlastung unter streng aseptischen Kautelen punktiert werden. Wenn unklar ist, ob der Bursainhalt
bakteriell infiziert ist, klärt ebenfalls eine Punktion die Situation.
Besteht eine eitrige Bursitis, wird über eine Inzision eine Spüldrainage gelegt und nach Abklingen des Infekts eine Bursektomie durchgeführt.
Ebenso muss eine traumatisch eröffnete Bursa
entfernt werden, um einer Infektion vorzubeugen. Auch in chronischen Fällen empfiehlt sich
dieses Vorgehen.
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Bursitis
Bursa praepatellaris
gespannt und
geschwollen
Anatomische Verhältnisse bei Bursitis praepatellaris
Bursitis praepatellaris
(„Dienstmädchen- oder
Pastorenknie“)
Wiederholte kleine Traumen können
zu einer Entzündung der dabei
beanspruchten Bursa führen
Orthopädische Erkrankungen
Gelenkspalt
unauffällig
Bursitis glutaeofemoralis
Bursitis
subachillea
Bursitis olecrani
(„Studierellenbogen“)
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Wirbelsäule und Becken
Definition
Mit zunehmendem Alter tritt eine Degeneration
der Wirbelsäule auf. Allerdings variieren Schweregrad und Progredienz ganz erheblich. Degenerative Veränderungen manifestieren sich an der
Wirbelsäule in 2 Formen:
➤ an den Bandscheiben und den jeweils angrenzenden Wirbelkörpern,
➤ an den Intervertebralgelenken.
Orthopädische Erkrankungen
Bandscheibendegeneration
816
Die Degeneration der knorpeligen Bandscheiben
und deren sekundäre Folgen sind wesentlich häufiger als arthrotische Veränderungen an den Gelenkflächen bzw. gehen diesen oft voraus.
➤ Nucleus pulposus: Mit zunehmendem Alter entquellen die Bandscheiben, ihr Proteoglykangehalt nimmt bei vermehrtem Kollagengehalt
ab, der zentrale gelatinöse Kern (Nucleus pulposus) wird hart und brüchig.
➤ Anulus fibrosus: In dem den Nucleus pulposus
umgebenden Anulus fibrosus entstehen Defekte, und das fibröse Gewebe ordnet sich zu
Fibrillen. Durch die damit einhergehende Rissbildung im Anulus fibrosus kann Material des
Nucleus pulposus austreten.
➤ Folgen: Die Bandscheibe wird mehr und mehr
abgebaut und verliert an Höhe. Es kommt zur
Verschiebung von Bandscheibenmaterial mit
Kompression der Spinalnervenwurzeln. Da die
Wirbelabschlussplatten zu beiden Seiten der
betroffenen Bandscheibe infolge der Höhenminderung näher aneinander treten, werden
die Gelenkflächen stärker belastet. An den Wirbelrändern bilden sich Osteophyten, die sich
mitunter zu Knochenspangen zwischen den
Wirbelkörpern vereinigen.
Die Bandscheibendegeneration tritt vorwiegend
in den am stärksten bewegungsbelasteten Segmenten der Wirbelsäule auf, also neben der Halswirbelsäule auch an der kaudalen Brust- und der
Lendenwirbelsäule. Bei Bewegungen der Wirbelsäule treten lokal Schmerzen auf, die durch anstrengende Tätigkeiten, v. a. durch das Heben
schwerer Gegenstände, verstärkt werden.
treffen. Der Gelenkknorpel verliert dabei an Höhe
und raut sich an der Oberfläche und an den Rändern auf. An den knöchernen Gelenkflächenrändern bilden sich Osteophyten. Die Folge davon
sind Bewegungseinschränkung und Schmerzen
sowie Krepitationen, v. a. an der Halswirbelsäule.
Neuropathien
Neuropathien verschlimmern das klinische Bild
der degenerativen Wirbelsäulenerkrankungen.
Durch die an den Wirbelrändern in der Nachbarschaft der betroffenen Bandscheiben und an
den Gelenkflächenrändern entstehenden Osteophyten werden die Nervenaustrittsöffnungen verengt. Infolge der Kompression und Reizung der
Nervenwurzeln treten Neuralgien, Parästhesien
und Paresen auf. Neuralgische Schmerzen in der
Okzipital- und Schulterregion können auf eine
Osteophytose der Halswirbelsäule zurückzuführen sein. Die Kompression des Rückenmarks infolge einer ausgedehnten Osteophytose oder
Bandscheibenprotrusion kann in seltenen Fällen
schwere neurologische Komplikationen nach sich
ziehen.
Diagnostik
Das Röntgenbild, das nicht immer dem klinischen
Bild entspricht, zeigt die Höhenminderung des
Gelenkknorpels, die Osteophytose (Knoten-,
Sporn- und Knochenspangenbildung) sowie die
Qualitätsminderung des Knochens. Ein evtl. Bandscheibenvorfall kann mit der CT, MRT und evtl.
der Myelographie nachgewiesen werden.
Therapie
Bei degenerativen Wirbelsäulenleiden ist lediglich
eine symptomatische Therapie möglich. Verordnet werden v. a. Analgetika und Antiphlogistika.
Unterstützend können Wärmeanwendungen und
Massagen hilfreich sein. Eine Rückenschulung vermittelt den Patienten ein Verhalten, das schmerzhafte Bewegungen vermeidet und eine möglichst
große Beweglichkeit erhält. Nur in seltenen Ausnahmefällen (z. B. bei schweren neurologischen
Komplikationen) ist eine Operation zu erwägen.
Degenerative Veränderungen
der Intervertebralgelenke
Diese Veränderungen sind meist bei älteren Menschen an der Hals- und Lendenwirbelsäule anzu-
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Spondylarthrose
Atlas (C1)
C7
Deutliche Höhenminderung der zervikalen Bandscheiben und Hyperextensionsdeformität mit Verschmälerung der Foramina
intervertebralia. Analoge Veränderungen in der radiologischen Seitenaufnahme
Röntgenbefund der Brustwirbelsäule mit Verschmälerung der Zwischenwirbelräume und bandförmig
verschmolzenen Osteophyten
Degeneration der lumbalen Bandscheiben und hypertrophe Veränderungen an den Wirbelrändern mit Osteophytenbildung. Einengung
der Zwischenwirbellöcher durch Osteophyten mit Kompression der
Spinalnerven
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Orthopädische Erkrankungen
Axis (C2)
817
Wirbelsäule und Becken
Orthopädische Erkrankungen
Definition und Epidemiologie
Bei der Spondylolyse handelt es sich um eine
Spaltbildung der Pars interarticularis des Wirbelbogens. Dadurch geht der Gefügezusammenhalt des betroffenen Wirbels verloren. Kommt
es in der Folge zu einem Abgleiten eines solchen
„losen“ Wirbels nach ventral, spricht man von
Spondylolisthesis.
Unterschieden werden nach Wiltse 4 Formen
der Spondylolisthesis:
➤ isthmische Spondylolisthesis: Elongation der
Interartikularportion, häufig kombiniert mit
einer Spina bifida,
➤ dysplastische Spondylolisthesis: Kippung der
Gelenkebene der lumbosakralen Wirbelgelenke in die Horizontale,
➤ degenerative Spondylolisthesis: degenerative
Veränderungen der Bandscheiben und Wirbelgelenke, vor allem bei L4/5, L3/4 und L5/S1,
häufig kombiniert mit einer Sakralisation des
5. Lendenwirbels.
➤ pedunkuläre Spondylolisthesis: Veränderungen
der Wirbelbogenwurzeln durch Fraktur der
oder Elongation bei Systemerkrankungen (z. B.
Osteogenesis imperfecta).
Die Spondylolisthesis tritt selten vor dem 5. Lebensjahr auf – meist manifestiert sie sich im 7.–
9. Lebensjahr, mitunter auch wesentlich später.
Anamnestisch lassen sich oft Traumen erheben,
die jedoch meist Bagatellcharakter haben. In etwa
80 % ist der 5. Lendenwirbelkörper betroffen.
Klinik
Während der Kindheit sind Beschwerden eher
ungewöhnlich. Sie treten zeitgleich mit dem pubertären Wachstumsschub auf. Werden Schmerzen angegeben, befinden sie sich im Kreuz, mitunter auch im Gesäß und in den Oberschenkeln.
Die Beschwerden werden durch wiederholte
schwere Belastung, z. B. durch eine wiederholte
Flexion und Extension der Wirbelsäule beim Rudern oder Turnen, verstärkt, bessern sich jedoch
in Ruhe und bei Einschränkung der körperlichen
Aktivität.
818
Diagnostik
Palpatorisch lässt sich mitunter eine Druckdolenz im Kreuz feststellen. Im akuten Stadium be-
steht eine Steifheit der Lendenwirbelsäule. Verspannungen an den ischiokruralen Muskeln und
deutliche Einschränkungen beim Beugen der Hüfte sind bei 80 % aller symptomatischen Fälle feststellbar.
Neurologische Komplikationen. Im Gegensatz zu
Erwachsenen bieten Kinder nur selten objektive
Zeichen einer Nervenwurzelkompression wie motorische Schwäche, Reflexanomalien und sensible
Ausfälle. Bandscheibenvorfälle kommen ebenfalls
nur ausnahmsweise vor. Dennoch ist bei der klinischen Untersuchung auf Zeichen eines Sensibilitätsverlustes im Sakralwurzelbereich und auf
eine Blasenfunktionsstörung zu achten.
Röntgen. Ausgedehnte Defekte der Pars interarticularis im Sinne einer Spondylolyse sind röntgenologisch fast in allen Aufnahmerichtungen
zu erkennen. Bei einseitiger Ausprägung oder bei
fehlendem Wirbelgleiten sind jedoch spezielle
Aufnahmetechniken und Schrägaufnahmen der
Lendenwirbelsäule erforderlich. Die Interartikularportion zeichnet sich verdünnt und elongiert
ab.
Bei fortgeschrittener Spondylolisthesis kann es zu
einem völligen Abgleiten z. B. des 5. Lendenwirbelkörpers über den vorderen Rand von S1 kommen (Spondyloptose).
DD. Einseitige Spondylolysen können zu einer reaktiven Sklerose und Hypertrophie der Bogenwurzel und des Bogens auf der Gegenseite führen,
sodass die Gefahr der Verwechslung mit Osteoidosteomen besteht. Zur Differenzierung der beiden Krankheitsbilder bewährt sich die Knochenszintigraphie.
Therapie
Spondylolysen sprechen meist gut auf konservative Behandlungsmaßnahmen an. Sinnvoll sind
eine vorübergehende Einschränkung der körperlichen Aktivität und Kräftigungsübungen der Rücken- und Bauchmuskulatur (entlordosierende
Krankengymnastik). Die asymptomatischen Spondylolisthesen sind problematisch, da eine Gleitprognose kaum möglich ist. Bei symptomatischen
Spondylolisthesen steht ebenfalls die konservative
Übungstherapie an erster Stelle. Mitunter wird
jedoch eine Stabilisierung der Wirbelsäule durch
Korsettbehandlung, Gipsverbände oder eine operative Korrektur notwendig.
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Spondylolyse und Spondylolisthesis
Processus articularis
superior
(Ohr der Hundefigur)
Bogenwurzel (Auge)
Processus transversus
(Schnauze)
Isthmus (Pars interarticularis,
Hals)
Bogenplatte und Processus
spinosus (Körper)
Processus articularis inferior
(Vorderpfote)
Spondylolyse ohne Wirbelgleiten. Auf Aufnahmen im schrägen Strahlengang ist die „Hundefigur“ zu erkennen. Im Seitenbild kann
man sich eine Hundefigur mit Halsband vorstellen
Orthopädische Erkrankungen
Processus articularis inferior der
Gegenseite (Hinterpfote)
Dysplastische (kongenitale) Spondylolisthese. Vorwärtsgleiten von L5 auf dem Kreuzbein. Der Hals der Hundefigur (Isthmus)
erscheint verlängert
819
Isthmische Spondylolyse. Ventralverschiebung von L5 auf dem Kreuzbein infolge einer Dehiszenz des Isthmus (Pars interarticularis).
Durch den breiten Spalt erscheint die Hundefigur geköpft
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Notfallmanagement
Traumatologie
Grundlagen
Eine kardiopulmonale Reanimation ist immer
dann erforderlich, wenn durch einen Kreislaufund/oder einen Atemstillstand die Sauerstoffversorgung des Organismus zum Erliegen kommt. Da
das Gehirn am empfindlichsten auf einen Sauerstoffmangel reagiert, tritt bereits nach wenigen
Minuten Bewusstlosigkeit ein.
Die Ursachen für einen Kreislauf- oder Atemstillstand sind vielfältig. Der Ablauf der Reanimation ist jedoch unabhängig davon immer gleich.
Indikation. Wird ein Patient bewusstlos aufgefunden, prüft man zunächst die Atmung. Ist diese
nicht vorhanden und setzt sie auch nach Freimachen der Atemwege nicht spontan ein, setzt man
einen Notruf ab und beginnt dann mit der Beatmung. Nach 2 Beatmungen prüft man den Kreislauf. Ist innerhalb von maximal 10 Sekunden kein
Puls feststellbar und auch kein anderes Zeichen
eines vorhandenen Kreislaufs vorhanden (z. B.
Husten oder Bewegungen), beginnt man unverzüglich mit der kardiopulmonalen Reanimation.
Basismaßnahmen. Die Basismaßnahmen der Reanimation richten sich nach dem ABC-Schema:
➤ Atemwege freimachen und freihalten,
➤ Beatmung,
➤ Circulation herstellen.
Atemwege
924
Atemwege freimachen. Insbesondere beim Bewusstlosen kann die zurückgefallene Zunge den
Atemweg verlegen. Die erste Maßnahme ist daher
das Überstrecken des Kopfes. Dazu wird eine
Hand auf die Stirn und die andere auf das Kinn
gelegt und der Kopf ohne Gewalt nackenwärts
gestreckt. Besteht der Verdacht auf eine Verletzung der Halswirbelsäule, so ist besondere Vorsicht erforderlich: In diesem Fall fasst man den
Kopf unter einem gleichzeitigen axialen Zug nach
kranial und überstreckt ihn nicht zu forciert.
Setzt die Atmung nach dem Überstrecken nicht
spontan ein, öffnet man mit dem Esmarch-Handgriff den Mund und inspiziert die Mundhöhle
auf Fremdkörper. Flüssigkeit lässt man nach seitlich ablaufen, andere Fremdkörper entfernt man
mit dem Finger (am besten Zeige- und Mittelfinger mit einem Stück Mullbinde umwickeln und
damit die Mundhöhle auswischen).
Atemwege freihalten. Um die Atemwege freizuhalten, muss der Kopf weiterhin überstreckt gehalten werden – es sei denn, ein Guedel-Tubus
wird eingesetzt.
Beatmung
Der Patient liegt in Rückenlage und wird vorzugsweise Mund-zu-Nase – oder, wenn dies nicht
möglich ist, Mund-zu-Mund (A.) – beatmet.
Die nicht verwendete Atemöffnung (Mund bzw.
Nase) wird geschlossen gehalten, durch die andere (Nase bzw. Mund) wird über 2 Sekunden
gleichmäßig Luft eingeblasen. Als Zeichen einer
suffizienten Beatmung hebt sich der Patiententhorax. Anschließend lässt man die Atemluft passiv vollständig entweichen. Erst dann folgt die
nächste Beatmung.
Herzdruckmassage
Der Patient liegt in Rückenlage auf einer harten
Unterlage. Zunächst wird der Druckpunkt 2 Querfinger oberhalb des Xiphoids aufgesucht. Auf dem
Druckpunkt legt man beide Handballen übereinander. Dann wird das Sternum ca. 4–5 cm
gegen die Wirbelsäule gedrückt (C.), indem bei
durchgestreckten Ellenbogen das Körpergewicht
senkrecht über den Druckpunkt auf die Arme verlagert wird (B.). Die Frequenz soll 100/min betragen, die Druck- und die Entlastungsphase sollen
gleich lang dauern (zur Kompression also kein
kurzes Stoßen, sondern ein gleichmäßiges Drücken).
Unabhängig davon, ob 1 oder 2 Helfer die Reanimation durchführen, wechseln sich jeweils 2 Beatmungen und 15 Herzdruckmassagen ab. Die Reanimation muss so lange fortgesetzt werden, bis
die Vitalfunktionen wieder einsetzen oder bis erweiterte Hilfsmaßnahmen zur Verfügung stehen.
Die erfolgreiche Wiederbelebung zeigt sich am
Engerwerden der Pupillen, einer verbesserten
Durchblutung von Haut und Schleimhäuten und
evtl. Spontanbewegungen des Patienten.
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Kardiopulmonale Reanimation
A. Vor der Mund-zu Mund-Beatmung wird der
Traumatologie
Kopf überstreckt, die Nase zugehalten und
das Kinn nach vorne gezogen. Zum Schutz
vor Infektionen sollten Handschuhe getragen
und ein Gazestück auf den Mund gelegt
werden; wenn vorhanden, Beatmungshilfe
benutzen
B. Intermittierend wird mit dem
Handballen Druck auf das untere
Sternumdrittel ausgeübt;
Druckpunkt: 2 Querfinger oberhalb
des unteren Sternumrandes
C. Das Herz wird intermittierend
zwischen Sternum und
Wirbelsäule komprimiert
925
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Notfallmanagement
Traumatologie
Diagnostik
926
Anamnese. Auch zur Wundversorgung gehört
zunächst die Erhebung der Anamnese. Die Kenntnis des Unfallhergangs bringt Informationen, die
für die Behandlung wichtig sein können:
➤ Verletzung durch stumpfe, spitze oder scharfe
Gewalt?
➤ Mögliche Wundtiefe?
➤ Mögliche Verschmutzung der Wunde?
➤ Alter der Wunde?
➤ Arbeits- oder Freizeitunfall?
➤ Status des Tetanusimpfschutzes?
Inspektion. Bereits der inspektorische Aspekt
stellt die Weichen für die Wundversorgung. In den
folgenden Fällen muss ein ausgiebigeres Wunddebridement durchgeführt werden:
➤ tiefe oder verschmutzte Wunde,
➤ unregelmäßige Wundränder,
➤ Sehnen oder Knochen verletzt,
➤ stärkere, v. a. spritzende Blutung.
Exploration. Vor jedem Wundverschluss muss die
Wunde untersucht werden, um versteckte tiefere
Verletzungen, Wundtaschen und Fremdkörper
auszuschließen. Diese Untersuchung wird meist
im Rahmen der Wundversorgung nach Desinfektion und Anästhesie durchgeführt.
Soll der Patient zur Wundversorgung an den Chirurgen überwiesen werden, sollte an der Wunde
allerdings nicht mehr als unbedingt notwendig
manipuliert werden. Auch Fremdkörper werden
in diesem Fall in situ belassen.
gewickelt. Die meisten Blutungen können auf
diese Weise zum Stillstand gebracht werden.
Nur als Ultima Ratio kann eine blutende Extremität abgebunden werden, wobei immer der
Zeitpunkt der Abbindung auf einen am Tourniquet befestigten Zettel notiert werden muss. Gefäßklemmen sollte man zur primären Blutstillung nach Möglichkeit nicht verwenden.
Fremdkörper. Im Rahmen der Primärversorgung
belässt man einen Fremdkörper in situ. Falls er
den Patiententransport behindert, kann man ihn
vorsichtig auf Transportmaß kürzen.
Verband. Der primäre Wundverband soll die
Wunde vor weiterer Verschmutzung schützen.
Dazu legt man einen lockeren Wundverband
(Kompresse und Mullbinde) an. Keine Salben, Puder oder gefärbten Desinfektionsmittel verwenden!
Ruhigstellung. Bei größeren Verletzungen mit
ausgedehntem Weichteilschaden oder einer Beteiligung von Knochen oder Sehnen stellt man
den verletzten Gliedmaßenabschnitt ruhig. Bei
Fingern und Zehen verwendet man hierzu meist
Aluminiumschienen. Für größere Extremitätenabschnitte gibt es stabile Schienen aus Draht,
Kunststoff oder aufblasbare Modelle.
Amputatversorgung. Bei einer Amputationsverletzung legt man das Amputat in einen Plastikbeutel, verschließt diesen gut und bringt ihn in
einen zweiten, mit Eiswasser gefüllten Beutel oder
Behälter.
Primärversorgung
Definitive Wundversorgung
Die Primärversorgung von Wunden soll die Wunde vor Sekundärschäden bewahren und von der
Wunde ausgehende Gefahren beseitigen.
Durchblutung sichern. Da verletztes Gewebe zur
Schwellung neigt, muss alles, was zu einer Einengung oder Abschnürung führen kann, sofort
entfernt werden. Dazu zählen z. B. Fingerringe,
Armreife, Uhren, aber auch Schuhe (insbesondere
Stiefel) bei Fußverletzungen.
Blutstillung. Die wichtigste Primärmaßnahme der
Wundversorgung ist die Blutstillung. Vorrang
haben stärkere spritzende Blutungen. Diese werden durch einen Druckverband gestillt. Dazu wird
die Wunde mit einer Kompresse abgedeckt. Darauf kommt das Druckpolster, z. B. ein Verbandspäckchen oder eine fest aufgewickelte Binde. Dieses Polster wird mit einer Binde kräftig an-
Größere Wunden sollten vom Chirurgen versorgt
werden.
Wundverschluss. Eine kleine, saubere, nicht zu
tiefe Wunde ohne Blutung und ohne eine Verletzung von Begleitstrukturen kann bei glatten
Wundrändern ohne Ausschneidung in Lokalanästhesie genäht werden.
Alternativ zur Naht kommen Wundzügel (Steristrip) oder Wundkleber (Histoacryl) in Betracht.
Insbesondere bei Kindern und ängstlichen Patienten haben diese Verfahren Vorteile.
Keinesfalls genäht werden dürfen Bisswunden.
Diese sind immer infiziert und müssen sekundär heilen.
Tetanusprophylaxe. Zu jeder Wundversorgung
gehört obligat die Abklärung des Impfstatus und
ggf. die Auffrischung des Impfschutzes.
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Prinzipien der Wundversorgung
Matratzennaht
Halbversenkte Matratzennaht
Bestimmte oberflächliche Wunden erfordern keinen
Nahtverschluss, sondern können mit Klebestreifen
adaptiert werden
Fortlaufende Subkutannaht
Bei offensichtlich verschmutzten Wunden bewährt
sich die primäre Wundrandexzision mit offener
Wundversorgung über 48 – 72 Stunden und der
verzögerte primärre Wundverschluss nach nochmaligem Debridement
Traumatologie
Einfache Naht. Zur Evertierung der Wundränder wird
das Gewebe in der Tiefe breiter gefasst als an der Oberfläche.
Nähte in den tiefer liegenden Schichten dienen dem
Totraumverschluss
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927
Weichteilverletzungen
Traumatologie
Kontusion
Definition und Ätiologie. Eine Kontusion (Prellung) entsteht bei stumpfer Gewalteinwirkung
auf das Weichteilgewebe. Das Gewebe wird gequetscht, was zur Ruptur von Blut- und Lymphgefäßen führt. Es kommt zu einem diffusen Einsickern von Blut und Lymphe ins Gewebe. Die
Gewebeschädigung führt außerdem zur Freisetzung von Mediatoren, die über eine erhöhte Gefäßpermeabilität ein Ödem verursachen.
Klinik. In dem geschädigten Bereich kommt es
zu einer teigigen Schwellung, die meist deutlich
druckschmerzhaft ist. Eine Muskelkontusion verursacht bei Anspannung des betroffenen Muskels
dumpfe bis stechende Schmerzen.
Durch den Gefäßschaden entstehen flächige Gewebeeinblutungen, die zunächst rot sind, sich
aber nach und nach violett und später grünlich
oder gelblich verfärben.
Diagnostik. Kontusionen sind anhand der Anamnese und des klinischen Befundes in aller Regel
problemlos diagnostizierbar. Mitunter ist es jedoch schwierig, das Ausmaß von zusätzlichen tieferen Gewebe- und Organschäden abzuschätzen.
Da eine Kontusion immer durch eine erhebliche
stumpfe Gewalteinwirkung zustande kommt,
muss stets nach Begleitverletzungen gesucht werden, z. B. nach Frakturen sowie Sehnen-, Bandund Gefäßläsionen. Kontusionen am Abdomen
sind verdächtig auf ein stumpfes Bauchtrauma.
Therapie. Eine Kontusion benötigt keine spezifische Therapie. In den ersten Tagen kann bei ausgedehnten Befunden eine analgetische und/oder
antiphlogistische Medikation hilfreich sein. Die
wichtigsten Maßnahmen sind Schonung, Kühlung
und Hochlagerung der betroffenen Extremität.
Antiphlogistische und kühlende Salben oder Gele
können unterstützend wirken, beeinflussen den
Verlauf jedoch nicht entscheidend. Wird ein Gel
verwendet, muss bei empfindlicher Haut die austrocknende Wirkung der meist alkoholhaltigen
Gele beachtet werden.
Hämatom
928
Definition und Ätiologie. Unter einem Hämatom
versteht man eine Blutansammlung im Gewebe,
die jedoch im Gegensatz zu einer Kontusionsblutung nicht diffus verteilt ist, sondern einen „Blutsee“ bildet. Meist ist ein stumpfes Trauma die Ur-
sache eines Hämatoms. Kommt es durch die Gewalteinwirkung zur Ruptur eines größeren Gefäßes, so schafft sich das austretende Blut eine
Höhle im Gewebe. Die meisten Hämatome bleiben relativ klein und haben keine hämodynamische Relevanz. In Ausnahmefällen kommen jedoch sehr große Hämatome vor, die bis zum
hämorrhagischen Schock führen können.
Klinik. Ein Hämatom imponiert als fluktuierende
Schwellung. Meist sind über dem Hämatom
Spuren des auslösenden Traumas zu finden wie
Kratzer oder Schürfungen. Bei subkutaner Lage
schimmert das Hämatom oft als dunkle Verfärbung durch die Haut. Tiefe Hämatome können
bis auf die Schwellung oberflächlich unauffällig
bleiben. Zumindest beim frischen Hämatom besteht meist ein lokaler Druckschmerz.
Diagnostik. Das Hämatom ist aufgrund der Anamnese und des typischen klinischen Aspekts
kaum zu verkennen. Bei nur diskreter Schwellung oder bei adipösen Patienten kann ein Hämatom allerdings auch leicht übersehen werden.
Palpatorisch ist es jedoch meist zu erfassen. Im
Zweifelsfall ist die blutgefüllte Hämatomhöhle
sonographisch identifizierbar.
Vom Hämatom aus kann Blut der Schwerkraft folgend ins Gewebe sickern, sodass nicht selten einige Tage nach einem Trauma Verfärbungen an
Stellen auftreten, die nicht vom Trauma betroffen waren.
Hinsichtlich möglicher Begleitverletzungen gilt
das bei der Kontusion Gesagte (s. o.).
DD. Die differenzialdiagnostische Abgrenzung
eines Hämatoms gegen eine Zyste oder einen
Abszess bereitet aufgrund der Anamnese in aller
Regel keine Probleme.
Therapie. Kleine Hämatome werden spontan resorbiert. Größere Hämatome dagegen organisieren sich und benötigen lange bis zur Resorption.
Nicht selten verläuft die Resorption unvollständig und es verbleibt eine fibröse Gewebenarbe.
Zudem besteht bei größeren Hämatomen die
Gefahr, dass sie sich sekundär infizieren. Daher
sollten sie eröffnet und ausgeräumt werden. Bei
frischen Hämatomen ist auch eine Punktion möglich.
aus: Netter, Netters Allgemeinmedizin (ISBN 3131358815), © 2005 Georg Thieme Verlag
Kontusion und Hämatom
Hämatom
Schwere Kontusionen
der Hand und des Handgelenks werden mit
Eisauflagen und Hochlagerung behandelt
Traumatologie
Kontusion
Bei Einkeilung unter
einer schweren Last
kann die Durchblutung
unterbrochen werden
und dadurch eine
Nekrose entstehen
929
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Weichteilverletzungen
Schürfwunde
Traumatologie
Schürfwunden sind die häufigste aller Wundarten. Sie kommen zustande, wenn die Haut über
einen rauen Untergrund rutscht. Besonders bei
Stürzen kommt es oft zu Schürfungen. Meist sind
diese Wunden harmlos und oberflächlich, wenn
auch sehr schmerzhaft.
In aller Regel sind Schürfwunden mehr oder weniger stark verschmutzt. Daher und wegen der
großen Wundfläche ist eine Superinfektion nicht
selten.
Oberflächliche Schürfwunden (Erosionen) benötigen außer einer Desinfektion keine Therapie.
Lediglich bei Kindern kann ein Pflaster oder ein
Verband psychologisch hilfreich sein. Die Wundversorgung tieferer Schürfungen besteht aus
einem leichten Schutzverband mit einer Wundauflage, die nicht auf der Wunde klebt (z. B. Vaseline-Vlies oder alubedampftes Gewebe).
Schnittwunde
Schnittwunden sind ebenfalls häufig. Sie haben
glatte Wundränder und sind meist relativ sauber,
können aber erheblich bluten. Meist sind diese
Wunden nicht tief und daher harmlos. Die Wundnaht ist problemlos möglich und die Heilung
komplikationslos. Auf Begleitverletzungen, z. B.
von Sehnen und Nerven, muss jedoch geachtet
werden.
Stichwunde
Im Gegensatz zur Schnittwunde kann bei der
Stichwunde das Verletzungsausmaß leicht unterschätzt werden. Oft sind tiefere Strukturen wie
Sehnen, Nerven, Gefäße oder Organe verletzt.
Außerdem neigen diese Wunden zur Infektion.
Eine eingehende Untersuchung und eine ausgiebige Wundreinigung sind zur Vermeidung von
Komplikationen wichtig.
Platz-, Riss- und Quetschwunde
930
Diese Wunden entstehen durch stumpfe Gewalt,
z. B. bei Stürzen oder Einklemmung. Durch die
Zerreißung des Gewebes entstehen unregelmäßige Wundränder und eine große Wundoberfläche. Entsprechend ist die Wundheilung nicht so
problemlos wie bei Schnittwunden. Es kann zu
Infektion und Nekrosen kommen. Durch eine
Wundrandexzision kann jedoch – zumindest bei
kleineren Wunden – meist eine befriedigende
Heilung erzielt werden.
Bisswunde
Bisswunden sind immer massiv infiziert und dürfen daher nie genäht werden. Man spült sie ausgiebig und lässt sie sekundär heilen. Bei Tierbissen muss geklärt werden, ob das Tier an Tollwut
erkrankt ist. Im Zweifelsfall sollte eine Impfung
durchgeführt werden.
Schusswunde
Schusswunden verursachen meist ausgedehnte
Weichteilschäden oder auch Frakturen: Je schneller das Geschoss, desto größer sind die Gewebeschäden (Kavitation). Der Einschuss ist meist
klein, der Ausschuss deutlich größer. Bei langsamen Geschossen kann der Ausschuss fehlen
(Steckschuss). Schusswunden sind stark infektgefährdet und erfordern ein ausgiebiges Debridement sowie eine Revision des gesamten
Schusskanals.
Ablederung
Durch Scherkräfte (z. B. beim Überrollen eines
Verletzten durch ein Fahrzeug) kommt es zur
Ablösung von Haut und Unterhaut von der
Unterlage. Folge sind ausgedehnte Wundtaschen
mit massiver Einblutung. Es kann zu Nekrosen
und sekundären Infekten kommen. Therapie und
Prognose sind abhängig von der Ausdehnung der
Verletzung und den Begleitschäden.
Décollement
Bei diesem Verletzungstyp wird ein Körperteil
(z. B. Finger, Hand, Unterarm) durch eine massive
Gewalteinwirkung abgerissen. Der Weichteilschaden ist dabei erheblich. Im Gegensatz zur scharfen Abtrennung von Körperteilen ist beim Décollement eine Replantation meist nicht möglich.
Daher bleibt in aller Regel nur die Amputation.
Nur in seltenen, sehr günstigen Fällen gelingt eine
Replantation zusammen mit aufwendigen plastischen Eingriffen.
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Wundarten
Schürfwunde
Risswunden
Stichwunden
Traumatologie
Pigmenteinlagerung
infolge unsachgemäßer
Reinigung der Schürfwunde
vor der Epitheliasierung
Riss-Quetsch-Wunde
Décollement
Schusswunde
931
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